Kapitel 22 - Das Lichtfest in Ledwick

  • Das Lichtfest in Ledwick

    Die Nacht kam früh an diesen Tagen. Das almanische Lichtfest fand in der dunkelsten Zeit des Jahres statt. Tazios Aufgabe als Leone di Marino war es, sein Volk sicher durch die Dunkelheit zu führen, zurück ins Licht. Doch er, das leibhaftige Symbol der Hoffnung, hatte zu keiner anderen Zeit des Jahres solche Angst. Seine Gemahlin Verrill und deren erster Mann Linhard, die beide mit in seinem Himmelbett schliefen, mussten ertragen, dass er sich in der Nacht vor Beginn des ersten Festtages unentwegt in seinem schweißnassen Nachthemd wälzte, so dass die Matratze wackelte. Sein Leibdiener Vianello musste dem Duca schließlich mitten in der Nacht ein heißes Bad einlassen, doch weder das noch die große Tasse heißer Büffelmilch mit Honig halfen, ihn zu beruhigen. Tazio sprach nicht ein Wort und starrte beim Baden stumm auf das Fenster, vor dem die Vorboten des unaufhaltsam nahenden Winters lauerten, der Frost, der Tod und die Dunkelheit.


    6.12. Profezia - Tag der Weissagung


    Zur Zeit des Sonnenaufgangs, als Alvashek sich blutend aus dem morgendlichen Dunst des Dhunico erhob, stand Tazio in vollem Ornat auf der Scala di luce, der Treppe des Lichts. Mit der Dämmerung kam das kalte, schwache Licht, doch noch war es dunkel. Die Prachttreppe führte von der zweiten Etage des Palazzo in den Innehof, der für die Bevölkerung offen stand. Hunderte hatten sich versammelt. Viele von ihnen trugen heute Schilfkronen. Geistliche und weltliche Würdenträger hatten sich genau so eingefunden wie das gewöhnliche Volk. Jeder hielt eine Laterne in der Hand, in der noch kein Licht brannte. In warme Gewänder gehüllt blickten sie hinauf zu ihrem Duca, der in vollem Ornat dort oben stand. Seine Gestalt war vollkommen unter weißem Pelz, türkisblauen Tüchern, beinerner Maske und schwarzer Korallenkrone verborgen. Heute war er zudem geschmückt von einer zweiten Krone aus Schilfblättern. Ihn flankierten zwei überlebensgroßen Ruspanti aus weißem Neve-Marmor.


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    Unmittelbar neben ihm stand seine geliebte Verrill. Es war ihm wichtig, dass sie heute an seiner Seite war. Unter ihrem Herzen ruhte ihr erstes gemeinsames Kind. Wenn es ein Junge war, der künftige Leone di Marino. Hinter ihnen standen Tazios Leibdiener Vianello und Verrills Zofe Chiara. Auch die Pretorianos standen in ihren schwarzen Rüstungen stoisch in der Nähe, angeführt von Paladino Ambrogio di Caldera. Dunkel, schweigend, bedrohlich wie der nahende Winter.


    "Dies sind die dunkelsten Tage des Jahres", begann Tazio laut und deutlich. "Sie sollen uns Tage der Einkehr und der inneren Heilung sein. Das Wissen, dass die Dunklen Tage bald enden werden, leitet uns. Durch Laternen und Gebete, Gesänge und Rituale rufen wir wie jedes Jahr den Geist des Leone di Marino und das Licht zurück. Aus dem Dunkel des Krieges sind wir mit unseren Soldaten zurück ins Licht unserer Heimat gekehrt. Der Winter von Kaisho ist vorüber, der Frühling einer neuen Ära hat begonnen. Uns erwartet ein strahlendes neues Jahr.


    Ab heute wird unser ehrenwerter Vater Ernesto Sirio di Ledvico ausschließlich bei seinem ledwicker Namen benannt. Die Nennung der rakshanischen Variante ist untersagt und wer unseren Vater bei einem falschen Namen benennt, dem wird die Zunge herausgerissen. Selbiges gilt für die Erwähnung jener fünf, welche den Walbeinthron in ihren Klauen hielten und hofften, wir würden auf den Totenfeldern vor Dunkelbruch verbleiben. Ihre Wappen wurden gebrochen, ihre Namen aus den Annalen und Urkunden getilgt und ihre Familien samt und sonders von unseren Soldaten in die Wüste Sundhi gejagt. Sie wurden gehetzt bis zum Tod und ihre Leichen den Aasfressern überlassen, so wie sie selbst Aasfresser waren.


    Für die gefallenen Söhne Ledwicks, die ihr Leben für Krone und Land gaben, wird für den 3.1. der Tag der Gefallenen ausgerufen, an welchen wir ihnen im kommenden Jahr das erste Mal Ehre und Dank erweisen werden.


    Heute aber feiern wir die Profezia - den Tag der Weissagung, an dem San Celestino, der Bote des Lichts, die Ankunft des Leone di Marino prophezeite. Seine Weissagung birgt die Hoffnung, dass auf Dunkelheit Licht folgen muss und auf Ebbe Flut. Mögen seine Worte der Hoffnung uns durch die Dunkle Zeit leiten wie die Sterne den Seemann bei Nacht."


    Auf dieses Stichwort hin öffnete sich ein Eingang, aus dem eine Prozession von festlich gewandeten Männern mit Schilfkronen trat, von denen jeder ein verziertes Gefäß mit Feuer an einer Kette vor sich trug. Der Rauch duftete nach Amber, jenem seltenen und teuren Duftstoff, der aus Pottwalen gewonnen wurde. Es waren Ruspanti, die nun herumgingen und jedem, der eine Laterne trug, etwas von ihrem Licht schenkten. Tazio selbst mochte die Ruspanti nicht. Einer seiner Vorfahren hatte sie einst allesamt erschlagen lassen. Doch nun, da er selbst Duca war, hatte er das Gefühl, dass er ihrer Unterstützung bedurfte, denn beim Volk waren sie beliebt. Es war seinem Vorfahren nicht gelungen, die positiven Assoziationen, die mit einem Rusapante einhergingen, aus dem jahrhundertalten Gedächtnis seines Volkes zu tilgen. Sie gehörten offenbar zur Seele Ledvicos, so wie Schiff, Kahn und Boot.


    Als das Licht verteilt wurde, war die Ansprache beendet und Tazio flüchtete schneller, als angemessen gewesen wäre, zurück in den Palazzo.

  • Tazio stand am offenen Fenster seiner Amtsstube. Der Wind wirbelte die ersten Schneeflocken des Jahres hinein, die sich auf dem weißen Pelz um seine Schultern legten wie winzige Diamanten, ehe sie schmolzen. Die Schilfkrone hing schlaff von seinem Haupt, dazwischen ragten die schwarzen Korallen empor. Müde fühlte der Duca sich, ganz im Gegensatz zu seinem Volk, das heute besonders emsig am werkeln war. Doch Ruhe war ihm nicht vergönnt. In seinem Kopf heulten die Totengeister im Sturm.


    13.12. Allestimento - Tag der Ausgestaltung


    Allestimento war einer der lebhaftesten Tage des Lichtfests. Es war der Tag, an dem das Land außen und in den Häusern geschmückt wurde, jener Tag, an dem besonders die Frauen und Kinder von sich reden machten, wenn sie weiße Wimpelketten anbrachten, die im Wind flatterten, Kränze aus Schilf flochten, die für die Ewigkeit standen und von der Größe eines Tellers bis zu der eines Wassermühlrades reichten. Sie brachten Bänder und Windspiele aus Muscheln und Glocken an den Schiffen und Gondeln an, die im Wind leise klingelten. Wer es sich leisten konnte, besaß Windspiele aus Glas, deren feiner Klang sphärisch schön war. Der ganze Palast klirrte leise, als wäre er selbst ein Eispalast, weiß bepudert von der weißen Pracht.


    Für Tazio brachte der erste Schnee des Jahres jedoch keine Freude. Er sah in seinem Geist gefrorene Hände, die in die Höhe ragten. Gefrorene Augen, Haut, auf der kein Schnee mehr schmolz. Er sah Flocken in den Wimpern von Toten, Eisklumpen in den Mänteln von zittertenden Soldaten mit dunklen Lippen und schwarzen Frostbissen auf Wangen und Nasen, die aufgehört hatten, zu fragen, wann es nach Hause ging. Es ging nicht mehr nach Hause. Er hörte sie noch immer, er hörte die Bitten aus der Zeit, als seine Soldaten noch Lippen besessen hatten, die fähig waren zu sprechen. Die Toten wirbelten mit dem Schnee um sein Haupt, hauchten eisig in seinen Nacken, fuhren mit klammen Geisterfingern unter seine Kleider. Eine Gänsehaut zog sich vom Hals aus über seine Brust und seine Arme. Tazio spürte, dass er nicht länger hierbleiben konnte.


    "Vianello", sagte er zu seinem Leibdiener, ohne sich umzudrehen. "Wir haben etwas zu erledigen. Bitte lass die Duca Ernesto Sirio di Ledvico startklar machen. Wir reisen zusätzlich zur minimal möglichen Flugmannschaft unter Capitano Thomkin Tanar mit hundert unserer treuesten Soldaten, die sich aus jedem einzelnen Regiment rekrutieren sollen, das mit uns vor Dunkelbruch stand. Du kennst diese Männer, du warst einer von ihnen. Wir wünschen nur eine repräsentative Durchmischung, ihre Auswahl obliegt ansonsten dir. Paladino Ambrogio di Caldera möge zu unserem Schutz so viele Pretorianos mitnehmen, wie er für notwendig erachtet.


    Monsignore Fabrizio Moranegra von der Priesterschaft von Zeit und Raum wird unterwegs für die Gebete an Ainuwar und den göttlichen Segen zuständig sein. Uns möge zudem unsere Nekromantin Viatrix von Schwarzfels begleiten. Ebenso wünschen wir die Anwesenheit unseres Ehebruders Linhard. Oh, und wähle einen der Ruspanti, der in möglichst wenig störender Weise für die seelischen Belange der Soldaten sorgt und seinen kultischen Pflichten nachkommt.


    Das ist alles. Wir wünschen, so zeitnah wie möglich aufzubrechen."

  • Der Wind frischte auf, die Schneekristalle tanzten auf unsichtbaren Wogen und ließen die Fensterläden der Amtsstube klappern. Vianello der treue Leibdiener des Duca hatte bereits die Stube verlassen, um die Wünsche seines Herrn zu erfüllen. Draußen heulte der Wind sein Winterlied.


    Der Schneefall wurde dichter, Tazio stand vor einer weißen wirbelnden Wand aus der sich ein schneeweißes, bleiches Gesicht schälte, dass von Innen heraus zu leuchten schien. Der Duca de Ledvico erkannte das Gesicht, die Wesenheit hatte bereits einmal zu ihm gesprochen.


    Heute hatte sie nicht die Farbe des Meeres, sondern trug das Weiß des Schnees. Die schimmerndbleiche Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, gab sie nur noch Mund und Nase des Mannes preis gab, der vor ihm im Schneegestöber schwebte. Die Lippen verzogen sich unmerklich zu einem winzigen Schmunzeln.


    Tazio spürte die Macht die von dieser Erscheinung ausging, Güte und Gnadenlosigkeit vereinten sich in dieser Person, so wie die See selbst. Als hätte das Meer heute erneut Gestalt angenommen und zur Feier des Tages die gleichen Farben angelegt wie der Duca und ganz Ledvico.


    Die Erscheinung in der schneeweißen Robe schwebte näher, so dass sich Raureif auf dem weichen Pelz des Duca bildete. Ebenso knisterte die Schilfkrone, als sich eine hauchdünne Eisschicht auf ihr bildete. Zwei Hände legten sich auf die Schultern des Duca. Diese geisterhaften Finger waren so kalt, dass der Frost sich regelrecht in Tazios Schultern brannte.


    "Du bist in Dein Heimatgewässer zurückgekehrt Leone. Dein Volk benötigt Dich, sie schmücken Dein Land in Deinen Farben... weiß. Aber Du trägst die Farbe der Trauer in Deinem Herzen. Zeig der Welt dass der Leone mit mehr aufwartet, als einem weißen Pelz. Seine Zähne sind ebenso weiß und scharf, Du trägst sie um Deine Feinde zu töten...

    Du bist nicht den weiten Weg ans Licht geschwommen, um in eigener Schwärze zu versinken...

    Folge dem Licht, Deinem Licht...", sagte die Wesenheit.


    Sie schenkte Tazio ein Lächeln, dann zerriss der Sturm die Gestalt in Schneeflocken und wehte sie davon.

  • Tazio trat an das offene Fenster und starrte hinaus, der Rauhreif zerbrach auf seiner Kleidung in winzige Schollen. Doch da war nur der eisige Wind, keine Stimmen mehr. Der Geist hatte sie mit sich genommen. Einen Moment lang überlegte er, ob das sein Vater gewesen sein könnte und der Gedanke ließ sein Herz verkrampfen. Nein, das war nicht Sirio. Er hatte diesen Geist schon einmal gesehen, an dem Tag, an dem der Winter ihn besiegt hatte, damit er als Duca und Leone di Marino neu geboren werden konnte.


    Wiedergeburt! Darum ging es im zwölften Mond. Genau während des Lichtfests war tatsächlich seine Verwandlung erfolgt! Das war mehr als ein Zufall, es war Bestimmung, natürlich war es das!


    Er schlug die Fenster zu und sperrte die Kälte aus. Mit zügigem Schritt, gerade noch angemessen, eilte er durch seine Amtstube, durch den prachtvollen Gang, an den Pretorianos vorbei und in die privaten Gemächer, die er mit seiner Familie bewohnte. Sie waren so weitläufig, dass sie einen Palast im Palast zu bilden schienen.


    "Verrill?" Suchend blickte er sich nach ihr oder ihrer Zofe Chiara um. Oder vielleicht konnte ihm auch Linhard weiterhelfen, falls er hier war.

  • Verrill streifte sich gerade mit Chiaras Hilfe den schweren Wintermantel von den Schultern. Beide schenkten Tazio ein freundliches Lächeln. Das von Verrill war voller Liebe, das von Chira voller Achtung. Verrill schritt auf ihren Mann zu und umarmte ihn liebevoll.


    "Du siehst geschafft aus Tazio, ist alles in Ordnung mit Dir? Komm wir setzen uns an den Kamin. Draußen wurde es uns zu frisch, Chiara bring uns etwas Heißes zu trinken", bat Greg und zog Taz mit sich vor den Ofen. Dort ließ sie sich nieder und schaute zu ihrem Mann erwartungsvoll auf.


    "Du hast nach mir gerufen, was ist los Schatz? Linhard ist sicher auch gleich hier", sagte sie freundlich und zog sich eine Decke heran, die sie auf ihrem Schoß ausbreitete um sich den Bauch zu wärmen.


    Einen Augenblick später ging die Tür und Linhard kam wie auf Bestellung herein. Er schaute sich in dem Gemach um und als er die beiden gefunden hatte gesellte er sich zu ihnen.


    "Verdammt kalt heute draußen, aber es sieht auch wunderschön aus", sagte er und schaute beide abwartend an. Irgendwas wurde hier besprochen, nur was?

  • Tazio war für seine Verhältnisse aufgekratzt. Als er die Maske abnahm, um privat mit seinen Lieben sprechen zu können, sah man, dass seine bleichen Wangen leicht gerötet waren und seine grünlichen Augen hellwach in die Runde blickten. Er verzichtete auf die üblichen Befindlichkeitsfragen, die bei ihm mehr als bloße Höflichkeit waren und die er darum selten ausließ, wenn es um Verrill ging. Tazio begrüßte beide mit einer Berührung ihrer Hände.


    "Es ist an der Zeit, dass ihr ein wenig mehr über Ledvico erfahrt, über Familie und Land, das ist mir soeben bewusst geworden. Zunächst habt ihr es einem guten Geist zu verdanken, dass ihr mich überhaupt hier sitzen seht. Ich spreche nicht von Vianello, sondern von einem wahrhaftigen Geist, der gemeinsam mit den Toten im Sturm flog und durch mein Fenster blickte. Der gleiche Geist, der mich von den Totenfeldern vor Dunkelbruch auferstehen ließ als jener, der ich heute bin. Ich gab Vianello den Auftrag, die Duca Ernesto Sirio di Ledvico bereit zum Abflug zu machen. Mich ruft etwas, da ist etwas zu erledigen und ich wäre um ein Haar ohne Abschied aufgebrochen. Danach besuchte mich dieser Geist. Ich hielt ihn zunächst für meinen Vater, doch das Gesicht stimmte nicht, Lazzaro Fedele selbst muss es sein!"


    Er setzte auch die Schilfkrone und die Korallenkrone ab. Normalerweise half ihm dabei Vianello, aber er war nicht da. Alle Insignien bettete er sorgfältig auf einer Kommode. Den weißen Pelz aber beließ er an seinem Leib.


    "Ich benötige meinen Augur", sagte er ernst. Er wartete, bis Chiara zurückkam. Tazio schenkte ihr einen distanzierten, aber auf seine Weise freundlichen Blick. Sie war eine gute Frau. Der Blick kam einem Lob gleich. Er wartete, bis sie die Getränke abgestellt hatte, dann sagte er: "Bitte hole mir Irving. Er wird noch mit den Priestern und den Ruspanti in der Kapelle sein."

  • Linhard wollte Tazio gerade zur Hand gehen und ihm die Schilfkrone wie die Korallenkrone vom Kopf nehmen, aber Verrill schüttelte das Haupt und deutete Lin an, dies zu unterlassen. Dies kam einem Faupax gleich, niemand entkrönte den Duc und genauso wenig den Duca. Es sei denn, Tazio hätte darum gebeten. Wer die Insignien der Macht anfassen durfte, das bestimmte allein der Duca über das Protokoll oder sein Wort.


    Lin verstand die Geste und schenkte Tazio ein schiefes Grinsen, er hatte ihm als Ehebruder helfen wollen. Beide dachten über die Worte von Tazio nach, jeder auf seine Weise. Während Chiara allen eine heiße Schokolade servierte. Die Zofe freute sich sehr über das Lob des Duca und wurde vor Verlegenheit rot.


    Auf Tazios Befehl hin, verneigte sie sich tief und eilte davon um Irving aus der Kapelle zu holen. Verrill wartete bis Chiara verschwunden war, dann wandte sie sich an ihren Mann. Linhard machte es derweil ebenfalls vor dem Kamin bequem und schlürfte genüsslich seine Schokolade. Sie war heiß, dick und unheimlich gut.


    "Einen Geist Tazio? Was für einen Geist genau hast Du gesehen? Was hat er von Dir gewollt oder war es eine reine Erscheinung? Deinen Vater hättest Du jederzeit erkannt, Du hättest seine Liebe gespürt. Der Geist der Dich von den Toten zurückrief und der nun die Toten mit sich nahm. Das klingt poetisch und es klingt bildhaft, so als würde Dir dieser Geist damit etwas zeigen wollen. Warst Du tatsächlich... also warst Du... fort?", fragte Verrill behutsam, sie scheute sich davor das Wort auszusprechen.


    Linhard stellte seine Schokolade ab.


    "Langsam Tazio, ich verstehe Deinen Eifer, aber Du musst auch bedenken wer Du bist. Wie Verrill schon fragte, warst Du wirklich auf der anderen Seite? Warst Du fort? Wer könnte dieser Geist sein und was genau möchte er von Dir? Bedenke eines, Geister sind niemals grundlos in der Physis. Entweder hat sie jemand gerufen, oder sie sind an einen Ort gebunden. Mein Vater und viele Verwandte von mir sind Nekromanten. Deshalb meine Frage, könnte es sein, dass Dich ein Nekromant über diesen Geist beeinflussen will? Versucht jemand Dich bei Deinem Glauben zu packen?


    Wichtigste Regel im Krieg, kenne Deinen Feind. Wer hier Dein Feind ist Tazio, dass wissen wir nicht.

    Aber gehen wir davon aus, dass der Feind genau weiß, wer Du bist.


    Du bist der Duca von Ledvico, der mächtigste Mann in diesem Land, der Großherzog. Du bist sehr religiös, Du verehrst die alten Traditionen, Du bist die Personifizierung des Leone. So etwas könnte sich ein Magier zu Nutze machen, ihre Waffen sind Wissen und Manipulation. Glaube mir, ich kenne mich damit aus, auch wenn ich kein Meister darin bin. Meine Familie hingegen schon. Und was sie hinbekommen haben, werden auch andere hinbekommen. Immerhin sind wir nicht die einzigen mit Nekromanten in der Familie.


    Also bevor Du Dich fragst, was Dir dieser Geist sagen möchte, frage Dich was er Dir nicht sagte.

    Wohin wollte er Dich führen, ohne das er davon sprach?


    Wenn er Dich wirklich wiederbelebt hat und Du schon im Nexus warst Tazio, dann bist Du ein Ghul. Ist Dir das bewusst? Meinem Opa ist das Gleiche passiert. Er war versehentlich ein Ghul geworden und musste mit Menschenfleisch am Leben gehalten werden. Paps Brandur hat versehentlich den Bock geschossen, Dunwin musste ab dato Menschen fressen, Archibald hat die Häppchen besorgt. Naja kann ja mal passieren, selbst den mächtigsten Nekro unterlaufen Fehler. Irgendwie hat Brandur das wieder geradegebogen. Fragt mich aber bitte nicht wie, ich bin kein Magier und habe davon keine Ahnung.


    Ich wollte Euch damit nur verdeutlichen, dass mit Magie weitaus mehr möglich ist, als allgemein hin bekannt. Man nennt diese Taktik der Kriegsführung bei uns in der Sippe - Sieh was Du glaubst.


    Sprich erzeuge eine Illusion, die Dein Opfer schluckt, damit es nach Deiner Pfeife tanzt. Der Erste der mir hier einfallen würde, der Dich an den Eiern packen will Tazio ist der alte Felipe. Er ist alt, seine Tage sind gezählt. Du bist jung, stehst im Saft und er neidet Dir alles.


    Er wollte Ledwick einsacken, er wollte die Hohe Mark einsacken, er hätte auch Souvagne einsacken wollen. All das hat Verrill bereits vorausgesehen. Aber er hat die Rechnung ohne Dich und ohne Maximilien gemacht. Es sei denn hinter Felipe steht eine weitere Macht, wer könnte den alten Großherzog dazu veranlasst haben?


    Immerhin hat der Mann auch so einige Schwächen, eine davon ist Gier. Eine wunderbare Schwäche auf der man spielen kann wie auf einer Harfe. Ist es nicht Felipe, dann ist es aller Wahrscheinlichkeit nach der Puppenspieler von Felipe.


    Natürlich gibt es noch die Möglichkeit, dass dieser Geist Dir tatsächlich wohlgesonnen ist und Dir helfen möchte.

    Fragt sich dann, wer er ist und warum er erst jetzt aus seinem Loch kroch.

    Und wer ist Lazzaro Fedele?", fragte Linhard und nahm seinen Becher Schokolade wieder zur Hand.

  • "Dein Einwand ist berechtigt. Damit das nicht geschieht, dafür habe ich meinen Augur Irving. Wir teilen die selbe Gabe. Ein Augur vermag die Stimmen der Toten in seinem Geist zu hören. So vernimmt er, was sie von der Vergangenheit flüstern, der Gegenwart und vermag manchmal auch einen vagen Blick in die Zukunft zu erhaschen. Man nennt sie auch die Herren der Zeit, Schicksalsweber oder schlicht Seher. Bei den Rakshanern kennt man sie als Zeittänzer. Es fällt schwer, etwas so schwer Fassbares in geeignete Worte zu fassen und es dauerte, bis man sich auf einen einheitlichen Begriff festlegte. "


    Da Verrill besorgt schien, griff er nach ihrer Hand. Die seine war heute kalt, doch sein Griff stark und liebevoll.


    "Ein Augur ist jemand, der einst selbst auf der Schwelle zum Tode stand und mit viel Glück und Ainuwars Wille in die Welt der Lebenden zurückkehren konnte. Auch ich bin ein Augur, meine Gabe jedoch roh, da erst vor einem Jahr entfaltet. Irving ist mein spiritueller Berater und Mentor und er irrte noch nie. Durch den Nahtod oder sogar das kurzzeitige Ableben ist die Wahrnehmung eine andere. Der erste Schleier ist für einen Augur durchlässig und er hört die Stimmen der Toten. So weiß er um die Geschichten der fernen und nahen Vergangenheit, begreift manch Verzwickung der Gegenwart und vermag mitunter einen Blick in die Zukunft zu erhaschen. Es ist eine sehr seltene magische Gabe. Man kann sie nicht erlernen, die meisten Auguren werden vollkommen unmagisch geboren. Man bringt sie mit sich aus dem Totenreich oder nicht."


    Er schenkte Linhard einen freundlichen Blick.


    "Irving genießt mein Vertrauen aus gutem Grund. Er wird mir Rat geben, was diesen Geist betrifft, den ich für Lazzaro Fedele halte. Lazzarro Fedele war der erste Leone di Marino, der erste Duca. Jener, der aus der Tiefsee hinauf zum Licht schwamm, an Land ging und den weißen Pelz ablegte, den ich heute trage, um als Mensch zu wandeln. Bei ihm waren seine treuesten Gefolgsleute, alle in der Gestalt von Seelöwen, doch schwarz - sie werden heute durch die Pretorianos repräsentiert. Er lehrte die Menschen Zivilisation, nahm sich eine Menschenfrau, genau wie seine Begleiter und so entstanden die ersten Ledvigiani."

  • Verrill hielt die Hand von Tazio fest und schränkte ihre Finger mit seinen. Linhard hatte gut überlegt, natürlich gab es immer Leute die sich einen Großherzog benutzen wollten. Ob für sich selbst, ihre Familien oder als Lobbyisten. Ein Großherzog musste mit der Wahl seiner Freunde vorsichtig sein. Allerdings lebten falsche Freunde in der Nähe eines Duc oder Duca gefährlich. Man konnte sie ein einziges Mal hintergehen, dann war man einen Kopf kürzer.


    Aber zwischen Fürsprache, Bitte, Beeinflussung und geheuchelter Freundschaft lagen Welten. Auch wenn die Übergangen oft fließend waren. Eine Bitte konnte selbstlos anfangen und zum Selbstläufer werden. Verrill waren solche Dinge genauso bekannt wie Tazio. Dennoch war sie froh um Linhards Warnung.


    "Langsam, ich denke wäre Tazio ein Ghul, wäre er ein Untoter. Folglich hätte ich kein Kind von ihm empfangen können. Und er fühlt sich auch nicht wie ein Untoter an. Natürlich kann der Geist ein Versuch sein, Tazio zu manipulieren. Davon müssen wir genauso ausgehen, wie von dem Gegenteil. Ebenso könnte er ein hilfreicher Geist sein.


    Souvagne hat ebenfalls eine Seherin am Hofe. Zara Loiselle, sie ist dem Duc persönlich verpflichtet und sozusagen die Haus- und Hofhexe von Duc Maximilien Rivenet de Souvagne. Beraterin, Alchemistin, Giftmischerin, Seherin und Weissagerin des Duc. Sie stammt noch aus Großvaters Zeiten, Alain stellte sie ein. Ob sie ihn von seiner Frau warnte? Möglich wäre es gewesen, denn die beiden hatten mehr als ein unterkühltes Verhältnis wie Paps mir sagte.


    Aber dies ist jetzt nicht das Thema. Woher Seher ihre Macht haben, dass habe ich nicht gewusst und dass Du selbst einer bist Tazi, dass war mir ebenso unbekannt. Ich vermute, wenn man diesen Schritt geht, diesen gewaltigen Schritt vor dem es eigentlich kein zurück mehr geben dürfte, da ändert sich nicht nur etwas im Körper, es ändert sich auch etwas im Geist. Man durchschreitet ein Tor. Genau wie wenn man ein Buch aufschlägt, offenbart sich einem Wissen.


    Hier im Angesicht des Nexus, hat sich Dir eine Fähigkeit offenbart. Mit den Toten sprechen zu können ist eine mächtige Gabe. Sie ständig zu hören ist vermutlich Segen und Fluch zugleich. Und ich kann mir denken, welche Toten nach Dir rufen Schatz. Ich kann nur hoffen und dafür beten, dass sie Dich nicht anklagen. Denn Du hast alles dafür gegeben, Deine Leute wieder Heim zu führen.


    Für die Entscheidungen Deines Vaters kannst Du nichts. Aber der Duca ist ewig, so wie der Duc de Souvagne. Der Duca entschied den Zwergen zu helfen. Der Duca entschied abzurücken und seine Leute zurück nach Ledvico zu führen. Der Duca... nicht Sirio, nicht Tazio, sondern der Duca. So sieht es das Volk Tazi.


    Du bist dennoch unter all dem Ornat ein Mensch und Du kannst nur das geben was Du hast. Und bedenke, dass ist sehr viel, auch wenn Du es selbst nicht siehst. Dafür siehst Du andere Dinge, Du siehst hinter den Schleier.


    Oh auch wenn es gerade nichts mit dem Thema direkt zu tun hat, weißt Du wie man diese Wissenschaft nennt? Also sich mit der Frage der Gesamtheit zu beschäftigen? Metaphysik. Warte dazu gibt es ein wunderschönes Bild, dass Dir Deine außergewöhnliche Gabe vielleicht ein klein wenig besser erklärt, als es jedes Wort könnte", bat Verrill, stand auf und stöberte in einem ihrer vielen Bücher. Sie zückte ein bestimmtes, schlug es auf und blätterte.


    Mit liebevollem Lächeln hielt sie das Buch ihren Ehemännern unter die Nase.

    "Du der hinter den Schleier blickt", sagte sie voller Liebe und Stolz.


    Bild aus Verrills Buch der Metaphysik:

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    "Wer einmal einen Blick jenseits aller Normen warf, wer den Sinn des Seins hinterfragt und auf allen Ebenen sucht, wird den einen oder anderen Schleier lüften", erklärte sie.


    "Ist Lazzarro ein tatsächlicher Mensch gewesen, oder ist er eine Legende? Falls er existierte, war er ein Gestaltwandler oder was war beziehungsweise ist er?", fragte Linhard während er das Bild betrachtete. Irgendetwas daran kam ihm seltsam vertraut vor, obwohl er das Bild noch nie gesehen hatte. Oder vielleicht doch? Dunkel erinnerte er sich daran, dass es mit Ciel gewesen sein musste. Nur wo?


    Chiara riss Lin aus seinen Gedanken, als sie gemeinsam mit Irving das Gemach betrat.


    "Eure Majestät, wie gewünscht der Seher Irving", verkündete Chiara respektvoll und zog sich zurück.

  • Der schwarzhaarige Mann, der eine extravagante Robe trug, die trotz der Witterung seine blanke Brust zeigte, verneigte sich vor den drei Hoheiten. Als er sich aufrichtete, hatten sie Gelegenheit, ihn genau zu betrachten:


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    "Wir sprechen privat, Irving", sagte Tazio freundlich. "Meine geliebte Gemahlin Verrill und meinen geschätzten Ehebruder Linhard hast du sicher im Palast schon gesehen, auch wenn ihr wohl noch nicht miteinander gesprochen habt. Verrill, Linhard - mein spiritueller Mentor, Berater und Freund Irving."


    Irving schmunzelte. Tazio machte eine auffordernde Geste. "Berichte uns bitte von dem Monument."


    Irving blickte Verrill und Linhard so offen an, dass es gerade eben noch nicht als Affront gelten würde. Linhard noch einen Moment länger. Dann begann Irving zu erzählen.


    "Im Jahr 152 stand plötzlich ein Monument mitten in Monleone. Es schien aus einer Eisenlegierung zu bestehen und ragte turmhoch hinauf zu Alvasheks Licht. Niemand konnte sagen, woher es gekommen war, aber es war offensichtlich ein Mahnmal, denn es brachte Verzweiflung über das Volk von Monleone. Für meinen Vater kam dieses Mahnmal jedoch nicht überraschend, hatte er sein Erscheinen doch im Traum geweissagt, da die Ledvigiani sich allzu sehr von ihren Wurzeln entfernt hatten und Ainuwar ihnen zürnte.


    Meines Vaters Fähigkeiten waren so überragend, dass er als Augur von Duca Ernesto Sirio di Ledvico empfohlen wurde. Seine Hoheit war zunächst skeptisch, darum ließ er genau protokollieren, wann mein Vater welche Weissagung machte - und jede Einzelne bewahrheitete sich.


    Dass der Agent Mercer Desnoyer eine Gefahr für die Krone sein würde, weissagte er zum Beispiel, ihr könnt es nachprüfen. Ist es 168 nicht genau so gekommen? Auch zu Beginn des Jahres 170 hatte mein Vater eine Vision, die Toten sprachen lauter denn je. Es waren die ermordeten Ruspanti, die zu ihm sprachen und er weissagte, dass sie erneut ihren Platz an unseren Höfen benötigen.


    Seine Warnungen, was geschehen würde, sollte dieser Wille nicht erfüllt werden, waren jedoch so drastisch, dass Ernesto Sirio nicht wagte, an sie zu glauben, ungeachtet dessen, als wie glaubwürdig sich mein Vater bislang erwiesen hatte. Der Kult der Ruspanti wurde nur sehr zögerlich und halbherzig wieder erweckt - und kein einziger Ruspante hielt Einzug in den Palazzo Ducale. In Souvagne war es noch schlimmer, denn Ernesto Sirio trat aus Scham nicht mit diesem Anliegen an Alain Etienne de Souvagne heran. Was dementsprechend am Ende des Jahres in Souvagne geschah, darüber sind wir alle im Bild. Der tragische Unfall von Duc Alain Etienne und seines Thronfolgers, was auch bei seiner Hoheit in Ledvico große Bestürzung auslöste. Fortan zweifelte er nicht mehr. Er vertraute den Weissagungen, lebte nach Ainuwars Wille und die Ruspanti kehrten 170 zurück an den Palazzo. Und er sollte belohnt werden.


    In derselben Nacht erblickte ich das Licht der Welt. Zufall? Natürlich nicht. Was geschah ebenfalls im Jahr 170? Das Monument - es verschwand. Ainuwar hatte Ernesto Sirios Lebenswandel erkannt. Es verschwand mit Pauken und Trompeten. Es war, als hätte Ainuwar einen Blitz aus dem Äther hinabgeschickt, der direkt in die Spitze des Monuments einschlug. Ein weißblaues Licht blähte sich auf und der Dhunico tobte. Als die Menschen wieder auf die Beine kamen und die tränenden Augen wieder sehen konnten, war das Monument verschwunden."

  • Verrills Augen verfinsterten sich für einen Moment, als sie Irvings Worten lauschte.


    "Dein Vater hat also den Tod meines Großvaters nahen sehen und hat es nicht für erforderlich gehalten, einen Duc zu warnen? Mit welchem Recht hat Dein Vater geschwiegen und einem Großherzog dem Tode überlassen? Weißt Du überhaupt, wie er zu Tode gekommen ist? Weißt Du, dass der Unfall kein Unfall gewesen ist? Es gibt auch Zufälle, die zur gleichen Zeit eintreffen und dennoch nichts miteinander zu tun haben.


    Im Sommer als Kind habe ich jeden Morgen eine Schale Erdbeeren gegessen. Ging ich dann hinunter zum Meer und habe geangelt, habe ich stets viele Fische gefangen. Mein älterer Bruder Dreux, fing keinen einzigen Fisch. Gleicher Haken, gleicher Köder, gleiche Stelle - nichts.


    Kein einziger Fisch hat bei Dreux angebissen. Ich habe aus Spaß behauptet, die Erdbeeren würden mir Glück bringen. Dreux schob dies als Unsinn beiseite. Jeden Morgen aß ich meine Erdbeeren, zog die Fische aus dem Meer und mein Bruder ging leer aus. So verbrachten wir die erste Woche unseres Urlaubs.


    Eines Morgens sah ich, wie Dreux sich mit langen Zähnen und voller Widerwillen eine Schalen Erdbeeren hineinzwängte. Er aß sie, als handelte es sich dabei um lebende Nacktschnecken, aber er verschlang eine Erdbeere nach der anderen. Und was soll ich sagen? An diesem Tag zog er genau wie ich einen Fisch nach dem anderen aus dem Wasser.


    Dreux war aus dem Häuschen und sagte, dass Erdbeer-Ritual hätte auch bei ihm gewirkt.


    Hat es das wirklich?

    Was haben Erdbeeren mit Anglerglück zu tun?

    Oder war das nicht alles einfach nur ein Zufall, wenn auch ein ziemlich seltsamer?


    Wer sagt mir, dass die Weissagung Deines Vaters und der Unfall meines Großvaters nicht ein weiterer Zufall dieser Kategorie ist? Denn ist es kein Zufall, so frage ich mich, warum Dein Vater schwieg und damit durch sein Schweigen den Tod des Großherzogs von Souvagne heraufbeschworen hat.


    Er hat ihn nicht getötet, aber er hat seinen Tod auch nicht verhindert.

    Eine Warnung und der Ausgang dieses Hochverrats wäre ungewiss gewesen. Aber Dein Vater schwieg. Dein Vater wusste von dem nahenden Unglück, er schwieg, er ließ den Großherzog sterben.


    Das könnte auch etwas anderes bedeuten als Hellsicht.

    Dein Vater war Teil der Verschwörung, daher wusste er davon. Dein Vater schwieg, weil er den Duc de Souvagne tot sehen wollte. Und Du brüstest Dich heute mit seiner Weissagung, die nichts weiter als ein mörderischer Hochverrat gewesen ist.


    Wieso schiebst Du das Schweigen Deines Vaters auf den Duca die Ledvico? Wieso behauptest Du Ernesto Sirio trat aus Scham nicht mit diesem Anliegen an Alain Etienne de Souvagne heran? Wäre Dein Vater nicht ebenso dazu in der Lage gewesen? Ist es nicht die Pflicht eines jeden aufrechten Mannes, der von einer Straftat weiß, diese zu melden? Sind Seher etwa davon ausgenommen, falls sie denn sehen?


    Was siehst Du nun Seher?

    Wie lautet das Schicksal meines Mannes?

    Was ist Dein Schicksal, hier und heute Irving? Was sagt Dir Dein "magischer" Blick?", fragte Verrill mit einer Schärfe in der Stimme, die an geschliffenen Stahl erinnerte.


    Schützend stellte sich Gregoire neben ihren Mann und ließ Irving nicht aus den Augen.

  • Tazio blickte Verrill bestürzt an. Mit einem solchen Wechsel der Stimmung hatte er nicht gerechnet. Er würde kein Wort sagen, was die Autorität seiner Gemahlin infrage stellte, aber er konnte auch nicht Irving schutzlos lassen! Er lehnte sich ein wenig zurück. Wenn die Körperhaltung sich entspannte, dann entspannte sich manchmal auch der Geist. Vielleicht hätte er doch einfach auf den Ruf der Toten hören und aufbrechen sollen.


    Irving schlug ein Bein über und musterte Verrills Mund, da er ihr nicht in die Augen blicken durfte.


    "Das Schicksal von Tazio ist ein Gutes, das vorweg. Ihm steht es zu, Ledvico in eine goldene Ära zu führen, auch, da er eine gute Wahl traf, was seine Frau anbelangt. Du spielst eine wichtige Rolle für das kosmische Gleichgewicht in Ledwick, genau wie dein werter Gemahl, ihr gehört hierher, so wie auch die Ruspanti, die zu Unrecht verfolgt worden sind. Mein Vater war spiritueller Berater des Duca, nicht des Duc. Und wer weiß, vielleicht warnte er Alain Etienne? Woher willst du wissen, dass er es nicht tat? Womöglich wurde er für seine Dreistigkeit von ihm davongejagt? Was mein kurzfristiges Schicksal betrifft, so schweigen momentan die Toten und ich kann ihre Antworten nicht erzwingen, doch da es auf lange Sicht sehr gut für mich aussieht, bin ich unbesorgt. Woher diese Zweifel? Wie kann ich dich von meiner Aufrichtigkeit überzeugen?"

  • "Deine Weissagungen haben bis jetzt keine konkreten Formen angenommen, nichts worauf man Dich festnageln könnte. Deine Sicht ist die eines Arashi Glückskeks. Dir wird Großes beschieden sein. Verzage nicht - lebe. Ebenso sind die Deutungen der Sterne niemals wahrhaftig. Gut ein Gegenbeispiel, ich greife Deinen Vorschlag auf und Du beweist mir Dein Können.


    Du bist ein Seher, Du siehst.

    Astrologen erstellen Horoskope für ein Sternzeichen.


    Wir halten es ganz einfach, wir machen den Gegentest. Wärst Du ein Astrologe, würde ich Dir nun ein Horoskop benennen und Du nennst mir das dazugehörige Sternzeichen. Sprich Du sagst mir, für welches Sternzeichen es gilt.

    In Deinem Fall benenne ich Dir ein Schicksal und Du sagst mir, zu welcher Person es gehört. Ein simpler Test für jemanden der wirklich sieht.


    Freund oder Feind im Leben wie im Tode vereint, schon bald wird ein weiterer Mann als Toter zu meinem Manne sprechen.

    Wer ist das?", fragte Verrill mit nicht zu deutender Miene.


    Linhard schaute von einem zum anderen, während seine Hand auf seinem Oberschenkel ruhte, die Finger direkt auf seinem Dolch.

  • Tazio warf Linhard einen kurzen Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf. Irving war keine Gefahr, er war ein Freund. Irving seinerseits warf Tazio einen hilfesuchenden Blick zu, doch dessen Gesicht blieb vollkommen neutral.


    Irving musste diesen Konflikt allein austragen.


    "Werte Verrill, lass mich dir das Wesen eines Auguren erklären. Die Passion der Auguren ist eine stille, schwer greifbare Nekromantie, die ohne Beschwörungen und wandelnde Tote auskommt. Sie ist passiv, empfangend, niemals von den Toten fordernd, niemals sie befehligend. Die Toten zurück durch den Schleier des Nexus in die Physis zu rufen liegt nicht in der Macht des Augurs, seine Fähigkeit resultiert allein auf einem zusätzlichen Sinn für die Stimmen aus dem Jenseits. Wenn aber die Stimmen schweigen, dann ist auch der Augur taub. Es ist vergleichbar mit dem Vorbeigehen an einer Reihe von Türen. Man hört dumpfe Stimmen, manchmal deutliche Worte. Jemand mit einem schlechten Gehör hingegen, ein Nicht-Augur in dem Falle, hört gar nichts, bis die Tür sich einst selbst für ihn öffnet."

  • Verrill nickte verstehend und schenkte Irving ein freundliches Lächeln.


    "Also verstehe ich dies richtig, die Toten sprechen durch Dich, sobald sie dies wünschen. Weder kannst Du sie befragen, noch in anderer Weise Einfluss auf sie nehmen? Sie reden, wenn ihnen danach ist. Ebenso schweigen sie, sollten sie sich nicht äußern wollen. Du bist also das Sprachrohr der Toten, nicht jener der sie ruft oder zu etwas zwingt?", hakte Verrill nach.

  • "Auch ein aktiv praktizierender Nekromant ist dies, natürlich", gab Irving zu. "Doch hört er immer nur einen kleinen Ausschnitt. Ich höre sie alle - und Tazio hört sie auch!"


    Irving fühlte sich zusehend unwohl. Vielleicht hätte er das Lichtfest doch an anderer Stelle verbringen sollen.

  • "Ihr hört sie alle, Ihr seid das Sprachrohr der Toten. Wärt Ihr selbst tot, was hätten die Toten davon? Nichts. Warum sollten sie ihrem lebenden Freund in der Physis nicht helfen aus dem Reich der Toten heraus? Ihr helft von der Seite der Lebenden, es ist ein Austausch. Geben und nehmen. Die Toten hätten nichts davon, Euch zu schaden.


    Sie warnen Euch, weisen Euch auf Dinge hin, die anderen verborgen bleiben. Ihr erfahrt so von Gefahren, die anderen verborgen bleiben. Oder zumindest erfahrt Ihr so früh davon, dass Ihr jenes Unheil, dass sich anbahnt noch abwenden könntet. Demzufolge werden Euch die Toten gerade in dieser wichtigen Situation beistehen. Meine Aufgabe war gestellt, antworte. Wer ist die von mir benannte Person", hielt Verrill dagegen und nagelte Irving mit dem Blick fest.


    Der Bursche war ihr suspekt und hatte er damit nicht angedeutet, dass auch Tazio ein Nekromant war? Sei es drum, wichtiger war herauszufinden, welchen Einfluss Irving auf ihren Mann hatte. Wer oder was Irving war. Vielleicht tatsächlich ein Seher, oder ein Scharlatan, der sich am Hofe eingenistet hatte, wohlwissend was ein junger Mann hören wollte der derartige Verluste erlitten hatte, dass er sogar die Stimmen seiner gefallenen Freunde hörte.


    Es gab nichts schändlicheres, als das Herzleid eines Menschen auszunutzen.

  • "Ich erbitte einen Moment Geduld."


    Irving schloss die Augen, als würde er meditieren, die Hände locker im Schoß verschränkt.


    'Thabit', rief er gedanklich. 'Geliebtes Wesen. Diese verdammte Ducachessa unterstellt mir, ich sei ein Scharlatan! Sie will, dass ich ihr ein Rätsel beantworte, Tazio hilft mir nicht. Das Rätsel lautet: Freund oder Feind im Leben wie im Tode vereint, schon bald wird ein weiterer Mann als Toter zu meinem Manne sprechen. Wer ist das? Falls du keinen Rat weißt, was soll ich sagen? Linhard hat die Hand am Dolch. Und kann dieses Himmelsauge, Aurelien, uns hören?'

  • Thabit


    `Das ist ein Reim aus dem Hause Hohenfelde. Er beruht auf einer alten Legende.

    Einst wurde ein alter Hohenfelde der Ketzerei beschuldigt und so wurde er in den Aschelanden vor den Großherrn gezerrt.


    Der Großherr stellte ihm eine einzige Frage, um zu beweisen dass die Macht des Hohenfelde eine Lüge sei.

    Das es niemanden gab, der mit den Toten sprechen konnte.


    "So sage mir Totenbeschwörer der Hohenfelde, wann ist Deine Zeit abgelaufen?", fragte der Großherr und lächelte.

    Darauf erwiderte der Hohenfelde...


    "Freund oder Feind im Leben wie im Tode vereint...

    ich sterbe genau eine Stunde vor Euch mein Gebieter...."


    Und so entging dieser Mann dem Scheiterhaufen, denn ob er die Wahrheit sprach oder doch ein Scharlatan war, darauf wollte es der Großherr nicht ankommen lassen.


    Noch heute ist der Spruch "Freund oder Feind im Leben wie im Tode vereint" ein Code in ihrer Familie. Verrill denkt, Du bedrohst ihren Mann. Die Botschaft übersetzt lautet, tötest Du Tazio di Ledvicco bist Du ebenfalls tot. Du wirst die nächste Stunde nicht überleben. Weißt Du die Antwort nicht, wird Linhard Dich ermorden. Das Opfer bist Du.


    Zu Deiner Frage, nein niemand kann uns hören, wir reden über eine andere Ebene, die Verbindung wird durch mich gehalten. Unser Gespräch wird nicht durch den Nexus getragen, sei unbesorgt´, antwortete Thabit beruhigend.

  • Irving zuckte deutlich sichtbar zusammen und wurde kreideweiß. Er öffnete die Augen. "Ich sterbe genau eine Stunde vor Euch, mein Gebieter." Er begann zu zittern. Er war so vieles in seinen zahlreichen Leben gewesen, doch vieles auch noch nicht. "Darf ich nun bitte gehen?"