Das Lichtfest in Ledwick
Die Nacht kam früh an diesen Tagen. Das almanische Lichtfest fand in der dunkelsten Zeit des Jahres statt. Tazios Aufgabe als Leone di Marino war es, sein Volk sicher durch die Dunkelheit zu führen, zurück ins Licht. Doch er, das leibhaftige Symbol der Hoffnung, hatte zu keiner anderen Zeit des Jahres solche Angst. Seine Gemahlin Verrill und deren erster Mann Linhard, die beide mit in seinem Himmelbett schliefen, mussten ertragen, dass er sich in der Nacht vor Beginn des ersten Festtages unentwegt in seinem schweißnassen Nachthemd wälzte, so dass die Matratze wackelte. Sein Leibdiener Vianello musste dem Duca schließlich mitten in der Nacht ein heißes Bad einlassen, doch weder das noch die große Tasse heißer Büffelmilch mit Honig halfen, ihn zu beruhigen. Tazio sprach nicht ein Wort und starrte beim Baden stumm auf das Fenster, vor dem die Vorboten des unaufhaltsam nahenden Winters lauerten, der Frost, der Tod und die Dunkelheit.
6.12. Profezia - Tag der Weissagung
Zur Zeit des Sonnenaufgangs, als Alvashek sich blutend aus dem morgendlichen Dunst des Dhunico erhob, stand Tazio in vollem Ornat auf der Scala di luce, der Treppe des Lichts. Mit der Dämmerung kam das kalte, schwache Licht, doch noch war es dunkel. Die Prachttreppe führte von der zweiten Etage des Palazzo in den Innehof, der für die Bevölkerung offen stand. Hunderte hatten sich versammelt. Viele von ihnen trugen heute Schilfkronen. Geistliche und weltliche Würdenträger hatten sich genau so eingefunden wie das gewöhnliche Volk. Jeder hielt eine Laterne in der Hand, in der noch kein Licht brannte. In warme Gewänder gehüllt blickten sie hinauf zu ihrem Duca, der in vollem Ornat dort oben stand. Seine Gestalt war vollkommen unter weißem Pelz, türkisblauen Tüchern, beinerner Maske und schwarzer Korallenkrone verborgen. Heute war er zudem geschmückt von einer zweiten Krone aus Schilfblättern. Ihn flankierten zwei überlebensgroßen Ruspanti aus weißem Neve-Marmor.
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Unmittelbar neben ihm stand seine geliebte Verrill. Es war ihm wichtig, dass sie heute an seiner Seite war. Unter ihrem Herzen ruhte ihr erstes gemeinsames Kind. Wenn es ein Junge war, der künftige Leone di Marino. Hinter ihnen standen Tazios Leibdiener Vianello und Verrills Zofe Chiara. Auch die Pretorianos standen in ihren schwarzen Rüstungen stoisch in der Nähe, angeführt von Paladino Ambrogio di Caldera. Dunkel, schweigend, bedrohlich wie der nahende Winter.
"Dies sind die dunkelsten Tage des Jahres", begann Tazio laut und deutlich. "Sie sollen uns Tage der Einkehr und der inneren Heilung sein. Das Wissen, dass die Dunklen Tage bald enden werden, leitet uns. Durch Laternen und Gebete, Gesänge und Rituale rufen wir wie jedes Jahr den Geist des Leone di Marino und das Licht zurück. Aus dem Dunkel des Krieges sind wir mit unseren Soldaten zurück ins Licht unserer Heimat gekehrt. Der Winter von Kaisho ist vorüber, der Frühling einer neuen Ära hat begonnen. Uns erwartet ein strahlendes neues Jahr.
Ab heute wird unser ehrenwerter Vater Ernesto Sirio di Ledvico ausschließlich bei seinem ledwicker Namen benannt. Die Nennung der rakshanischen Variante ist untersagt und wer unseren Vater bei einem falschen Namen benennt, dem wird die Zunge herausgerissen. Selbiges gilt für die Erwähnung jener fünf, welche den Walbeinthron in ihren Klauen hielten und hofften, wir würden auf den Totenfeldern vor Dunkelbruch verbleiben. Ihre Wappen wurden gebrochen, ihre Namen aus den Annalen und Urkunden getilgt und ihre Familien samt und sonders von unseren Soldaten in die Wüste Sundhi gejagt. Sie wurden gehetzt bis zum Tod und ihre Leichen den Aasfressern überlassen, so wie sie selbst Aasfresser waren.
Für die gefallenen Söhne Ledwicks, die ihr Leben für Krone und Land gaben, wird für den 3.1. der Tag der Gefallenen ausgerufen, an welchen wir ihnen im kommenden Jahr das erste Mal Ehre und Dank erweisen werden.
Heute aber feiern wir die Profezia - den Tag der Weissagung, an dem San Celestino, der Bote des Lichts, die Ankunft des Leone di Marino prophezeite. Seine Weissagung birgt die Hoffnung, dass auf Dunkelheit Licht folgen muss und auf Ebbe Flut. Mögen seine Worte der Hoffnung uns durch die Dunkle Zeit leiten wie die Sterne den Seemann bei Nacht."
Auf dieses Stichwort hin öffnete sich ein Eingang, aus dem eine Prozession von festlich gewandeten Männern mit Schilfkronen trat, von denen jeder ein verziertes Gefäß mit Feuer an einer Kette vor sich trug. Der Rauch duftete nach Amber, jenem seltenen und teuren Duftstoff, der aus Pottwalen gewonnen wurde. Es waren Ruspanti, die nun herumgingen und jedem, der eine Laterne trug, etwas von ihrem Licht schenkten. Tazio selbst mochte die Ruspanti nicht. Einer seiner Vorfahren hatte sie einst allesamt erschlagen lassen. Doch nun, da er selbst Duca war, hatte er das Gefühl, dass er ihrer Unterstützung bedurfte, denn beim Volk waren sie beliebt. Es war seinem Vorfahren nicht gelungen, die positiven Assoziationen, die mit einem Rusapante einhergingen, aus dem jahrhundertalten Gedächtnis seines Volkes zu tilgen. Sie gehörten offenbar zur Seele Ledvicos, so wie Schiff, Kahn und Boot.
Als das Licht verteilt wurde, war die Ansprache beendet und Tazio flüchtete schneller, als angemessen gewesen wäre, zurück in den Palazzo.