Aisorus Aufbruch in die Welt [Einführung]

  • Ich hatte nie gedacht, einmal eine solche Reise anzutreten wie die, welche mich nach Obenza führte. Ausgerechnet! Und um ehrlich zu sein: Reisen war nichts, das mir überhaupt jemals in den Sinn gekommen war. Ich hatte mein ganzes Leben bis dahin in unserem verwinkelten alten Herrenhaus und dem umgebenden riesigen Garten verbracht, der eigentlich eher eine riesige gepflegte Wildnis war - voller wundervoller alter Obstbäume, die im Frühjahr rosa Blüten trugen, und mit Teichen, in denen goldene und rote Zierkarpfen schwammen, alle so zahm, dass man nur die Hand ins Wasser strecken musste und ihnen die Köpfe streicheln konnte. Das war meine ganze Welt, eine Welt ohne Gefahren, ohne Schmerzen, ohne Hinterhältigkeiten und Bosheiten.

    Als der Herbst in den Winter überging, erkrankte mein Vater. Das schockierte mich ungemein, ich wusste nicht wirklich etwas mit dieser Tatsache anzufangen - schließlich war er immer voller Energie gewesen, trotz seiner zahlreichen Jahre. Nie war er ernsthaft krank geworden, er hustete höchstens dann und wann, aber niemals in einer Art, die beängstigend war. Auch wenn sein Haar inzwischen weiß war, erschien es mir absurd, dass er eines Tages sterben könnte.

    Genau das war aber der Gedanke, der mir plötzlich kam, als ich ihn so ausgestreckt auf seinem Bett liegen sah, kreidebleich und mit schwarz verfärbter Haut an Händen, Füßen und Stirn. Schwarzes Fieber, sagte der Arzt. Sehr selten - und sehr tödlich.

    Meine Mutter war beinahe ausgerastet, als der Arzt diese unangenehmen Tatsachen in meiner Gegenwart ausgesprochen hatte - aber auch sie musste einsehen, dass das eine Sache war, die mir zu verheimlichen keinen Sinn gemacht hätte. Schließlich ging es hier nicht um irgendwen, den ich kaum kannte, sondern um meinen Vater.

    Ich war sehr aufgebracht und hatte, das muss ich zugeben, furchtbare Angst. Diese Angst resultierte vor allem aus meiner Unsicherheit. Eine Situation wie diese war mir einfach so fremd, fremder als alles, was in den alten Geschichten stand. Sie erschienen mir weniger absurd als die Tatsache, dass mein Vater sterben könnte. Eigentlich war ich sogar ein bisschen verärgert, obwohl ich natürlich alt genug war, um zu wissen, dass dies nicht geschah, um mir Schmerzen zu bereiten - solche Dinge passieren einfach, aber wenn man nicht daran gewöhnt ist, verstören und verärgern sie einen viel mehr als nötig.

    Am Abend lauschte ich an der Tür, hinter der meine Mutter und der Arzt am Tisch saßen. Das mag nicht anständig gewesen sein, aber es war so: Ich wollte mich nicht an dem Gespräch beteiligen und eigentlich schlich ich nur ratlos im Haus herum, da hatte ich die Gesprächsfetzen gehört und konnte nicht anders, als auf dem Flur stehenzubleiben.

    Lange ertrug ich es nicht, denn meine Mutter war völlig aufgelöst und weinte offenbar hemmungslos. Immerhin schnappte ich aber auch auf, dass wohl Mehl aus den Hörnern des Eishais meinen Vater retten könnte, dies aber sehr selten sei und möglicherweise eine Wartezeit von mehreren Monaten bestünde, bis das Medikament verfügbar sei, was er keinesfalls überleben würde. Man müsste schon selbst losziehen und es besorgen, in größeren Städten könnte man vielleicht Glück haben und etwas davon auftreiben, notfalls auf dem Schwarzmarkt.

    Sie schrie ihn an, dann solle er das doch gefälligst tun, selbst wenn unsere ganzen Ersparnisse dafür draufgingen (wir lebten eigentlich nur noch von dem, was unsere Vorfahren angehäuft hatten, was zwar nicht wenig war, aber dennoch kein unendlicher Vorrat), worauf er antwortete, dass er sich bemühe, aber nichts versprechen könne.

    Und ich? Ich schlief schlecht in dieser Nacht, eigentlich gar nicht. Obwohl ich generell kein Vielschläfer bin, fühlte ich mich am Morgen zerschlagen. Ich hatte allerdings auch einen Entschluss gefasst. Ich konnte meinen Vater nicht sterben lassen, also wollte ich selbst versuchen, ihm dieses Pulver zu besorgen.

    Natürlich teilte ich meiner Mutter am Morgen meine Pläne mit, auch wenn die Vorstellung, dass ich von zuhause fortgehen könnte, für sie einem Albtraum gleich kam. Sie sah letztendlich doch ein, dass ich hier wohl etwas Gutes und Richtiges tat und dachte wohl insgeheim auch, dass ich ohnehin zu alt sei, um weiter Jahr für Jahr in diesem Haus zu bleiben, obwohl es ihr schwerfiel, sich diese Wahrheit einzugestehen. Sie hing so sehr an mir und fürchtete immer um mich, aber ich war nun mal ein erwachsener Mann und nicht mehr ihr kleiner Junge.

    Also zog ich - mit einem nicht gerade geringen schlechten Gewissen - in die Welt hinaus. Zum ersten Mal in meinem Leben, so absurd es angesichts meines Alters auch klingt. Ich packte meine Sachen, darunter auch ein paar Dinge, auf deren Mitnahme meine Mutter bestanden hatte, und folgte der Landstraße bis zum Hafen, was nur ein Fußmarsch von etwa einer Stunde war, doch der Weg kam mir endlos weit vor. Schließlich war ich solches Laufen nicht gewöhnt.

    Am Hafen war ich zunächst völlig planlos. Mir gefiel der Geruch nicht, der von dem Ort ausging, so völlig anders als zuhause, wild und salzig. Auch die Leute rochen anders, und sie sahen merkwürdig aus, irgendwie schäbig. Aber sie waren alle freundlich zu mir, da spielte ihr Aussehen und ihr Geruch keine Rolle mehr.

    Ich betrachtete die Karte, die ich eingepackt hatte, und überlegte, wohin ich fahren sollte. Wo würde ich wohl die besten Chancen haben, diese Medizin aufzutreiben? die Welt war so lächerlich riesig - das war mir bis eben gar nicht wirklich bewusst gewesen. So saß ich den ganzen Nachmittag da am Kai, schaute den Schiffen zu und dachte nach. Aber ich konnte keine Entscheidung treffen - zu groß war die Angst, dass es die falsche sein könnte. Andererseits verschwendete ich mit dem Herumsitzen auch nur wertvolle Zeit, also raffte ich mich letztendlich auf und ging in eine kleine Taverne, aus der Stimmen und Gelächter drangen.

    An einem Tisch direkt neben der Tür saßen ein paar wilde Kerle, die genau so aussahen wie die drei Piraten, von denen ich einmal in einem Märchen gelesen hatte. Nur dass sie vermutlich nicht verflucht waren, denn das hier war schließlich keine Geschichte. Sie unterhielten sich so laut, dass man nicht einmal bewusst lauschen musste, um jedes Wort zu verstehen. Sie sprachen über einen Ort, an dem es angeblich ALLES gab - und lachten rau.

    Das ließ mich aufhorchen. Ich trat zu ihnen an den Tisch und fragte sie, was für einen Ort sie meinten.

    Sie sahen mich komisch an. Ihre Blicke konnte ich nicht im Geringsten deuten, aber irgendetwas schien sie wohl zu amüsieren. Und einer, der mit dem blutroten Kopftuch, sagte, dass sie von Obenza sprächen. Ja, bestätigte er, das wäre genau dieser Ort, an dem es alles gab - wirklich alles, man musste nur danach suchen.

    Natürlich wollte ich wissen, wie ich dort hinkommen könnte. Denn schließlich schien es genau der Ort zu sein, nach dem ich gesucht hatte.

    Warum ich dort hinwolle, fragte mich der Kerl mit dem roten Kopftuch, mit einer ganz seltsamen Betonung in seiner Frage, über die ich mir aber keine Gedanken machte.

    Ich erzählte ihm nicht von meinem Vater, nur, dass ich ein seltenes Medikament suche, und er meinte, ja das könne man dort sicher bekommen, wenn man genug Geld mitbringe.

    Das war alles, was ich wissen wollte. Jetzt brauchte ich nur noch ein Schiff, das mich zu diesem "Ort, an dem es alles gab" bringen würde.

    Und er nannte mir eins, eine kleine Frachtdschunke, die im Morgengrauen auslaufen sollte, und lachte merkwürdig.

    Normalerweise nehmen solche Frachtdschunken nicht einfach Passagiere mit, aber ich gab ihnen Geld. Sie waren überrascht über die Menge, fragten aber nicht weiter nach, und wiesen mir eine kleine Nische im Frachtraum zu, neben ein paar Säcken voll Getreide. Da unten war es nicht sehr gemütlich, aber ich konnte nicht wählerisch sein, schließlich hatte ich keine Zeit, auf etwas Besseres und Bequemeres zu warten.

    Eine Woche schlief ich also da unten bei den Getreidesäcken und mir war in der ersten Zeit speiübel. Wann immer ich konnte, ging ich an Deck und schaute aufs Meer. Wie gewaltig es war, wie endlos! Wirklich genießen konnte ich das aber erst nach etwa fünf Tagen, als meine Seekrankheit allmählich nachließ. Der Besatzung war ich offensichtlich ziemlich egal, sie hatten mich nur darauf hingewiesen, dass ich keinen Ärger machen und niemandem im Weg stehen solle. Das war mir recht, ich wusste nämlich gar nicht, worüber ich mit diesen seltsamen, rauen Gestalten reden sollte. Wie literarisch interessierte Feingeister sahen sie nicht aus.

    Natürlich war mir klar, dass ich mich am "Ort, an dem es alles gab" trotzdem überall durchfragen musste, um zu finden, was ich suchte. Wie es dort wirklich aussah, davon hatte ich allerdings keine Vorstellung. Zu diesem Zeitpunkt brachte ich die merkwürdigen Blicke und das Gelächter der piratenähnlichen Kerle noch nicht wirklich mit meinem Ziel in Verbindung. Hätte ich das mal besser getan - es hätte mir einiges erspart. Aber wie sollte ich, nach all den Jahren, die ich in Geborgenheit und Abgeschiedenheit gelebt hatte? Ich stellte mir Obenza einfach als eine Art exotische Märchenstadt vor, mit glitzernden Dächerkuppeln und gepflegten Steinplätzen, auf denen geschmückte Kamele und Elefanten edle und exotische Waren durch die Gegend trugen.

    Unschwer zu erraten, dass mich, als das Schiff an seinem Zielort einlief, ein mächtiger Schock überkam, der mich beinahe dazu brachte, direkt ins Hafenwasser zu stolpern. Dieser Ort, an den ich hier geraten war, hatte nichts, aber auch gar nichts mit der Märchenstadt aus meiner Vorstellung zu tun, sondern war das krasseste vorstellbare Gegenteil davon. Aber was sollte ich machen? Ich hatte wohl kaum eine andere Wahl, als mich in diese finsteren Gassen zu begeben...

  • Mein erster Gedanke, nachdem ich mich wieder gefangen hatte und am Kai entlangging, war seltsamerweise, dass es hier für die Jahreszeit ziemlich warm war. Ich war sogar versucht, meinen fellgefütterten Umhang auszuziehen. Das brachte ich aber dann doch nicht über mich, stattdessen zog ich mir die Kapuze noch tiefer ins Gesicht.

    Nicht, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon geahnt hätte, wie übel es hier wirklich zuging - nein, das war nicht das Problem. Der Ort erschlug mich einfach nur. Er war viel zu groß, zu finster und er stank zu schlimm. Ich hatte den Geruch des heimatlichen Hafens nicht gemocht, aber der war absolut nichts gegen das hier. Nach Abenteuer roch Obenza nicht, eher nach einer Güllegrube. Die Leute, die hier lebten, taten mir leid, und ich fragte mich, warum sie sich dafür entschieden hatten, diesen Ort so zu gestalten und nicht viel schöner, was sie sicherlich gekonnt hätten, denn hatte nicht jeder einen Sinn für Schönheit und Ästhetik? Ich kannte jedenfalls niemanden, der keinen hatte, und es entzog sich meinem Verständnis, dass ein Leben ohne diesen Sinn möglich wäre.

    Vielleicht war ich noch gar nicht angekommen und schlief gerade unter Deck, weit weg von der Küste - und das hier war nur ein Albtraum, den mir die ständig schwärende Angst um meinen Vater und vor meinem eigenen Versagen beschert hatte? Und selbst wenn nicht - was ich hier gerade vor Augen hatte, war ja nur ein kleiner Teil der Stadt. Woanders sah es sicherlich besser aus. Ich durfte mich nicht gleich von diesem ersten Eindruck einschüchtern lassen.

    Jedenfalls ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass ich einfach nur wieder nach Hause wollte. Um mich dort stundenlang, vielleicht auch tagelang mit einer Kanne Tee in der Bibliothek zu verkriechen. Aber so etwas konnte ich mir jetzt nicht erlauben - ich musste dringend jemanden ansprechen und nach Medikamenten fragen. Je schneller ich das hinter mich brachte, desto besser.