Fleischeslust
Jahr 205 nach der Asche.
Großherzogtum Ehveros, Ruine Drakenstein.
Kein anderes almanisches Großherzogtum spürte vom neuen Frieden so wenig wie Ehveros. Der Tag, an dem es Asche regnete, sollte nicht lange ungesühnt bleiben. Man ahnte, dass der damalige Anschlag auf Burg Drakenstein von Ledwick inszeniert worden war, um unter dem Vorwand des Schutzes, der Aufbauhilfe und der Friedenssicherung Ehveros zu besetzen. Die allgegenwärtige Präsenz dreier ledwicker Legionen sprach eine eigene Sprache, ganz gleich, ob diese Soldaten aufräumten und Nahrungsmittel verteilten, sie blieben eine fremde Streitmacht im Land. Wenige Monate später folgte bereits der ersten Gegenanschlag. Vittorio Pollarotti, der das Kommando über die betroffene Einheit innehatte, ließ sich während einer kurzen Pause sichtlich erschöpft neben Garlyn auf dem blanken Rasen nieder. Mit dem Handrücken wischte er über seine Nase. Gesicht und Hände waren so schmutzig wie der Rest.
»Da wird wohl nichts für dich abfallen«, sagte Vittorio leise zu seinem Freund. »Zu viele Augen.«
»Zu schade«, antwortete Garlyn. Sehnsüchtig sog der Ghul den Duft der toten Körper ein, der süß seine Nase umschmeichelte. »Sind denn keine Ehveroser darunter?«
»Zwei oder drei, aber sie werden behandelt wie gefallene Ledvigiani. Jeder ahnt, was in Zukunft geschehen wird. Die beiden Länder sollen, nennen wir es mal, zusammenwachsen. Da können nicht die Toten der Einen behandelt werden wie Abfall, während man die Anderen in allen Ehren bestattet.«
»Was ist überhaupt passiert?«, erkundigte Garlyn sich, der die ledwicker Soldaten beobachtete. Sie trugen die Leichen, nachdem sie in Leinendecken gewickelt worden waren, zu einem Karren. Schöne, gesunde Männer waren das, die köstlich geschmeckt hätten.
Vittorio zuckte mit den muskulösen Schultern, während er den Abtransport der Toten um einiges weniger enthusiastisch verfolgte. »Ein Anschlag auf meine Kohorte, die hier zum Beseitigen der Trümmer eingeteilt war. Mehr kann man noch nicht sicher sagen. Wahrscheinlich hängt es mit dem Besuch des Marquis Dijon de la Grange aus Souvagne zusammen. Für die Ehveroser muss es wie eine Schändung anmuten, dass nach der Zerstörung auch noch ein Ausverkauf der Trümmer von Burg Drakenstein stattfinden soll. Ich kann sie schon irgendwo verstehen.«
»Es sind bloß verdammte Steine«, murrte Garlyn, der dafür keinerlei Verständnis hatte. »Ob sie von der Burg einer besetzten Hauptstadt stammen oder in einem Bachlauf gesammelt werden macht keinen Unterschied.«
»Und daran«, sprach Vittorio mit schlechter Laune, »erkennt man den Unterschied zwischen einem Naridier und einem Almanen. Du wirst das Prinzip von Heimatliebe nie verstehen, egal wie oft ich versuche, es zu erklären. Behalt deinen naridischen Gedankenschiss für dich. Ich muss wieder an die Arbeit.« Der alte Soldat erhob sich.
Garlyns Hand schnellte ihm hinterher, um ihn am Hosenboden festzuhalten. Bei einer Pluderhose war das einfach. »Versuchst du, mir trotzdem einen Happen zu sichern?«, fragte er so freundlich und so wenig gierig, wie es ihm nur möglich war, während er seinem Freund den Hintern sauber klopfte, um sich bei ihm einzukratzen.
Vittorio schaute ungerührt in die Ferne. »Ich kann nichts versprechen und das habe ich dir auch schon vorher gesagt. Wenn du hier herumlungerst, wird dein Hunger nur schlimmer. Geh nach Hause und nimm dir eine Konserve. Heute Abend wird es spät und die nächste Zeit werde ich nicht frei bekommen. Du brauchst also nicht auf mich zu warten.« Damit ließ er Garlyn zurück und gesellte sich wieder zu seiner Truppe.
Nun genau so schlecht gelaunt zog Garlyn seine Tabaktasche hervor, um sich eine Rauchstange zu drehen. Er machte keine Anstalten, zu gehen. Es war nicht nur die Sehnsucht nach Vittorio, dem er nach dem letzten Streit nur mit größter Mühe hatte folgen können, ohne seine Spur zu verlieren. Als Ghul war er Sklave seiner Triebe, sobald eine Leiche in greifbarer Nähe war. Dieses fleischliche Verlangen war stärker als jede andere Art von Hunger. Der Geruch des Todes hielt ihn hier am Ort der Katastrophe wie eine unsichtbare Fessel, die nur der endgültige Tod hätte lösen können.