Blutsonne
Eins
Aus allen Tälern kroch das Dunkel in rasender Geschwindigkeit, als wäre es lebendig. Ein Schemen auf der Jagd nach allem, was lebt. Es verdunkelte den Himmel, als wäre es Nacht. Ein rotes, trübes Licht blieb hoch oben zurück. Es hätte ein roter Mond sein können, doch die Tageszeit stimmte nicht. Die Sonne, obgleich im Zenit, glomm Dunkelrot wie eine erlöschende Kohle. Die Sonne! In Kaltenburg herrschte sonst allgegenwärtiges Grau. Einen Moment freute Irving sich, dann erlosch sein Lächeln. Das Rot wurde flüssig. Irvings Augen weiteten sich entsetzt, als die rote Sonne auslief. Flüssiges Licht, leuchtend, Sonneblut über Asa Karane, es riss die spärlichen Bäume davon, ertränkte die Sklaven auf den Feldern. Die schäumende rote Flut raste auf die Kaltenburg zu.
"Alvashek", rief er den Namen der Sonne, "Alvashek stirbt! Die Zeit der Blutsonne ist angebrochen", schrie Irving und zeigte zum Himmel.
Nur ein paar verstohlene Blicke zeigten, dass er auf seiner Empore überhaupt gehört worden war. Jemand hustete, krächzend flogen zwei Nebelkrähen vorbei. Irving wohnte von der Empore aus der Prozession bei, um nicht im Gedränge stehen zu müssen. Die Tore der Kaltenburg öffneten sich. Hart dröhnten die eisenbeschlagenen Stiefel, als das Gefolge seines Vaters vorbeimarschierte. Ein schwerer, eiserner Takt, wie der einer Trommel, genau auf das Blut im Ödland zu. Das Klirren der Kettenhemden - rhythmische Rasseln. In Irvings Kopf erklang eine passende Melodie. Die Banner knatterten im eisigen Nordwind und brachten ihn dazu, das schweißnasse Gesicht hinter den Händen zu verstecken.
"Dort kommen Euer Vater und Euer Bruder", informierte ihn Tjark von rechts.
Zaghaft schaute Irving ihn zwischen seinen Fingern hervor an, da er vergessen hatte, dass er dort stand. Wie ein fleischgewordener Fels ragte er neben ihm, verwittert und grau, ein Veteran zahlreicher Schlachten, von oben bis unten magieverbrannt. Die Anweisungen, die Fürst Lindrad von Kaltenburg ihm gegeben hatte, waren unmissverständlich: Irving war zu seiner eigenen Sicherheit in der Kaltenburg zu halten, wo er niemanden bei den Regierungsangelegenheiten störte und es war nach Möglichkeit dafür zu sorgen, dass seine Würde als Fürstensohn dabei gewahrt wurde. Niemand anderes als ein altgedienter Haudegen wie Tjark von Aschbach würde es wagen, mit einem Prinz so umzugehen, dass dies gewährleistet werden konnte.
Irving ließ die Hände sinken. Er blinzelte verwundert, als er wieder nach vorn blickte. Vater und Bruder zogen durch weißen Morgennebel. Da war keine Sonne. Der Himmel war grau und trüb wie immer in diesen Landen. Ein leichter Nieselregen durchweichte den Tross und die Zuschauer. Das Blut war fort. Niemand außer ihm hatte es bemerkt, aber Irving verstand.
"Das war eine Warnung", rief er. "Sie ward an den Himmel gemalt, ich habe sie gesehen! Dieser Krieg wird nicht gut ausgehen. Die Blutsonne, ich sah die Blutsonne am Firmament! Kehrt um, so lange ihr noch könnt! Hört mich, ehrwürdiger Vater und geliebter Bruder! Diese Schlacht wird nicht zu unseren Gunsten ausgehen!" Er schrie sich fast die Seele aus dem Leib, um den Lärm der Rüstungen zu übertönen.
"Wenn ich einen Rat geben darf", maulte Tjark, und natürlich durfte er einen Rat geben, wenn der Fürst höchstselbst ihm seinen verrückten jüngsten Spross anvertrraut hatte, "dann geht in Euer Atelier, um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen. Ihr malt doch gerne. So vergeht die Zeit schneller und Ihr seid abgelenkt von der Sorge. Euer Vater ist ein fähiger Feldherr und Euer Bruder unterstützt ihn nach Kräften. Dies ist nicht das erste Gefecht gegen Wigbergs, aber es wird das Letzte sein. Vertraut mir."
"Behandelt mich nicht wie einen Narren", brüllte Irving ihm ins vernarbte Gesicht. "Ich weiß, was meine Familie geleistet hat und wozu Wigberg fähig ist, zumal die Karten der Diplomatie auch dort neu gemischt wurden! Ihr überschreitet die Kompetenzen, die mein Vater Euch eingeräumt hat!"
"Das", sagte Aschbach milde, "lasst meine Sorge sein."
Damit legte er ihm die Pranke auf die Schulter und führte ihn ab wie einen Kriegsgefangenen. Kein anderes Mitglied der herrschenden Familie musste sich dermaßen behandeln lassen, nur Irving sollte sich gegen seinen Willen beschützen lassen. Irving unterließ es, nun zu wüten, um sich nicht endgültig der Lächerlichkeit preis zu geben. Gegen Tjark hatte er keine Chance, sonst wäre dieser nicht als sein Leibwächter zugeteilt worden. Kurz darauf fiel die schwere Tür ins Schloss, ein Riegel wurde vorgeschoben. Mit unbewegter Miene nahm Irving seine Gefangenschaft zur Kenntnis. Die Zelle des Fürstensohn sah freilich ganz anders aus als die eines Gemeinen, sie war luxuriös und alles, was er wünschte, brachte man ihm. In der Tat handelte es sich um ein vollständiges Gemach, samt einem Lichtschacht, der das Atelier erhellte. Sein zu Hause, sein Gefängnis. Wütend griff Irving nach Messer uns Pinsel.
'Ich benötige einen Sklaven', kommunizierte er mental. Seine Magie war hochgradig chaotisch und unfokussiert, doch irgendwann hatte er auch die Mentalsprache gelernt. Viel später als jeder andere und noch immer bevorzugte er das orale Wort, doch er konnte sie.
'Einen Bestimmten, Eure Durchlaucht?', antwortete Tjark von der anderen Seite der Tür aus.
'Einen mit genügend Blut. Zudem wünsche ich die Anwesenheit meiner Ruspanti.'
'So soll es geschehen.'
Draußen erklang noch immer der eiserne Rhythmus der marschierenden Soldaten. Die Visionen nützten nichts, wenn niemand darauf hörte. Irving würde sich sehr deutlich Gehör zu verschaffen wissen. Seine Magie war anders, aber effektiv, davon war er überzeugt. Nicht nur Urrich war ein tüchtiger Sohn!