Asa Karane Kapitel 07 - Blutsonne

  • Blutsonne

    Eins


    Aus allen Tälern kroch das Dunkel in rasender Geschwindigkeit, als wäre es lebendig. Ein Schemen auf der Jagd nach allem, was lebt. Es verdunkelte den Himmel, als wäre es Nacht. Ein rotes, trübes Licht blieb hoch oben zurück. Es hätte ein roter Mond sein können, doch die Tageszeit stimmte nicht. Die Sonne, obgleich im Zenit, glomm Dunkelrot wie eine erlöschende Kohle. Die Sonne! In Kaltenburg herrschte sonst allgegenwärtiges Grau. Einen Moment freute Irving sich, dann erlosch sein Lächeln. Das Rot wurde flüssig. Irvings Augen weiteten sich entsetzt, als die rote Sonne auslief. Flüssiges Licht, leuchtend, Sonneblut über Asa Karane, es riss die spärlichen Bäume davon, ertränkte die Sklaven auf den Feldern. Die schäumende rote Flut raste auf die Kaltenburg zu.


    "Alvashek", rief er den Namen der Sonne, "Alvashek stirbt! Die Zeit der Blutsonne ist angebrochen", schrie Irving und zeigte zum Himmel.


    Nur ein paar verstohlene Blicke zeigten, dass er auf seiner Empore überhaupt gehört worden war. Jemand hustete, krächzend flogen zwei Nebelkrähen vorbei. Irving wohnte von der Empore aus der Prozession bei, um nicht im Gedränge stehen zu müssen. Die Tore der Kaltenburg öffneten sich. Hart dröhnten die eisenbeschlagenen Stiefel, als das Gefolge seines Vaters vorbeimarschierte. Ein schwerer, eiserner Takt, wie der einer Trommel, genau auf das Blut im Ödland zu. Das Klirren der Kettenhemden - rhythmische Rasseln. In Irvings Kopf erklang eine passende Melodie. Die Banner knatterten im eisigen Nordwind und brachten ihn dazu, das schweißnasse Gesicht hinter den Händen zu verstecken.


    "Dort kommen Euer Vater und Euer Bruder", informierte ihn Tjark von rechts.


    Zaghaft schaute Irving ihn zwischen seinen Fingern hervor an, da er vergessen hatte, dass er dort stand. Wie ein fleischgewordener Fels ragte er neben ihm, verwittert und grau, ein Veteran zahlreicher Schlachten, von oben bis unten magieverbrannt. Die Anweisungen, die Fürst Lindrad von Kaltenburg ihm gegeben hatte, waren unmissverständlich: Irving war zu seiner eigenen Sicherheit in der Kaltenburg zu halten, wo er niemanden bei den Regierungsangelegenheiten störte und es war nach Möglichkeit dafür zu sorgen, dass seine Würde als Fürstensohn dabei gewahrt wurde. Niemand anderes als ein altgedienter Haudegen wie Tjark von Aschbach würde es wagen, mit einem Prinz so umzugehen, dass dies gewährleistet werden konnte.


    Irving ließ die Hände sinken. Er blinzelte verwundert, als er wieder nach vorn blickte. Vater und Bruder zogen durch weißen Morgennebel. Da war keine Sonne. Der Himmel war grau und trüb wie immer in diesen Landen. Ein leichter Nieselregen durchweichte den Tross und die Zuschauer. Das Blut war fort. Niemand außer ihm hatte es bemerkt, aber Irving verstand.


    "Das war eine Warnung", rief er. "Sie ward an den Himmel gemalt, ich habe sie gesehen! Dieser Krieg wird nicht gut ausgehen. Die Blutsonne, ich sah die Blutsonne am Firmament! Kehrt um, so lange ihr noch könnt! Hört mich, ehrwürdiger Vater und geliebter Bruder! Diese Schlacht wird nicht zu unseren Gunsten ausgehen!" Er schrie sich fast die Seele aus dem Leib, um den Lärm der Rüstungen zu übertönen.


    "Wenn ich einen Rat geben darf", maulte Tjark, und natürlich durfte er einen Rat geben, wenn der Fürst höchstselbst ihm seinen verrückten jüngsten Spross anvertrraut hatte, "dann geht in Euer Atelier, um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen. Ihr malt doch gerne. So vergeht die Zeit schneller und Ihr seid abgelenkt von der Sorge. Euer Vater ist ein fähiger Feldherr und Euer Bruder unterstützt ihn nach Kräften. Dies ist nicht das erste Gefecht gegen Wigbergs, aber es wird das Letzte sein. Vertraut mir."


    "Behandelt mich nicht wie einen Narren", brüllte Irving ihm ins vernarbte Gesicht. "Ich weiß, was meine Familie geleistet hat und wozu Wigberg fähig ist, zumal die Karten der Diplomatie auch dort neu gemischt wurden! Ihr überschreitet die Kompetenzen, die mein Vater Euch eingeräumt hat!"


    "Das", sagte Aschbach milde, "lasst meine Sorge sein."


    Damit legte er ihm die Pranke auf die Schulter und führte ihn ab wie einen Kriegsgefangenen. Kein anderes Mitglied der herrschenden Familie musste sich dermaßen behandeln lassen, nur Irving sollte sich gegen seinen Willen beschützen lassen. Irving unterließ es, nun zu wüten, um sich nicht endgültig der Lächerlichkeit preis zu geben. Gegen Tjark hatte er keine Chance, sonst wäre dieser nicht als sein Leibwächter zugeteilt worden. Kurz darauf fiel die schwere Tür ins Schloss, ein Riegel wurde vorgeschoben. Mit unbewegter Miene nahm Irving seine Gefangenschaft zur Kenntnis. Die Zelle des Fürstensohn sah freilich ganz anders aus als die eines Gemeinen, sie war luxuriös und alles, was er wünschte, brachte man ihm. In der Tat handelte es sich um ein vollständiges Gemach, samt einem Lichtschacht, der das Atelier erhellte. Sein zu Hause, sein Gefängnis. Wütend griff Irving nach Messer uns Pinsel.


    'Ich benötige einen Sklaven', kommunizierte er mental. Seine Magie war hochgradig chaotisch und unfokussiert, doch irgendwann hatte er auch die Mentalsprache gelernt. Viel später als jeder andere und noch immer bevorzugte er das orale Wort, doch er konnte sie.


    'Einen Bestimmten, Eure Durchlaucht?', antwortete Tjark von der anderen Seite der Tür aus.


    'Einen mit genügend Blut. Zudem wünsche ich die Anwesenheit meiner Ruspanti.'


    'So soll es geschehen.'


    Draußen erklang noch immer der eiserne Rhythmus der marschierenden Soldaten. Die Visionen nützten nichts, wenn niemand darauf hörte. Irving würde sich sehr deutlich Gehör zu verschaffen wissen. Seine Magie war anders, aber effektiv, davon war er überzeugt. Nicht nur Urrich war ein tüchtiger Sohn!

  • Zwei


    "Aus Grau werde Rot,

    und Leben schlägt Tod."


    Amias sang mit einer Stimme wie die einer Nachtigall. Er zog jeden Ton zirpend in die Länge. Irvings Pinsel folgte der Melodie. Die Quaste tanzte über die steinernen Wände, während der Ruspante sang.


    "Aus Dunkel wird Licht,

    so fürchtet euch nicht!"


    Amias wiegte und drehte sich, Irving folgte ihm mit Pinsel und Schale in den Händen in ähnlicher Manier. Jeder Pinselstrich ein Vers, jeder Vers ein neuer Teil des Bildes. Alchemie und Blut schufen ein Farbenspiel, das im Dunkeln leuchtete, als wäre dies das Sonneblut. Heller und strahlender wurde der Raum. Nackt drehten sich Irving und Amias, während das Blut an die Wände flog. Dazu musizierte Cinjamin, der Älteste der drei Ruspanti, mit flinken Fingern auf der Kithara. Das Singen überließ er Amias, der mit Knabenstimme das sang, was ihm spontan in den Sinn kam und der aus seine Ideen Kunstwerke aus Tönen schuf. Der dritte Ruspante, der noch neu war, wurde momentan im Verlies gebrochen, während seine Kastrationsnarben heilten.


    Als das Blut zur Neige ging, ließ Irving sich zufrieden in seinen blutbesudelten Kissenberg sinken, die Utensilien stellte er beiseite. Von hier aus betrachtete er das Panoramabild, was sich über vier Wände erstreckte. Sogleich war Amias an seiner Seite und schmiegte sich an ihn, während Cinjamin weiter musizierte, ruhiger und leiser nun. Für den Augenblick glücklich ließ Irving seinen Kopf nach hinten sinken. Das Bild zeigte sterbende Männer, die Gegner seines Vaters auf dem Schlachtfeld.


    "Wird Euer Bruder Euch wieder einen künftigen Ruspante mitbringen?", fragte Amias.


    "Das wird er." Irving war zuversichtlich. Zu Urrich hatte er ein gutes Verhältnis und sein Bruder bemühte sich immer, ihm ein Trostgeschenk von jedem nahmhaften besiegten Haus mitzubringen. Irvings Hand streichelte die schmale Schulter. Amias hatte sich so gesetzt, dass Irving ihn umarmen musste und dieser tat es gern.


    "Und welchen?", hakte der Ruspante nach. "Habt Ihr einen Wunsch?"


    "Thabit von Wigberg. Diesmal wird es hoffentlich keinen Streit mit den Verbündeten um die Gefangenen geben, wie damals bei Cinjamin, der fast als Asche geendet wäre. Thabit sollen sie für mich am Leben lassen und mir mitbringen. Zwar ist er, wie ich, nur der jüngste Spross und weniger Wert als seine älteren Brüder, aber nach einigem Überlegen ist er es, dessen Anwesenheit ich mir wünsche. Ich denke, nach der üblichen Behandlung passt er gut. Was meinst du?"


    "Oh, er wird vortrefflich passen", freute Amias sich. "Ich durfte ihn einmal erleben, bevor Wolkenhaim fiel, während der letzten gescheiterten Verhandlung." Die Vernichtung seiner Heimatburg schien ihn nicht weiter zu stören. Er war der einzige Sklave der Burg, der nicht hatte gebrochen werden müssen. "Alles wird gut gehen und bald wird Thabit Teil von uns, ich werde ihm alles beibringen, sobald er so weit ist und seine Wunden pflegen. Da wir diesen Zauber zu dritt gewirkt haben, wird der Feldzug erfolgreich verlaufen. Je mehr wir sind, umso schöner wird es und umso erfolgreicher die Magie. Mit Eurer Kunst, meinem Gesang, unser beider Tanz und Cinjamins Musik und Alchemie haben wir das Glück gewoben. Das Schicksal kann man ändern und wir haben das getan. Die natürlichen Ströme der Essenzen im Äther sollten nun in eine bessere Richtung fließen. Die Magie wird Eurem verehrten Vater und Eurem geschätzten Bruder zu Diensten sein. So wie ich Euch."


    Amias drückte ihm die Lippen auf den Mund. Irving schloss die Augen, als Amias ihn sanft verwöhnte. Eine Zeitlang vergaß er, dass man ihn für geistig umnachtet hielt, dass er keinen Feldzügen beiwohnen durfte und keinen Besprechungen. Dass geduldet wurde, dass er lebte, wo andere Häuser solch einem Spross eigenhändig ein Ende bereitet hätten. Keine Freude empfand er an dieser Gnade und dem unerfüllten Dasein, da war eine große Leere, die ihn immer wieder heimsuchte, an den einen Tagen. An den anderen waren in seinem Kopf der Dinge zu viel und dann entluden sie sich als Visionsgewitter mit angsteinflößenden Bildern und Stimmen. Zwei Konstanten gab es in seinem Leben, die das Dunkel zu erhellen vermochten: Seine Kunst und seine Ruspanti. Zärtlich legten sich seine Hände um die schmalen Hüften von Amias, während dieser auf seinem Schoß auf und ab wiegte. In Gedanken sah er Thabit über sich, als er die Augen schloss.

  • Drei


    Etwa einen halben Tag verbrachten sie auf diese Weise. Irving verfeinerte das Gemälde von den Sterbenden, Amias sang und tanzte und Cinjamin musizierte. Wie im Trance drehte auch Irving sich und das Rot flammte um ihn herum auf, die Farben verwuschen, als er sich schneller drehte und plötzlich schien der Horizont zu glühen.


    "Die Sonne geht auf", schrie er, fasste an seinen Kopf und stürzte zusammen, während der Raum sich weiterdrehte. Sofort war Amias bei ihm, holte nach kurzer Überprüfung seines Zustandes eine Schüssel mit eisigem Wasser und wusch ihm mit einem rauen Lappen Blut und Schweiß vom Körper. Irving begann am ganzen Körper zu zittern und eine Weile war er nicht mehr ansprechbar. Die Dunkelheit und Kälte der Burg schienen ihn zu verschlingen. "Heißes Wasser", keuchte er. "In einer Wanne!"


    Nun legte auch Cinjamin die Kithara beiseite, um Amias zu helfen. Die beiden Ruspanti betteten ihren Herrn in das heiße Badewasser, wo Irving von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Die Wanne stand im Atelier unter dem Lichtschacht, so dass er den grauen Himmel sah, der sich mit aufziehender Nacht verdunkelte. Er rollte den Kopf in unerträglicher Seelenpein, dabei zerquetschte er fast die zierliche Hand von Amias.


    "Musik, Cinji", kommandierte Amias mit seiner Piepsstimme. Der ältere Ruspante begann ohne Widerworte erneut das melodische Zupfen, das an der Lebensessenz von Irving zu rühren schien. Wunderschön sang dazu Amias, während er Irvings Kopf streichelte, bis dieser sich langsam wieder beruhigte.


    "Ihr seid das Einzige Schöne in meinem Leben", sprach Irving leise. "Die einzigen Farbtupfer in einer grauen Welt. Schmetterlinge auf einer Wiese ohne Blumen, Singvögel in einem grauen Himmel voller Krähen."


    "So funktioniert unsere Magie", erklärte Amias bescheiden. "Man muss sie nicht nur als Waffe einsetzen. Man kann damit auch heilen und Freude bringen. Eure Magie tut das auch."


    "Meine Magie tut gar nichts, sie ist einfach nur da. Was ich dir noch sagen wollte, Amias ..."


    Irving zog die Weiche Hand an sein Gesicht. Er kam nicht mehr dazu, die Worte auszusprechen, die ihm auf der Zunge lagen. Ein riesiger Schatten verdunkelte den Lichtschacht, ein Krachen erschütterte den Raum und es hagelte Scherben. Das riesige Fluggeschöpf landete auf dem Boden und Irving starrte es an, dann sprang er aus der Wanne. Bevor die Pranke ihn erreichte, schlüpfte er davon, mental rief er um Hilfe. Die Tür flog auf, als Tjark von Aschbach hineinkam. Sofort begann das Wesen zu verwittern, wie er selbst einst, doch dann fegte ein magischer Schlag ihn von den Füßen. Er flog rückwärts geradewegs wieder hinaus in den Gang. Der Reiter des Wesens richtete sich hoch in dessen Sattel auf. Kupferrotes Haar floss über einen schwarzen Pelzmantel, goldene Raubtieraugen blitzten, als Ditzlin von Wigberg sich umsah.


    "Da bist du", sagte er freudlich und bot Amias die Hand an, als wolle er ihm beim Aufsteigen helfen. "Na komm, ich nehme dich mit nach Hause. Wir haben gerade ein wenig Luft ... die Kaltenburger sind samt des Großteils ihrer Streitmacht ausgeflogen."


    Amias presste die Hand auf den Mund, starrte Ditzlin an und stolperte rückwärts. Er war kreideweiß geworden. Irving versuchte, zu verstehen. Er suchte eine Schlussfolgerung, die nicht 'Verrat' lautete.


    "Es tut mir so leid." Amias zitterte, seine Hand war noch immer auf den Mund gepresst. "Irving ..."


    "Willst du mit ihm gehen, so geh", sagte der Fürstensohn tonlos.


    "Irving? Irving von Kaltenburg?" Ditzlin wurde hellhörig.


    "Der bin ich! Und niemanden wird es interessieren, wenn du mich heute tötest, ich bin nicht der Thronerbe, also nur zu, Wigberg! Mach dem Elend ein Ende." Irving trat vor das Wesen und er spürte zu seiner eigenen Überraschung keine Furcht. Der Tod konnte nicht schlimmer sein als das Leben. Das war unmöglich. Er machte sich bereit, seinen ersten und letzten Kampf zu fechten.


    "Ich denke, ich habe eine bessere Idee." Ditzlin grinste breit mit weißen Haifischzähnen. "Wenn ich mich so umschaue, wirkst du ziemlich verwöhnt dafür, dass niemand sich für dich interessieren würde. Ein eigenes Atelier mit Basalt gekachelt, eine Wanne aus Knochenschmelz und Gold, Eunuchen ... Mal sehen, wie egal du deinem Vater wirklich bist."


    Damit packte das Wesen den nackten Prinz, presste ihn an seine Brust und ging in die Knie, um sich mit einem gewaltigen Satz abzustoßen und unter einem erneuten Glasregen hinauf in den Himmel zu schwingen. In Blut und Scherben zurückgelassen saß Amias, das Knabengesicht entsetzt zum Lichtschacht hinauf gewandt, doch dort war nichts mehr, nur noch Kälte und Dunkelheit.

  • Vier


    Jeder Flügelschlag war wie das Knallen eines Donnerblechs. Irving hing in den gewaltigen Armen der Taudisschwinge, die ihn rücklings zwischen ihre Brüste drückte, die rechts und links an seinen Ohren vorbeiquollen. Unter seinen angstvoll angewinkelten Beinen zog das tote Land entlang. Kahle, verkrümmte Wälder, die nicht vermoderten, weil es keine Destruenten mehr gab, wechselten mit Flüssen, die von Asche trüb und grau waren. All das kannte er nur von Gemälden, Gedankenbildern und vom Hörensagen. Eine kleine Gruppe verkrüppelter Wesen verschwand in einem Loch, als der Schatten der Taudisschwinge über sie hinwegglitt. Eisig strich der Wind um seine Füße. Mit den Händen krallte er sich an den muskulösen Armen fest, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass die Taudisschwinge eine solche Fracht fallen lassen würde. Die Fürstensöhne waren die wertvollsten Verhandlungsgegenstände überhaupt und übertrafen dabei noch die Fürsten selbst. Besonderen Status nahm dabei natürlich der Erstgeborene ein, wie Amias einer gewesen war. Jetzt, da Wolkenhaim Asche war, hatte er bestenfalls Sammlerwert, weshalb Ditzlin ihn auf seinem Raubzug ohne zu zögern gegen Irving eingetauscht hatte.


    Auf dem Dach des Wohnturms einer Ruine machten sie schließlich Rast. Als Irving abgesetzt wurde, konnte er sich vor Kälte kaum auf den Beinen halten. Er schlotterte und sein Atem war wie Dampf. Ditzlin schlug den Kragen seines schweren Pelzmantels hoch und vertrat sich ein wenig die Beine. Auf jeder Zinne des Turms ruhte ein Schädel. Sie alle hatten unterschiedliche Größen, der Kleinste schien einem Säugling zu gehören, doch sie alle waren etwa gleich lange tot. Vermutlich war es eine Familie. Die allgegenwärtige Asche, die der Wind mit sich trug, überzog den Knochen wie graues Mehl und hatte sich in ihren Augenhöhlen abgelagert. Irving wandte sich ab.


    "Kennst du diese Burg?", fragte Ditzlin, während er die Hände auf zwei Zinnen stützte und zwischen ihnen hinab auf die zahllosen eingefallenen Hausruinen blickte.


    "Nein", sagte Irving mit klappernden Zähnen. "Ich habe Kaltenburg nie verlassen."


    "Wir befinden uns in Wolkenhaim."


    Irving blieb die Antwort in der Kehle stecken. Hier stand er auf der zerstörten Burg, die rechtmäßig Amias gehören würde. Hier hätte sein Ruspante eines Tages auf dem Thron sitzen und herrschen sollen, als Mann und als erbittertster Gegner von Kaltenburg. Vor seinem geistigen Auge saß er auf dem Thron, aufrecht und stolz. Nun war er ein Sklave. Irving presste die Hand auf den Mund und spiegelte damit unbewusst die Geste, die Amias gemacht hatte, als sein Verrat ans Licht gekommen war. Als er das Ausmaß der Zerstörung das erse Mal in seinem Leben sah, spürte er schieres Entsetzen.


    Ditzlin drehte ihm das Gesicht zu. Er wirkte verwundert ob der Reaktion.


    "Ich verstehe nicht, was du hast, es wunderschön hier, ruhig und friedlich. Alle Waffen schweigen und die Magie ist längst erloschen zusammen mit der Gefahr, die hier einst hauste. Hier lebt nichts und niemand mehr. Was also fürchtest du? "


    Irving presste beide Hände auf die Augen. Sein Gesicht war von Qualen verzerrt.


    "Angst vor der eigenen Courage?", höhnte Ditzlin. "Leuten die Eier abschneiden kannst du doch auch."


    "Das ist eine Gnade", keuchte Irving. "Nur so können sie am Leben bleiben. Alle Männer werden getötet nach dem Sieg. Ich hebe sie auf, von jedem Haus einen."


    Ditzlin lachte. "Ist das ein Vorschlag?"


    Irving spürte, wie Magie nach seinem Körper griff und zwischen seine Beine fuhr. "Lass mich gehen, ich will nach Hause!", flehte er.


    "Das will Amias sicher auch."


    Die Stimme von Ditzlin war kalt. Ob er Amias als Trophäe hatte behalten wollen oder ob er ihn persönlich kannte, irgendetwas machte ihn wütend. Der Schmerz wurde so heftig, dass Irving in die Knie ging. In seiner Qual begann er sich hin und her zu wiegen, während er unkontrolliert zitterte. Sein Herzschlag war wie Kriegstrommeln, wurde Takt eines Kriegstanzes ... Irving stemmte sich im Todeskampf auf die Beine, begann sich stapfend zu drehen. Er breitete die Arme aus, mit herabhängenden Händen, und legte den Kopf mit halb geschlossenen Lidern ins Genick. Dann ließ er den Schmerz und die Magie ungebremst durch seinen Körper jagen. Die grauen Wolken wirbelten, zogen sich zusammen.


    "Beim Abgrund, bist du das?", rief Ditzlin und ein mentaler Schlag fegte Irving von den Füßen.


    Rücklings landete er in der Asche, doch er spürte, dass der Schlag ihn nur äußerlich getroffen hatte. Die Wolken drehten sich weiter, schneller, zogen sich zu einem Zyklon zusammen, dessen Schlauch sich auf den Turm hinabsenkte. Und diesmal sah nicht nur er es. Ditzlin sprang auf den Rücken der Taudisschwinge, die sich Irving packte und vom Turm sprang. Der Wind riss sie seitlich weg. Sie hatte stark zu kämpfen, um gegen den Wind anzukommen. Der Sturm fraß sich hinter ihnen durch die Häuser und Wälder, er hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Irving hörte auf einer anderen Ebene, wie Ditzlin einen magischen Hilferuf absetzte. Der Schlauch senkte sich tiefer und als sie über das Land nach Westen rasten, folgte er ihnen. Er saugte alle Wolken ein und der Horizont erglomm rot.


    "Die Sonne", schrie Irving fassungslos, "die Sonne!"