Kapitel 15 - Unsere gebleichten Knochen

  • Tazio hatte dem Bericht des Spions zugehört und ihm bohrende Fragen gestellt. Er hatte ihn wieder fortgeschickt und sich mit seinen Beratern besprochen, weil ihm die Dinge so unglaublich erschienen, ehe er ein weiteres Mal den Mann aus Souvagne zu sich beorderte, der angeblich alles wusste.


    «Ihr erinnert Euch an den Almanischen Bruderkrieg. Als wir unsere Heimat verließen, hatte man uns gesagt, dass wir die heiligen Rechte verteidigen würden, die uns so viele almanische Bürger erkämpft hatten, die sich in der Fremde niedergelassen hatten, so viele Jahre unserer Anwesenheit, so viele Vorteile, die wir den Völkern, die unserer Hilfe und unserer Zivilisation bedurften, brachten.


    Wir konnten uns davon überzeugen, dass all dies wahr ist, und weil es wahr ist, haben wir nicht gezögert, die Blutsteuer zu zahlen, unsere Jugend und unsere Hoffnungen zu opfern. Wir bereuen nichts, aber während wir hier von dieser Gesinnung beseelt sind, erfahre ich von dir, dass es in Drakenstein Fraktionen gibt und Souvagne uns verraten hat. Dass Verschwörungen grassieren und dass viele Menschen in ihrer Unsicherheit und Verwirrung ein offenes Ohr für die schlimmsten Versuchungen haben und unser Handeln verunglimpfen.


    Ich kann kaum glauben, dass dies alles wahr ist, und doch haben die jüngsten Ereignisse gezeigt, wohin solch eine zersetzende Geisteshaltung führen kann.


    Bitte beruhige mich und sag mir, dass unsere eigenen Mitbürger uns verstehen und uns unterstützen, so wie wir selbst die Größe des Reiches schützen. Sollte es anders sein, sollten wir unsere gebleichten Knochen vergebens auf den Pfaden der Steppe zurückgelassen haben, dann sollen sie sich hüten vor dem Zorn der Armada!»

  • Vendelin ließ das Haupt gesenkt, während der Zorn des Mannes über ihn hinwegbrandete, den man den Weißen Seelöwen nannte. In der jungen Stimme hörte er den gleichen Sturm, der auch Sirio di Ledvico einst zu großen Taten getrieben hatte - vergeblichen Taten, aber großen Taten. Schlummerte auch in seinem Sohn dieser Wille? Bisher hatte Tazio sich eher passiv verhalten, Stabilisierung suchend statt Neuerung.


    "Es ist, wie ich Euch sagte, Eure Majestät: Souvagne wurde und wird von der Mördersippe Hohenfelde unterwandert. Die Verbannung von Linhard von Hohenfelde diente allein der Wahrung des Scheins. Es ist nicht länger Souvagne, welches die Krone trägt, sondern Hohenfelde. Das sage ich als Familienoberhaupt der Wigbergs, die über Jahrhunderte durch verwandtschaftliche Beziehungen mit Hohenfelde verbunden waren. Nun ist die Loslösung endgültig. Diese Machtergreifung werden wir nicht tragen noch bin ich bereit, sie tatenlos hinzunehmen. Sie ist unvereinbar mit den Werten von Wigberg.


    Irving von Kaltenburg hat sich bereiterklärt, für mich und die Meinen zu bürgen.


    Nun erwarte ich nicht, dass Ihr mir blind Glauben schenkt. Aber als Spion habe ich meine Möglichkeiten, meine Aufrichtigkeit unter Beweis zu stellen. So habe ich Gesprächsprotokolle und Kopien einiger Dokumente bei mir, die ich euch aushändigen werde. Es ist alles chronologisch geordnet und mit Kommentaren zur Einordnung in das aktuelle politische Geschehen versehen. Berichte meiner Lotos-Agenten vervollständigen das Bild, in vorderster Reihe jene Eures Landsmannes Alejandro Alballo, der für mich unter dem Namen Vittorio Polarotti operiert.


    Nehmt Einsicht in diese Unterlagen, schlaft darüber, besprecht Euch ein weiteres Mal mit Euren Beratern. Wenn es Euch beliebt, werde ich in die Dienste von Ledwick übertreten und dann soll die Gesamtheit meiner geheimen Bibliothek Euch gehören, einschließlich dem gesamten Agentenapparat und des weltweiten Netzes von Spitzeln."

  • Vorerst schwieg Tazio, doch er ließ die Unterlagen von einem Diener entgegennehmen. Was er dachte und fühlte, war für Außenstehende nicht zu sagen. Dass er sich nicht wohlfühlte in der Gegenwart eines Spions in seinem Thronsaal, mochte nachzuvollziehen sein. Das Angebot war indes verheißungsvoll.


    Schließlich sprach er: "Wir werden die Dinge prüfen."


    Sein Blick schweifte wenig freundlich über besagten Alejandro Alballo, der für diesen souvagnischen Spion gearbeitet hatte. "Berichtet mir über Eure Rolle in dem Ganzen, Alejandro Alballo." Er betrachtete den Mann mit dem silbernen Haar und den schwarzen Augen sehr genau.

  • Alejandro hatte auf diese Frage gewartet. Obgleich er die Worte lange schon in seinem Kopf zurechtgelegt hatte, war ihm unwohl bei der Angelegenheit. Er hatte zu lange als Agent gearbeitet, um sich noch wohl damit zu fühlen, jemandem so offen die Wahrheit zu sagen - besonders, wenn es um jenen Kopf samt Kragen ging.


    "Zweifel an meiner Treue zu Ledwick, Zweifel an meiner Aufrichtigkeit, und vielleicht generelle Zweifel an meiner Person: Wie kann man es verübeln? Doch erinnere ich höflich daran, dass ihr selbst mich entsandt habt. Ich war die Augen und die Ohren des Seelöwen. Es gelang mir, vom souvagnischen Orden des Stählernen Lotos rekrutiert zu werden, nutzte dessen Netzwerk und baute es weiter aus. Dass die Mittel unkonventionell ausfielen - sei es drum.


    In all den Jahren versah ich stets treu meinen Dienst, der ledwicker Agent Alejandro Alballo im Gewand des souvagnischen Agenten Vittorio Pollarotti. Es war nicht zum Schaden Ledwicks."


    Er nickte in Richtung der Dokumente.


    "Den Kopf des Stählernen Lotos - Vendelin von Wigberg - für uns zu gewinnen, ist ein absoluter Glücksfall. Diese Gelegenheit sollte Ledwick nicht verstreichen lassen."