Kind der Nacht
Dunwolf hatte sich von Leopoldius getrennt. Sie mussten schnell und effektiv handeln. So lange ihr Vater nicht zugegen war, mussten sie dessen Brut finden und mit ihr kurzen Prozess machen. Dun fühlte für den Bruchteil einer Sekunde einen Stich, wenn er an Poldi dachte. Nicht den Stich eines Dolches im Rücken, sondern einen im Herzen, da er seinen Bruder vermisste. Nicht nur dessen Anwesenheit, sondern er vermisste ihn auf spezielle Art. Jener Art der brüderlichen Lieben die ihnen stets versagt bleiben würde. Dennoch hatten sie einen Teil davon wider aller Regeln gelebt, hatten von dem verbotenen Wein gekostet und befanden sich nun in einer außergewöhnlichen Lage, jedenfalls für Hohenfelde.
Der Fuss des Turmes der das private Reich ihres Vaters markierte war in absoluter Finsternis gehalten. Dunwolf hatte ein ungutes Gefühl, als er sich wie eine Schlange in das Gewölbe schlich, darauf bedacht das Küken aus dem Nest zu rauben. Mit wachsamer Vorsicht suchte Dunwolf nach einem Aufstieg in die Etagen über ihm. Bis hierher war alles gut verlaufen, er durfte jetzt keinen Fehler machen. Leopoldius suchte auf seine Weise und einer von ihnen würde Erfolg haben, es musste so sein.
Leise schloss er hinter sich die schwere Tür. Dies hier war Vaters reich und er fühlte tausend Augen auf sich ruhen. Die kleinen Haare an seinen Armen und im Nacken stellten sich auf. Gefahr. Die ganze Feste war ein Hort der Gefahr, aber hier war etwas, dass eine unmittelbare Bedrohung darstellte. Bereits hier? Nun wieso nicht? Wer bewachte nicht die Tür in seine Privatgemächer?
Mit absoluter Lautlosigkeit zog Dun seinen schwarzen Dolch. Die Waffe reflektierte nicht das geringste Licht. Mehr noch, sie schien Licht das auf sie fiel zu absorbieren. Ein winziges Knirschen über ihm ließ Dunwolf reflexartig wie eine Viper zur Seite zucken und seinen Dolch nach vorne reißen. Keinen Sekundenbruchteil zu spät. Etwas Helles war derart schnell an ihm vorbeigeschossen, dass er sich sofort seiner Magie hingab. Was beim Weg der Ältesten war das für ein Ding?
Dun konnte es nicht erfassen und drehte sich kampfbereit einmal um die eigene Achse. Ein brutaler Schlag traf ihn vor der Brust, schleuderte ihn rücklings zu Boden und schneeweiße Haare hüllten sein Gesicht ein. Er benötigte einen Wimpernschlag um seinen Dolch vor seine Kehle zu reißen. Vier Dolche knallten um die Klinge der Waffe zusammen. Dolche, Zähne, die ihm fast die Kehle aufgerissen hätten!
Die Düsternis, die Kühle, die maßlose Gefahr und Angst die diese Kreatur alleine nur durch ihre Präsenz erzeugte war phänomenal. Was hatte ihr Vater da geschaffen? Dies ging weit über jeden Lebenden hinaus, dieses Ding war wirklich ein Humunkulus und er hatte ihn gefunden. Oder der Humunkulus ihn!
Dunwolf blickte für einen Sekundenbruchteil in den Fangzahnstarrenden Rachen seines Widersachers. Fangzähne, Eckzähne messerscharf und so lang wie sein kleiner Finger! Der Rest des Gebisses seines Feindes nicht weniger bedrohlich. Einen Atemzug später trat er zu und katapultierte den jungen Mann hinter sich. Dieser rollte ab, sprang auf die Beine und war mit einer Bewegung der Dunwolf kaum mit Augen folgen konnte aus seinem Sichtfeld verschwunden. Dunwolf duckte sich tiefer und dankte seinen Vorfahren für den Dolch der Finsternis.
Ein brutaler Schlag gegen seine Schulter, ließ ihn mit dem Dolch schlitzend herumwirbeln. Nichts. Leere. Schatten. Dunkelheit. Seine Magie war nutzlos gegen diese Kreatur, bis ihm einfiel wo er sich befand. Das hier was Ditzlins Reich!
Sie beide umschlichen sich, vermutlich sah diese Kreatur ihn. Dun sah sie nicht. Doch was dieser Tropf von Sohn nicht wusste war, das ein Hohenfelde sein Opfer nicht sehen musste, um es zu töten. Dunwolf schloss bewusst die Augen und verließ sich auf sein Gehör. Ein minimales Geräusch und sein Dolch zuckte blitzartig in die Richtung. Die Klinge fraß sich in Fleisch und riss sich wieder frei, gefolgt von einem Knurrlaut den keine menschliche Kehle hervorbringen konnte.
Dun konnte den Laut dennoch deuten.
Schmerz....
Erneut zuckte sein schwarzer Stahlzahn vor und forderte seinen Tribut in Blut. Der nächste Angriff landete weder in Fleisch, noch im Nichts, sondern wurde mit einem brutalen Schlag abgelenkt. Der Hieb der danach folgte war derart blitzartig, dass es an Abartigkeit grenzte. Dunwolf kassierte einen brachialen Fausthieb in das Sonnengeflecht und zeitgleich einen Tritt an eine unheilige Stelle. Beim Abgrund!
Keuchend brach er in die Knie. Schlagartig schwand jegliche Kraft aus seinen Händen und Handgelenken, als sein Körper ihn im denkbar schlechtesten Moment im Stich ließ.Wer trat einem hinterrücks derart in die Eier?!? Und wieso hatte er keinen Schutz an? Gut er dachte es ging gegen ein Baby, dieses Baby war alles andere als ein Säugling. Es war ein verdammter Schrumpf-Erwachsener aus dem Abgrund!
Gefühlt erschlaffte sein ganzer Körper, er stolperte rückwärts und starrte zu seinem bleichen Widersacher empor. Die Kreatur trug keine Waffen, der bleiche Kerl grinste zähnefletschend und öffnete mit einer zuckenden Geste seine prankenartigen Hände. Das waren keine langen Nägel, das waren messerscharfe Klauen die diese Kreatur trug. Zu lange gestarrt!
Dunwolf spürte den Schlag mehr als das er ihn sah. Sein Oberkörper zuckte noch zurück, aber ganz konnte er dem Krallenhieb nicht mehr ausweichen. Er fühlte wie eine der Klauen durch sein Gesicht schnitt, Fleisch durchtrennte, aber sein Auge glücklicherweise verschonte. Dunkelheit bestürmte sein Sichtfeld, wie er es nie zuvor erlebt hatte, dicht und pulsierend um mit jeder Sekunde zuzunehmen.
Blut.
Sein Blut.
Zum zweiten Mal in kürzester Zeit kam ihm das Unmögliche in den Sinn.... die Aussicht darauf, dass er tatsächlich sein Leben verlieren konnte. Eine Wandlung ging in dem Humunkulus vor und schlagartig stand keine Mordlust mehr in seinen Augen. Nein etwas Grausameres stand ihm ins Gesicht geschrieben.... Hunger.
Dun wischte sich das Blut aus den Augen, riss seinen Körper herum und sich regelrecht auf die Beine. Wo gerade noch seine Kehle gewesen war, schlugen die Zähne seines Widersachers wie eine Schere zusammen. Dunwolf schmiss sich Richtung Tür, riss sie mit aller Brutalität auf und knallte sie hinter sich zu. Auf der anderen Seite donnerte ein Körper dagegen.
"Ich finde Dich...", zischte eine viel zu tiefe Stimme.
Aber da war Dunwolf schon fort, fluchend auf der Suche nach seinem Bruder.