Beiträge von Niva

    Der Henker lag noch immer schlafend da und egal, was sie auch versuchte, was nicht viel war abgesehen von Zwicken, Klapsen und die Luft für Bruchteile eines Moments abzuschneiden, angesichts ihrer begrenzten Möglichkeiten, er wachte nicht auf.

    Sie seufzte frustriert, nahm sich die Mütze vom Kopf und wetzte ihre Krallen nachdenklich an dem dichten Stoff.

    Nachdem sie vor dem Bett ruhelos und ebenso ratlos hin und her getigert war ließ sie sich schließlich auf den Hosenboden fallen und setzte die Mütze wieder auf. Ihr Schweif zuckte nervös vor sich hin. Ihre Ohren waren gespitzt und lauschten dem Geschehen auf dem Flur, das sich auf vereinzeltes Gelächter und geflüsterte Verhandlungen dann und wann beschränkte.

    Eben hatte sie noch große Reden geschwungen, davon geplappert, dass sie ihn auf jeden Fall hier rausholen würde, aber jetzt wo er so dalag, vollkommen weggetreten, war sie nicht mehr so selbstbewusst.

    Irgendwo ging eine Tür auf und ohne das ein Wort gesprochen wurde, schloss sie sich wieder. Das hätte sie wahrscheinlich stutzig machen müssen, aber sie war erst alarmiert, als sich die Klinke zu dieser Tür leise quietschend nach unten bewegte.

    Sie sprang auf, duckte sich unter dem Fenster am anderen Ende des Raumes. Die Tür öffnete sich zu einem Spalt und plötzlich stand Aren im Raum.

    »Was-«, wollte Niva gerade ihre Verwirrung zum Ausdruck bringen aber Aren schnitt ihr das Wort mit einer geschwungenen Handbewegung ab.

    »Verdammt. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich das tue, also sei mir lieber dankbar.«, fauchte sie ungehalten. Sie drückte ihren Rücken gegen die Tür, als wollte sie Andere vorm Eindringen hindern. Sie war groß, aber viel zu schmal, als das ihr Körper überhaupt Gegengewicht geschimpft hätte werden können.

    »Du solltest machen, dass du aus dem Haus kommst. Eine Schwester hat dich hier rumschleichen sehen und hats gerad vorn gemeldet. Also mach, dass du dich verdünnisierst, bevor ich mir vornehme, dich selber auflaufen zu lassen.«

    Niva blinzelte perplex, sah zwischen Aren und dem Henker her.

    Aren spuckte ärgerlich auf die Dielen vor ihren Füßen.

    »Meine Fresse, ich kann dir nichts versprechen! Mach dass du deinen eigenen Arsch rettest, bevor ich dir nen Tritt verpasse!«

    »O-okay«, stammelte Niva überrumpelt.

    »O-o-okay«, äffte Aren.

    Niva blieb unschlüssig stehen, einen Fuß bereits in Arens Richtung angehoben.

    »Nun sei nicht so dumm!«, zeterte diese, »Du musst natürlich zum Fenster raus!«

    Niva machte kehrt.

    »Richtig«, erwiderte sie. Aber sie haderte immer noch mit sich. Es half nichts. Sie fürchtete jetzt gerade erwischt zu werden. Sie wusste nur nicht, ob sie sich noch mehr davor fürchten musste, sollte er sie später erwischen und ihr zuschulden legen, dass sie ihn heute dagelassen hatte. Aber sie hatte keine andere Wahl. Es war unrealistisch zu glauben, sie könnte in diesem Moment etwas ausrichten. Sie öffnete das kleine rechteckige Fenster, kauerte sich auf den schmalen Sims, der nichtmal eine Hand breit war und hangelte sich nach draußen, schlug ihre Krallen in die Fassade. Bevor der Raum aus ihrem Sichtfeld verschwand, sah sie noch eine Sekunde lang hinein.

    »Hey!« Aren beugte sich zum Fenster hinaus. Ihr Atem roch nach den teuren Glimmstängeln.

    »Die Ratten sind nicht weit«, flüsterte sie eindringlich, »Und sie wollen dich immer noch fressen.«

    Der weiche Mörtel bröckelte unter ihren Krallen. Aren grinste in widerwärtig triumphaler Vorfreude. Mit einer ordentlichen Portion Kraft, die man der hageren Frau vermutlich nicht zugemutet hätte, schlugen ihre großen, flachen Handflächen Niva oberhalb auf den Brustkorb. Die Fassade war zu weich, als dass sie dem hätte standhalten können. Und Niva war naiv genug gewesen, nicht auf einen Verrat gewappnet zu sein. Niva blieb von dem Schlag während ihres Falls die Luft weg. Sie fing nicht einmal an panisch mit den Armen zu rudern, war wie gelähmt und noch während sie fiel verschwand das Gesicht der Frau aus dem Rahmen und Niva starrte in ein leeres, dunkles Fenster, das Vorbote, der tiefen Dunkelheit wurde, die sie bei ihrem Aufprall erwarten würde. Kurz bevor sie den Boden hatte erreichen müssen, schnappte sie nach Luft, die bei ihrem Aufprall mit einem Ächzen wieder aus ihr herausgepresst wurde.

    Sie war nur ein Stück gegangen, um sich zu sammeln, auch um sich zu verabschieden, von dem Ort, der ihr ihr ganzes bisheriges Leben lang ein Zuhause gewesen war. Sie hatte sich dazu entschieden Aksoy zu begleiten. Ja, sie würde wirklich gehen und völlig unverhofft hatte sie auf geradezu willkürliche Weise einen Reisepartner gefunden.

    Sie stellte sich breitbeinig hin, schloss die Augen, stemmte ihr Gewicht mit beiden Beinen in die Erde, fühlte den trägen, doch fiebrigen gequält voran stolpernden Puls der Slums, sog ihn in sich auf um sich immer daran zu erinnern. Sie verknüpfte ihn in Gedanken mit einem Bild ihrer Mutter, die irgendwann denselben Herzschlag zu teilen begonnen hatte. Vielleicht färbte der Grund auf dem man sich bettete irgendwann unweigerlich auf das eigene Wesen ab.

    Sie öffnete die Augen, wand sich um, um zurück zu ihrem Unterschlupf zu gehen. Als sie dort ankam wäre sie beinahe Jean und den ihn schützend flankierenden Begleitern direkt in die Arme gelaufen. Sie konnte sich gerade noch hinter dem Wellblech ducken und zusammengekauert ausharren. Sie gab keinen Mucks von sich, presste sich die Hand auf den Mund und verbot sich zu atmen. Sie hoffte, die Hunde konnten ihren Geruch in der Nähe nicht von dem Muff differenzieren, der wie ein Schleier über der Umgebung hing.

    Jean sah furchtbar aus, krank und ausgemergelt. Hass tobte in nach Rache und Vergeltung gierenden Schatten hässlich zuckend über sein fahles Gesicht. Sie spitze die Ohren. Sie konnte Aksoys tiefe Stimme durch die dünne Wand brummeln hören. Doch kaum ein Wort schaffte es formvollendet bis zu ihr durch. Aber das brauchte es nicht. Sie wusste auch so, dass Deal geplatzt war.

    Dessen wurde sie sich spätestens vollkommen sicher, als Aksoy den bewusstlosen Henker aus dem Haus trug, direkt hinter dem selbstgefällig stolzierenden Burschen her, der sich zu einem Albtraum von einem Menschen gemausert hatte, der im Kopf nur Platz für Zahlen, Schulden und Grausamkeiten behielt. Jean, der verdammt überzeugende, abgebrühte Mistkerl, der jeden guten Augenblick zertrampelte, auf den sie eine Sekunde zuvor noch ihre Hoffnungen gebaut hatte.

    Sie wollte sich raus halten. Ja, das war ihr erster Impuls und sie wollte es wirklich, aber sie fühlte sich verantwortlich und sie war wütend, dass es so einfach war sich Gefolgschaft zu erkaufen, besonders, wenn diese eben noch ihren perfekten Reisegefährten dargestellt hatte. Und eigentlich hatte sie hauptsächlich Grund aufgebracht zu sein, weil wieder er es war, der sich aus allen Schlingen wand und am Ende doch immer kriegte, was er wollte. Ohne Hilfe würde sie es nie nach Alkena schaffen, ganz zu Schweigen davon, dass sie überzeugt war, dass es schon schwer genug würde ihren Vater zu finden, wenn sie es überhaupt könnte.

    Sie konnte nur hoffen, dass das Wort des Henkers noch immer zählte, wenn er wieder bei klarem Verstand war, damit sich das Risiko, das sie einging, auch lohnte und nicht nur den Schlund füllte, den ihre Wut inzwischen weit geöffnet hatte.

    Also folgte sie der kleinen Gruppe in die Stadt und erkannte bald das Hurenhaus wieder, in dem sie ihre damalige Kindheitsfreundin Aren zum letzten Mal besucht hatte. Sie wartete bis sie hinein gegangen waren und entschied sich zu warten bis sie wieder hinaus kamen. Sie konnte nicht riskieren ihnen auf geschlossenem Raum zu begegnen, wenn sie keinen Fluchtweg wusste. Die vier kamen ohne den Henker wieder heraus und Niva wartete noch ein paar Minuten bis sie außer Sichtweite waren, bevor sie sich selbst ihren Weg in das Bordell wagte. Sie hatte noch ihre gesparten Taler bei sich. Sie seufzte schwer, als sie einige davon in ihrer Handfläche liegen spürte.

    »Ich will zu Aren«, sagte sie. Sie gab ihm ein paar Taler, nur damit er sie passieren ließ und ihr verriet in welchem Raum sie sie fände. Sie fragte nicht nach dem Henker. Sie traute ihm nicht, wo er gerade frisch ein Geschäft mit Jean abgeschlossen hatte. Sie kannte die Bedingungen nicht.

    Sie trat durch den Schankraum einen schmalen Gang hinunter, in dem zu jeder Seite mehrere Türen in kleine Räume abgingen. Durch die dünnen Wände hörte sie lauter laszives Stöhnen, dass sich auf dem Flur dumpf vermischte. Hinter der Tür unmittelbar zu ihrer Linken ging polternd etwas zu Bruch und sie hörte eine Frauenstimme wutentbrannt schreien. Niva öffnete die Tür, die dieser gegenüber lag und sah sich nicht nochmal um.

    Die junge Frau rekelte sich vor ihr auf der Matratze, präsentierte ihr ihr Dekolletee. Die tief gesäuselte Begrüßung blieb ihr im Hals stecken, als sie sie das Tieflingsmädchen erkannte. Mit der dicken Schminke im Gesicht sah Aren alt aus, gekünstelt.

    »Was willst du denn schon wieder hier?«, zischte sie genervt. Sie streckte ihre nackten langen Beine aus und schwang sie über die Bettkante, um aufzustehen.

    »Ich bleibe nicht lang. Und ich bezahle dich auch für deine Zeit. Versprochen«, erwiderte Niva. Aren war zu dem kleinen Tisch herüber gegangen, der am anderen Ende des Raumes stand. Ein paar Glimmstängel, Feuerhölzchen und ein gesprungener Aschenbecher gesellten sich darauf zueinander. Aren hielt mitten in der Bewegung inne. Sie hatte die Finger nach einem Glimmstängel ausgestreckt. »Ach ja?«, fragte sie ungläubig, mit deutlich hörbarer Belustigung in der Stimme. Sie lachte ein klares, hämisches Lachen bei dem sie den Kopf in den Nacken warf und die Arme unter der Brust verschränkte. Sie grinste boshaft, kam Niva ganz nah, überragte sie, beugte sich zu ihr herunter, legte ihr eine Hand an die Hüfte, die an ihren Hintern wanderte und sie kniff. Niva biss düster dreinschauend die Zähne zusammen, um den überraschten Laut zu unterdrücken, der ihr aus der Kehle gesprungen war und nun auf der Zungenspitze kribbelte.

    »Wie soll ich es dir machen?«, flüsterte sie verächtlich. Sie kostete den Moment aus, in dem Niva nichts erwiderte, dann trat sie einen Schritt zurück. Ihr Grinsen war freudlos.

    Sie setzte sich an den Tisch, ein Bein angewinkelt, nahm sich einen Glimmstängel zwischen die Lippen, entzündete ratschend ein Feuerhölzchen und mit der vorwitzig lodernden, kleinen Flamme den aromatisch riechenden Tabak. Sie sog tief ein und blies eine sich langziehende Schwade Rauch aus, die sich an den Enden ihrer Längen kringelte, als stieße sie in der Luft auf unsichtbaren Widerstand.

    »Also, was willst du?«, fragte sie nüchtern, »Wenn du bloß hergekommen bist, um zu heulen, weil du dich einsam fühlst, schmeiße ich dich raus. Egal wie viel du mir zahlst, dass ich zuhöre.« Sie musterte Niva argwöhnisch. Ungebeten setzte sich Niva ihr gegenüber an den Tisch, faltete ihre Hände unter ihrem Kinn. »Ich will deine Hilfe bei etwas«, sagte sie.

    »Ha!«, rief Aren bitter aus. Aber Niva sah das Funkeln in ihren Augen, als Anzeichen für den Genuss, den es ihr bereite, die Chance zu haben, ihr auf der Nase zu tanzen.

    »Meine Hilfe?«, höhnte sie.

    »Auf der Straße krüppeln genug arme Schweine herum, die‘s nötiger hätten als du. Wofür kannst du schon Hilfe brauchen?«, wollte sie wissen.

    »Und glaub ja nicht, dass du mir eins deiner scheiß Bälger andrehen kannst.«, fügte sie zischend hinzu.

    »Ich muss jemanden hier raus holen«, überging Niva Arens strikt abwehrende Haltung. Sie war bemüht sich unbeeindruckt zu geben, vor allem um sich ihr nicht unterlegen zu fühlen.

    Aren blinzelte perplex. Die Asche fiel von ihrem Glimmstängel ab auf den Tisch. Sie setzte ihn einen Moment lang nicht wieder an, bevor sie sich wieder gesammelt hatte und sich die Zeit nahm Niva dabei grüblerisch anzufunkeln.

    »Hm«, seufzte sie.

    »Ich helfe dir nicht«, entschied sie sich schließlich.

    »Hilf mir und du musst dich heute unter niemanden mehr legen«, versuchte Niva sie eindringlich zu überzeugen. Aren schmunzelte darüber bloß amüsiert.

    »Und was ist mit morgen?«, fragte sie. Ihre Gesichtszüge wurden fast weich, glätten sich unter dem Einfluss von Nachsicht und sie wirkte so viel älter als sie es war.

    »Du verstehst nicht, Niva. Ich muss noch lange Zeit hier bleiben oder ich lande in der Gosse. Besser als hier wird es mir nicht mehr gehen. Und ich werde meine Leute nicht um ein Schäfchen erleichtern, weil du mich für einen lausigen Tag freikaufst.«

    Niva straffte die Schultern.

    »Aber um dieses Schäfchen muss ich euch erleichtern. Und auch wenn du mir nicht hilfst, wirst du mir nicht im Weg stehen können.«

    Aren seufzte. »Es ist mir eigentlich egal. Solange ich keine Ahnung habe, wovon du sprichst«, betonte sie«, wird es mich nichts kosten.« Sie drückte den Glimmstängel demonstrativ in dem Aschenbecher aus.

    »Drilla fehlt uns schon eine Weile, erzähl ich dir, weil ich mich natürlich um eine Kameradin sorge und du einer einäugigen Hure über den Weg gelaufen sein könntest. Wenn eine Kammer ungenutzt bleibt, dauert es allerdings nicht, bis sich die Lücke wieder füllt. Links am Ende des Flurs hat sich vielleicht wieder eine geschlossen. Entweder durch Drilla oder durch jemand Neues.«

    Sie streckte die Hand fordernd aus und Niva ließ wortlos ein paar Taler in die Handfläche fallen. Aren ließ sie zuschnappen wie eine Falle, als Niva ihr noch etwas geben wollte.

    »Das reicht«, sagte sie, weil sie nicht wollte, dass es auffiel und man später Grund hätte darüber nachzusinnen, warum sie plötzlich so viel mehr als sonst verdient hatte.

    »Mach das du verschwindest«, sagte sie und nickte in Richtung Tür.

    Niva stand auf. Sie wusste nicht, was sie Aren zum Abschied sagen sollte.

    »Warte«, hielt Aren sie auf, als ihre Hand bereits über dem metallenen Griff schwebte. Sie wand sich noch ein mal zu ihr um. Aren rupfte Niva unvermittelt die Schirmmütze vom Kopf.

    »Klemm sie dir unter den Arm«, befahl sie und Niva tat es ohne Fragen zu stellen.

    Aren beugte sich zu ihr herunter, fuhr ihr mit ausgebreiteten Fingern durchs kurze Haar, während sich ihr ihre Lippen gierig auf den Mund drängten. Sie küsste sie hingebungsvoll, als verzehrte sie sich tatsächlich hungrig nach dieser Verbindung. Niva kam nicht zu Atem. Erst als ihr schwindelig wurde, lehnte Aren sich seufzend zurück und ihr roter Lippenstift war rund um ihren Mund herum verschmiert. Sie selbst musste ähnlich aussehen.

    Aren betrachtete ihr Werk einen Moment lang. Niva war so überrumpelt, dass sie bloß da stand.

    »Eins noch«, beschloss Aren. Sie fuhr mit ihren kalten Lippen küssend über Nivas Kiefer, ihren Hals entlang, herunter zu ihrem Schlüsselbein. Niva überkam ein Schauer. Sie hielt erneut die Luft an. Sie packte Aren wirsch bei den Armen und schob sie zurück.

    »Das reicht«, sagte sie nach Luft ringend, wiederholte bestimmter: »Das reicht jetzt.«

    »Alles weitere kostet dich auch extra«, rümpfte Aren die Nase, »Außerdem lässt du dich küssen, wie eine Wand.«

    »Ich war nicht darauf vorbereitet«, wehrte Niva sich.

    »Blödsinn. Du solltest nicht vorbereitet sein«, entgegnete Aren, bevor sie sie zur Tür heraus schob.

    »Und jetzt geh endlich«

    Niva stand schneller wieder auf dem Flur und hatte die geschlossene Tür im Rücken, als sie Zeit gebraucht hätte, noch etwas zu sagen.

    Sie sah verstohlen in beide Richtungen über den Flur, konnte nur zwei turtelnden Gestalten zwei Türen weiter auf der rechten Seite entdecken. Sie lehnte sich gegen das raue Holz, um nur wieder normal atmen zu können und sich zu konzentrieren.

    Als die beiden anderen in dem Zimmer verschwunden waren, stieß sie sich ab.

    Sie sah im Gehen noch ein paar Mal über die Schulter, bevor sie vor der Tür hielt, die Aren ihr genannt hatte. Zögerlich klopfte sie an, aber erhielt keine Antwort.

    Sie drückte die Klinke herunter, schob die Tür einen Spalt breit auf, um in den Raum dahinter zu spähen, doch darin war es dunkel. Ein Fetzten Stoff vor dem Fenster hinderte das kleinste Bisschen Licht daran einzudringen. Kurzerhand schob Niva sich durch den Spalt hindurch und schloss die Tür leise wieder hinter sich. Auf ihren Ballen schlich sie durch den Raum, versuchte Silhouetten vor ihren Füßen am Boden auszumachen, damit sie nirgendwo gegen stieß, insbesondere nicht gegen jemanden. Und als sie das Fenster erreichte, schlug sie ihren Krallen in den Fetzten und riss ihn herunter. Licht brach in das Zimmer herein, aufgeregt wirbelte Staub in der Luft quer durcheinander.

    Auf einem kargen Bettgestell hatten sie den Henker abgelegt. Sie hatten ihn tatsächlich verkauft. Auf den ersten Blick schien es, als sei er noch immer bewusstlos. Niva trat vorsichtig an das Bett heran, hinter seinen Rücken, der dem Raum abwehrend zugekehrt war. Sie streckte die Hand aus, umschloss seine Schulter, um ihn auf den Rücken zu drehen.

    Ein Abgang in den Taudis

    Niva hatte sich durch die Leute geboxt und sie erreichten schließlich einen Abgang in den Taudis. Niva schluckte, als sie nicht weit entfernt stehen blieb. Es war ein einfaches Loch im Boden, mitten und verloren irgendwo in der Stadt. Selbst Niva erkannte die Wände der Häuser dort kaum wieder. Es gab Orte die auch sie bevorzugt mied und ihre Existenz verdrängte. Aus dem Untergrund schlug ihr ein perverser Gestank entgegen. Der Geruch der Grube war etwas an das man sich noch gewöhnen mochte. Die Taudis war etwas ganz anderes. Da unten tummelten sich noch dunklere Gestalten, noch finstere Geister fanden dort unten Befriedigung ihrer gräulichsten Sehnsüchte. Und einer von Ihnen war K‘halibat der Kinderfresser.

    Nicht zu vergessen, dass es einen riesigen, florierenden Schwarzmarkt gab. Niva fasste sich ein Herz und appellierte an ihren Mut, als sie die mit Rost, Schleim und getrockneter dunkler Flecken übersäte Leiter berührte und auf die Sprossen kletterte. Schräg gegenüber des diesseitigen Eingangs zum Untergrund lehnte eine bis auf die Knochen abgemagerte Gestalt zwischen alten, ausgedienten Fässern, Glasflaschen und angelaufenen, löchrigen Jutebeuteln. Ein Kind, kaum älter als die kleine Magaura, mit starren Augen, die anklagend in den Himmel starrten.

    Hier unten roch es geballt faulig, nach Schimmel und aller möglichen Verderbtheit. Feuchte Hitze, schwere und dicke Atemluft umgaben sie. Neben gebeugten und geduckten Gestalten in langen Umhängen und Kapuzen, die bis tief in die Gesichter gezogen waren, fühlte sie sich nackt und verwundbar. Die anderen Gestalten, die sie aus ihren unverhüllten Gesichtern und Leibern beinahe herausfordernd anstarrten, als sie an ihnen vorüber trat, fühlte sie sich hilflos ausgesetzt. Dort unten war das Licht schummrig. Sie hatte die Schultern angezogen, während sie ging, als könnte sie das zumindest ein bisschen von den neugierigen, gierigen Blicken abschirmen. Frischfleisch, so sah sie die Spiegelung ihrer eigenen Gestalt in den fremden Augen.


    Aus: Kapitel 2 - Vom Morast in den Sumpf

    Niva bahnte sich ihren Weg durch die Gassen. Kurz bevor sie bei Zendur ankam, tippelte ihr eine kleine Ratte über den Schuh, kletterte an dem Stoff ihrer Hose ihr Bein hinauf, an den Saum ihres Hemdes. Sie umschloss das kleine Tier mit einer Hand und setzte es sich auf die Schulter. Dort stellte es sich auf die Hinterbeine und rieb sich die Schnauze mit den Vorderbeinen.

    „Magaura.“, flüsterte Niva. „Ich brauche deine Hilfe.“ Sie strich ihr mit einem Finger über das strähnige, dunkle Fell. Die Tasthaare an ihrer Schnauze zitterten.

    „Zendur muss eigentlich nichts davon wissen. Du weißt doch sicher noch, wo sich K’halibat herumtreibt, nicht wahr?“ Die Tasthaare zitterten noch aufgeregter und sie fiepte leise.

    „Hey.“, sagte Niva beruhigend, aber sie musste bei dem Gedanken an die gebeugte, breite, hagere Gestalt selbst ihre Furcht herunter schlucken. „Vertrau mir.“, sagte sie bekräftigend. Die kleine Ratte krabbelte auf ihre ausgestreckte Hand und Niva setzte sie auf den schmierigen Pflastersteinen ab.

    Magaura lief voraus und Niva musste sich bemühen ihr eilig zu folgen und sie nicht aus den Augen zu verlieren. Während sich Magaura geschickt einen Weg zwischen den Füßen der Leute hindurch bahnte, hatte Niva mehr Mühe sich durch die Leiber hindurch zu schlängeln.

    „Warte auf mich!“, rief sie. Die kleine Ratte drehte sich kurz zu ihr um, dann lief sie eilig weiter. Niva hatte sich durch die Leute geboxt und sie erreichten schließlich einen Abgang in den Taudis. Niva schluckte, als sie nicht weit entfernt stehen blieb. Ihr Blick kam auf der Ratte zu ruhen und sie bewegte sich einen Moment lang nicht, sah nur zu, wie sich der kleine Bauch der Ratte beim Atmen ausbeulte und wieder einsog.

    Es war ein einfaches Loch im Boden, mitten und verloren irgendwo in der Stadt. Selbst Niva erkannte die Wände der Häuser dort kaum wieder. Es gab Orte die auch sie bevorzugt mied und ihre Existenz verdrängte. Magaura fiepte schon wieder aufgeregt.

    „Stimmt.“, sagte Niva, „Ich muss mich beeilen.“ Magaura kletterte über ihren Arm auf ihre Schulter und zog an ihren Haaren. „Au.“, zischte Niva ungehalten. Sie war der Kleinen nicht wirklich böse, aber es kribbelte unangenehm an ihren Nervenenden, als wollte ihr eigenes Fleisch ihr eine Warnung aussprechen. Sie hob die Mütze über ihrem Kopf an und stützte dem Tier den Hintern, damit es sich auf ihren Kopf ziehen konnte. Sie setzte den Hut über Magaura wieder auf.

    „Gut festhalten, aber wehe du bewegst dich auch nur ein bisschen!“, warnte sie sie eindringlich. Sie bekam ein dumpfes, knappes Fiepen zur Antwort. Aus dem Untergrund schlug ihr ein perverser Gestank entgegen. Der Geruch der Grube war etwas an das man sich noch gewöhnen mochte. Die Taudis war etwas ganz anderes. Da unten tummelten sich noch dunklere Gestalten, noch finstere Geister fanden dort unten Befriedigung ihrer gräulichsten Sehnsüchte. Und einer von Ihnen war K‘halibat der Kinderfresser.

    Nicht zu vergessen, dass es einen riesigen, florierenden Schwarzmarkt gab. Niva fasste sich ein Herz und appellierte an ihren Mut, als sie die mit Rost, Schleim und getrockneter dunkler Flecken übersäte Leiter berührte und auf die Sprossen kletterte. Schräg gegenüber des diesseitigen Eingangs zum Untergrund lehnte eine bis auf die Knochen abgemagerte Gestalt zwischen alten, ausgedienten Fässern, Glasflaschen und angelaufenen, löchrigen Jutebeuteln. Ein Kind, kaum älter als die kleine Magaura, mit starren Augen, die anklagend in den Himmel starrten. Sie stieg von der Leiter zurück auf das Pflaster und trat vorsichtig an das Bündel Knochen heran, bis sie sich darüber beugen und es sich genauer ansehen konnte. Die fahle Haut spannte sich über den Knochen. Sein Bauch war unter dem zerschlissenen Leibchen aufgebläht. Sie hörte Magaura aufgeregt fiepen. Sie musste es riechen. Sie kratzte über Nivas Kopfhaut, als wollte sie ihr sagen, dass sie einfach schnell weiter gehen sollten. „Hör auf.“, flüsterte Niva.

    Die Augen blickten deshalb in jener starren Intensität, weil sie überhaupt nicht mehr da waren. Tiere mussten sie ihm ausgefressen haben, mitsamt der Lider und Wimpern. Verurteilend ob ihres Plans, starrten die dunklen Höhlen sie aus tiefen Schluchten an. Sie hielt in grimmiger Entschlossenheit die Luft an. Die Fliegen säumten sich an dem säuerlich stinkenden, verwesenden Körper. Eine kleine Fliege krabbelte in den Mundwinkel des Jungen und drang in die Mundhöhle hinein. Es gab kaum ein ekelhafteres Geräusch als dieses monotone Summen der Insekten, das von Tod und Ende sprach, dass das Fleisch der Toten auf das degradierte, was es war. Ausgedient und kaputt, als hätte es sich niemals gerührt.

    Sie sammelte einen leeren Beutel auf und inspizierte ihn hastig. Die Löcher waren zu groß und zu nah beieinander. Sie warf in achtlos auf den Boden zurück und besah sich den nächsten. Sie versuchte so behutsam wie möglich zu sein, als sie den Körper in einen halbwegs geeigneten Beutel steckte. Die Haut war weich unter ihrem Griff. An einer Stelle brachen ihre Finger unter dem Druck durch und sie atmete zischend durch zusammengebissene Zähne ein, was sie gleich bereute. Der Gestank und der dunkle Glibber an ihren Fingern trieben ihr bitter die Galle in den Hals. Sie schmeckte den Geruch süßlich und unvergleichlich auf ihrer Zunge. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu kotzen. Es schmatze als sie den Rücken aufhob und er sich von seinem Grund löste. Eine Made quoll aus dem schmierig, rot, schwarz, violetten Gammelfleisch von dem sich die Haut gelöst hatte. Sie beeilte sich ihn zu verstauen, um es zumindest nicht länger ansehen und anfassen zu müssen. Und sowie sie den Beutel eilig geschlossen hatte und verzweifelt versuchte sich die Hände an den anderen Jutebeuteln abzuwischen, übergab sie sich doch. Magaura wühlte mit sich mit ihrer Schnauze unter der Mütze hervor, aber Niva schob sie noch während sie würgte und sich erbrach eilig zurück.

    „Nicht.“, krächzte sie knapp. „Schon wieder gut.“, hustete sie. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.

    Dann zerrte sie den Beutel zu dem Schlund im Boden und hängte ihn sich über die Schulter. Mit einer Hand hielt sie sich an der Leiter fest und kletterte vorsichtig Sprosse um Sprosse nach unten.

    Hier unten roch es geballt faulig, nach Schimmel und aller möglichen Verderbtheit. Feuchte Hitze, schwere und dicke Atemluft umgaben sie. Neben gebeugten und geduckten Gestalten in langen Umhängen und Kapuzen, die bis tief in die Gesichter gezogen waren, fühlte sie sich nackt und verwundbar. Die anderen Gestalten, die sie aus ihren unverhüllten Gesichtern und Leibern beinahe herausfordernd anstarrten, als sie an ihnen vorüber trat, fühlte sie sich hilflos ausgesetzt. Dort unten war das Licht schummrig. Sie hatte die Schultern angezogen, während sie ging, als könnte sie das zumindest ein bisschen von den neugierigen, gierigen Blicken abschirmen. Frischfleisch, so sah sie die Spiegelung ihrer eigenen Gestalt in den fremden Augen.

    Sie traute sich kaum eine dieser Gestalten anzusprechen und sie nach dem Weg zu fragen. Aber sie hatte keine Wahl. Sie traute sich nicht eine der unverhohlen herum stromernden Gestalten zu fragen, also zog sie an dem Umhang einer Gestalt, die ganz in Dunkelheit verhüllt war. Vielleicht war es ein magischer Trick. Aber selbst als das Licht, das den geschlossenen Großraum von den Wänden her beleuchtete, direkt unter die Kapuze schien, als die Gestalt den Kopf hob und wieder zu Niva herabsenkte, sah sie nichts als dichte Schwärze.

    „Wie komme ich zu K‘halibat?“, fragte Niva schroff, um nicht schwächlich daherzukommen.

    „K‘halibat?“, zischelte eine säuselnde Stimme mit schwerem Akzent. Sie hatte das Gefühl eingehend gemustert zu werden, als wollte man abschätzen, ob sie der Information wert war oder was man von ihr dafür verlangen konnte.

    „Du bist ein töricht Ding, ihm das da zu bringen.“, sagte die Gestalt, anstatt ihr auf ihre Frage zu antworten.

    „Sag mir nur, wo er ist.“, erwiderte sie unnachgiebig.

    „Bitte sehr.“, zischelte es, „Schenk mir ein Strähn von dein Haar. Dann überlege ich, dir den Weg zu zeigen.“

    Das konnte keine gute Idee sein. Ein so minderer Preis, konnte am Ende teurer sein, als ihr lieb sein sollte. Aber sie war jetzt dort. Und wenn sie von jemandem wusste, der den Henker unter Garantie wieder flicken konnte, war es K‘halibat. Aber sie fürchtete sich davor, dass es wahr war, was die Gestalt gesagt hatte. Dass er das Bündel Jungenleiche nicht brauchen konnte und sie am Ende eine andere Bezahlung darbieten musste. Vielleicht würden sie ihn betrügen. Aksoy könnte ihr vielleicht dabei helfen, ihn wieder loszuwerden, wenn er seine Arbeit getan hatte.

    „Gut.“, willigte sie also ein. Sie zog sich mit einem Ruck ein paar dünne Strähnen ihrer braunen Haare hinter ihrem linken Ohr aus, dass die Stelle für einen Augenblick unter Protest brannte und streckte sie der Gestalt entgegen.

    „In mein Gesicht.“, bat die Gestalt und Niva tat wie ihr geheißen und streckte die Hand in die Schwärze unter der Kapuze. Erstaunt klappte ihr der Mund auf, als die Schwärze ihre Hand verschluckte. „Jetzt, lass Strähn fallen.“ Sie ließ das Büschel Haare los und zog die Hand schleunigst zurück. In ihren Fingerspitzen und in ihrem Handgelenk kribbelte es dumpf, als wäre ihr die Hand eingeschlafen. Sie rieb sie sich an dem Stoff ihrer dunklen Hose. Die Gestalt gluckste leise über einen Scherz den nur sie verstand.

    „Komm mit mir.“, sagte sie, „Komm, komm nur.“

    Niva folgte ihr, obwohl sich ihre Nackenhaare sträubten. Sie glaubte Magaura kurz leise fiepen zu hören und hoffte, sie hätte es sich nur eingebildet und die Gestalt hätte es nicht mitbekommen. Aber sie glaubte auch, sie bereits wieder amüsiert glucksen zu hören. Instinktiv zog Niva den Hut fester auf ihren Kopf. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie dachte, es müsste jeden Moment aus ihr herausbrechen, während sie sich unter den vielen Gestalten bewegte, die ihr alle immer größer erschienen und immer hässlichere Fratzen zu ziehen schienen. Vielleicht bildetet sie es sich ein.

    Sie hielten mitten im Stück vor einer hölzernen Tür in der Wand. Sie spähte durch einen der vielen Spalten zwischen den Brettern. Dahinter tat sich ein langer, schmaler Flur auf, von zwei Fackeln beleuchtet, die sich an den Wänden einander gegenüber hingen.

    Ganz nah an ihrem Ohr hörte sie die Stimme der dunklen Gestalt. Sie zuckte zusammen. Sie spürte kühlen Atem in ihrem Nacken.

    „Geh nur hinein. Hinter der zweiten Tür ist K‘halibat.“, sagte sie. Sie fragte gar nicht, ob die Gestalt mitkommen würde. Es war ihr sowieso lieber, wenn sie sich nur mit einer gruseligen Erscheinung zur Zeit herumschlagen musste.

    Sie drückte die hölzerne Tür hinter sich wieder zu und atmete tief durch, bevor sie ihre wackligen Beine Schritt für Schritt näher an die zweite Tür brachte.

    Auf ihr bemüht festes Klopfen hin, hörte sie hinter der Tür ein mürrisches Brummen.

    „Nicht jetzt!“, fauchte jemand wütend. Sie musste sich sehr zusammen nehmen, um noch ein weiteres Mal die geballte Faust gegen das Holz zu schlagen. Sie hörte zornig stampfende Schritte und dann blickte sie schneller als sie gehofft hatte in die grässlich vor Ärger verzogene Fratze von K‘halibat. Seine lange Nase war gespalten, die Stoßzähne herunter gesäbelt

    „Ich sagte doch, nicht jetzt!“, brüllte er ihr spuckend direkt ins Gesicht. Dann zeigte seine Miene Überraschung. „Dich kenne ich doch.“, murmelte er. Er beugte sich zu ihr herunter, kam ihr ganz nah. Und Niva wäre am liebsten einen Satz zurückgesprungen. Ja, sie war K‘halibat früher schon ein Mal begegnet und sie konnte von Glück sagen, das sie so glimpflich davon gekommen war. Er musterte sie argwöhnisch, als wollte er jede einzelne Pore unter die Lupe nehmen.

    „Du bist sehr klein.“, säuselte er, als wäre es das größte Kompliment, das er ihr machen konnte. „Beinahe wie ein Kind.“ Er lächelte zufrieden, träumerisch. Dann jedoch streckte er sich und die Freude darüber verlor sich in ernsteren Zügen.

    „Beinahe ist nicht genug.“, sagte er mehr zu sich selbst, als müsste er sich daran erinnern, bevor er der Versuchung nachgab ihr den Hals aufzuschneiden und sie aufzuhängen. Sie ballte ihre zitternden Hände zu Fäusten. Er wies auf den Beutel.

    „Du hast mir etwas mitgebracht?“, fragte er. Niva nickte, presste die Lippen fest aufeinander.

    „Weil ich Hilfe brauche.“, erklärte sie.

    „Ach.“ Für einen Moment schien es, als wollte er es hinterfragen, aber er besann sich. Sein Blick glitt immer wieder zu dem verschlossenen Jutebeutel. Er klatschte plötzlich in die Hände und tat seine Aufregung kund. „Nun zeige mir schon, was es ist!“, verlangte er strahlend. Niva ließ den Beutel gehorsam vor seine Füße gleiten.

    Der Troll hob den Beutel auf und zurrte ihn auf. Er schlug sich die Hand vor die Nase als ihn die geballte Ladung Verwesungsgestank traf. „Wie blasphemisch!“, schimpfte er wutentbrannt und zog wieder diese grässliche Fratze, bei der eine Ader auf seiner Stirn hervortrat. Er schleuderte den Beutel durch den Gang gegen die Holztür zum Saal. Er traf polternd auf die Bretter, die unter dem Aufprall einen Moment lang bebten. Niva dachte schon, sie würden aus den Angeln springen und auseinander purzeln.

    „Kindchen!“ Drohend hatte er einen seiner zwei langen Finger erhoben. Sie tat vor Schreck einen heftigen Atemzug, wich zurück, weil er ihn ihr direkt unter die Nase hielt.

    „So etwas kann ich nicht brauchen!“, erklärte er und wand sich schwungvoll wieder von ihr ab, um in seine Werkstatt zurückzugehen. „Wieder weich geworden und Getier zehrt schon von ihm. Es ist zu spät.“, sagte er. Er schloss die Augen und summte eine eigentümliche Melodie, während er mit den Fingern auf die steinerne Oberfläche des Tisches trommelte, der in der Mitte des Raumes aufgebahrt war.

    „Sein Blick ist wie lieblicher Gesang, aber zu mehr taugt er nicht. Eine Zeile reicht nicht für ein Lied, Kindchen, Kindchen. Nein, nein. Aber eine wunderbare Erinnerung, allemal.“ Er tänzelte durch den Raum um den Tisch herum und an lauter entstellten Gebeinen vorbei, die er zu scheußlichen Figuren zusammengefügt hatte.

    „Nimm in wieder mit, wenn du gehst.“, sagte er, als er die Augen öffnete und machte eine unterstützende, wegwerfende Handbewegung. Niva nickte bedrückt. „Okay.“, versuchte sie zu sagen, aber ihr war die Kehle zu trocken und sie verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke, hustete, bevor sie noch einmal mit kräftigerer Stimme zustimmte.

    „Du wirst mich schon anders bezahlen können. Nun sag mir, was du brauchst.“, verlangte er zu wissen. Seine Augen starrten sie klein und tief aus seinem Gesicht heraus an.

    „Mädchen, Mädchen sprich!“, verlangte er. Er hatte sich mit seinen langen Armen auf den Tisch gestützt auf dem andere Leichenteile gebart lagen, gläserne Säulen mit Flüssigkeit, Binden, Fäden, Drähte, Nadeln, Zangen und Knochensägen und Schläuche und Wachs, verschiedene scharfe, glänzende Klingen. Niva schluckte und fasste sich an den Schirm ihrer Mütze.

    „Ein Hundebiss und ein Messerstich-“, setzte Niva an.

    K‘halibat legte den Kopf in den Nacken und stöhnte, stieß sich von dem Tisch ab, richtete sich auf und funkelte sie an. „Langweilig, unwürdig.“, fauchte er abschätzig. „Du willst meine Zeit verschwenden.“

    Er entblößte seine geschärften, spitzen Zähne. „Dafür brauche ich etwas unglaublich Inspirierendes. Ich sehe sicher etwas, das ich will. Versprich mir nur, dass du es mir gibst, wenn ich es will, Kindchen, Mädchen, versprochen, versprochen?“ Seine raue, schrille Stimme hob und senkte sich von den Wänden widerhallend, rasselte ihr in den Ohren. Sie nickte kurzerhand.

    „Wenn es etwas ist, dass ich dir geben kann.“, wand sie jedoch ein, um sich zumindest ein kleines Hintertürchen offen zu halten. Dabei war es wohl kaum ein Türspalt, den sie sich offen hielt.

    Er verzog den Mund und die vernarbten Mundwinkel zu einem Schmollen. Es waren drei Narben auf jeder Seite.

    „Liebes Mädchen.“, sagte er, „liebes, liebes Mädchen. Enttäusche mich nicht.“ Es war eine Warnung. Er lächelte.

    Sie nickte. „Will ich nicht.“, sagte sie.

    Als sie ihren Weg aus dem Taudis heraus bestritten, begegneten sie nicht wieder diesem seltsamen Wesen aus Dunkelheit und Schatten, das Niva den Weg geleitet hatte und irgendwie war sie froh darüber. Sie hatte den Jutebeutel mit der verwesenden Jungenleiche wieder über die Schulter gehängt und trug ihn an die Oberfläche der Grube zurück. Sie legte ihn kurzerhand ab, wo sie ihn gefunden hatte, wagte aber nicht den Beutel zu öffnen und ihn wieder herauszuholen. So wurde der fein löchrige, aufgeraute Stoff zu seinem Sarg. Und vielleicht war das besser als offen dem Himmel ausgesetzt irgendwo in einer Gasse herumzuliegen, redete sie sich ein.

    Sie führte den verunstalteten, breitschultrigen Troll durch die Gassen. Er ging erhoben, lächelte milde, als sonnte er sich in den verstohlenen Blicken, die eigentlich nichts bedeuteten. In seiner Welt jedoch war es Anerkennung und Ehrfurcht und er war etwas ganz Besonderes und offensichtlich ganz verliebt in das Material, das ihm sogar der eigene Körper für seine Modifikationen bot. Seine Haut schimmerte lilafarben, wie eine Blume. Niva sah Blumen nicht sehr häufig. Selbstgefällig erwiderte der Troll ihren musternden Blick und sie sah schnell weg.

    Grettas Haus war der schmale Verschlag in dem sie mit ihrer Mutter unter vielen anderen in den Slums gehaust hatte. Es fiel kaum Licht hinein, also konnten auch nicht viele Augen so einfach hinein spähen, um ihre Neugierde zu befriedigen, was die fremden Tieflinge anging, die früh am Tag angekommen waren und seither nicht wieder verschwunden waren.

    Der Henker lag ausgestreckt auf einer alten, rauen Matte am Boden, Aksoy hockte daneben. Mit ihm darin sah der Verschlag noch viel kleiner aus, als er war. Fast hätten sie nicht alle ganz herein gepasst, stellte Niva fest, als sie dort ankam, in Begleitung des Kinderfressers.

    „Das ist K‘halibat, der-“ Sie brach ab. Es erschien ihr äußerst ungeschickt den Ruf, den K‘halibat sich auf der Straße eingefangen hatte in dieser Sache zu erwähnen.

    „Der helfen wird.“, vollendete sie also ihren Satz.

    „Kinderspiel, Spielchen, Kinderspielchen.“, säuselte der Troll und grinste schon wieder vergnügt. Niva wünschte er würde damit aufhören. Bei seinem Singsang trat bei ihr kalter Angstschweiß aus und seine Zähne waren die eines selbsternannten Raubtieres.

    „Und wenn ich fertig bin, kriege ich deine Ohren.“, bestimmte er unvermittelt freiweg, als hätte er ihr gesagt, dass morgen ein angenehmer Schauer die Straßen spülen würde und grinste Niva süffisant an. Sie schluckte und fiel ungeschickt auf den Hosenboden. Aber sie tat, als hätte sie sich ohnehin gerade setzten wollen. Der Troll machte sich daran eine Lampe zu suchen, um für Beleuchtung zu sorgen. Niva war jeder Zug im Gesicht entglitten. Magaura fiepte leise, nur ganz leise und kratzte ihr schon wieder über den Kopf, wie um sie zum weglaufen zu bewegen. Niva räusperte sich lautstark und beobachtete den Troll, der nicht den Anschein machte, als hätte er die Ratte gehört. Niva ruckelte an ihrer Mütze und Magaura saß wieder still. K‘halibat hatte ein kleines Talklicht aufgetrieben.

    „Das reicht nicht aus.“, murrte er frustriert und öffnete die riesige, lederne Tasche, die er mitgebracht hatte. Sie war hässlich, offensichtlich selbst gefertigt und Niva konnte sich nur zu gut denken, woraus sie gemacht war. Er barg daraus ein größeres Licht, das er Aksoy entgegenstreckte.

    „Halt das.“, verlangte er.

    Sie hob halbherzig die Mundwinkel an. „Gut.“, sagte sie, „Ich kenne vielleicht jemanden.“

    Sie entschied sich dagegen, sie direkt zu Zendur und Magaura zu führen.

    „Bring ihn in die Slums, frag nach Grettas Haus. Da wohne ich. Ich bringe Hilfe mit.“

    Es war sicher keine gute Idee, die Wunden so notdürftig versorgt zu lassen.

    „Sollen wir ihn nicht lieber richtig von jemandem verarzten lassen?“, zischte sie an Aksoy gewandt. Auf der anderen Seite war der Aufstieg gerade unbewacht und sie konnten sich ohne Probleme auf die nächste Ebene begeben, wenn sie es darauf anlegten. Sie wusste, wo sie da oben den nächsten Näher finden konnten. Wenn sie es darauf anlegten, dann auch, wo sie das nächstbeste Hurenhaus auftreiben konnten.

    Als Aksoy vorschlug Alkohol zu besorgen war sie erleichtert. Das rettete vermutlich mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. Mit ein paar mächtigen Flügelschlägen war er verschwunden und er brauchte nicht sehr lange, da war er schon wieder zurück. Ihr wäre auch nie eingefallen, ihn hier mitten auf der Straße zu behandeln. In den Schatten bemerkte sie neugierige Augen, auch ganz unverhohlen drückten sich ein paar Gestalten herum und beobachten die drei.

    Der Tiefling behielt Recht aus der Flasche stieg ihr der Nasenhaare versengende Geruch entgegen und alsbald stank der ganze Henker danach. Das Zeug musste ihm den Hals verätzen. Das hochprozentige Zeug musste verdammt teuer gewesen sein. Sie beäugte Aksoy verstohlen. Ob er dafür etwas von seiner Bezahlung hatte springen lassen? Hier gäbe es kaum einen weiteren, der das getan hätte. Aber sie war ihm dankbar, dass er nicht abgehauen war. Ihm wäre bestimmt nichts zugestoßen, hätte er es getan, dachte sie.

    „Ich bin Niva.“, stellte sie sich vor, während er dem Tiefling noch ein paar Mal Schnaps in den Hals kippte. Sie konnte nicht sagen, ob das gut war, aber sie ließ ihn machen. Sie hatte ja auch nicht viel Ahnung. Vielleicht kam er so wieder zu Sinnen. Und so taten sie, was er sagte, abwarten.

    „Wenn er aufwacht und auch wenn er’s nicht tut. Wir sollten so bald wie möglich von hier verschwinden.“, raunte sie nach einer Weile, in der sie die Umgebung nervös betrachtet hatte. Einige der Schaulustigen waren schon wieder verschwunden und dort wo sie Platz gelassen hatten, kamen ein paar neue. „Ich kann mir vorstellen, das er ein paar offene Rechnungen hat. Und was hier passiert ist hat sich sicher schon rumgesprochen.“

    Niva sah ehrfürchtig zu dem Riesen auf. Wortlos streckte sie ihm die Geldkatze entgegen. Sie hätte ihm lang und breit erklären können, dass es sich dabei nicht um seine Belohnung sondern das Diebesgut handelte, aber sie tat es nicht. Vermutlich wären ihm die Details ohnehin egal gewesen, Hauptsache, er bekam, was ihm versprochen worden war. Und wahrscheinlich kam ihr seine Größe im Vergleich zu ihrer allein schon ziemlich bedrohlich vor und deshalb wollte sie sich lieber nicht daran aufhängen. Sie wollte keinen Ärger machen. Sie hatte wohl keine Wahl. Sie nahm die Drohung des Henkers für voll, würde ihm also helfen müssen. Hoffentlich könnte sie am Ende etwas für sich aus der Sache rausschlagen.

    „Helfen wir ihm.“, entschied sie knapp. „Aber allein krieg ich ihn nicht von hier weg. Du wirst doch sicher bleiben? Du weißt, er hat mehr davon.“ Sie wies auf die Geldkatze, die sie ihm überlassen hatte, um ihn zu überzeugen, obwohl er sich den Rest auch einfach hätte nehmen können.

    Sie trat jetzt näher an den bewusstlosen Tiefling heran. Von ihm ging immer noch eine stumme Warnung aus, so wie er jetzt mit noch mehr Blut besudelt dalag. Vor allem die Bisswunde an seinem Arm machte dem Tieflingsmädchen Sorgen. Gizmos Geifer war bestimmt nichts, was man im Fleisch kleben haben sollte. Der Stoff seiner Hose hatte sich am Bein weitläufig um die Stichwunde herum dunkel mit Blut vollgesogen. Darunter begann sich eine Lache zu bilden.

    „Verdammt.“, knurrte sie frustriert. Behelfsmäßig zog sie ihren grauen Mantel aus und schliss ihn mit ihren Krallen auf. Sie hatte den Tiefling umrundet, sich neben dem Bein nieder gekniet und es oberhalb der Kniekehle für einen Moment angehoben, um den Stoff unter dem Bein durchzuschieben. Sie legte zwei Streifen Stoff über die Wunde und wund sie um das Bein. Ein Stück Stoff rollte sie auf und legte den Ballen direkt über die Wunde, wo sich der erste Verband bereits verfärbte. Mit zwei weiteren langen Lagen Stoff, den sie kurzerhand zerriss, fixierte sie den Ballen fest mit einem Knoten. Sie hatte sich an den dünnen Stoffmantel gewöhnt, ihn sogar gemocht. Vielleicht grämte sie sich zumindest ein Bisschen, weil es nicht viel war, das sie besaß. Sie seufzte kurz, ob der Tatsache, dass er jetzt Geschichte war. Sie fixierte die Geldkatze an seinem Gürtel mit den Augen, streckte verstohlen die Finger danach aus. Aber sie hielt inne. Später, vielleicht. Der Andere musste ja nichts davon bemerken.

    Niva wagte nicht den anderen Tiefling nach etwas Stoff für den Arm zu fragen, also mussten die Ärmel ihrer Bluse dran glauben. Mit einem hässlichen Geräusch trennten sich unter dem Ruck die Nähte auf und sie legte sie um die Bisswunde. Jetzt mussten sie jemanden finden, der ihm tatsächlich helfen konnte. Doch ihr fiel niemand abgesehen von Zendur ein. Zendur hatte schon oft genug einige von Magauras Freunden umsorgt. Besonders Faust hatte sich in mehr Gefahr gebracht, als man hätte meinen sollen, dass ein großmäuliger Bursche wie er überlebte. Aber sie wollte ihn ungern mit in diese Angelegenheit reinziehen, besonders nicht Magaura wegen, vor allem nicht, da sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, wie weit seine Fähigkeiten tatsächlich reichten. Aber es war gut möglich, dass er zumindest jemanden wusste, der helfen konnte.

    Als die Zähne des Hundes in dem Arm des Tieflings versanken, dachte sie für einen Moment der Kampf wäre am Ende vielleicht doch verloren. Aber der Henker bewies das Gegenteil. Die Falte zwischen ihren Brauen grub sich tiefer und sie presste sich noch ein Stück weiter zurück in den Schatten. Als er von dem bewusstlosen Wandler abließ, nachdem er ihn noch zweimal kräftig getreten hatte, rein nach der Manier, ihn für die Schmach, Schmerz und Narben blechen zu lassen, die er ihm in seinem tobsüchtigen Anfall von absoluter Habgier zugefügt hatte. Sie glaubte, sie hätte dabei etwas knacken gehört, aber sie war nicht sicher, ob es doch Einbildung war, weil die Tritte so kräftig ausgesehen hatten, das etwas zu Bruch gehen hätte müssen.

    Dann ging er einfach weiter. Der Arm musste ihm doch höllischen Schmerz bereiten. Sie wusste nicht, ob sie dafür Bewunderung hegen sollte oder ob ihr vor Furcht glatt schlecht würde. Im Moment eher letzteres.

    Er überließ Rosco dem anderen Tiefling und kümmerte sich selbst um Jean. Sie verstand nur die Hälfte von dem, was er ihm sagte, aber mehr wollte sie gar nicht verstehen. Da war sie sich schnell sicher. Sie konnte nicht mal Genugtuung empfinden, so scheußlich hörten sich die Drohungen an und den Rest konnte sie sich nur ausmalen. Die Worte zeigten Wirkung. Niva hätte nicht gedacht, dass das möglich war, aber der Junge wurde noch bleicher, als er es zuvor gewesen war. Dem Tiefling fiel das Kleiderbündel unangenehm auf und Niva atmete leise zischend zwischen den Zähnen ein, leise genug, dass es nur gespitzte Ohren hätten vernehmen können, aber sie presste sich trotzdem die Fingerspitzen auf die Lippen. Er schob die Kleider bei Seite und Niva atmete um ein kleines Bisschen erleichtert auf. Es gab immer noch Hoffnung, dass er nicht bemerkt hatte, wie nah er dem Gold war, dessen man ihm bestohlen hatte. Obwohl sie ohnehin doch sehr mit sich haderte, ob sie nach allem, was sich vor ihr abgespielt hatte noch mutig genug war, sich hinaus zu trauen und das Wissen, das am Ende eh nur mehr Vermutung als Sicherheit war, zu ihrem Vorteil zu nutzen. Vielleicht sprang dabei auch gar nichts für sie heraus. Er und der andere, sie konnten es ihr einfach wegnehmen, wenn sie es erst mal hatte und sie zu den anderen auf den Grund befördern, mit dem Gesicht voran. Ja, nein, das wollte sie auf gar keinen Fall riskieren. Sein bitter hämisches Lachen ließ sie in sich zusammen zucken. Die folgenden Drohungen hörte sie deutlicher als ihr lieb sein konnte. Sie fühlte sich von den Tritten getroffen, die er an Jean ausließ und war froh versteckt zu sein. Wie sollte sie fliehen, wenn es ihr genauso erging? Das Ganze war schneller vorbei, als sie es richtig hätte abzählen können und Jean wäre nicht Jean gewesen, wenn er seinem Angreifer nicht auch noch eine verpasst hätte. Sie hatte da gesessen und alles mit angesehen, aber es war so schnell von Statten gegangen, dass sie gar nicht gesehen hatte, wie er den Tiefling geschnitten hatte.

    Als Jean verschwunden war und wie sie feststellte, ohne, dass sie davon mitbekommen hatte auch Rosco und der andere Tiefling, beschloss sie selbst darauf zu warten, dass auch der Henker gehen würde, bevor sie heraus käme, aber der Tiefling hatte sich ihrem Versteck zugewandt. Ihr Herz sackte ihr gefühlte zehn Zentner schwer vor Angst in den Magen ab. Und dann fing er auch noch an sie gewandt zu sprechen an. Verdammter Drecksscheißmist. Sie wusste nicht, ob er Wort halten würde. Jedoch wäre es sicherlich gleich, ob sie sich nun einfach weiter in den Schatten hinein drängte oder einfach aus ihrem Versteck treten würde, wenn er sie schon entdeckt hatte. Sie fürchtete sich trotzdem. Zögerlich schälte sie sich aus dem Schatten. Aber sie straffte die Schultern und versuchte so aufrecht zu gehen, wie nur irgend möglich. Sie wollte auf keinen Fall gleich schwächlich wirken und als könnte er so mir nichts dir nichts auf ihr herumtrampeln, auch wenn das ein nicht abzustreitender Fakt war, dass er könnte, wenn er wollte. Sie presste die Zähne fest aufeinander. Sie blieb ein gutes Stück weit weg von ihm stehen. Durch ihren Schweif zog noch ein nervöses Zucken, bevor er sich so selbstverständlich zwischen ihre Beine klemmte, wie bei einem verschreckten Tier.

    Ein alltäglicher Geruch, trotzdem war er so intensiv, dass sie die Nase rümpfte. Sie spannte entschlossen den Kiefer an, streckte die Schultern durch und machte sich bereit. Das gestohlene Gold, es musste sich dort in Gizmos abgelegter Kleidung befinden. Wie leichtsinnig, dachte sie. Aber vermutlich war er so kopflos, dass er gar nicht in Betracht gezogen hatte, jemand könnte sie beobachten und das Gold an sich nehmen, sobald er es dort liegen ließ.

    Sie war angespannt, beobachtete aus dem Augenwinkel die anderen. Aksoy, der eigentlich den Deal angenommen hatte und ihr aus der Nähe zu ihrer Beunruhigung noch viel riesenhafter vorkam, Gizmo, der knurrte und die Zähne fletschte, Jean der verbittert das Gesicht verzogen hatte, aber noch immer am Boden lag und Rosco auf den Seilen. Aber besonders behielt sie den Henker im Auge. Zwischen ihre Brauen hatte sich eine Falte gegraben.

    Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie der Riese sich Jean packte und die Seite wechselte, sobald das Gold ins Spiel kam. Sie bemerkte es selbst nicht, aber sie hatte sich vor gelehnt, um das Stück Gold an zu visieren. Es funkelte herrlich. Sie schluckte verzweifelt die Gier herunter, die sich in ihr aufbäumte. Sie verspürte auch das Verlangen, sich darauf zu stürzen. Es war wertvoll wie nichts anderes hier. Sie krallte ihre scharfen Nägel in den spröden Stein. Um dieses Gold würde eine noch viel brutalere Schlacht von der Kante brechen, als jene, von der sie eben noch Zeuge gewesen war. Gizmo tropfte der Geifer aus der Schnauze. Sein Bellen hallte aggressiv von den hohen Wänden wieder. Sie besah sich einen nach dem anderen auf der Suche nach einem Hinweis auf das gestohlene Gold.

    Niva hatte den Kampf mit angehaltenem Atem verfolgt. Jemand der so brutal und obendrein siegreich zu kämpfen wusste, hätte sich wohl den Namen 'Henker' verdient. Sie hatte keine Zweifel mehr. Als Jean und sein Gefolge schließlich aufgetaucht waren, hatte sich Niva noch tiefer in den Schatten ihres Verstecks gedrückt. Das Jean sich diesem Tiefling entgegenstellte oder zumindest seine Leute dazu anhielt, ihm die Stirn zu bieten, bestätigte ihren Verdacht. Ihr Schweif zuckte nervös hinter ihrem Rücken wie bei einer Katze. Sie rechnete sich ihre Chancen aus, wenn sie sich auf die Seite dieses Mannes stellte. Mit jemandem wie ihm bräuchte sie sich nicht mehr um Jean zu sorgen und ihn zu fürchten. Vielleicht wäre die Zeit des Bangens und der Schulden endlich vorbei. Nur war sie nicht bereit sich dafür bei jemand anderem in die Schuld zu stellen. Das war, was sie fürchtete. Eigentlich hätte ihr das Ganze hier sowieso völlig egal sein können. Während die Meute sich hier zusammenraufte und sich um eines Fremden willen die Köpfe einschlug, hätte sie schon längst über alle Berge sein können. Aber die Kinder hielten sie noch immer zurück. Vielleicht könnte sie eine Sicherheit für sie erlangen. Sie könnte jemanden auf ihrer Seite gebrauchen, der eine wirksame Drohung für sie aussprach. Und dieser Tiefling dort drüben konnte so jemand sein. Doch jetzt wo Jean persönlich bereits vor Ort war, traute sie sich kaum heraus. Sie wartete ab, was als nächstes geschah, wie der Tiefling sich dem Jungen mit der unsichtbaren Krone auf dem Kopf entgegenstellen würde. Ihr Blick schweifte über die Meute. Gizmo, der Gauner hatte sich kampfbereit gemacht. Am meisten bereitete Niva der riesenhafte, gehörnte Tiefling Sorgen, den sie zuvor noch nie hier gesehen hatte. Sie war sich sicher, der mochte auch dem Henker allein Probleme machen. Fieberhaft dachte sie nach, was sie tun konnte, während sie aufmerksam dem Fortgang des Geschehens folgte.

    Ein tolles Fazit!


    Ich freue mich, dass du aus dem NaNo Positives mitnehmen konntest und optimistisch bleibst. Dass du dir gleich ein neues Ziel setzt, finde ich klasse! Und das ist vermutlich auch am besten so. Nicht aufgeben und weiter machen. Das will ich auch so angehen. :)

    Die Möglichkeit über das Jahr eigene Projekte auf der NaNo-Seite zu managen finde ich auch interessant und ich probiere es aus. Mal sehen, ob es mir weiterhilft. Auf jeden Fall bin ich ganz gespannt auf den nächsten NaNo im nächsten Jahr! Dieser lief ja schließlich auch nicht mehr so wie geplant bei mir, aber ich nehme es mir jetzt mal nicht krumm.^^ Ich bin trotzdem froh, dass ich es ausprobiert habe! Nächstes Mal läuft es dann sicher besser. (Hoffentlich!)


    Meinen Glückwunsch für die dem Fleiß entsprechend gelobte Arbeit!^^ Dann hat sich das ja wirklich allemal gelohnt!


    Ich hoffe von mir selbst auch, dass ich nächstes Mal während des NaNos fleißiger poste...Auf jeden Fall habe ich die Wordcount-Kurve zu Anfang auch als sehr motivierend empfunden. Das immer so vor Augen zu haben, wenn man tatsächlich Fortschritte macht, ist also auf jeden Fall ganz schön.

    Ich persönlich habe überraschender Weise in letzter Zeit noch nicht wieder zum Alkohol gegriffen (obwohl das stimmt nicht ganz, Ende November gab´s ein biiisschen Pflaumenwein) , aber jedes Mal wenn du den Glühwein erwähntest und gerade jetzt wo der Weihnachtsmarkt wieder die Pforten geöffnet hat, bin ich doch sehr versucht mich auch mindestens einer Tasse hinzugeben. :D Dafür mussten wie gewöhnlich eine Menge Tassen Tees dran glauben (und es hätten ruhig noch unzählige mehr sein können!)

    In diesem Sinne, freue ich mich auf nächstes Jahr und hoffe, dass wir dann wieder durchstarten, denn es hat, die kurze Zeit, die es gut lief, auf jeden Fall Freude gemacht und es hat mich gefreut von euch zu lesen. :)


    Liebe Grüße, Niva

    Niva hatte höchstens die Hälfte des Aufruhrs vorm Alten Alfons mitbekommen. Sie hatte Jean und seiner ungleichen Truppe nachgesehen, wie sie davoneilten und den Jungen mit dem Schrumpelkopf zurückgelassen hatten. In der Richtung, in die sie liefen, stieg weiter hinten gemächlich eine Rauchsäule auf.

    Sie löste sich aus ihrem Versteck und hielt hastig auf den Jungen zu, der den Kopf noch immer nicht losgelassen hatte. Sicher stand er unter Schock. Sie legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter, was ihn erschrocken zusammenzucken ließ. Sie beugte sich zu ihm herunter und ging in die Hocke, um sich mit ihm auf einer Augenhöhe zu befinden. "Sieh her Kleiner.", raunte sie. Er schluchzte noch immer. Rotz und Tränen zogen kleine Bäche über sein schmutziges Gesicht. Niva zog einen Handelstaler aus einem dünnem Beutel unter ihrem Mieder hervor. Sie sog geräuschvoll den Speichel in ihrem Mund zusammen und spuckte auf den runden Taler, um ihn dann mit dem Saum von ihrer Leinenbluse notdürftig zu polieren. Er glänzte danach kaum, aber ein bisschen schimmerte das Licht auf seiner Oberfläche, als sie ihn gen Himmel reckte. "Fang!", rief sie und warf die Münze in die Luft. Der Junge schnappte erschrocken nach Luft und reckte seine Hände nach der fliegenden Münze. Im Angesicht des Geldes ließ er doch prompt von dem Kopf ab und entzog sich dem Schock. Der Kopf landete in Nivas Händen. Er fühlte sich weich und schmierig an. Weil es hier unten so warm war, war er kaum erkaltet. Das Gewebe unter den Hautwülsten war weich und unter dem Druck ihrer Finger nachgiebig wie warmer, nur leicht geschmolzener Talk. Ekel stieg mitsamt ihres Mageninhaltes in ihr auf, aber sie mühte sich den Würgreiz unterdrückt zu halten. Auf der Stirn war etwas eingeritzt. Innerlich seufzte sie, weil sie bis heute nie gelernt hatte zu lesen. Sie sah zu dem Jungen auf, der jetzt die Münze in seinen Händen beäugte. Er hatte wohl lange genug nichts mehr für sich gehabt, vielleicht niemals zuvor richtig etwas für sich gehabt, das tatsächlich einen Wert hatte. Aber er war wohl auch blauäugig genug nur eine einzige Münze anzunehmen.

    "Pass auf dass niemand sieht, dass du sie hast.", sagte sie. Der Blick des Jungen war fragend. Er trat einen Schritt vor ihr zurück. Sicher hatte er Angst, sie könnte sie ihm wieder wegnehmen. Sie schüttelte den Kopf. "Jetzt will ich auch was dafür.", bestimmte sie. "W-was?", stammelte der Junge und sah sich verstohlen um, als befürchtete er demnächst einen Angriff aus dem Hinterhalt. Das machte Niva selbst derart nervös, dass sie aus den Augenwinkeln heraus, eigens die Umgebung nach Gefahren absuchte. Sie zischte gereizt, obwohl sie es nicht an dem Jungen auslassen wollte, dass sie selbst Angst hatte entdeckt zu werden. Von ihm. Ihr Herz reagierte sofort auf den Gedanken. Der Pulsschlag beschleunigte sich. Sie ließ den Kopf fallen und er landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. "Wer schickt das? Weißt du, was da auf seiner Stirn steht?", fragte sie forsch vor Nervosität.

    "Der Henker...", murmelte der Junge. "Er schickt das?", hakte Niva nach und wies auf den Kopf. Der Junge nickte.

    "Ich brauche mehr.", gab Niva ihm zu verstehen. Der Junge streckte fordernd die Hand aus. Niva schnappte nach seinem Ohr.

    "Ich kann dir das hier auch lang ziehen!", fauchte sie. Als der Junge wimmerte bemerkte sie, dass ihre scharfen Nägel in die dünne, zarte Haut hinter seinem Ohr geschnitten hatten. "Mehr habe ich nicht.", murmelte sie und ließ ihn los. Ihre Hand schnellte zurück, als hätte sie sich an ihm verbrannt. Aber er streckte diesmal umso fordernder die Hand aus. Sein Gesicht war zu einer bitterernsten Miene verzogen. Niva stöhnte. Sie hatte keine Zeit für so einen Aufstand.

    "Dann eben nicht.", seufzte sie. Sie wollte nicht noch einen Taler entbehren, nur um an Informationen zu kommen, die sich vielleicht auch auf anderem Wege beschaffen ließen. Ihr Blick glitt zu der inzwischen recht imposant angestiegenen Rauchwolke. Vorhin hatte sie nur noch gehört, wie der Junge unter seinem Geheul Tiefling krakeelt hatte. Keine vielversprechende Information, aber immerhin irgendein weiterer Hinweis. Es musste jemand sein, der sich von den Leuten hier abhob. Jedenfalls hoffte sie das inständig, da sie ihn so leichter ausmachen könnte. Jemand der auf diese Weise eine Nachricht hinterließ und Eindruck schindete, war vielleicht jemand, der stark genug war, Jean entgegen zu treten.

    Sie nahm einen anderen Weg, um auf den Ursprungsort des aufsteigenden Rauches zuzuhalten, als Jean und seine Truppe. Aber sie spähte immer wieder um sich, ob sie nicht doch einen von ihnen in der Nähe entdeckte, der sie auffliegen lassen könnte. Ein paar der Gauner kannten ihr Gesicht gut genug und wussten von ihr und ihrer Schuld dem Rotschopf gegenüber. Dafür hatte er gesorgt. Sie zog sich den Schirm ihrere Mütze tief ins Gesicht. Heute fühlte sie sich noch unwohler auf den Straßen als sonst. Sie fühlte sich von tausend Augen angestarrt, obwohl sie niemanden entdecken konnte, der sie unverhohlen angestarrt oder überhaupt beobachtet hätte. Sie versuchte so sehr aufzupassen, dass sie nicht richtig aufpasste und in der nächsten Kreuzung zweier Wege beinahe einen halbnackten Kerl touchiert hätte. Der Geruch von Eisen stieg ihr in die Nase und eigenmächtig drang das Bild des abgetrennten Kopfes in ihren Händen vor ihrem inneren Auge wieder in den Vordergrund. Der Geruch von Blut. 'Henker', hörte sie die Stimme des Jungen in ihrem Kopf erneut sagen. Konnte das so einfach sein? Sie sah zu dem gehörnten Tiefling auf, während sie aneinander vorbei gingen. Ihre Brauen schoben sich nachdenklich zueinander. Er war mit tiefem Rot besudelt. Die Richtung, aus der er kam, mochte auch stimmen.

    Hi!^^

    Baxeda hat mich vorhin ermutigt mein Lob an die richtige Adresse zu senden. Ich schätze hier bin ich damit richtig! :D

    Kräftiges Lob für die tolle Arbeit! Ich war wirklich positiv überrascht, als ich mich vorhin einloggte. Es sieht hier jetzt schon wieder so schön aus. Der Pergamenthintergrund hat was heimeliges an sich, schätze ich, dabei kenne ich das noch gar nicht lange.:misstrauisch:

    Und super, dass die Weltenbibliothek jetzt griffbereit auf der Startseite liegt! Ich denke, das ist sehr hilfreich. :)


    Vielen Dank fürs Tüfteln im Hintergrund am Vordergrund!^^


    Liebe Grüße, Niva

    Wow! Das letzte Mal am 3.November gepostet....

    Verdammt!


    Nachdem ich jetzt diese Woche kurz verreist bin, fällt es mir beinahe noch schwerer mich wieder ran zu setzten. Vor allem, weil ich irgendwie immer noch frustriert bin. Ich hatte erst das Gefühl richtig gut zu starten, aber mit dem Bruch der kam, weil ich auf einmal das Gefühl hatte, die Story läuft in die verkehrte Richtung, habe ich immer noch etwas zu kämpfen. Mir haben sich dadurch sicher wieder ein paar neue Dinge eröffnet, aber ärgerlich finde ich es trotzdem noch. Vielleicht habe ich mich auch zu sehr an dem Ursprung der Geschichte verbissen, als dass ich die Wandlung, die sie während des Erschaffungsprozesses nimmt, zulassen wollte. Aber ich will eben auch nicht Gefahr laufen zu verlieren, was ich im Grundsatz erzählen wollte.


    Jetzt bin ich gerade dabei wieder einen vernünftigen Einstieg zu finden, aber mehr zu tüfteln, als zu schreiben, was ja so eigentlich nicht geplant war, aber ich nehme es hin wie es ist und mache das Beste daraus. Das ursprünglich gesteckte Ziel werde ich so zwar bis Ende November eher nicht erreichen können, aber ich schaue wie weit ich komme. Und wenn ich nun das erste Mal NaNo versemmelt habe, sei's drum. Auch wenn es sehr schade ist...

    Einfach nicht hinschmeißen und weiter machen ist die Devise! Ich will ja auch die Freude am Schreibe behalten und wenn ich gerade wieder frustriert war, muss ich nur besser darin werden, damit umzugehen.


    Ich finde es aber trotzdem noch super schön, hier einige Schreibebegeisterte Leute getroffen zu haben. Es ist schön zu lesen, wie du die Freude am Schreiben nicht verlierst, Baxeda! :) Und ich bewundere die tolle Recherchearbeit.8| Vor allem wie tief du dabei in die Materie eindringst. Gerade bei historischen Dingen. Das finde ich immer relativ frustrierend, weil die Berichte und Aufführungen im Internet sich da oft mal zu überschneiden scheinen. Und da werde ich dann leicht verwirrt und genervt.^^ Wahrscheinlich bin ich auch einfach gerne mal zu ungeduldig, was das angeht...^^


    Also, ich finde du kannst stolz auf dich sein Jaro! Und wenn du auch noch die perfekte Zeit gefunden hast, in der dir das Schreiben am besten von der Hand geht, ist das auch super schön.:) Ich bin mir da inzwischen gar nicht mehr so sicher. Ich dachte immer, ich könnte nachts ganz gut arbeiten, aber das hat sich doch nicht immer so gut bewehrt. Irgendwann lockt mich immer mein Bett...Und die Stille setzt einem gerne mal grausige Fratzen vor. Ich weiß nicht, ob nur ich dazu neige mir gerade zu solch unpassender Uhrzeit mir nichts dir nichts plötzlich gruselige Sachen auszumalen. Aber ich denke, dass sollte nicht der Fall sein.^^

    Hoffentlich...:/

    Ich denke solange man aus so einem Vorhaben, wie dem NaNoWriMo nur irgendetwas gewinnt, hat es sich doch zumindest schon mal zu einem gewissen Teil gelohnt, dass man mehr oder weniger teilgenommen hat. Zumindest möchte ich mir das auch selbst gern einreden.^^ Aber! Noch ist ja auch noch nicht alles verloren! Also hoffe ich, dass wir noch ordentlich was schaffen und nur weil der November bald auch schon wieder vorbei ist, heißt das ja noch nicht das Ende für unsere Projekte. :)

    Im Übrigen, jetzt wo ich das wieder lese, kriege ich auch richtig Lust auf Glühwein. Kanns also kaum erwarten, dass der Weihnachtsmarkt die Türen öffnet! Die ersten Buden stehen bereits, wenn auch teilweise nur zum Teil.


    Ganz viel Kraft und weiterhin Durchhaltevermögen an euch zwei!

    May the might of quill and ink be with you!

    Mit klopfendem Herzen lehnte sie in der Gasse an der Wand. Gerade noch hatte sie sich verstecken können, als sie den roten Schopf Haare vor Alfons Gasthaus hatte aufblitzen sehen. Jean war in der Tür verschwunden. Und sie gerade noch rechtzeitig im Schatten der Nebengasse, die dem Gasthaus schräg gegenüber gelegen war. Sie krallte sich mit ihren Klauen angespannt in die bröseligen Fugen zwischen den Steinen.

    Sie hätte einen anderen Weg wählen sollen, aber eigentlich hätte er ihr überall über den Weg laufen können, denn es gab fast nichts, dass er nicht in der Hand hatte und hier unten fast niemanden, den er nicht hin und wieder aufsuchte, um einzutreiben, was ihm geschuldet wurde. Es war als wäre die Grube, ganz Obenza mit Stolpersteinen ausgelegt, von denen jeder sie sicher zu Fall bringen konnte.

    Zendurs Behausung lag am Rande des Hafenviertels. Da kam sie öfter mal an Alfons Gasthaus vorbei. Sie überlegte einfach nach oben zu klettern. Da fiele sie nicht groß auf. Fakt war, Jean war jetzt hier unten und sie auch. Auf der nächst höheren Ebene war er nicht zugegen, also konnte er ihr streng genommen da oben in diesem Moment nicht gefährlich werden. Seine Wachhunde vielleicht, aber dieses Risiko nahm sie immer in Kauf.

    Ihr Blick richtete sich fröstelnd auf das Firmament. Es dämmerte bereits und der Himmel hieß das erste Licht der Sonne willkommen. Sie musste irgendwie auch wieder nach unten klettern. Und bei Tag war das einfach zu gefährlich. Egal wie sehr sie sich auch an die Wand drücken würde, bemüht mir ihr zu verschmelzen. Ein Blick, sei es besonnen oder zufällig wandernd, könnte ihre Gestalt leicht an der Fassade verraten, wenn sie nicht schnell genug war. Sie spürte die Galle in sich aufsteigen. Nicht so kurz vor ihrem Ziel, jetzt durfte er sie einfach nicht wieder erwischen. Sie schluckte, ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie könnte auch einfach eilig davon huschen, laufen so schnell sie ihre Füße trugen, so lange er noch abgelenkt war. Sie dachte zu lange nach. Sie musste handeln. Das Verlangen, die Flucht aus dieser Stadt zu ergreifen wurde immer stärker. Sie musste jemanden finden, der ihr bei ihrem Vorhaben unter die Arme greifen konnte, noch heute. Und eigentlich wäre die Gaststätte genau der richtige Ort dafür. Sie traf eine andere Entscheidung als davon zu laufen. Sie würde dort bleiben, versteckt und darauf warten, dass Jean die Gaststätte wieder verließ. Dann würde sie sich jemanden suchen, der auf der Durchreise war und mit dem sie verhandeln konnte. Sie würde erst davonlaufen, wenn es wirklich keine andere Möglichkeit gab.

    Also wartete sie. Die Zähne vor Anspannung fest zusammengebissen.

    Niva saß mit dem Rücken zur Wand mit gekreuzten Beinen auf dem Boden. Ihre Beine waren eingeschlafen, aber sie wagte nicht sich zu bewegen. Denn Magaura lag zusammengerollt auf ihrem Schoß. Sie hatte die kleinen Finger einer ihrer Hände in den Mund gesteckt und sabberte. Das sah niedlich aus. Aber Zendur, der ihnen gegenüber saß, beäugte die Szene kritisch. „Die Finger aus dem Mund.“, grummelte er.
    Niva seufzte, zog der Kleinen aber gehorsam, vorsichtig die Finger aus dem Mund, bemüht sie nicht zu aufzuwecken.
    „Ganz dreckig.“, grummelte der Alte ärgerlich weiter. Damit hatte er schon mehr gesagt als an manch anderen Tagen, aber das war auch kaum verwunderlich, wenn ihn etwas störte, das das kleine Mädchen betraf. Müde blinzelnd öffnete es die Augen. Sie gähnte ausgiebig und streckte sich.
    „Du hast mich geweckt.“, maulte sie Niva schläfrig an und rollte sich dann wieder ein.
    Anklagend sah Niva Zendur an, aber der zuckte bloß halbherzig mit den Schultern, als sei er sich keiner Schuld bewusst. Sie musste sich täuschen, aber sie glaubte, sie hätte für einen ganz kurzen Moment sogar ein verschlagenes Grinsen in seinem Gesicht aufblitzen sehen. Aber wenn dort auch bloß für den Hauch einer Sekunde etwas gewesen war, war es jetzt schon wieder spurlos verschwunden. Zendur sah betont an ihr vorbei. Abgesehen von seiner Ziehtochter schien es nicht, als könnte er auch nur irgendjemanden richtig leiden. Aber Magaura schwor stets, dass es ihn nicht störte, wenn Niva zu ihnen kam. Niva war ihm natürlich in erster Linie dankbar, dass er ihr schon so oft geholfen hatte, wenn sie hungrig und verzweifelt gewesen war. Er hatte es natürlich vorwiegend getan, weil Magaura gebettelt hatte, ihrer Freundin zu helfen. Seine Tochter war eben richtig vernarrt in dieses seltsame ältere Mädchen mit dunkler Haut, wie feuchte Asche. Er würde nicht verstehen, was an ihr so faszinierend war, aber sie war gut zu seiner Kleinen und passte auf sie auf. Alles andere war nebensächlich.
    Vor ihnen auf dem niedrigen Tisch, lag der Rest eines dunklen, zähen Brotlaibes und in den gesprungenen Schalen war vorhin noch Bohneneintopf gewesen. Niva hatte lange nicht mehr so etwas Gutes gegessen. Nicht verwunderlich, da bald wieder die Abfindung fällig war. Sie hatte damals die Schulden bei Jean nicht bezahlen können und büßte bis heute dafür. Er hatte davon abgesehen ihr und ihren Freunden etwas anzutun, weil Yroldir seine Verletzung damals als einer von ihrer Truppe bereits nicht überlebt hatte. Er war nach einer vollen Woche aus schmerzvoller Qual und grausamen Fieberträumen an Wundbrand gestorben. Niva gab sich immer noch die Schuld dafür und sie wusste, den anderen ging es genauso. Sie waren nach Yroldirs Tod auseinander gegangen und hatten einander gemieden, sich anderen Truppen angeschlossen. Aber Niva hatte sich nicht wieder so aufgehoben gefühlt wie vorher. Sie hatte das Gefühl gehabt nirgendwo richtig dazu zugehören und sie erkannte im Lauf der Zeit, dass es den anderen genauso ergangen war.
    Zuerst starb Nivas Mutter noch in dem Jahr in dem auch Yroldir gestorben war an irgendetwas, das sie sich von ihren Freiern geholt haben musste. Sie fehlte Niva bis heute noch schrecklich.
    Von Ahmet hörte sie später, dass er während eines Bandenstreits getötet worden war. Und Aren war vielen jungen Frauen in die Existenz als leichtes Mädchen gefolgt.
    Niva hatte sie vor wenigen Tagen besucht. Sie hatten sich bestimmt eine Stunde lang an geschwiegen, als hätten sie sich nach all den Jahren nichts zu sagen. Aber all das hatte beinahe hörbar um sie herum die Luft beschwert. Zum Abschied hatten sie sich stumm umarmt. Aber nur ganz kurz, als verbrannten sie sich aneinander, wenn sie sich zu lange berührten. Und irgendwie täten sie das wirklich, hatte Niva begriffen. Weil sie sich beide wünschten, alles wäre anders verlaufen. Ein dummer, naiver Fehler konnte in der Grube so zerstörerisch wirken. Was wohl wäre, wären sie bis dahin noch zusammen gewesen? Wahrscheinlich wären sie in eine andere traurige Zukunft geschlittert.
    Niva hatte schon vor dem Besuch bei Aren beschlossen, ihre Freunde aus der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Deshalb hatte sie sich dazu durchgerungen, nach Aren zu sehen. Sie wusste nicht, ob es wohl besser gewesen wäre, es nicht zu tun und das Mädchen von früher im Sinn mit sich weiter zu tragen. Aber sie wusste, sie wollte endlich aufhören das beißende, zehrenden Gefühl in ihrer Magengrube zu füttern.
    Ein Ende rückte näher und es war unausweichlich. Sie konnte ihr Leben hier nicht ewig so weiterführen. Es machte ihr Angst, dass sie für immer an diesen Ort gehören sollte, dass sie für immer von einem Fehler verfolgt werden sollte und wenn es nur Jean bleiben würde, der sie daran erinnerte, jeden Tag an dem sie stahl und lebte, um dafür zu bezahlen. Sie musste aus Obenza verschwinden, bevor es zu spät wurde.
    Denn die letzten Male war es ihr noch gerade so gelungen, das Geld aufzutreiben. Bald würde es nicht mehr reichen. Sie fürchtete sich schon jetzt davor, was sie dann tun müsste. Sie wusste die Antwort darauf, von ihrer Mutter und auch von Aren. Aber das war ihr ihr Leben dort nicht mehr wert. Dann würde sie lieber sterben.
    Sie würde nicht zulassen, dass sie derart vor die Hunde ging und so starb wie ihre Mutter. Das Geld, dass sie dieses Mal zusammenbekommen hatte, würde sie Jean nicht geben. Es war dieses Mal für sie selbst.
    Sie streichelte Magaura über das zerzauste Haar. Sie war schon wieder eingeschlummert. Die kleine Hand gefährlich nah an ihrem Mund. Es war ein friedlicher Abschied, denn Niva nahm das nahende Ende hin.
    Aber sie würde danach einen neuen, besseren Anfang finden und einen neuen Ort, an dem sie keine Vergangenheit hatte und sich ihr Leben als ein anderes bestimmen konnte. Sie könnte etwas anderes sehen, als diese stinkenden, unheilvollen, verseuchten Straßen. Und das machte ihr Mut. Nur noch eine Sekunde ihres Lebens würde sich weit mehr lohnen, wenn sie nicht hier stattfand.
    Es musste für etwas gut sein, dass ihr ihre Mutter vor langer Zeit von ihrem Vater erzählt hatte. Das war das einzige Ziel, dass sich so handfest vor ihrem inneren Auge manifestierte. Sie brauchte einen Ort an den sie gehen konnte und der einzige Ort der sich ihr neben Obenza eröffnete war Alkena, die Heimat ihres Vaters. Und vielleicht, wie unwahrscheinlich es auch war, gab es dort jemanden zu dem sie wieder so selbstverständlich gehören konnte, wie zu ihrer Mutter und wie Magaura zu Zendur. Und wenn es nicht so wahr. Alles war besser, als das was hier noch auf sie warten würde.
    Sie legte den Kopf schief und musterte Zendur, der alt und geduckt, aber immer noch groß und kräftig war, kräftig genug, um an den Docks zu arbeiten. Sein Gesicht war von Falten durchzogen. Er hatte hängende Mundwinkel. Seine Augen schienen verschlossen, als wäre er dauerhaft in Gedanken versunken.
    „Danke.“, sagte sie zu ihm und lächelte schmal. Zendur musterte sie nachdenklich, als könnte er ihr Vorhaben aus dem Gesicht ablesen und nickte dann. Er beugte sich über den Tisch, um Niva das schlafende Kind abzunehmen. Sie barg Magaura ungelenk in ihren Armen, weil sie schwerer war, als man auf den ersten Blick vermuten würde und hob sie hoch, um Zendur entgegen zu kommen. Er nahm das Mädchen in seine langen Arme und dieses Mal wachte sie nicht auf. Niva streckte ihre müden Beine und wartete darauf, dass das kribbelige Taubheitsgefühl endlich abebbte bevor sie aufstehen und gehen konnte.
    Zendur hielt sie an der Schulter zurück als es soweit war. Überrascht hielt sie inne. Er drückte ihr mit der kräftigen Hand zögerlich die Schulter. „Pass auf dich auf Mädchen.“, raunte er. Dann drehte er sich mit Magaura auf dem Arm um und stapfte zurück in den schmalen Raum, in dem sie lebten und in denen Magaura und er ihr in den letzten Jahren Zuflucht geboten hatten. Magaura würde es gut bei ihm gehen. Das ließ Niva darüber nachdenken, was sie mit den anderen drei Kindern machen sollte, die sie lieb gewonnen hatte. Um Faust machte sie sich weniger sorgen, aber die Zwillinge hatten nur sich zwei allein. Was war, wenn nur einem von ihnen etwas passierte? Dann ginge der andere unter. Sie konnte nicht von Zendur verlangen, dass er sich um alle kümmerte. Sie würde sich überlegen müssen, ob ihr Geld reichen würde, um sie mitzunehmen.
    Sie verließ Zendurs Behausung und machte sich in der Dunkelheit auf den Weg in die Slums.

    Fassungslos starrte sie mich an. Ihr glitt die Tasse aus den Händen und obwohl ich mich noch danach ausstreckte, um sie aufzufangen, fiel sie mit einem lauten Knall zu Boden und zerbrach. Der Tee hatte sich warm auf ihren Rock und die Ärmel meines Mantels ergossen.
    Ich stieß einen gedämpften Fluch aus, nicht zuletzt, weil ich mich ohnehin schon wie ein reines Nervenbündel fühlte. Ich wollte mich gerade eilig bücken, um die Scherben aufzuheben, da hörte ich wie sie zu wimmern angefangen hatte. Ihre schmalen Lippen zitterten erbarmungswürdig, als ich mich wieder aufrichtete und sie ansah. Sie presste die Hände krampfhaft ineinander verschränkt an ihre Brust.
    „M-Mum.“, stammelte ich schuldbewusst und umschloss mit meinen Händen behutsam die ihren. Sie ließ zu, dass ich sie auseinander zog und jede in einer meiner Hände festhielt. Ich drückte sie sanft.
    „N-No-Noah.“, bebte ihre Stimme. Sie befreite ihre Hände und legte sie mir behutsam an mein Gesicht. Ihre Fingerspitzen drückten auf meine Wangenknochen, umschmeichelten dann meinen Kiefer und streichelten mir über die Wangen, über den rauen Bartschatten. Sie musterte mich von oben bis unten, legte ihre schmalen Hände auf meinen Schultern ab.
    „Wie siehst du bloß aus...“, raunte sie vorwurfsvoll, „Du bist ja schrecklich dürr geworden.“
    Das Volumen ihrer Stimme war von tiefer Besorgnis geschmälert.
    „Ich erkenne dich kaum wieder.“
    Sie wischte sich mit den Daumen die feuchten Spuren unter den Augen fort und verzog ihre Miene, nahm dann eine der locker in mein Gesicht herab hängenden Haarsträhnen prüfend zwischen ihre Fingerspitzen. „Ich werde dir die Haare schneiden müssen.“, stellte sie nüchtern fest. Ich umschloss mit meiner Hand zaghaft ihre und führte sie von mir und meinem Gesicht weg. Ich räusperte mich unbeholfen.
    „Nein Mum, das musst du nun wirklich nicht.“, widersprach ich gedämpft. Ich fühlte mich noch benommen von der langen Fahrt und ich glaubte nicht, es verdient zu haben, dass sie auch nur das kleinste Bisschen für mich tat. Aber sie sah mich aus ihren großen braunen Augen so liebevoll an. Mein Gewissen wog umso schwerer für das, was ich ihr angetan hatte. Die Jahre, in denen sie um mich und mein Wohlbefinden gebangt hatte, weil ich nicht oft genug angerufen hatte, nie nach Hause gekommen war und sie mich, wenn überhaupt bloß in Virginia hatte besuchen kommen können, die wenigen Male jedes Jahr, weil ich nichts besseres zu tun gedacht hatte, als in Selbstmitleid und Trauer zu versinken, allein.
    „Lass mich das doch machen.“, bat sie und langsam nickte ich schließlich. „Gut.“, gab ich mich einverstanden. Ich durfte es ihr nicht abschlagen.
    „Dann komm mal rein.“ Sie setzte ein schmales Lächeln auf und trat bei Seite, damit ich an ihr vorbei auf den Hausflur treten konnte. Ich trat über die Schwelle und atmete auf. Ich war wirklich hier. Ich wagte kaum, es für möglich zu halten. Aber so war es.
    Meine Mutter bückte sich hinter mir, um die größeren Scherben ihrer Tasse aufzuheben.
    „Mum, warte. Lass mich doch-“, setzte ich an. Doch sie hob abwehrend die Hand.
    „Nein, lass nur. Ich mach das schon. Geh du nach oben zu deiner Schwester und sag ihr Bescheid, dass du hier bist, ja? Sie wird sich unheimlich freuen.“
    Sie sah nur kurz wieder zu mir auf, während sie sprach, dann klaubte sie die Überbleibsel der Tasse weiter auf. „Okay.“, sagte ich, „In Ordnung.“
    Bevor ich die Treppe in die obere Etage emporstieg, sah ich mich jedoch noch ein Mal nach ihr um. Wie heute Nacht bei meiner Schwester lag mir eine Entschuldigung auf den Lippen, die ich irgendwie nicht aussprechen konnte.
    Der cremefarbene Teppich der auf der Treppe ausgelegt war, ließ meine Schritte dumpf erklingen. Während ich nach oben ging, sah ich im Augenwinkel neben mir an der Wand all die aufgehängten Kinderfotos und mein reumütiges Herz ballte sich beinahe krampfhaft in meiner Brust. An einem Bild blieb ich hängen und hielt inne. Das Abschlussfoto. Ich selbst war in der Mitte abgebildet, Piper und Mum jede an einer meiner Seiten. Ich hielt mein Abschlusszeugnis in den Händen, war in eine hellblaue Robe gekleidet und trug die dazugehörige Absolventenkappe, unter der vereinzelt schwarze Locken hervorlugten. Inzwischen waren meine Haare tatsächlich deutlich gewachsen. Mein Lächeln wirkte versteinert und eher bitter, als fröhlich.
    Ich erinnerte mich unangenehm zurück, dass es noch ein solches Foto gab, auf welchem ich zwischen Mr. und Mrs. Green gestanden hatte. Nadine und Adam.
    Ihre Tochter hätte an dem Tag vor knapp sechs Jahren auch die Highschool beendet, nur dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits spurlos verschwunden gewesen war. Meine Mutter hatte es für eine nette Idee gehalten, die beiden trotzdem einzuladen und sie durch mich an dem Erlebnis dieses Meilensteins teilhaben zu lassen, dem auch sie gemeinsam mit ihrer Tochter entgegengefiebert hatten. Doch an diesem Tag war Rachels Abwesenheit spürbarer gewesen, als je zuvor. Andere Eltern, Mitschüler, das Lehrpersonal hatten uns ständig daran erinnert, dass jemand an unserer Seite fehlte. Als ob wir es hätten vergessen können. Es hatte eine Rede gegeben über sie, gehalten von einem Menschen der sie kaum bis überhaupt nicht gekannt hatte und über Verlust und Bewältigung. Danach hatte es eine weitere über glänzende Zukunft gegeben und über all das, was uns junge Menschen noch im Leben erwarten würde, wenn wir nicht müde wurden hart zu arbeiten. Ich erinnerte mich, wie mir das übel aufgestoßen war, weil ich vor allem Angst gehabt hatte, das Rachel gar keine Zukunft mehr haben würde und ich eine ohne sie. Ja, ich fürchtete mich schon damals die ganze, verdammte Zeit davor, dass sie tot war und ich war mir nur zu bewusst, dass es hier in Maple Grove niemanden mehr gab, der etwas anderes geglaubt hätte. Schon sehr lange wusste ich nicht mehr, was ich selbst glaubte.
    Adam und Nadine hatten schüchtern und nur zurückhaltend in die Kamera gelächelt. Dies war nicht der freudige Augenblick, den man sich vom letzten Tag des Abschlussjahres seines Kindes versprach.
    Ich wand mich von dem Foto ab und schluckte, setzte meinen Weg nach oben fort. Bevor ich jedoch auf der linken Seite an Pipers Zimmertür klopfte, zog es mich zu dem Zimmer auf der rechten Seite hin, das neben dem kleinen Bad in der Mitte lag, das meine Schwester und ich uns damals geteilt hatten, als ich noch Zuhause gewohnt hatte. Ich drückte die Klinke herunter und gab der Tür einen kleinen Schubs, sodass sie in den Raum aufschwang. Ich tat einen Schritt in den Raum hinein und sah mich verstohlen darin um, als wäre es das Zimmer von jemand anderem und ich wäre unberechtigt eingedrungen.
    Hier hatte sich nichts verändert. Es hatte höchstens ein bisschen Staub angesetzt, wie ich überrascht feststellte, aber ansonsten war alles ganz so geblieben, wie ich es zurückgelassen hatte. Ich wusste nicht, wie ich mich deshalb fühlte, ob ich mich deshalb freute oder ob es mich eher melancholisch stimmte, traurig. Es fühlte sich an, als wäre all das aus einem anderen, entsetzlich fernen Leben und doch auch, als wäre ich gerade gestern erst hier gewesen. Fremd und doch zugleich selbstverständlich vertraut. Ein Gefühl, das stumpf, doch drängend an der Oberfläche kratzte.
    Feine, leichte Staubflocken tanzten durch die abendlichen, goldenen Lichtstrahlen, die durch die Vorhänge blitzten.
    Als zöge es mich durch Fremdbestimmtheit an, ging ich geradewegs mit bedächtig gesetzten Schritten über den grauen Teppich auf das Fenster zu, das dem Nachbarhaus zugewandt war. Ich legte meine Hand an den dichten, unter meinen Fingerspitzen spürbar rauen, dunkelblauen Stoff des Vorhanges und hob ihn ganz langsam und zögerlich an. Ich hatte unwillkürlich den Atem angehalten. Gegenüber von meinem Fenster lag das Zimmerfenster von Rachel.
    Von hier aus konnte ich ihren Schreibtisch sehen, auf dem sich immer noch Magazine stapelten und die bunt gepunktete Dose mit Kugelschreibern und Markern in verschiedenen Farben. Ich überlegte, ob es wohl immer noch die alten Magazine waren oder ob Nadine ihrer Tochter vielleicht immer neue hinlegte, in der Hoffnung sie würde sie irgendwann lesen.
    Auch da drüben schien sich nichts verändert zu haben. Als gäbe es einen Ort auf dieser Welt, zwei miteinander verbundene Orte, in denen die Zeit doch noch stehen geblieben war.
    Ich legte eine Hand auf die kühle Glasscheibe und schloss die Augen. Ich stellte mir vor, wie sie da saß. Eine dunkelblonde, lange Haarsträhne rutschte hinter ihrem Ohr weg und sie strich sie wieder zurück. Nachdenklich zog sie die Brauen zueinander und balancierte einen Stift auf ihrer Oberlippe. Sie kippelte mit ihrem Stuhl. Den Kopf hatte sie auf ihren Handballen abgestützt. Die Ellenbogen auf ihren Tisch gestemmt. Ein Augenaufschlag und sie sah mich an, ließ ihren Stuhl in die Ausgangsposition kippen, nahm den Stift von den hervor geschobenen Lippen. Herausfordernd hob sie eine Braue und grinste, bevor sie eilig etwas auf ihren Block kritzelte und ihn an die Fensterscheibe drückte. ‚Wie lange starrst du mich schon an?‘, stand darauf.
    Ich öffnete die Augen wieder. Nebenan saß niemand und da war auch keine Nachricht hinter der Scheibe. Natürlich nicht. Ich seufzte bedrückt.
    „Noah?!“ Ich fuhr herum. Piper quietschte aufgekratzt. „Noah, Noah, Noah!“, rief sie lauthals und nahm die kurze Distanz zwischen Tür und Fenster, zu mir, in langen, schnellen Schritten, als würde sie Anlauf nehmen. Aber es dämmerte mir nicht rechtzeitig. Ohne Vorwarnung sprang sie mich an, schlang Arme und Beine um meinen Oberkörper, wie sie es schon ständig getan hatte, als wir noch klein gewesen waren, mit dem bedeutenden Unterschied, dass sie jetzt viel größer und wie es aussah auch viel stärker geworden war als früher und schwerer. Diese Mal war ich vollkommen unvorbereitet, im Gegensatz zu damals. Ich ächzte, stieß mir durch den Schwung ihres Sprungs und den Aufprall den Kopf an der Fensterscheibe und mir entfuhr vor Schmerz und vor allem vor Schreck ein Aufschrei. Wir prallten unterlegt von einem lauten Rums auf dem Schreibtisch auf. Ich war heilfroh, dass er es aushielt ohne unter uns in zwei Teile zu zerbrechen. Eine hässliche Delle würde er bestimmt davon tragen. Aber Piper ließ sich von nichts beirren. Sie gluckste vor Freude und schmiegte sich kuschelnd an mich. Sie hatte ihr Gesicht an meinen Nacken geschmiegt. Ich war verkrampft auf den Schreibtisch gestützt und ließ mich schlussendlich kurzerhand darauf absinken.
    „Ich weiß nicht, wie lange der Tisch uns beide aushält, Piper.“, gab ich zischend zu Bedenken. Mir bollerte der Kopf. Ich presste die Augenlider aufeinander und biss die Zähne zusammen, bis das Gefühl allmählich abebbte und nur noch ein dumpfer Druck zurückblieb.
    Piper schnaubte amüsiert. „Ist mir doch scheißegal.“, erwiderte sie vergnügt.
    „Na ja, mir aber nicht.“, erklärte ich stöhnend.
    „Du darfst hier aber nicht mehr mitreden.“, stellte sie süffisant klar. Ob der Heiterkeit, mit der sie sprach, war ihre Stimme nun scharf unterlegt. Ich seufzte ergeben.
    „Ja, ich schätze dieses Recht habe ich mir vor einiger Zeit verwirkt.“, stimmte ich resigniert zu.
    „Ganz genau.“, erwiderte sie schnippisch und beugte ihren Oberkörper zurück, sodass ich sie festhalten musste, damit sie nicht nach hinten weg kippte und uns beide in eine Bruchlandung auf den Boden manövrierte, nachdem wir die ersten Turbulenzen relativ gut überstanden hatten. Die Kopfschmerzen hatte ich mir wohl mehr als verdient.
    Piper schnaubte schon wieder, aber ihre warmen, braunen Augen strahlten immer noch vor Glück unseres unerwarteten Wiedersehens. Sie hatte mich wirklich vermisst, natürlich, und ich spürte erst jetzt so richtig die ganze Spannweite, nach der mir meine kleine Schwester selbst ganz furchtbar gefehlt hatte. Nach der mir meine Familie unheimlich gefehlt hatte und sogar mein Zuhause. Ich zog Piper mit einem Ruck zurück ganz nah an mich heran und umarmte sie so fest ich konnte, ohne ihr wehzutun. Ich neigte meinen Kopf beschämt über ihre Schulter.
    „Tut mir leid Piper.“, rutschte mir die ungelenke, fade Entschuldigung aus, die schon lange überfällig war. „Arschloch.“, murmelte sie schlicht als Reaktion darauf. Ich grunzte amüsiert.
    „Zicke.“, gab ich ebenso murmelnd zurück.
    „ Du Riesenidiot.“, setzte sie seufzend nach.
    „Schuldig.“, gab ich mich geschlagen. „Das war‘s jetzt aber oder?“
    „Erstmal.“, bestätigte sie, „Aber zieh dich warm an. Das war erst die Vorrunde.“
    „Verdammt.“ Ich lachte leise.
    Sie löste ihre Glieder, mit denen sie sich an mich geklammert hatte und stellte sich vor mich hin.
    „Und wie ich sehe, turnst du noch?“, fragte ich sie scherzhaft. Sie zog sich ihren Rock über der Strumpfhose wieder in die rechte Position und strich ihn glatt. Sie schüttelte den Kopf.
    „Nein, nicht mehr.“, antwortete sie. „Hab mich dazu entschieden aufzuhören. Die Arbeit in der Schülerzeitung hat mir besser gefallen. Ach, und vor allem Fotografieren.“, erklärte sie. Als sie mich ansah verzog sie entschuldigend das Gesicht. Wir hatten ja nie darüber geredet.
    „Achso.“ Mir war peinlich, dass ich sie vorher nie danach gefragt hatte. „Hm.“ Sie räusperte sich.
    „Mum ist unten?“, hakte sie nach und wechselte damit geschickt das Thema.
    „Ja.“, nickte ich.
    „Gut. Dann lass uns mal zu ihr gehen.“, beschloss sie kurzerhand und tänzelte leichtfüßig aus dem Zimmer in den Flur. Ich blieb zurück, unschlüssig, ob ich ihr gleich folgen sollte. Es hätte sich eigentlich selbstverständlich anfühlen müssen.
    Sie drehte sich in der Tür noch einmal zu mir um.
    „Willst du da Wurzeln schlagen?“, fragte sie verwundert. Ich ließ mir einen Moment Zeit mit der Antwort und sah sie bloß an. Sie hatte sich so verändert. Sie sah dem Mädchen aus meiner Erinnerung bloß noch ähnlich.
    „Nein, lieber nicht.“, entgegnete ich und stieß mich von dem Schreibtisch ab, warf noch einen Blick über die Schulter in das verlassene Zimmer von Rachel. Dann folgte ich Piper.
    Unten in der Küche war unsere Mutter gerade dabei aufzudecken.
    „Da kommt ihr ja gerade richtig.“, nahm sie uns in Empfang und grinste verlegen.
    „Es ist ein bisschen dürftig, weil ich...Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du kommen würdest.“, erklärte sie zurückhaltend an mich gewandt. Sie wischte sich die Hände umständlich an ihrer Schürze ab.
    „Ist schon gut, Mum. Tut mir leid, dass ich nicht angerufen hab. Und...Und sowieso, das alles-“
    Ich stockte. Ich konnte es nicht vernünftig in Worte fassen, sodass es dem gerecht wurde, was ich empfand und es gelang mir ebenso wenig, nicht lahm zu klingen.
    „Lass uns jetzt nicht darüber reden.“, winkte sie entschieden ab, „Wir haben noch genug Zeit zu reden.“ Mir entging der hoffnungsvolle Unterton und die stumme Frage in ihrem Blick nicht, die sie sich nicht zu stellen traute.
    „Ja, natürlich.“, erwiderte ich, um sie zu beruhigen, obwohl ich eigentlich noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, wie lange ich überhaupt bleiben würde. Morgen früh würde ich auf der Arbeit anrufen müssen, um mich abzumelden. Ich bezweifelte kaum, dass Katelyn verständnisvoll sein würde. Die Frage war nur, für wie lange ihr Verständnis ausreichen würde.
    Als meine Mutter den Topf Kartoffeln als letztes auf dem runden Esstisch abgestellt hatte, setzten wir uns. „Greift zu.“, sagte sie. Piper wollte gerade nach den Vorlegelöffeln im Kartoffeltopf greifen, als ich ihr die Hand auf den Arm legte. „Warte.“, sagte ich, „Ich mache das.“ Sie zuckte verblüfft mit den Schultern. „Okay, bitte.“ Ich nahm ihren Teller entgegen und trug ihr auf. Erst eine ordentliche Portion Kartoffeln, was sie mit einem „Hey! Nicht so viel!“, quittierte und dann noch von dem Hering in Sahnesoße. „Danke.“, sagte sie, als ich den Teller wieder vor ihr abstellte. Als nächstes nahm ich noch den Teller meiner Mutter entgegen. „Danke, Noah.“, sagte sie vorsorglich.
    „Kein Problem.“, antwortete ich und trug auch ihr eine gute Portion auf. Zuletzt nahm ich mir selbst von beidem ein bisschen.
    „Bist du sicher, dass dir das reicht?“, fragte Piper neckend, während sie zweifelnd mein Essen beäugte. Ich sah sie aus verengten Augen heraus fragend an.
    Sie schnaubte. „Du bist total das schmale Hemd geworden.“, kommentierte sie.
    „Ich hab dich eben oben zu Fall gebracht. Das wäre früher nie passiert.“ Ich sah an mir herunter. Ich wusste, dass ich deutlich abgenommen hatte, seit sie mich zum letzten Mal gesehen hatten. Ganz besonders seit meinem Abschluss. Aber das lag auch daran, dass ich die letzten Jahre keinen Sport mehr getrieben hatte. Dafür hatte mir schlicht jeglicher Antrieb gefehlt.
    „Du hattest einfach das Überraschungsmoment auf deiner Seite.“, seufzte ich, „Das war nichts als pures Glück.“, tat ich es ab.
    Sie schnaubte. „Ja klar!“, höhnte sie, „Wer‘s glaubt!“
    „Außerdem bist du größer geworden.“,stellte ich nüchtern fest. „Und fetter...“, setzte ich noch nach, um sie zu ärgern. Ich grinste in mich hinein.
    Sie schnappte empört nach Luft. „Was war das?! Muuum!“
    „Noah.“, tadelte Mum mich, aber sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Jetzt weiß ich auch endlich, warum es da oben bei euch vorhin so gepoltert hat. Ich dachte schon, ich müsste mir Sorgen machen. Es ist nichts kaputt gegangen?“
    „Nein.“, grinste Piper. „Ich hab meinen Bruder nur gebührend begrüßt. Nicht wahr Noah?“ Sie stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite.
    „Verdammt, Piper.“, beschwerte ich mich, aber das kümmerte sie gar nicht weiter. Ich kam nicht umhin zu lächeln, schüttelte aber trotzdem verständnislos den Kopf.
    „Sei mal kein Weichei.“, entgegnete sie bloß und machte sich dann zufrieden summend über ihr Essen her. Während wir aßen sprachen wir kaum mehr. Ich schätzte, das lag hauptsächlich daran, dass keiner von uns an dem Abend richtig wusste, was er hätte sagen können, weshalb wir die Stille vorzogen, um uns erst mal an mein plötzliches Auftauchen und unsere unerwartete Zusammenkunft zu gewöhnen. Ja, ich selbst konnte es tatsächlich auch noch nicht richtig wahrhaben, dass ich wirklich dort war.
    Nach dem Essen wollte ich meiner Mutter noch beim Abwasch helfen, weil ich noch nicht richtig raus hatte, wie ich mich gerade verhalten sollte, aber sie wies meine Hilfe erneut ab.
    „Tut mir leid Noah. Bitte, versteh es nicht falsch. Ich brauche jetzt ein bisschen Zeit für mich.“, entschuldigte sie sich, „Ich freue mich unglaublich, dass du hier bist, aber ich kann es noch nicht ganz begreifen.“ Sie musterte mich mitleidig.
    „Außerdem...siehst du wirklich sehr erschöpft aus. Du hast eine lange Anreise hinter dir. Leg dich lieber schlafen, in Ordnung, Schatz?“ Ich stimmte ihr mit einem Nicken zu. Ich war auf einmal wirklich sehr müde. Ich stand an die melierte Arbeitsfläche gelehnt, unter und über der sich die braunen, antiken Küchenschränke aus massivem Holz reihten und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Durch das kleine Fenster in der Hintertür und das Fenster zum Nachbarhaus hinaus, spähte Dunkelheit zu uns herein. Der Abend war bereits spät geworden.
    Auch Piper war schon nach oben gegangen, um sich schlafen zu legen.
    „Also dann...Gute Nacht, Mum.“, verabschiedete ich mich. „Gute Nacht.“, erwiderte sie. Sie hatte den Blick gesenkt. Ihre ruhige, entspannte Stimme wirkte aufgesetzt.
    Ich stieß mich ab und wollte gerade die Küche verlassen, da hielt sie mich doch noch am Arm zurück. „Noah.“ Sie sah mich aus ihren großen Rehaugen unentschlossen an, so als wäre sie selbst ganz verwirrt und hätte vergessen, was sie eben noch zu mir hatte sagen wollen. Ich erkannte Fältchen um ihre Augen und Mundwinkel herum und feine, ungerade gezogene, gut sichtbare Linien auf ihrer Stirn, die ich noch gar nicht kannte. Auch ihre Haare waren weit mehr ergraut und sie schien sie nicht mehr nachzufärben.
    „Ja?“, fragte ich, nachdem wir uns bloß eine Weile lang angesehen und sie kein weiteres Wort mehr gesagt hatte.
    Dann zog sie mich in eine beherzte, intensive Umarmung. Sie drückte mich fest an sich und ich erwiderte den Druck. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, weil ich etwa einen ganzen Kopf größer gewachsen war als sie.
    „Tu mir das nie wieder an.“, flüsterte sie, „Hörst du? Nie wieder.“
    Ich schluckte. Aber ich sagte nichts dazu. Ich wollte nichts versprechen, von dem ich nicht sicher wusste, das ich es auch einhalten könnte.
    „Ich liebe dich Mum.“, sagte ich stattdessen und sie seufzte.
    „Ich dich auch mein Schatz.“, erwiderte sie. „Ich werde dich immer lieben und das weißt du. Ich bin vermutlich der einzige Mensch, der das bedingungslos kann.“
    Ich nickte zustimmend, beugte mich herunter, um mein Kinn auf ihre Schulter zu drücken. Ich schloss die Augen und genoss einfach, dass Gefühl in den Armen meiner Mutter zu sein, auch wenn sie gerade mein schlechtes Gewissen zu füttern versuchte, damit ich nicht mehr davonlaufen würde. Es war ein tröstliches Gefühl. „Vermutlich.“, stimmte ich ihr vage zu.
    Sie löste sich als erste aus der Umarmung. In ihren Augen glitzerten zum zweiten Mal an diesem Tag, dass ich es sah, Tränen.
    „Nun geh schlafen.“, sagte sie bestimmt. „Wir sehen uns morgen.“
    „Ist gut, schlaf gut, Mum.“ Sie nickte und wand sich von mir ab. Ihre Hände tauchten platschend in das Abwaschwasser ein und sie rumpelte geschäftig mit dem Geschirr, damit ich nicht hörte, wie sie schon wieder leise zu weinen angefangen hatte.
    Ich ging nach oben. Vor meiner Zimmertür blieb ich erst mal eine Weile unschlüssig stehen. Ich hatte die Hand auf den Türgriff gelegt, aber fand irgendwie nicht den richtigen Impuls ihn herunterzudrücken.

    (Nachtrag)
    Ungefähr zwanzig Minuten saß ich nur so da.
    Dann bekam ich nur passiv mit, wie ich aufstand, meine alte Sporttasche neben dem Schreibtisch aufklaubte und auf mein Bett warf und wie im Rausch hastig begann irgendwelche Sachen zum Anziehen aus den Schubladen der Kommode am schräg gegenüberliegenden Ende des Zimmers, neben der Küchenausbuchtung zu ziehen und auf dem Bett in die Tasche zu stopfen. Ohne mich groß umzuziehen, schlüpfte ich eilig mit nackten Füßen in meine ausrangierten Turnschuhe und warf halbherzig meinen Mantel über. Nachdem ich die Tür zu meiner Wohnung hinter mir zugezogen und mit vor Aufregung zitternden Fingern kaum dazu in der Lage gewesen war abzuschließen, nahm ich die Treppen nach unten im Laufschritt. Eiskalte Nachtluft umfing mich vor der Haustür und ich flüchtete in den Wangen, wo ich die Sporttasche schwungvoll nach hinten auf die Rückbank warf.
    Ich lehnte mich in das weiche Polster des Fahrersitzes zurück und stieß die vor Anspannung aufgestaute Luft aus. Die Hände umklammerten bereits scheinbar ohne mein Zutun das Lenkrad. Ich mahlte angespannt mit dem Kiefer und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete hatte die Dunkelheit der Nacht vor der Windschutzscheibe bereits mit dem Dämmerlicht des anbrechenden Tages getauscht. Jeder Versuch mich selbst vom Losfahren abzuhalten schien von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen zu sein.
    Ich startete den Motor. Die Digitaluhr im Armaturenbrett zeigte sechs Uhr siebzehn an. Die Scheinwerfer flammten auf und erhellten die heruntergekommen wirkende, bröckelige Ziegelsteinfassade des Wohnkomplexes, in dem ich inzwischen seit fast fünf Jahren eine von acht Einzimmerwohnungen mietete. Ich starrte nach draußen. Auf die Haustür, deren Lack abblätterte und auf die verdeckten Fenster an der Front. Das war der trostlose, wenig einladende Ort, an den ich meine Zukunft verbannt hatte, die Zeit ohne Rachel, bis zu gerade diesem Moment.
    Ich war schon oft in dieses Auto gestiegen, mit genau demselben drängenden Vorhaben zurückzufahren und nie hatte ich es wirklich durchgezogen. Aber dieses Mal war es anders.
    Heute gab es einen bedeutenden Unterschied zu allen Malen davor. Ich hatte mir eine Tasche gepackt. Sie grinste mir im Rückspiegel frech entgegen. Sie wusste, dass all der halbherzige Widerstand, der noch in mir wohnte, dieses Mal nicht gewinnen konnte. Ich würde nach Maple Grove fahren.
    Ich atmete frustriert zischend zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. Mein Herzschlag gab sich einem vor blanker Nervosität beschleunigtem Rhythmus hin. Ich sah über die Schulter aus dem Heckfenster und ließ den Polo von seinem Parkplatz rollen. Ich verließ die Chestnutstreet in Richtung Westen.