Beiträge von Jean Belac

    Jean führte Aksoy mit dem Henker auf direktem Wege zu einen verborgen liegenden Eingang. In den engen Gassen und zwischen dem Gerümpel war er kaum zu finden und auch nicht sonderlich gekennzeichnet, er wirkte wie eine normale Tür. Doch als er sie öffnete, standen sie durch wundersame Weise im Sündentempel. Der Sündentempel hatte viele Türen, doch nur einen Eingang, wie man so sagte. Man konnte von den unmöglichsten Orten hineingelangen und trat doch immer durch die selbe Tür ins Innere des Schankraums. Das gehörte zur Magie dieses Ortes. Jean verhandelte mit einem unsympathischen Mann, dessen Haut im Schatten seiner Kapuze grau wirkte. Mit zischelnder Stimme stellte er sich als Shocai vor und irgendwie roch er fischig.


    "Die Leitung ist verschwunden", zischelte Shocai. "Wir Bediensteten sind auf uns allein gestellt. Nicht schlecht, dieses Leben. Also, was schwebt dir vor?"


    "Es geht um eine Nutzungslizenz für diesen äußerst qualifizierten Hintern."


    Shocai äugte. "Wirkt brauchbar."


    "Der Sklave verbleibt in meinem Besitz, läuft er davon oder nimmt dauerhaften Schaden, bist du zum Schadensersatz verfplichtet. Von den mit ihm verdienten Einnahmen, die ich lückenlos nachgewiesen wünsche, gehören mir 66%. Der Sklave ist jung und unverbraucht. Von den verbleibenden Prozenten können seine Lebenskosten bestritten werden und was übrig bleibt, ist euer Gewinn."


    Der Fischkopf schien sich mit Zahlen nicht auszukennen, für ihn wirkte das wie ein gutes Geschäft, während Jean andauernd mäkelte und schließlich einen Anteil von 75% in den Vertrag eintrug, da der Wert des Sklaven ja mit steigendem Verbrauch sank. Nach der Unterzeichnung beider Vertragsexemplare schaute er nach, ob der Henker sich inzwischen rührte. Dann musste Aksoy sich beeilen, ihn nach oben zu bringen.

    "Ich kenne da ein nettes Bordell, dort wird er all die Kosten abarbeiten, die er mir heute verursacht hat." Jeand grinste abgründig. "Mit Zins und Zinseszins. Folge mir."


    Der Henker würde leiden und Jeans Geldbeutel würde sich füllen, im gleichen Maße, wie die Säcke der Kundschaft sich leerten. So oder so. Er gab den Weg vor.

    Sie hatten nicht gemerkt, dass unsichbare Augen ihnen gefolgt waren. Bald wusste Jean, wo sie waren und wen sie im Schlepptau hatten. Auch, dass es nicht gut für den Henker aussah. Seine Verletzungen waren inzwischen versorgt worden, dennoch ging es ihm schlecht.


    "Gizmo. Rosco. Ihr kommt mit mir. Ganz gleich, ob ihr selber verletzt seid, es ist mir scheißegal. Ich brauche euch genau da vor Ort!"


    Wenig später stand Jean unvermittelt vor Aksoy. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Gesicht kreideweiß. Links von ihm stand ein weißer hochbeiniger Kampfhund, rechts von ihm ein brauner Bullenbeißer, die offenbar beide bestens abgerichtet waren. Es war schon praktisch, Hundewandler zu seinen Mitarbeitern zu zählen. In seiner Hand hielt Jean ein Säckchen, dass er nun mehrmals hochwarf und wieder fing, wobei es vielversprechend klimperte.


    "Der kann dich nicht mehr bezahlen. Aber ich kann es", raunte er heiser. "Den Henker, Aksoy."

    Jean ging es nicht gut. Es gelang ihm nur mühsam, sich an einem herumstehenden Fass nach oben zu ziehen, um auf die Beine zu kommen. Niemand war mehr hier. Sie hatten ihn fast umgebracht und zum Verrecken in der Grube zurückgelassen. Viel schlimmer war jedoch, dass etwas sehr wichtiges fehlte.


    "MEIN GOLD!" Sein Wutschrei hallte mit hundert Echos von den Hauswänden wieder. Eine Schar Krähen stob auf, hier und da öffneten sich Fensterläden, um zu schauen, was da schon wieder los war. Jeans Schrei endete in einem unartikulierten Wutgeheul. "Dafür werdet ihr bezahlen, ihr dreckigen Kakerlaken", brüllte er. "Mit Zins und Zinseszins!"


    Wer ihn kannte und hörte, machte, dass er in eine größere Entfernung zu ihm kam. Hier und da verkrümelten sich die Leiterwachen, bis der Wutanfall wieder abgeflaut sein würde. Schwer keuchend gelang es Jean schließlich, seine Beherrschung zurückzuerlangen. Sie würden ausbluten, er würde sie ruinieren bis auf die Knochen! Humpelnd verschwand er in den Schatten, die ihn verschluckten, als wäre er nur ein böser Spuk gewesen. Die zurückbleibenden Blutspuren auf dem Pflaster zeigten jedoch deutlich, wie real der Kampf gewesen war, der sich hier zugetragen hatte.

    Niva fiel auf, dass Jean nicht mehr hinauf zu seinem Peiniger blickte, sondern besorgt in Richtung des Kleiderbündels von Gizmo schielte. Als sie seinem Blick folgte, konnte sie bei der Kleidung in Höhe der Hosentasche eine Beule entdecken, die von Größe und Form an eine Geldkatze erinnerte. Ein Windhauch schickte ihr zudem eine Wolke von atemberaubendem Pennergestank entgegen, der seinen Quell ebenfalls in dem Kleiderbündel hatte.

    Eisenleitern - Wege zum Glück

    Ein Saum grauen Zwielichts schälte die Konturen der Hochhäuser aus der Nacht, die Sterne begannen zu verblassen. Es war die stillste Zeit der Metropole, in der rund um die Uhr Großstadtlärm die Ohren peinigte. Jean ging am Bordstein auf Ebene eins entlang. Zu seiner Rechten - eine Fassade. Zu seiner Linken - die Schlucht. Ein Geländer gab es nicht, in Obenza fiel man tief. Er sah, was man immer sah, wenn man in den Abgrund schaute. Die Nachtschwärme hatten ihr Elend in Alkohol ertränkt oder im Rauch von Rahusti erstickt und lagen nun unter Lumpen an den Hauswänden, unter Karren oder in umgekippten Fässern. Sie lagen dort wie auf dem Präsentierteller, doch bei ihnen gab es wenig bis nichts zu holen. Andere teilten das Lager mit Huren, die oftmals nicht einmal Geld für ihre Dienste verlangten, sondern schon für eine warme Mahlzeit oder schlicht eine Nacht in einem warmen Bett zu haben waren.


    Völlig frei von Höhenangst und blickte der rothaarige junge Mann im Gehen auf die Null hinab. Null - Nichts. Das war alles, was jene hatten, die dort unten lebten und starben. Diese Stadt war voller Sinnbilder, als wäre sie der mahnende Wahrheitsspiegel Ainuwars, der den Völkern zeigte, woran sie krankten, doch niemand hörte in diesen gottlosen Zeiten. Gemeinsam hielten sie die Maschinerie in Gang, vom kleinsten Rädchen bis zum Antrieb des Getriebes. Auch Jean war hier, um seinen Teil beizutragen. Er war nicht blind für Ainuwars Mahnung - er verstand sie und war bereit, den Regeln dieser Stadt zu folgen. Selbstlosigkeit, Vertrauen und Barmherzigkeit waren hier keine Tugenden. Es waren Todsünden.


    Wenn es das ist, wozu Ainuwar mich erschaffen hat, um mich in die Grube zu schmeißen, damit ich mich herauskämpfe, werde ich seinem Willen folgen.


    Nach oben, immer nur nach oben, wo die Sonne schien, wo man frei atmen konnte, dorthin strebte sein Herz. Das war sein Antrieb, sein Gesetz, dem er alles andere unterordnete. Vielleicht aber war es auch Rakshor, der ihm die Kraft dazu gab, denn seit er sich der wertvollen Gabe der Gewissenlosigkeit bewusst geworden war, ging es kontinuierlich bergauf. Wer weder Mitleid noch Reue spürte, konnte eine Abkürzung nach oben nehmen, indem er über Leichen ging. An Jeans Händen klebte kein Blut, aber an den Talern, die er seinen Schlitzern zahlte. Er war kein Mörder - er war Geschäftsmann.


    Jeans Heimat war längst nicht mehr die Grube. Ebene null war nurmehr bloß Teil seines Jagdreviers. Jean aber agierte von Ebene vier aus und sie würde nicht das Ende seiner Lebensleiter sein. Morgen um Morgen stieg er hinab, bevor die anderen erwachten und ging der Reihe nach seine Handlanger besuchen. Er strich Wegezoll ein, Schutzgelder, Pacht für Reviere, er war sehr kreativ darin, was die Namen des "Angebots" seines Geschäftsmodells betraf. Jean ging allein. Er wusste, welche Wege er um welche Uhrzeit gefahrlos benutzen konnte und wann es erforderlich war, in der Gruppe zu bleiben. Zwei Abstiege hatte er heute schon hinter sich.


    Er erreichte die letzte Eisenleiter, jene, die hinab zur Grube führte. Dort lungerte eine Truppe heruntergekommener Gestalten, die jeden verprügelten, der es wagte, nach oben zu klettern und nicht den entsprechenden Freibrief mit Jeans Unterschrift vorweisen konnten, auf dem der Zeitrahmen der Gültigkeit und der Name des Besitzers verzeichnet waren. Diesen "Pass" erhielt man nur gegen die wöchentliche Bezahlung einer Gebühr und kein familiärer Notfall, kein Flehen einer Mutter oder Jammern eines Alten, der dringend Medikamente aus der Apotheke weiter oben benötigte, konnte einen der Wächter umstimmen. Jeans Antwort auf Versagen wäre ein Messer zwischen den Rippen. Er gab keine zweite Chance. Aber er gab Rabatt, wenn jemand für einen Monat oder ein Jahr im Voraus bezahlte.


    Die Wächter taten, als würden sie sich über Jeans Erscheinen freuen, berichteten ihm von der Nacht und informierten, dass zwei weitere "Pässe" ausgestellt werden sollten. Jean legte einen Termin fest, wann sie sich mit den "Kunden" treffen würden, um das Geld in Empfang zu nehmen. Dann händigte er jedem von ihnen einen Kupferling aus und packte einen Bonus in Form einer mit Rahusti verfeinerten Rauchstange obendrauf. Jetzt freuten sie sich wirklich, Jean wurde umarmt, geklopft und dann ging er seiner Wege. Kleine Geschenke erhielten die Freundschaft. Er konnte auch nett sein, wenn ihm das nützte.


    Die Eisenleiter dröhnte bei jedem Schritt wie eine verstimmte Tempelglocke, dann betraten seine schweren Arbeiterstiefel die Grube. Genau so gut hätte er in eine Klärgrube steigen können. Hier unten stank es noch schlimmer als auf Ebene eins.


    Aus: Kapitel 2 - Vom Morast in den Sumpf

    Die Pranke schloss sich um Jeans roten Mantel. Die Klauen durchschlugen das Leder und griffen gleich noch seine Brust mit dazu, als wäre sie nur eine zweite Lage Kleidung. Bevor Jean schreien konnte, traf ein Schlag seinen Kopf, der ihn betäubt in sich zusammensinken ließ.


    "Und ich dachte, wir wären so was wie Freunde und Kollegen, Aksoy", rief er vom Boden nach oben. "Hast du denn keine Ehre im Leib? Wir hatten die Vereinbarung zuerst! Gizmo, hilf mir!" Verzweifelt schaute Jean in die Richtung des Gestaltwandlers.


    Der drehte kurz den Kopf in seine Richtung, blickte so desinteressiert drein, als wäre hinter ihm nur eine Stapel Kisten umgefallen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem erhobenen Goldstück zu. Leviathan hielt es wie eine Reliquie, das Ticket zu einem Jahr der Glückseligkeit, es blendete Gizmo mit seiner Pracht, er wollte, er musste es haben! Er wedelte heftig mit dem Schwanz und fing erneut an zu bellen, dass der Schaum nur so von seinem Maul flog.

    "Er hat ... GOLD!" Jean fielen fast die Augen aus. "Tatsache, es ist noch was übrig! Und er zeigt es!" Der Mann ohne Rüschenhemd musste entweder ein überragender Kämpfer sein, oder Jean hatte es hier mit einem Irren zu tun. Beides war gefährlich. Plötzlich packte ihn die kalte Wut. Er saugte so hasserfüllt an seiner Rauchstange, dass sie mit einem einzigen Atemzug bis zur Hälfte herunterbrannte. "Mein Name ist Jean und wenn du der Henker von Obenza bist, bedenke, wer dein König ist, Leviathan! Wie kommst du dazu, einen Söldner mit GOLD bezahlen zu wollen", brüllte er. "Wer soll da mithalten, du ruinierst alle Preise! Als ob ein paar ehrlich verdiente Taler nicht genügen würden. Zu viel davon verdirbt den den Charakter!" Für den raffgierigen Rotschopf selbst schien diese Sorge freilich nicht zu gelten.


    Gizmo aber, der ohnehin nur sporadisch mit ein paar entbehrlichen Kupferlingen bezahlt wurde, beachtete ihren selbsternannten Anführer nicht nicht bei seinem Versuch, auch ohne Gold ihren einzigen effektiven Kämpfer auf seiner Seite zu halten. Gizmo hatte nur noch Augen für die kreisrunde, glitzernde, funkelnde Fahrkarte in ein Jahr, welches 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche aus einem ununterbrochenen Hafari-Rausch bestand. Ohne auf weitere Kommandos zu warten, krümmte der nackte Mann sich zu einem Bündel dürrer Gliedmaßen zusammen. Er sah kränker aus denn je, irgendwas schien mit ihm nicht zu stimmen. Offenbar litt er Schmerzen, er winselte, seine Finger schrumpften, die Nägel schossen als dicke Klauen hervor und wenige Augenblicke später erhob er sich auf vier Beinen. Ein hochbeiniger weißer Hund mit schweren Bissnarben, der aussah als hätte er die Räude, starrte auf die Münze, als wäre sie ein erhobenes Würstchen. Hätte er nun Kleidung getragen, hätte er sich schwer aus dieser befreien können. Als er bemerkte, dass er als Hund die Leiter nicht hinaufkam, begann er vor Frust wie von Sinnen zu bellen, wobei ihm schaumiger Geifer von seinem Maul flog.


    Jean musste vor so viel Blödheit einen Moment die Augen schließen und tief durchatmen.

    Jean hatte irgendein Fiepen im Ohr. Er schlug sich mit dem Handballen einige Male seitlich auf den Kopf, aber es hörte nicht auf. Als sie um eine Ecke bogen, änderte sich die Tonlage. Jetzt bemerkte er, dass es nicht sein Tinnitus war, der sich meldete, sondern dass einer seiner Leiterwachen von einem Mann mit nacktem Oberkörper gekonnt die Eier gequetscht wurden.


    "Och Knäcke", knurrte Jean. "Du hast die Hände frei, stich ihm den Finger ins Auge."


    Doch sein Mitarbeiter tat nichts dergleichen, weil er die Hände lieber auf seine malträtierten Weichteile presste. Der Tiefling ließ plötzlich los, so dass Knäcke nach hinten stolperte. Mühsam rappelte er sich wieder auf. Als Jean mit seinen Begleitern unterhalb der Leiter eintraf, erhielt Knäcke gerade einen Fausthieb unters Kinn, der ihn die Bodenhaftung verlieren ließ. Gizmo brach in schrilles Gelächter aus bei diesem Anblick, Rosco stimmte ihm grunzend zu. Als ihr Kumpel auf dem Pflaster aufschlug, stand er kein zweites Mal auf. Sein Arm hing nach unten, er lag gefährlich nah an der Kante.


    Jean zog seine vorgedrehte Rauchstange aus der Manteltasche. Er steckte sie in seinen Mundwinkel und zündete sie an. Wo waren die anderen drei? Von Fluppsi, Beule und Schlumbo war nichts zu sehen. Doch, korrigierte Jean sich gedanklich. Weiter links ragte Fluppsis dreckiger nackter Fuß über die Kante.


    Er blies Rauch durch die Nase und starrte nach oben zum Tiefling hinauf. "HE", brüllte er hinauf, damit er von Knäcke abließ, ohne dabei den Mund sonderlich weit aufzumachen. Die Luft kam vor allem durch seine Nase hinaus und sorgte für noch mehr stiergleiche Qualmolken. "Bist du der Henker?" Dann zischte er seinen Begleitern zu: "Aksoy, Giz. Macht ihn fertig. Rosco, halt uns den Rücken frei."


    "Au ja", freute sich Gizmo. In Windeseile begann er sich zu entkleiden. Zum Vorschein kam ein dürrer, von zahllosen Hundebissen vernarbter Körper mit sehr ungesund aussehenden Flecken auf der Haut. Hals, Schultern und Arme waren tätowiert. Jean würdigte ihn keines Blickes, er wusste, warum Gizmo das tat und die anderen würden es gleich erleben.


    Der kleine plumpe Rosco hingegen stöhnte gequält und setzte sich auf einen Stapel vergammelter Seile. Dabei blickte er in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Seine dicke Nase bewegte sich. Er glaubte, jemanden zu riechen ...

    "Mein Name ist Jean", stellte er sich ohne zu zögern vor. Geheimniskrämerei war nicht seine Strategie. Er hatte nichts davon, wenn sein Name unbekannt bliebt. "Der Schankwirt hier hat mir widersprochen und versucht, mich mit Wein abzuspeisen, wo etwas anderes vereinbart war. Er benötigt daher ein paar blaue Augen. Wichtiger aber ist der Tiefling mit dem seidenen Rüschenhemd. Er sieht aus, als hätte er noch mehr zu geben, als er es bisher tat. Er hat sein Vermögen nicht korrekt besteuert. Danach ist das Mädchen dran, Niva ist ihr Name und auch in ihren Adern fließt Tieflingsblut. Ihre Pacht für das westliche Drittel des Martktes steht schon eine Weile aus. Die drei Dinge sind zu erledigen."


    In diesem Moment kam Gizmo hineingetaumelt, das weiße Gesicht zu einer irren Grimasse verzogen. "Kopf", kreischte er und wankte wieder hinaus.


    Stirnrunzelt sah Jean ihm nach. "Ich muss das erstmal kurz klären. Komm mit, wir reden unterwegs weiter."


    Er verließ den Alten Alfons und folgte der dürren Gestalt nach draußen. Einer seiner jüngeren Mitarbeiter stand flennend da, den abgetrennten Kopf von Franz in der Hand, dessen Fettwülste nun im Tod so schlaff waren, dass man seine Augen nicht mehr sah, weil die Stirn darüber hing.


    Gizmo zeigte auf ihn. "Tot!"


    "Das sehe ich selbst", blaffte Jean. Er hasste Gizmos Dummheit. Der abgewrackte Kerl war das wandelnde Paradebeispiel, was das als harmlos geltende und unter Jugendlichen beliebte Rahusti auf lange Sicht mit einem Gehirn anzurichten vermochte. "Jackob! Wer war das?"


    "Ich soll sagen, der Henker war`s", heulte der Junge, auf dessen Wange ein roter Handabdruck prangte. "Der Tiefling mit dem seidenen Rüschenhemd!"


    Gizmo brach in ein irres Lachen aus


    "Schön. Dann kommt Nummer zwei also als Erster dran. Wir gehen hin", befahl Jean. "Gizmo, Rosco, mitkommen. Lasst euren Scheiß hier. Aksoy, du auch!"


    Der weinende Junge blieb hilflos mit dem Kopf bei den Schlafsäcken und dem Gepäck zurück. Den Müll würde ohnehin niemand klauen, höchstens anzünden. Die vier Männer machten sich auf den Weg zu der Kaschemme, vor der Jeans Leute die treulosen Leibwachen des selbsternannten Henkers ausgeplündert hatten. Jean drahtig, Gizmo dürr, Rosco plump und Aksoy riesig, Beim Gehen prüfte Jean, ob sein Messer dort saß, so es sitzen sollte.

    Ebene eins


    Ein Saum grauen Zwielichts schälte die Konturen der Hochhäuser aus der Nacht, die Sterne begannen zu verblassen. Es war die stillste Zeit der Metropole, in der rund um die Uhr Großstadtlärm die Ohren peinigte. Jean ging am Bordstein auf Ebene eins entlang. Zu seiner Rechten - eine Fassade. Zu seiner Linken - die Schlucht. Ein Geländer gab es nicht, in Obenza fiel man tief. Er sah, was man immer sah, wenn man in den Abgrund schaute. Die Nachtschwärme hatten ihr Elend in Alkohol ertränkt oder im Rauch von Rahusti erstickt und lagen nun unter Lumpen an den Hauswänden, unter Karren oder in umgekippten Fässern. Sie lagen dort wie auf dem Präsentierteller, doch bei ihnen gab es wenig bis nichts zu holen. Andere teilten das Lager mit Huren, die oftmals nicht einmal Geld für ihre Dienste verlangten, sondern schon für eine warme Mahlzeit oder schlicht eine Nacht in einem warmen Bett zu haben waren.


    Völlig frei von Höhenangst und blickte der rothaarige junge Mann im Gehen auf die Null hinab. Null - Nichts. Das war alles, was jene hatten, die dort unten lebten und starben. Diese Stadt war voller Sinnbilder, als wäre sie der mahnende Wahrheitsspiegel Ainuwars, der den Völkern zeigte, woran sie krankten, doch niemand hörte in diesen gottlosen Zeiten. Gemeinsam hielten sie die Maschinerie in Gang, vom kleinsten Rädchen bis zum Antrieb des Getriebes. Auch Jean war hier, um seinen Teil beizutragen. Er war nicht blind für Ainuwars Mahnung - er verstand sie und war bereit, den Regeln dieser Stadt zu folgen. Selbstlosigkeit, Vertrauen und Barmherzigkeit waren hier keine Tugenden. Es waren Todsünden.


    Wenn es das ist, wozu Ainuwar mich erschaffen hat, um mich in die Grube zu schmeißen, damit ich mich herauskämpfe, werde ich seinem Willen folgen.


    Nach oben, immer nur nach oben, wo die Sonne schien, wo man frei atmen konnte, dorthin strebte sein Herz. Das war sein Antrieb, sein Gesetz, dem er alles andere unterordnete. Vielleicht aber war es auch Rakshor, der ihm die Kraft dazu gab, denn seit er sich der wertvollen Gabe der Gewissenlosigkeit bewusst geworden war, ging es kontinuierlich bergauf. Wer weder Mitleid noch Reue spürte, konnte eine Abkürzung nach oben nehmen, indem er über Leichen ging. An Jeans Händen klebte kein Blut, aber an den Talern, die er seinen Schlitzern zahlte. Er war kein Mörder - er war Geschäftsmann. Jeans Heimat war längst nicht mehr die Grube. Ebene null war nurmehr bloß Teil seines Jagdreviers. Jean aber agierte von Ebene vier aus und sie würde nicht das Ende der Leiter sein.


    Morgen um Morgen stieg er hinab, bevor die anderen erwachten und ging der Reihe nach seine Handlanger besuchen. Er strich Wegezoll ein, Schutzgelder, Pacht für Reviere, er war sehr kreativ darin, was die Namen des "Angebots" seines Geschäftsmodells betraf. Jean ging allein. Er wusste, welche Wege er um welche Uhrzeit gefahrlos benutzen konnte und wann es erforderlich war, in der Gruppe zu bleiben. Zwei Abstiege hatte er heute schon hinter sich.


    Er erreichte die letzte Eisenleiter, jene, die hinab zur Grube führte. Dort lungerte eine Truppe heruntergekommener Gestalten, die jeden verprügelten, der es wagte, nach oben zu klettern und nicht den entsprechenden Freibrief mit Jeans Unterschrift vorweisen konnten, auf dem der Zeitrahmen der Gültigkeit und der Name des Besitzers verzeichnet waren. Diesen "Pass" erhielt man nur gegen die wöchentliche Bezahlung einer Gebühr und kein familiärer Notfall, kein Flehen einer Mutter oder Jammern eines Alten, der dringend Medikamente aus der Apotheke weiter oben benötigte, konnte einen der Wächter umstimmen. Jeans Antwort auf Versagen wäre ein Messer zwischen den Rippen. Er gab keine zweite Chance. Aber er gab Rabatt, wenn jemand für einen Monat oder ein Jahr im Voraus bezahlte.


    Die Wächter taten, als würden sie sich über Jeans Erscheinen freuen, berichteten ihm von der Nacht und informierten, dass zwei weitere "Pässe" ausgestellt werden sollten. Jean legte einen Termin fest, wann sie sich mit den "Kunden" treffen würden, um das Geld in Empfang zu nehmen. Dann händigte er jedem von ihnen einen Kupferling aus und packte einen Bonus in Form einer mit Rahusti verfeinerten Rauchstange obendrauf. Jetzt freuten sie sich wirklich, Jean wurde umarmt, geklopft und dann ging er seiner Wege. Kleine Geschenke erhielten die Freundschaft. Er konnte auch nett sein, wenn ihm das nützte.


    Ebene Null


    Die Eisenleiter dröhnte bei jedem Schritt wie eine verstimmte Tempelglocke, dann betraten seine schweren Arbeiterstiefel die Grube. Hier unten stank es noch schlimmer als auf der eins. Genau so gut hätte er in eine Klärgrube steigen können. Er folgte ab jetzt einem anderen Weg als sonst, da er Nachricht von Gizmo erhalten hatte. Er traf den Penner mit dem pink gefärbten Hahnenkamm an dessen Schlafplatz, direkt neben dem Eingang des Alten Alfons. Aus einigen alten Seilrollen und Lumpen hatte er sich ein Nest gebaut, um die Nacht zu überstehen. Gizmo trug mit dreißig oder vierzig oder wie alt er auch sein mochte noch die selben Kleider, die er als Jugendlicher getragen hatte und entsprechend verschlossen sahen sie aus. Bei ihm war heute eine ganze Truppe zum Schlafen versammelt. Sie hatten Beute gemacht.
    "Vier Räder, eine Kiste mit Klamotten und eine seidene Geldkatze mit so Blumen drauf", verkündete Gizmo stolz, ohne aus seinem Schlafsack aufzustehen. Beim Sprechen bildeten sich Dampfwolken vor seinem leichenblassen Gesicht. "Sie haben alles freiwillig rausgerückt, weil wir gesagt haben, sie können die Pferde behalten."
    "Recht so", bestätigte Jean, der die Truhe öffnete. Mit Pferden konnte er nichts anfangen, mochte ein anderer sich daran bereichern. Ein anerkennender Pfiff kam zwischen seinen Zähnen hervor.
    "Kommt noch besser." Gizmo grinste. "... haben gesagt, der Besitzer wäre reich. Hat Gold und ist hier in der Stadt. War im Besoffenen Quell. Tiefling ... reich mit Rüschenhemd."
    "Ein Geldsack in dieser Bretterbude? Vermutlich ein Geizhals. Solche haben meist ihr Geld irgendwo versteckt, wo sie meinen, man findet es nicht. Das erklärt, warum diese Seidenkatze dort leer ist. Den holen wir uns. Aber vorher gehe ich mal unseren Alfons besuchen."


    Jean betrat die Kneipe.
    Er schaute sich kurz an, wer im Schankraum saß. Ihm fiel ein riesiger Tiefling ins Auge, der aber nicht der Gesuchte war, wie seine schäbige Aufmachung verriet, ansonsten war nichts anders als sonst. "Guten Morgen", rief Jean. Er grüßte die beiden Sicherheitsmänner, die den Laden bewachten und diese grüßten ihn artig zurück, seit er die Kinder des einen von einer Horde Straßenkinder mit Steinen hatte bewerfen lassen. Er marschierte durch die Kneipe, als würde sie ihm gehören und lehnte sich mit einem Ellbogen auf den Tresen. "Na, Alfons, mein alter Freund? Hast du was für mich?"
    Der alte Mann mit der Halbglatze schüttelte den Kopf. "Keine Lieferung eingegangen. Winnie ist nicht aufgetaucht und ist laut den Jungs auch nirgends zu finden."
    "Das ist nicht mein Problem", antwortete Jean freundlich. "Mich interessiert nur meine Ware. Wie du sie besorgst, ist deine Angelegenheit. Ich bin mit dir entgegengekommen, indem ich den Kaufpreis vorgestreckt habe, damit auch alles glatt geht."
    "Ich gebe dir dein Geld zurück", versprach Alfons.
    "Die Ware", wiederholte Jean nun sehr deutlich. "In zwei Tagen! Und ein Fass Wein als Schadensersatz. Jetzt. Nicht die gepanschte Plörre, die du hier ausschenkst, sondern aus deinem Privatvorrat."
    Widerstrebend trollte Alfons sich durch die Hintertür.
    Jean pfiff ein Lied, nahm einen tönernen Bierkrug, bediente sich am Zapfhahn des Weinfasses und setzte sich mit der vollen Maß zu dem Tiefling an den Tisch. "Morgen", grüßte er. "Du siehst aus, als ob du austeilen kannst. Und als ob du Geld gebrauchen könntest. Willst du dir ein paar Taler dazu verdienen? Eine alte Freundin und ein alter Schankwirt benötigen eine Erinnerung an mich, da sie leider nicht so oft an mich denken, wie mir das lieb wäre. Und ein Tieflingskollege würde sich bestimmt auch über deinen Besuch freuen."
    Er schlürfte seinen Wein, der wirklich gut schmeckte, obwohl er Plörre war. Vermutlich war er nicht einmal gepanscht, aber es konnte Alfons nicht schaden, wenn man ihm das Geschäft nur so leicht machte, wie er es verdiente.

    Jean fing die Taschenuhr mit einer Hand. Seine Finger schlossen sich fest darum. "Die Firma dankt." Doch der Triumph, den er zur Schau trug, fand nicht den Weg zu seinem Herzen. Er hatte Niva und einen ihrer Freunde verletzt. Auf den Straßen sah so oft der Beginn von etwas viel Schlimmerem aus. Noch waren sie alle sehr jung. In ein paar Jahren als Erwachsene würden sie einander nicht mehr fragen, was denn los war, warum sie sich so anders verhielten als früher, obwohl sie die Antwort in ihren Herzen längst kannten. Sie würden keine Worte verlieren, sondern nur noch die Dolche sprechen lassen. Damit, die kleine Truppe zu verschonen, ging Jean ein großes Risiko ein, das war ihm bewusst.


    Lässig schlenderte er ein paar Schritte rückwärts, während er die Uhr unter seiner Kleidung in einem Umhängebeutel verstaute. "Ihr versteht natürlich, dass ich das Betreten meines Reviers und den versuchten Diebstahl ahnden muss", sagte er und steckte auch den Dolch ein. "Sonst glaubt am Ende jeder, er könnte sich ohne zu bezahlen am Buffet bedienen. Aber der Tisch ist für mich allein gedeckt. Ich gebe euch eine Woche, um hundert Taler aufzutreiben, um für euren Fehltritt in barer Münze zu bezahlen. In sieben Tagen, zu Sonnenuntergang, treffen wir uns unter der großen Eisenbrücke am Südufer. Nur du und ich, Niva. Wenn du mir die hundert Taler ohne Tricks und Mätzchen übergibst, sei dir und deinen kleinen Freunden die Missachtung meiner Grenze verziehen. Wenn nicht, bezahlt ihr mit Blut."


    Damit drehte Jean sich um und ging in Richtung des Marktes. Einen Moment lang sah man noch seinen roten Mantel zwischen all den Körpern, dann wurde er Teil der Masse und verschwand.

    Die zwei Straßenkinder standen sich gegenüber. Jean auf der einen Seite, Niva auf der anderen. Hinter ihr Ahmet, der versuchte, sich um ihr schwächstes Mitglied zu kümmern. Tränen und Blut, ein Schwerverletzter, der noch nicht einmal das Kindesalter hinter sich gelassen hatte. Dies war nicht nur ein Überlebenskampf, sondern Krieg. Sie kämpften und starben für Münzen, die vielleicht drei Tage Nahrung bedeuteten und eine Uhr, die sie weit unter ihrem Wert verkaufen würden, damit irgendein Erwachsener, der mehr Ahnung hatte als sie, sich daran bereicherte.


    Jean atmete schwer, seine rechte Faust mit dem Fingerdolch war noch immer kampfbereit erhoben. Warum gaben ihm diese dummen Kinder nicht einfach ihre Beute? Warum ließen sie den Mickerling über die Klinge springen, über Jeans Klinge? War er ihnen so egal? Waren sie so dumm - oder so verzweifelt?


    Jean ließ die Hand ein wenig sinken. "Einverstanden", sagte er ruhig. "Wir teilen." Er kam einen Schritt näher und streckte erneut die Hand mit dem fingerlosen Lederhandschuh aus. "Ich nehme die Unterhainer Relixa. Und du und deine drei kleinen Arschlecker sollen leben."

    Überrascht blieb er auf dem Rücken liegen, während ihre Tränen auf sein Gesicht tropften wie heißer Sommerregen. Über Niva, zwischen den steil aufragenden Häusern, blitzte ein schmaler Spalt des blauen Sommerhimmels. Sie war so schön ... ein Wesen der Dunkelheit, geboren, um in der Grube zu überleben. Niemand hatte hier bessere Voraussetzungen als sie.


    Einen Moment lang spürte er noch einmal ihre alte Freundschaft. Er hatte Niva immer gemocht, in einigen Jahren hätte vielleicht mehr daraus werden können. Doch Obenza verschlang seine Kinder. Die Stadt verzehrte ihre Seelen, ihre Körper wie ein immerhungriges Monster. Jean lag rücklings auf Ebene Null, in der Grube. Er roch feuchtes Pflaster und Pisse, eine aufgeweichte Zeitung vom letzten Monat klebte lag unter seinem Kopf. Er hatte nicht vor, hier zu enden.


    "Den Bruder im Leid verkauft für eine Uhr und ein paar läppische Münzen", höhnte er, um seine Gefühle herunterzukämpfen. "Wie weit ist es mit dir gekommen, Niva? Was ist aus dir geworden? Was ich getan habe, fragst du mich? Ernsthaft? Das Gleiche wie du - überleben!" Damit bäumte er sich unter ihr auf und stieß sie von sich. Der kleine Dolch blitzte zwischen seinen Fingern auf, als er nach ihr schlug.

    "Ihr missachtet meine Grenze, plündert meine Beute und dann erwartet ihr auch noch, dass ich mit euch teile?", höhnte Jean.


    Er wollte das hier nicht. Er war kein Mörder, er war nur ein Straßenjunge wie sie alle. Doch er würde nicht so enden. Sein Weg führte nicht hinab, wie der aller anderen Grubenkriecher, sondern hinauf! Die oberen Ebenen von Ebenza warteten auf die Starken!


    Er riss den Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen. quer über den Hals des Jungen. Die Klinge war nicht lang genug, um ihm wirklich die Kehle aufzuschlitzen, aber der Schnitt war tief, blutete stark und würde hoffentlich für ausreichend Eindruck sorgen. Er ließ den Jungen nicht los, sondern zog sein Kinn nach oben, so dass der Schnitt sich für alle deutlich sichtbar öffnete. Blut rann in dunkelroten Strömen daraus hervor.


    "Umgebracht für zehn Taler und eine Uhr. Du scheinst deinen Freunden sehr viel wert zu sein, Kleiner."

    Es war nicht so, dass Jean die Tränen von Niva egal waren. Er war noch nicht so abgestumpft, dass sie ihn nicht mehr berührten. Aber er hatte gute Gründe dafür, sein Revier mit allen Mitteln zu verteidigen.


    Wirklich mit allen? Wie weit würde er gehen, wenn sie nicht so mitspielten, wie er das erhoffte?


    Einen Moment lang huschte Jeans Blick in Richtung der Slums, die westlich von hier lagen. Gleich neben dem Rotlichtbezirk am Hafen. Das wäre der andere Weg, an Geld zu gelangen, wenn der Diebstahl sich nicht mehr lohnte. Wer sich nicht durchsetzen konnte, landete fast immer irgendwann dort. Ganz gleich, wie alt oder jung man war und wie man aussah, für irgendwas war man immer zu gebrauchen. Und das war dann die Endstation. Von dort arbeitete man sich nicht raus, dort gab es keine Flucht, man verkaufte nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele, seine Zukunft und sein gesamtes Leben. Nein, Jean konnte jetzt und hier keine Gnade walten lassen!


    "Die Uhr", wiederholte er langsam. "Und das Geld. Zehn Taler, ich habe mitgezählt."

    Jean sah ihre duckende Bewegung und reagierte blitzschnell. Doch nicht Niva war sein Ziel. Er packte den kleinen Jammerlappen aus ihrer Gruppe am Arm und riss ihn vor sich. Der Fluchtweg war frei - aber einer ihrer Freunde war nun in seiner Gewalt. Er presste ihm die geschlossene Faust gegen die Kehle. Es war nicht auszumachen, ob er ein kleines Messer, einen Nagel oder sonst etwas darin hielt, aber der Junge spürte etwas, das seinen Hals eindrückte.


    "Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen, nicht wahr? Der Markt ist mein Revier, das ist er seit einem halben Jahr und ich denke nicht daran, mit diebischen kleinen Ratten zu teilen. Was ist los mit dir, Niva? Früher warst du vernünftiger."

    Ein leises Lachen erklang, doch es war keiner von ihnen. Es kam nicht einmal von der Straße, an deren Ende sie zusammengedrängt zwischen Sperrmüll hockten, sondern von oben. "Wie aufmerksam von euch, mir die Arbeit abzunehmen. Zehn Handelstaler und eine Silberhainer Relixa." Als sie nach oben blickten, hockte dort auf dem Mauersockel, der die Sackgasse abschloss, ein rothaariger Junge, den sie gut kannten:


    Bitte melde dich an, um diesen Link zu sehen.


    Er war hager, so wie sie alle und hatte vor einigen Wochen einen eleganten, aber inzwischen zerschlissenen und verdreckten roten Herrenmantel ergaunert. Er blickte hinunter auf das Grüppchen wie ein Raubvogel auf ein Nest von zusammengedrängten Hasenjungen. Sie hatten nur einen einzigen Fluchtweg. Damit, sich am Ende einer Sackgasse niederzuhocken hatten sie ein wichtiges Gesetz der Straße missachtet. Es war fast schon amüsant, die Fehler der Kinder zu beobachten und ihrem Scheitern beizuwohnen. Einst war Jean wie sie gewesen, doch das war inzwischen einige Jahre her. Mit 14 war er kein Kind mehr. Und in den Jahren, die er in der Grube verbracht hatte, hatte er aus seinen Fehlern gelernt. Ein weiterer Fehler war, sich in ein Fremdes Revier zu begeben und dabei so einen Lärm zu veranstalten wie diese vier.


    Er stieß sich ab, flog mit wehenden Rockschößen über sie und landete leichtfüßig hinter ihnen. Damit war der Fluchtweg zum Markt versperrt. Sein Lächeln war erloschen. Sein von Natur aus weißes Gesicht war wie aus Gips, kalt und hart, sein Mund schmallippig. Er streckte die Hand aus. "Das Geld und die Uhr."