Ebene eins
Ein Saum grauen Zwielichts schälte die Konturen der Hochhäuser aus der Nacht, die Sterne begannen zu verblassen. Es war die stillste Zeit der Metropole, in der rund um die Uhr Großstadtlärm die Ohren peinigte. Jean ging am Bordstein auf Ebene eins entlang. Zu seiner Rechten - eine Fassade. Zu seiner Linken - die Schlucht. Ein Geländer gab es nicht, in Obenza fiel man tief. Er sah, was man immer sah, wenn man in den Abgrund schaute. Die Nachtschwärme hatten ihr Elend in Alkohol ertränkt oder im Rauch von Rahusti erstickt und lagen nun unter Lumpen an den Hauswänden, unter Karren oder in umgekippten Fässern. Sie lagen dort wie auf dem Präsentierteller, doch bei ihnen gab es wenig bis nichts zu holen. Andere teilten das Lager mit Huren, die oftmals nicht einmal Geld für ihre Dienste verlangten, sondern schon für eine warme Mahlzeit oder schlicht eine Nacht in einem warmen Bett zu haben waren.
Völlig frei von Höhenangst und blickte der rothaarige junge Mann im Gehen auf die Null hinab. Null - Nichts. Das war alles, was jene hatten, die dort unten lebten und starben. Diese Stadt war voller Sinnbilder, als wäre sie der mahnende Wahrheitsspiegel Ainuwars, der den Völkern zeigte, woran sie krankten, doch niemand hörte in diesen gottlosen Zeiten. Gemeinsam hielten sie die Maschinerie in Gang, vom kleinsten Rädchen bis zum Antrieb des Getriebes. Auch Jean war hier, um seinen Teil beizutragen. Er war nicht blind für Ainuwars Mahnung - er verstand sie und war bereit, den Regeln dieser Stadt zu folgen. Selbstlosigkeit, Vertrauen und Barmherzigkeit waren hier keine Tugenden. Es waren Todsünden.
Wenn es das ist, wozu Ainuwar mich erschaffen hat, um mich in die Grube zu schmeißen, damit ich mich herauskämpfe, werde ich seinem Willen folgen.
Nach oben, immer nur nach oben, wo die Sonne schien, wo man frei atmen konnte, dorthin strebte sein Herz. Das war sein Antrieb, sein Gesetz, dem er alles andere unterordnete. Vielleicht aber war es auch Rakshor, der ihm die Kraft dazu gab, denn seit er sich der wertvollen Gabe der Gewissenlosigkeit bewusst geworden war, ging es kontinuierlich bergauf. Wer weder Mitleid noch Reue spürte, konnte eine Abkürzung nach oben nehmen, indem er über Leichen ging. An Jeans Händen klebte kein Blut, aber an den Talern, die er seinen Schlitzern zahlte. Er war kein Mörder - er war Geschäftsmann. Jeans Heimat war längst nicht mehr die Grube. Ebene null war nurmehr bloß Teil seines Jagdreviers. Jean aber agierte von Ebene vier aus und sie würde nicht das Ende der Leiter sein.
Morgen um Morgen stieg er hinab, bevor die anderen erwachten und ging der Reihe nach seine Handlanger besuchen. Er strich Wegezoll ein, Schutzgelder, Pacht für Reviere, er war sehr kreativ darin, was die Namen des "Angebots" seines Geschäftsmodells betraf. Jean ging allein. Er wusste, welche Wege er um welche Uhrzeit gefahrlos benutzen konnte und wann es erforderlich war, in der Gruppe zu bleiben. Zwei Abstiege hatte er heute schon hinter sich.
Er erreichte die letzte Eisenleiter, jene, die hinab zur Grube führte. Dort lungerte eine Truppe heruntergekommener Gestalten, die jeden verprügelten, der es wagte, nach oben zu klettern und nicht den entsprechenden Freibrief mit Jeans Unterschrift vorweisen konnten, auf dem der Zeitrahmen der Gültigkeit und der Name des Besitzers verzeichnet waren. Diesen "Pass" erhielt man nur gegen die wöchentliche Bezahlung einer Gebühr und kein familiärer Notfall, kein Flehen einer Mutter oder Jammern eines Alten, der dringend Medikamente aus der Apotheke weiter oben benötigte, konnte einen der Wächter umstimmen. Jeans Antwort auf Versagen wäre ein Messer zwischen den Rippen. Er gab keine zweite Chance. Aber er gab Rabatt, wenn jemand für einen Monat oder ein Jahr im Voraus bezahlte.
Die Wächter taten, als würden sie sich über Jeans Erscheinen freuen, berichteten ihm von der Nacht und informierten, dass zwei weitere "Pässe" ausgestellt werden sollten. Jean legte einen Termin fest, wann sie sich mit den "Kunden" treffen würden, um das Geld in Empfang zu nehmen. Dann händigte er jedem von ihnen einen Kupferling aus und packte einen Bonus in Form einer mit Rahusti verfeinerten Rauchstange obendrauf. Jetzt freuten sie sich wirklich, Jean wurde umarmt, geklopft und dann ging er seiner Wege. Kleine Geschenke erhielten die Freundschaft. Er konnte auch nett sein, wenn ihm das nützte.
Ebene Null
Die Eisenleiter dröhnte bei jedem Schritt wie eine verstimmte Tempelglocke, dann betraten seine schweren Arbeiterstiefel die Grube. Hier unten stank es noch schlimmer als auf der eins. Genau so gut hätte er in eine Klärgrube steigen können. Er folgte ab jetzt einem anderen Weg als sonst, da er Nachricht von Gizmo erhalten hatte. Er traf den Penner mit dem pink gefärbten Hahnenkamm an dessen Schlafplatz, direkt neben dem Eingang des Alten Alfons. Aus einigen alten Seilrollen und Lumpen hatte er sich ein Nest gebaut, um die Nacht zu überstehen. Gizmo trug mit dreißig oder vierzig oder wie alt er auch sein mochte noch die selben Kleider, die er als Jugendlicher getragen hatte und entsprechend verschlossen sahen sie aus. Bei ihm war heute eine ganze Truppe zum Schlafen versammelt. Sie hatten Beute gemacht.
"Vier Räder, eine Kiste mit Klamotten und eine seidene Geldkatze mit so Blumen drauf", verkündete Gizmo stolz, ohne aus seinem Schlafsack aufzustehen. Beim Sprechen bildeten sich Dampfwolken vor seinem leichenblassen Gesicht. "Sie haben alles freiwillig rausgerückt, weil wir gesagt haben, sie können die Pferde behalten."
"Recht so", bestätigte Jean, der die Truhe öffnete. Mit Pferden konnte er nichts anfangen, mochte ein anderer sich daran bereichern. Ein anerkennender Pfiff kam zwischen seinen Zähnen hervor.
"Kommt noch besser." Gizmo grinste. "... haben gesagt, der Besitzer wäre reich. Hat Gold und ist hier in der Stadt. War im Besoffenen Quell. Tiefling ... reich mit Rüschenhemd."
"Ein Geldsack in dieser Bretterbude? Vermutlich ein Geizhals. Solche haben meist ihr Geld irgendwo versteckt, wo sie meinen, man findet es nicht. Das erklärt, warum diese Seidenkatze dort leer ist. Den holen wir uns. Aber vorher gehe ich mal unseren Alfons besuchen."
Jean betrat die Kneipe.
Er schaute sich kurz an, wer im Schankraum saß. Ihm fiel ein riesiger Tiefling ins Auge, der aber nicht der Gesuchte war, wie seine schäbige Aufmachung verriet, ansonsten war nichts anders als sonst. "Guten Morgen", rief Jean. Er grüßte die beiden Sicherheitsmänner, die den Laden bewachten und diese grüßten ihn artig zurück, seit er die Kinder des einen von einer Horde Straßenkinder mit Steinen hatte bewerfen lassen. Er marschierte durch die Kneipe, als würde sie ihm gehören und lehnte sich mit einem Ellbogen auf den Tresen. "Na, Alfons, mein alter Freund? Hast du was für mich?"
Der alte Mann mit der Halbglatze schüttelte den Kopf. "Keine Lieferung eingegangen. Winnie ist nicht aufgetaucht und ist laut den Jungs auch nirgends zu finden."
"Das ist nicht mein Problem", antwortete Jean freundlich. "Mich interessiert nur meine Ware. Wie du sie besorgst, ist deine Angelegenheit. Ich bin mit dir entgegengekommen, indem ich den Kaufpreis vorgestreckt habe, damit auch alles glatt geht."
"Ich gebe dir dein Geld zurück", versprach Alfons.
"Die Ware", wiederholte Jean nun sehr deutlich. "In zwei Tagen! Und ein Fass Wein als Schadensersatz. Jetzt. Nicht die gepanschte Plörre, die du hier ausschenkst, sondern aus deinem Privatvorrat."
Widerstrebend trollte Alfons sich durch die Hintertür.
Jean pfiff ein Lied, nahm einen tönernen Bierkrug, bediente sich am Zapfhahn des Weinfasses und setzte sich mit der vollen Maß zu dem Tiefling an den Tisch. "Morgen", grüßte er. "Du siehst aus, als ob du austeilen kannst. Und als ob du Geld gebrauchen könntest. Willst du dir ein paar Taler dazu verdienen? Eine alte Freundin und ein alter Schankwirt benötigen eine Erinnerung an mich, da sie leider nicht so oft an mich denken, wie mir das lieb wäre. Und ein Tieflingskollege würde sich bestimmt auch über deinen Besuch freuen."
Er schlürfte seinen Wein, der wirklich gut schmeckte, obwohl er Plörre war. Vermutlich war er nicht einmal gepanscht, aber es konnte Alfons nicht schaden, wenn man ihm das Geschäft nur so leicht machte, wie er es verdiente.