Führung durch die Ahnengalerie

  • Tazio führte seine Gemahlin, die Ducachessa Verrill, durch den Palazzo von Monleone. Sie hatten sich inzwischen als frisch vermähltes Paar und junge Eltern gut eingelebt. Nach der Entbindung hatte er seiner Frau ein wenig Ruhe gegönnt, doch nun war er der Meinung, dass es an der Zeit war, sie langsam wieder in ihre Rolle als Ducachessa zu führen. Sie wollte das Land, das sie an seiner Seite mit regierte, gern kennenlernen und dazu gehörte auch seine Geschichte.


    »Die Geschichte Ledvicos ist auch die Geschichte der gleichnamigen Regentenfamilie. Sie sind nicht nur dem Namen nach eins, sondern ihre Geschicke sind untrennbar miteinander verwoben. Dies nun ist die Ahnengalerie unserer Familie.«


    Tazio führte Verrill einen langen Gang entlang, der dank eines Glasdaches gut ausgeleuchtet war. An beiden Seiten hingen Gemälde, doch nicht nur Kunstwerke, sondern auch gerahmte Laienzeichnungen und sogar Reliefstücke.



    Ein Wort im Vorfeld


    »Wundere dich nicht darüber, dass manch einer nicht standesgemäß bis zum Hals verhüllt ist, ein freier Oberkörper hat in dem Falle nichts mit Obszönität zu tun, sondern war früher Standard und ist auch heute bisweile eine Reminiszenz an die Zeit vor der Einführung des Webstuhls, als wir noch Schilfröcke trugen. Auch danach war der Oberkörper beim Mann noch einige Jahre unverhüllt, wenn die Witterung das zuließ. Ein Ledvigianio, der sich heute so darstellen lässt, zeigt, dass er sich den alten Traditionen besonders verbunden fühlt.


    Die Ahnengalerie ist nicht vollständig«, erklärte Tazio, während sie ganz nach hinten schritten, »denn während der Ära des Chaos wurden die Schätze des ledwicker Adels von den Rakshanern geplündert. Damals war unsere Hauptstadt noch Sicomoro auf dem Festland, hölzerne Häuser am Knotenpunkt aller Wasserstraßen.«


    Er wies auf ein Gemälde, welches Sicomoro zeigte, wie es heute aussah, eine Stadt im Sumpf, in der Holzhäuser mit Reetdächern dominierten, die auf Stelzen standen:
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    »Dort lag früher auch der Palazzo samt alter Ahnengalerie. Wegen der anhaltenden Plünderungen kamen die Ledvigiani auf die Idee, eine neue Hauptstadt draußen im Meer zu errichten, auf Stelzen auf einer Sandbank, um sie vor den Rakshanern zu schützen. Für die alte Ahnengalerie kam diese Idee leider zu spät und ich mache mir nicht die Hoffnung, dass die Wüstensöhne mit den Gemälden etwas anderes anzufangen wussten, als sie zu zerstören. Sie werden nicht wieder auftauchen, sie sind verloren, bis auf eines, das gerettet werden konnte: Das Älteste.«



    Lazzaro Fedele di Ledvico


    Tazio blieb am Ende des Ganges stehen. Die Stirnseite zierte ein Altar, den sie jedoch im Moment nicht beachteten. Sie blickten stattdessen hinauf zu dem Gemälde auf der rechten Seite, das wie die anderen in einen weißen Rahmen aus sorgsam ineinandergefügten Walbeinstücken gefasst worden war. Schwarze Korallenäste bildeten eine natürliche Verzierung. Es war die selbe seltene Korallenart, die heute auch die Krone des Duca zierte.


    »Wann es gemalt wurde und von wem, ist nicht mehr bekannt. Das Portrait zeigt den Begründer unserer Linie, Lazzaro Fedele di Ledvico, wie er, tropfend nass von der langen Reise durch den Ozean, am Strand das weiße Fell des Leone di Marino ablegt, in dem er durch den Dhunico geschwommen war. Lazzaro ist wohl der berühmteste Ledvigiano, der je gelebt hat und jener, von dem auch heute noch die meisten Kunstwerke angefertigt werden. Obgleich seine Geschichte sich mit der Legende verwob, ist sicher verbürgt, dass es ihn gab.
    Schau ihn dir an. Auf allen Gemälden ist sein Haar schlohweiß wie das Fell, das er gerade ablegt und seine Augen sind hellblau mit einem rosa Strahlenkranz um die Pupille. Manchmal werden sie auch komplett rosa dargestellt mit einer roten Pupille. So sehen die Augen eines Albinos aus, wenn das Sonnenlicht in einem bestimmten Winkel darauf trifft. Diese präzisen Darstellungen lassen vermuten, dass Lazzarro tatsächlich ein Albino gewesen ist. Es gibt Hinweise darauf, dass er schlecht sehen konnte, was er jedoch geschickt kaschierte, indem er sich von seinem Leibdiener alle Briefe vorlesen ließ und die Antworten diktierte. Ein vornehmer Stock diente ihm als Orientierungshilfe beim Gehen und da man den wahren Zweck nicht kannte, wurde er bald in Adelskreisen ein beliebtes Modeaccessoire.«



    Die Männer mit den Schilfkronen


    »Lazzaro lebte lange bevor das nächste Gemälde datiert ist. Vielleicht um 300 vor der Asche, als ganz Almanien seinen Anfang nahm und auch Ledvico das erste Mal in den Chroniken Erwähnung findet. Leider ist aus dieser Zeit wenig mehr überliefert, als dass die frühen Ledvigiani Kronen aus Schilfblättern trugen, sich in Schilf kleideten und auch ihre Hütten und Boote aus Schilf bauten. Sie ernährten sich sogar von seinen Wurzeln, das ganze Leben wurde ihnen geschenkt von dieser nützlichen Pflanze und vielleicht lag es am Schilf, dass die Ledvigiani die Küste nie verließen.«


    Tazio verwies auf die linke Wandseite des Ganges. Verrill konnte sehen, dass gegenüber von jedem Duca Gemälde, Zeichnungen oder Reliefs aus seiner Epoche zu sehen waren. So wusste man auch ohne Fachkenntnis den historischen Rahmen ungefähr einzuordnen. Gegenüber von Lazzaro Fedele sah sie folgende Bilder von frühen Ledvigiani, die Schilfkronen trugen:


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    »Mit dem Niedergang des Chaos ab 54 vor der Asche und der Gründung von Monleone konnte die Ahnengalerie der ledwicker Großherzöge endlich würdig fortgesetzt werden. Leider ist nicht datiert, wann Lazzaro Fedele gelebt hatte, denn die erste präzise Überlieferung eines Duca stammt aus der Zeit um das Jahr Null herum. Ab hier ist die Überlieferung nahezu lückenlos.



    Sirio Vigil di Ledvico


    Dieser Mann, der fälschlich oft als erster Duca bezeichnet wird, weil manche Lazzaro für eine bloße Sagengestalt halten, war Sirio Vigil di Ledvico. Im Gegensatz zu seinem Vorfahren ist über ihn viel bekannt. Entscheidend ist für das, was ich dir heute zeigen möchte, sein Aussehen: Rabenschwarzes Haar und karamellbraune Augen. Und sieh mal, er trug damals noch eine gefärbte Schilfkrone und einen Bart.«


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    »Wer der Mann rechts neben Sirio ist, darüber kann man nur spekulieren, aber er stand ihm nahe, sonst wäre er nicht an seiner Seite abgebildet worden. Vermutlich ist er der Stammvater einer Familie, die sich später mit unserer Linie kreuzte, aber dazu gleich mehr. Die übrigen Männer tragen eine andere Tracht, es sind womöglich Verbündete aus den anderen Großherzogtümern, wie sie damals aussahen.«



    Ferdinando Ciprian di Ledvico


    Sie gingen ein paar Schritte weiter an der Wand entlang.


    »Das nächste Gemälde zeigt Sirios Sohn, Ferdinando Ciprian di Ledvico: Auch er hat schwarzes Haar und braune Augen.


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    Und hier, dessen Sohn, Narciso Zenon di Ledvico: Haar so schwarz wie Teer, Augen wie brauner Bernstein.
    Das waren früher sehr stabile Merkmale, die Ledvigiani auf den Gemälden dieser Zeit werden in der Regel so dargestellt, nicht nur die Krone. Das änderte sich erst mit dem Abkommen von Kaisho, als die almanischen Großherzogtümer sich einander annäherten und es häufig zu Vermischungen kam. Braunes und dunkelblondes Haar wurden in Ledvico häufiger, scheinbar war schwarzes Haar leicht zu verdrängen, wenn eine Linie nicht rein blieb, genau wie das Weißblond der Souvagner, das in ihrer Heimat eine Seltenheit wurde. Nach wie vor gilt schwarzes Haar mit braunen Augen als Zeichen dafür, einer sehr alten und reinen ledwicker Familie anzugehören. Schauen wir uns unsere Nachbarn an, die Großherzöge Souvagnes waren und sind nach wie vor weißblond - reines Blut.


    Nun sieh mich an, die heutige Krone von Ledvico. Das Rabenhaar meiner Vorväter ist verblasst und das Bernsteinfeuer unserer Augen ist erloschen. Wie konnte das geschehen, wo unsere Linie laut dem Stammbuch doch genau so rein blieb wie die der Souvagnes und sich nur mit dem besten Blut des Hochadels kreuzte?



    Narciso Zenon di Ledvico


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    Kehren wir gedanklich noch einmal zurück zu Narciso und schauen wir uns seine Frau Viatrix di Ledvico einmal an: Sie sieht aus, wie ein jüngeres, weibliches Ebenbild ihres Mannes, schwarzhaarig, braunäugig, was unter anderem daran liegt, dass sie seine Tochter ist. Du darfst nun gern mit dem Finger auf Narciso zeigen und Inzucht schreien, das haben viele getan, auch seine eigenen Verwandten und ich denke, diese harte Verurteilung kam ihm entgegen, war vielleicht sogar erwünscht. Denn Narciso war nicht so dumm und verdorben, wie es auf den ersten Blick wirkt. Werfen wir einen zweiten, tieferen Blick auf seine und damit unsere Familie.


    Narciso hat sein Leben lang nur Töchter gezeugt, der Alptraum eines jeden Regenten, fast noch schlimmer als Kinderlosigkeit, galt es doch als Beweis eines verweiblichten Samens und somit der eigenen Verweiblichung. Nicht zuletzt fehlte der Thronerbe! Eine dieser vielen Töchter wurde schließlich seine Frau. Man möchte so gern auf Narciso schimpfen, dass er sein eigenes Kind ehelichte, ein Unding selbst in den inzuchtaffinsten Adelskreisen, doch noch viel interessanter wird es, wenn man sich den Sohn anschaut, der aus dieser verbotenen Ehe hervorging.«
    Sie gingen ein Gemälde weiter.



    Vigil Ambrosio di Ledvico


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    »Sieh ihn dir genau an. Vigil Ambrosio war aschblond - es ist gemäß der Vererbungslehre tatsächlich kein Braun, sondern sehr dunkles Blond - und hatte grünliche Augen, wie du auf dem Gemälde siehst. Kommt dir das bekannt vor? Das Ganze mutet merkwürdig an. Müsste sich nicht gerade dann, wenn zwei reinblütige Ledvicos sich miteinander paaren, das Hauptmerkmal der Familie durchsetzen? Die Antwort liegt auf der Hand: Vigil war ein Bastard und Narciso war nicht der Perversling, für den man ihn halten möchte. Er hat seine Tochter nicht geschwängert, sondern geschickt für den Erhalt seiner Linie gesorgt und dafür Schmähungen und Verurteilungen in Kauf genommen. Sie lenkten von der peinlichen Wahrheit ab. Da er selbst inzwischen zu alt war, um noch Hoffnung auf einen leiblichen Sohn hegen zu können, sicherte er die Herrschaft seiner Familie durch die weibliche Linie seiner Lieblingstochter. Er nahm sie zur Frau, ließ einen anderen Mann die Hochzeitsnacht mit ihr abhalten und erklärte das Kind kurzerhand zu seinem eigenen Sohn. Ich stamme über diesen kleinen Umweg also tatsächlich von Narciso und somit Lazzaro ab, allerdings nicht ausschließlich der männlichen Linie, sondern auch der weiblichen.«
    Tazios Blick wurde ernst.



    Nikita von Wigberg


    »Der Mann, der den Thronfolger für Narciso zeugte, war niemand anderes als sein Berater und Freund Nikita von Wigberg, der darum leider auch hier auftauchen muss.


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    Diese Familie begleitet uns nachweislich seit dem Jahr zwei und nun ahnst du auch, wer der Mann auf dem Gemälde neben Sirio war: Ein früher Wigberg, frisch aus den Aschelanden geflohen, aus dem Meer gefischt und als Sklave gedacht. Auf dem Bild jedoch wird er als einer der unseren dargestellt, gewandet in ledwicker Tracht und eine Schilfkrone auf dem Haupt. Wie er es geschafft hat, sich an die Seite von Sirio zu mogeln, ist eine andere Geschichte, bleiben wir vorerst bei Sirios Urenkel Vigil.


    So wie das Blut der Wigbergs unser schönes Schwarz zu schmutzigem Blond verblassen ließ und unsere klaren Bernsteinaugen mit Moosgrün überzog, so verdrängte die starke Seele der Ledvicos ihrerseits die Spinnenseele der Wigbergs. Vigil Ambrosio mochte aussehen wie ein Wigberg, aber was sein Denken und Fühlen anging, war er ein waschechter Ledvigiano. Vigil wusste genau, wer ihn gezeugt hatte, doch anstelle von Verbundenheit verspürte er ein Gefühl tiefen Abscheus gegen sein verunreinigtes Blut. Nach seiner Thronbesteigung war er nicht die Marionette der Wigbergs, so wie Nikita es sich vermutlich vorgestellt hatte. Als Nikita ihn mit seinem Rat allzu sehr bedrängte, entledigte Vigil sich des Problems und zwang den Mann, der ihn gezeugt hatte und der doch nicht sein Vater war, zum Selbstmord.



    Die Flucht der Wigbergs aus Ledwick


    Zeit seines Lebens verabscheute Vigil sich dafür, ein halber Wigberg zu sein und jagte den Rest dieser Familie aus dem Land. Die Wigbergs wagten nicht, in eines der mit Ledvico verbündeten Großherzogtümer zu ziehen. Sie verließen Almanien ganz und flohen bis nach Naridien, auch der souvagnische Zweig der Familie, der den Orden des Stählernen Lotos geleitet hatte, schloss sich dieser Massenflucht an. Erst mit Kieran von Wigberg wagten sie erneut, einen Fuß in almanisches Land zu setzen.


    Ich bin mit den Wigbergs verwandt, genau gesagt bin ich ein sechzehntel Wigberg. Doch kann ich dieser Familie nur mit dem selben Misstrauen begegnen wie mein Urgroßvater Vigil. Was genau Nikitas Nachfahren nach ihrer Rückkehr bis heute in Souvagne trieben, vermag ich nicht zu sagen, aber es war sicher nichts Gutes.«