Anschlag auf die Krone - 170 n.d.A.

  • Anschlag auf die Krone
    Die Kutsche
    Frühwinter. Zweiter Tag des Jägermondes 170 Jahre nach der Asche.


    Ein grauer Regenschleier zog über das Land. Der Nachtfrost hatte die Straße so stark ausgekühlt, dass die Tropfen darauf gefroren. Hier und da bildeten sie eine Eiskruste, doch Duc Alain Etienne de Souvagne hatte darauf bestanden, die geplante Reise mit seinem Sohn durchzuführen. Palaisin Cloridan Simon war darüber wenig erfreut, aber es stand ihm nicht zu, die Entscheidungen seiner Majestät infrage zu stellen.
    Sein Schlachtross, schwarz mit weißer Mähne, setzte die beschlagenen Hufen vorsichtig. Schwerer hatten es die beiden Tiere, welche das Gefährt ziehen mussten, denen die sperrige Last keine Möglichkeit gab, schwierige Stellen zu umgehen. So kamen sie nur langsam voran. An einer besonders vereisten Stelle ließ der Kutscher halten und stieg ab, um sich die Straße genauer anzusehen.
    Prince Bernard Pomeroy, der Kronprince, ließ sich die Tür öffnen, um ebenfalls nachzuschauen. »Wie schätzen Sie die Straße ein, Emile?«
    »Ein Erdrutsch hat die Straße an einer Seite etwas absacken lassen. Man sieht es kaum, wenn man nicht genau hinsieht, aber das bereitet den Pferden bei diesem Wetter Probleme, weil die Kutsche immer nach links driftet. Ich empfehle, umzukehren und besseres Wetter abzuwarten.«
    »Die Rakshaner warten auch nicht auf besseres Wetter. Dass vor zwei Jahren die Himmelsaugen und ein Teil der Truppen von der Grenze abgezogen wurden, haben sie sofort bemerkt. Die Posten, welche von den Agenten besetzt gewesen waren, konnten nicht leer bleiben und nun fehlen die Männer an anderen Stellen.«
    »Aber genügen denn nicht die Berichte Eurer Boten?«, fragte Emile vorsichtig.
    »Sie fallen widersprüchlich aus. Bislang schien alles ruhig. Gestern aber erreichte uns ein Eilbote. Nach seinen Worten ist an der Grenze ein Chaos ausgebrochen, mit dem die Chevaliers de Dupont allein nicht fertig werden. Wir müssen uns vor Ort ein Bild von der Lage machen, um besser einschätzen zu können, welche Art der Unterstützung notwendig ist, um die Sicherheit der Bevölkerung in dieser Region zu gewährleisten. Fahren Sie langsam, aber fahren Sie.«
    Der Kutscher warf dem Palaisin einen hilfesuchenden Blick zu, doch dessen hageres Gesicht blieb ausdruckslos. Der Befehl des Prince war eindeutig gewesen. Prince Bernard Pomeroy, hinter vorgehaltener Hand auch liebevoll Prince Pomi genannt, war ein Mann der Tat und sein Vater sah keinen Anlass, ihn auszubremsen. Pomeroy war längst erwachsen und Alain nicht mehr jung. Der Tag, an dem sein Vater nicht mehr da sein würde, um ihm beratend zur Seite zu stehen, würde nicht ewig auf sich warten lassen. So zog der Duc es vor, die Entscheidungen seines Sohnes grundsätzlich zu billigen, damit er die Folgen seines Handelns zu den Lebzeiten seines Vaters zu spüren bekam, wenn dieser ihm noch helfen konnte. Was Cloridan Simon betraf, so gefiel ihm das Feuer im Herzen des Prince. Pomi war vielleicht noch etwas übermütig, aber das war seiner Jugend zu verdanken. In sich ruhende Weisheit würden die Jahre und die Erfahrung ganz von selbst bringen.
    Und so kämpfte die Kutsche sich weiter ihren Weg. Die schwierigste Stelle würde die Brücke über die Nebelklamm sein, aber sie hatte zu beiden Seiten ein Geländer und der Kutscher war zwar ein Feigling, aber er verstand sein Handwerk. Cloridan vertraute ihm. Die Herrschaften wählten ihr Personal mit Bedacht und wenn sie über sein Gejammer hinwegsehen konnten, konnte er das auch. Es war alles gut.
    Der Wind fauchte durch die schmale Schlucht und schleuderte ihnen Nebelschwaden und Regentropfen entgegen. Er hätte sich eine lange Unterhose anziehen sollen und seine Männer, die einen langen Reitertross bildeten, wirkten auch nicht glücklich. Wie die meisten Brücken war auch diese hier zur Mitte hin leicht gekrümmt. Erst ging es hinauf und nach dem Zenit wieder hinab. Der Palaisin glaubte, dass das mit der Stabilität zu tun hatte oder vielleicht sollte auch das Regenwasser einfach besser abfließen.
    »Ich beschleunige etwas«, rief der Kutscher, »damit wir nicht zurückrutschen bei dem glatten Grund. Auf der anderen Seite ist die Straße gut, so dass wir in aller Ruhe wieder abbremsen können.«
    »Alles klar«, brüllte der Palaisin zurück. »Wir halten Abstand. Dann kannst du in Ruhe dein Manöver ausführen.«
    »In acht Kilometern machen wir Rast, da wartet das Gasthaus zum Schwarzen Tann auf uns! Der Wirt stammt aus der Hohen Mark und hat das Schwarzbier seiner Heimat nach Souvagne gebracht. Heißes Schwarzbier mit Honig, das wärmt die kältesten Knochen durch!«
    »Dann werde ich es probieren. Mal schauen, was er zu Essen für uns hat, mir wäre nach Auerhahn zumute. Ich hoffe ja mal, er wurde informiert, dass die Krone anrückt.«
    »Aber ob er innerhalb eines Tages alles gebührend vorbereiten konnte?«
    »Wenn nicht, mache ich ihm Beine«, lachte Cloridan. »Obacht jetzt. Ich lasse mich zurückfallen. Wir reden weiter, wenn wir die Brücke überquert haben.« Er verlangsamte seinen Hengst und gab den Leibgardisten den Befehl, Abstand zu halten, bis die Kutsche die Nebelklamm überquert hätte. Emile ließ die Pferde beschleunigen, um Schwung zu holen. Als es hinaufging, versperrte eine vorbeiziehende Nebelschwade einen Moment die Sicht. Kaum war die Kutsche wieder zu sehen, stand wie aus dem Nichts ein Junge mitten auf der Brücke. Eine nasse Kapuze bedeckte sein Haar, ein dicker Schal schützte Nase und Mund vor dem beißenden Wind. Die beschleunigte Kutsche raste genau auf ihn zu. Der Junge riss die Augen auf und stieß einen schrillen Angstschrei aus, der in der Klamm widerhallte. Der Kutscher zog die Bremsen an. In dem Moment krachte das gefederte Oberteil hinab aufs Fahrgestell. Die Kutsche kam ins Schleudern, schlingerte wild und durchschlug mit der hinteren Ecke das Brückengeländer. Sie rutschte nach hinten, ein Rad hing über der Schlucht. Dann blieb sie in dieser Position. Einen Moment stand die Zeit still. Die Gardisten waren erstarrt, genau wie der Junge. Die Kutsche hing genau auf der Kante. Langsam drehte sich das Rad in der Luft.
    Der Kutscher saß wie festgefroren und wagte nicht, sich zu rühren. Die kleinste Veränderung konnte das Ganze zum Kippen bringen.
    »Bitte verhaltet Euch da hinten ruhig, Herrschaften«, sagte Emile mit zitternder Stimme.
    Cloridan stieg ab, warf einem Kameraden die Zügel zu und ging in Richtung der Tiere. »Ich nähere mich ganz ruhig den Pferden«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Das eine saß auf dem Hinterteil und versuchte, sich wieder aufzurichten. »Hoooo«, brummte Cloridan, als er die Brücke von hinten betrat. »Ho, mein Freund. Gemeinsam schaffen wir das.«
    Der Junge stand noch immer auf der Brücke, genau vor den Pferden. Er hätte ihre schnaubenden Mäuler mit der Hand berühren können. Das war knapp für ihn gewesen.
    »Verhalte dich ganz ruhig«, sagte Cloridan zu ihm. Die Nüstern der Pferde zitterten bei jedem Atemzug.
    Da riss der Junge beide Arme in die Luft und begann wie von Sinnen zu Kreischen. Er hörte gar nicht mehr damit auf. Das stehende Pferd schleuderte mit dem Kopf. Die Kutsche rutschte ein Stück weiter in Richtung Abgrund, als es sich in seinem Geschirr aufbäumte.
    »Halt die verdammte Schnauze«, brüllte Cloridan den Jungen an, doch als wäre dieser nicht bei Verstand, schlug er zu seinem Kreischen auch noch raumgreifend um sich. Die verletzten Tiere tobten. Cloridan hob einen Finger, das Signal für die Männer hinter ihm. Einer der Leibgardisten hob die Armbrust und zielte. Dann zog der Palaisin den Finger nach vorn. Das Leben der Krone hatte oberste Priorität, das würde er nicht von einem panischen Jüngling in Gefahr bringen lassen. Der Bolzen zischte durch die Luft. In dem Moment bäumte sich auch das zweite Pferd auf und geriet in die Schussbahn. Der Bolzen durchschlug seinen Unterkiefer. Beide Pferde gerieten in heillose Panik, ein schreckliches Knarren und Schleifen, dann riss ein brutaler Ruck beide Tiere nach hinten. Ihre Hinterbeine knickten in abnormen Winkeln ab, als sie über die Kante der Brücke gerissen wurden.
    Fassungslos sah Cloridan der fallenden Kutsche nach. Emile segelte neben dem Gefährt mit ausgebreiteten Armen und Beinen durch die Luft. Der Aufprall zerfetzte die Kutsche, die Tiere und die Menschen zu einem Haufen aus Holz, Metall und blutigem Fleisch.
    Der Junge rannte schleunigst davon, zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. »Fünf Mann nehmen die Verfolgung auf«, brüllte Cloridan. »Girad und Delandier, ihr reitet zurück nach Beaufort, holt Hilfe! Der Rest sucht mit mir einen Abstieg!«
    Als sie endlich einen Weg hinab gefunden hatten, konnten sie nur noch feststellen, dass jede Hilfe vergebens war. Sein linker Unterschenkel war nirgends zu sehen. Der Fluss um ihn herum führte rotes Wasser. Noch schrecklicher war der Anblick dessen, was in der Kutsche war. Cloridan vermochte nicht zu erkennen, welche der blutigen Bestandteile zu Duc Alain Etienne und welche zu seinem Sohn Bernard Pomeroy gehörten. Da lagen sie nun, die Krone des Landes und der Thronfolger. Von einem Augenblick auf den anderen waren drei Menschen nichts anderes mehr als Fleisch. Cloridan rieb sich den Nasenrücken.
    »Magistral«, sagte er heiser. »Wo bleiben die fünf Männer, die den Jungen jagen sollten?«
    Das oberste Himmelsauge stand mit gesenktem Kopf an der Unfallstelle. Sein Adler kehrte gerade zurück und landete auf der mit Leder gepanzerte Schulter. »Sie sind soeben umgekehrt. Tulipe hat den Burschen bei all dem Nebel verloren und die Männer vermutlich in die völlig falsche Richtung geführt.«
    »Ich will, dass der Mistkerl für das Geschrei bezahlt«, fauchte Cloridan. »Ich gebe der kleinen Pestbeule einen Grund zum Schreien, wenn ich ihn in die Finger bekomme!«
    »Er ist nur ein Kind«, sprach Parcival ruhig.
    »Das war kein sechsjähriger, der nicht weiß, was er tut.«
    Parcival sah ihn von der Seite an. »Wollt Ihr dem Jungen unterstellen? Ihr habt doch gesehen, dass die Kutsche genau auf ihn gerast ist. Durch den Nebel hat er sie so wenig gesehen, wie der Kutscher ihn.«
    »Möglich«, gab Cloridan widerwillig zu.
    Als die gerufene Delegation aus Beaufort kam, half der Palaisin eigenhändig, die Trümmer beiseite zu räumen. Niemand sprach, man hörte nur das Heulen des Windes und das Rumpeln, wenn die zerschmetterten Holzplanken zur Seite geräumt wurden. Als Cloridan die mechanischen Teile in den Händen hielt, wurde er stutzig.
    »Magistral«, sagte er leise. Parcival de Coubertin gesellte sich zu ihm.
    »Ja?«
    »Seht Euch das an. Das ist doch ein ganz glatter Schnitt. Die Aufhängung der Kutsche wurde manipuliert.« Gedankenverloren ließ er nun auch die Bestandteile der Bremsen durch seine Finger gleiten. »Wenn man stark an der Bremse riss, zum Beispiel bei einer Vollbremsung, dann löste sich die Aufhängung. Nicht nur, dass die Bremse ihren Dienst versagte, die Kutsche geriet auch noch in eine instabile Lage. Zwei Dinge, die sie außer Kontrolle geraten ließen.«
    Parcival senkte die Stimme zu einem Raunen. »Und das genau auf der Brücke über die Nebelklamm.«
    »Richtig«, flüsterte Cloridan. »Bei den Rakshanern war alles ruhig, aber plötzlich sind sie angeblich außer Rand und Band. Uns erreicht ein Eilbote, kurz vor dem jahresüblichen Wetterumschwung zum Jägermond. Und an der kritischsten Stelle der Reise taucht unvermittelt dieser kleine Schreihals aus dem Nichts auf, der mitten auf der Brücke eine Vollbremsung auslöst. Die Bremsen versagen, die Aufhängung löst sich und das Unheil nimmt seinen Lauf.«
    Parcival schwieg eine Weile. »Ich werde die Trümmer durch einen Ingenieur und einen Magier untersuchen lassen. Sprechen Sie bis dahin mit niemandem darüber. Wenn das hier kein Zufall war, wird ein Täter ansonsten vielleicht gewarnt.«
    »Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Magistral. Denkt daran, die Jagd nach dem Jungen fortzusetzen. Wenn die Indizien für unseren Verdacht sich erhärten, ist er der Schlüssel, um an den Drahtzieher zu gelangen.«
    »Ich werde mich um alles kümmern, Palaisin. Für heute machen Sie Feierabend. Gönnen Sie sich einen heißen Zuber im Fontaine de Jouvence. Sie waren sechsunddreißig Stunden dieser Witterung ausgesetzt und mussten den Tod der Herrschaften mit ansehen.«
    »Und den Tod von Emile. Er war eine elende Memme, aber ein guter Kerl. Das Badehaus ist eine gute Idee. Ich frage mich, wie Prince Maximilien die Nachricht aufgefasst hat. Meine Güte, mit siebzehn auf dem Thron, ohne Vater, ohne Onkel, ohne Bruder an der Seite, die ihn beraten könnten. Er war nicht mal Kronprince, das war Pomi. Dass er je den Thron aus dieser Perspektive sehen würde, damit hat Maximilien sicher nicht gerechnet.«
    »Sicher hat er das nicht.« Parcival rieb seinen braunen Schnurrbart. »Es sei denn ...«
    »Magistral«, fuhr Cloridan dazwischen. »Was immer Ihr gerade denkt, behaltet es für Euch! «
    »Merkwürdig ist das Ganze schließlich schon. Ich werde in alle Richtungen ermitteln. Und nun ab mit Ihnen ins heiße Wasser.«

  • Fontaine de Jouvence


    Es dauerte noch einige Stunden, ehe Cloridan sich endlich ins duftende Bad gleiten lassen konnte. Er hatte einen Badezusatz mit Apfelduft bestellt, etwas, das ihn bessere Zeiten zurückversetzte, wenn er die Augen schloss. Rosa schimmerte die Wasseroberfläche, aus der seine Knie wie Inseln herausschauten. Die zahlreichen Apfelblüten kreiselten, wenn er sich bewegte. Sie waren im Frühling so getrocknet worden, dass sie sich nach dem Wässern wieder vollständig entfalteten und aussahen, als wären sie frisch. Ein Hauch von Frühling in diesem trostlosen Winter.
    Die Bedienung legte ein Brett quer über seinen Zuber und machte sich daran, eine Flasche süßen Apfelwein zu entkorken. Grummelig beobachtete Cloridan den jungen Mann, der die Kleidung eines Lehrlings trug, ein hellblaues, halbtransparentes Tuch um die Hüfte. Das Personal war generell leicht bekleidet und wenn man wusste, auf welche Weise man danach fragen musste, bekam man auch andere Dienste serviert. Aber das, was Cloridan sah, war nicht nach seinem Geschmack.
    »Ich hatte weibliche Bedienung geordert«, grollte er. »Mein Tag war lang und beschissen und ich habe keinen Nerv für so was.«
    »Ich bitte um Verzeihung«, sprach der Jüngling. »Mir wurde es so aufgetragen, ich wollte Euch nicht zu nahe treten, mein Herr. Gestattet Ihr, dass ich Euch den Wein einschenke, bevor ich die Sache richtigstellen gehe?«
    Mürrisch schnaubte Cloridan. »Meinetwegen. Und dann schick Juliette hierher, wie ich es verlangt habe.«
    »Selbstverständlich, ganz wie es Euer Wunsch ist.«
    Der Bursche füllte das Glas zu einem Drittel und schob es mit den Fingern auf dem Brett zurecht. Nachdem er zufrieden war mit seinem Arrangement, ging er von dannen.
    Der Palaisin sah ihm schlecht gelaunt nach. Der Kerl hatte sich Mühe gegeben, hatte aber den Charme eines Kieselsteins und einen flachen Hintern. Cloridan war im Fontaine de Jouvence Besseres gewohnt. Heute ging alles schief, ganz so, als würde man sogar seinen Besuch im Badehaus sabotieren. Er hob das Glas an die Lippen und trank es in einem Zug leer. Angewidert verzog er die Lippen. »Scheiß Tag«, knurrte er.
    Cloridan stellte das leere Glas wieder ab und lehnte sich zurück, auf das Nahen von Juliettes ausladenden Hüften wartend, die ihm mit kunstfertigen Händen die Verspannungen herausmassieren würde. Allein bei dem Gedanken an sie fühlte er sich schon viel entspannter. Seine Muskeln wurden weich und er rutschte etwas tiefer in den Zuber. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Arme über den Rand zu legen. Er war für heute wirklich erledigt. Die Lider wurden ihm schwer. Juliette würde mit ihm heute nicht viel Arbeit haben.
    Zu seinem großen Ärger kam nach einer Weile schon wieder der Bursche von gerade eben in sein Blickfeld. Wer hatte diese Lustbremse nur eingestellt? Er hatte keinerlei Reiz, eine graue Maus mit straßenköterblondem Haar und nichtssagenden Augen. Er gab sich nicht einmal Mühe, anziehend zu wirken, kein verheißungsvolles Lächeln, kein Hüftschwung, nichts. Auch die anderen Gäste fanden ihn offenbar langweilig. Nicht einmal jene, von denen Cloridan wusste, dass sie nach jungen Männern schauten, fanden an ihm Gefallen. Niemand sah ihm nach, der Bursche ging völlig unter. Für jeden Geschmack war etwas dabei, aber welchen Geschmack sollte er bitteschön bedienen?
    Der junge Mann stand vor seinem Zuber, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Hat Euch der Wein gemundet?«
    Was für ein aufdringlicher Kerl! Cloridan wollte antworten, dass er sich verziehen sollte. Doch als er den Mund aufmachen wollte, geschah das nicht. Er versuchte es noch einmal und schaffte es, ihn mühsam einen Spalt weit zu öffnen. Speichel rann sein Kinn hinab und tropfte ins Wasser. Die Zunge lag in seinem Mund wie abgestorben.
    »Sieht ganz so aus«, antwortete der junge Mann sich die Frage selbst. Seine Lippen zogen sich das erste Mal zu so etwas wie einem Lächeln auseinander, so kalt, dass es Cloridan durch Mark und Bein ging.
    Kalt ... Kälte ... Frost ... die Brücke! Das war der Junge von der Brücke!
    Cloridan wurde schwindlig, die Nebelbänke aus seiner Erinnerung wurden zu einem Fluss bunter Farben. Seine Gedanken verloren an Schärfe, genau wie seine Sehkraft. Ungläubig starrte er den Jüngling an, um dessen Haupt die Farben wirbelten. Der Blick des Palaisin erstarrte, als ihm auch die Muskeln der Lider und Augäpfel versagten. Dann hörten seine Lungen auf, zu funktionieren.