[Götter-RPG] Rakshors Besuch bei seinem alten Freund Noldil

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    Etwas verstimmt war Rakshor, während er das nächtliche Obenza erkundete. Dal hatte ihn versetzt. Etwas, das er nicht gewohnt war und noch weniger mochte. Als Rakshaner war er zwar selber nicht gerade die Pünktlichkeit in Person, aber seit seinem Amtsantritt als Feldherr hatte man ihn selten warten und noch seltener einfach sitzen gelassen. So viel Ärger nur wegen eines dummen kleinen Kartenspiels! Er hatte ihr dennoch einen Schmutzgeier geschickt, an dessen Bein sich ein Brief befand. Andere Leute versendeten Brieftauben oder Falken, aber als jemand, der den Beinamen Verschlinger trug, bevorzugte Rakshor einen Aasfresser.


    Die Nacht war schön und viel Volk war auf den Straßen unterwegs. Truppen von Nachtwächtern mit Hellebarden und Laternen sorgten für die Sicherheit der Bürger, so dass Rakshor nicht ein einziges Mal von Dieben oder anderem Gesocks behelligt wurde. Doch eine Hure missverstand wohl seine spärliche Bekleidung und begleitete ihn, obwohl er ihr schon mehrfach versichert hatte, kein Geld bei sich zu tragen. Er war zu höflich um ihr mitzuteilen, dass er es obendrein nicht nötig hatte, für Beischlaf zu bezahlen. Schon gar nicht mit Geld, der metallgewordenen Pest Asamuras! Dals Unrat, den sie über das Antlitz der Welt verteilt hatte! Die Dame hakte sich bei ihm ein und versuchte, ihn in eine bestimmte Richtung zu führen.


    "Noldils Sündentempel bietet Freuden für jeden Geschmack", säuselte sie. "Neben einer Taverne mit hausgebrautem Bier und einer Arena gibt es in den oberen Etagen ein Freudenhaus. Alles sehr gepflegt, die Betten frisch, alle Damen gewaschen und mit guten Zähnen. Es gibt eine Saunalandschaft, ein Schwimmbecken unter freiem Himmel, von dem aus man die Sterne betrachten kann, um sich nach der Hitze der Leidenschaft wieder zu erfrischen. Und ihr werdet ins Schwitzen kommen, dafür bürgt der Tempel mit Noldils gutem Namen!"
    "Noldis Sündentempel", sinnierte Rakshor. "Wer hat sich denn diesen Namen ausgedacht? Etwas größenwahnsinnig."
    "Wer den Tempel betreibt, weiß niemand. Das Gebäude stand eines Tages plötzlich da, als sei es aus dem Erdboden gewachsen."


    Nun hatte die Dame es doch geschafft, Rakshors Interesse zu wecken. Er ließ sich von ihr zu dem imposanten Gebäudekomplex führen, der sich etwas außerhalb der Stadt im Wald erhob. Tempel? Das war ein Schloss! Eine frisch gepflasterte Straße aus rosa Marmor führte von Obenza aus quer durch den Wald dorthin, hell beleuchtet von kunstvoll geformten Öllaternen. Rakshor legte missbilligend die Stirn in Falten ob solcher Dekadenz. Als ob nicht auch ein simpler Trampelpfad genügt hätte und ein Gebäude aus Natursteinen, wenn es schon ein festes Haus sein musste! Ein Festplatz unter freiem Himmel wäre ihm freilich am liebsten gewesen, mit mehreren Feuerstellen. Zu beiden Seiten der sauber verlegten Straße, die im Mondlicht bar jeden Unkrauts glänzte, standen Bäume, die Rakshor bisher nie gesehen hatte. Vermutlich seltene Importe aus exotischen Ländern.


    "Darf ich Euch die oberen Etagen zeigen?", fragte die Dame.
    Langsam, aber sicher, fühlte er sich belästigt. "Danke, aber ich finde mich allein zurecht." Er versuchte, seinen Arm zu befreien und musste gar etwas grob werden und sie anschnauzen, weil sie gar zu hartnäckig war. Beleidigt stolzierte sie schließlich von dannen und würdigte ihn nicht eines einzigen Blickes mehr. Er erklomm die breite Marmortreppe mit dem Säulendach, das den Eingangsbereich zierte. Die Tür eine solche zu nennen, glich schon fast einer Beleidigung, Portal traf es viel eher! Holz, mit Schnitzereien verziert und teilweise vergoldet, zierte die beiden massiven Torflügel, die geöffnet standen, um die milde Nachtluft hinein und den stickigen Tabakdunst hinaus zu lassen. Das Innere des Erdgeschosses war rustikal gehalten, mit Holzmöbeln und einem abgewetzten Dielenboden und von verschiedenstem Volk besucht. Rakshor entdeckte Menschen unterschiedlichster Herkunft, Alben in ihren furchbaren Trachten und einige Berggipfler, welche die Spezialitäten einer Käseplatte diskutierten.


    Rakshor fand nach einigem Suchen den Wirt - eine Mumie tamjidischer Herkunft, die ihn als gebürtigen Rakshaner nicht gerade freundlich begrüßte - und musste lange mit diesem verhandeln, eher er ihn zum Inhaber des Sündentempels vorließ. Rakshor hätte dem grantigen Kerl in seiner roten Weste selbst dann kein Trinkgeld gegeben, wenn er Geld als Zahlungsmittel nutzen würde. Stattdessen nickte er ihm nur ein halbherziges Danke zu und ging. Gleich würde sich zeigen, ob wirklich Noldil persönlich oder nur ein kleiner Aufschneider hinter dem Etablissement steckte!

  • Noldil lümmelte sich in ihrer Entspannungsecke, welche sich aus mit feinster Wolle gepolsterten Matratzen und bunt zusammengewürfelten seidenen, kunstvoll bestickten Kissen, gefüllt mit weissen Greifenfedern zusammensetzte. Sie liess sich von gutaussehenden jungen Männern und Frauen verwöhnen und während die einen ihre äusserst gepflegten Füsse und verspannten Schultern massierten, schenkten ihr andere Wein nach oder boten ihr süsses, exotisches Obst dar.


    Genüsslich kostete sie eine gelbe, ovale Frucht und der klebrige Saft rann ihr wie Honig über die Finger, wurde jedoch von einem tüchtigen Mädel weggewischt, bevor er ihr feines Kleid zu bekleckern vermochte.
    „Ich wünsche mir etwas Amüsement. Lasst die "Fidelen Halbstarken" aufspielen". Mit vor Aufregung glänzenden, grünen Augen beobachtete Noldil, wie im nächsten Moment eine bunte Truppe von Künstlern in ihr Gemach eingelassen wurde. Es handelte sich dabei um zwei Zwerge, einen Goblin sowie ein Echsenwesen.
    Sofort zogen die bärtigen Zwerge eine Holzflöte sowie eine kleine Trommel hervor und begannen ein fröhliches Lied zu spielen. Der Goblin begann dazu herumzutanzen und nur mit Mühe unterdrückte Nodil ein amüsiertes Kichern, das ihr jedoch schnell verging, als sie bemerkte, wie geschickt er seine kurzen Beinchen im Takt der Musik zu bewegen vermochte. Sie klatschte schliesslich munter Applaus und vergass ab der Darbietung sogar einen Moment den Wein.


    Plötzlich jedoch geschah etwas Unerwartetes. Das Echsenwesen schien sich in dem Raum und mit den vielen Leuten nicht wohl zu fühlen. Gerade als der Trommelwirbel ansetzte, an dem das drachenähnliche Tierchen sein Kunststück vollbringen sollte, quietschte es plötzlich laut auf und begann wie von der Tarantel gestochen in dem Zimmer herumzuwirbeln. „Was zum Gu…?“


    Noldil zuckte zusammen, als das Wesen auf das Salontischchen hüpfte und dabei mit seinem stacheligen Schweif die Kanne mit dem kostbaren Wein zu Boden schmetterte, der sich schnell als roter Fleck auf dem hellen Teppich ausbreitete.
    Ab dem Lärm erschrak es jedoch bloss noch mehr, spreizte plötzlich seine Flügel und sprang in die Luft.
    Obwohl das Gemach eine ausladende Grösse besass, war es doch nicht geeignet für spektakuläre Flugmanöver. So rauschte der Drix nur knapp über die Köpfe der jungen Frauen, welche gleich in hysterische Schreie ausbrachen. Entsetzt ob dieser Schande versuchten die Zwerge und der Goblin verzweifelt, das katzengrosse Tier zu fassen zu bekommen. Dabei stolperten sie jedoch über die Teppiche und das Chaos schien komplett.
    Als der Drix sich bei seinem Fluchtversuch jedoch auch noch in den edlen Vorhängen verfing und diese mit einem lauten Reissen zerschlissen, vermochte es niemand mehr, Ruhe zu bewahren.


    Bloss Noldil war noch immer in ihre Kissen gebettet und beobachtete die Szene. Der Goblin hatte sich vor ihr zu Füssen geworfen und bat sie um Gnade und Verzeihung, während die Zwerge noch immer versuchten, dem Unruhestifter habhaft zu werden.
    Einen Moment schaute sich Noldil mit ernstem Blick in dem Gemach um, welches nur noch andeutungsweise seine Pracht zur Schau stellte.
    Über den Boden kullerten Früchte, der Teppich war von roten Flecken besudelt, die alten Bilder waren herabgefallen und der Vorhang hing in Fetzen an den Fenstern herab. Der Drix hatte sich darin verfangen und versuchte sich vergeblich zu befreien.


    Ein leises Glucksen war zu hören, doch Noldil räusperte sich schnell, um ihre Belustigung hinter einer Miene aus Ernsthaftigkeit und Entrüstung zu verbergen. Der Goblin schaute sie noch immer mit gepeinigtem Gesichtsausdruck an und auch die Zwerge, Männer und Frauen verwarfen ungläubig die Hände.
    Gerade als Noldil dazu ansetzte, eine eindringliche Rede zu halten und die Truppe zu sanktionieren, klopfte es an der Tür. Doch noch bevor sie etwas erwidern konnte, wurde das Portal auch schon mit Schwung aufgestossen.


    Dann geschah alles sehr schnell. Ein junger, braungebrannter Mann stand in der Pforte, doch lange vermochte ihr Blick nicht auf ihm zu verweilen, denn im nächsten Moment war ein Kreischen zu vernehmen und dann spickte der Drix, noch halb mit einem Vorhangfetzen verhüllt wie eine Kanonenkugel auf die rettende Öffnung zu. Zu spät realisierte das Wesen den kräftigen Mann, der den Durchgang versperrte und so hörte man bloss ein erschrockenes Aufjapsen, als es im Halbflug mit voller Wucht gegen die Brust desjenigen prallte.


    Nun vermochte sich Noldil nicht mehr zu halten. Mit vor Lachen zusammengekniffenen Augen erhob sie sich aus ihren Kissen und der Klang ihrer berauschten Stimme war über den gesamten Flur zu vernehmen. Die langen rotgelockten Haare umhüllten ein sympathisches, rundliches Gesicht voller Sommersprossen, mit vollen Lippen und roten Wangen.
    Der ganze wohlgeformte Körper schien in ihr Lachen mit einzustimmen und die üppigen Brüste hüpften in dem ausladenden Dekolleté fröhlich um die Wette. Auch das hübsche Kleid mit den Rüschen hatte einige Weinflecken abbekommen, doch das bemerkte die Göttin gar nicht.
    „Was für ein Spass! Was für ein Durcheinander! Ihr hättet einmal eure Gesichter sehen müssen!“


    Die Zwerge und der Goblin starrten sie noch immer erschrocken, doch auch etwas besorgt an. Bloss die angestellen Männer und Frauen begannen bereits wieder seelenruhig Ordnung zu schaffen, denn sie waren sich der oftmals ausgelassenen Stimmung ihrer Herrin bewusst.


    „Doch wen haben wir denn da? Ein Gast! Ich hoffe, Ihr habt den Begrüssungsansturm gut überwunden? Normalerweise herrscht hier eine gesittete Gleichmäßigkeit… und nicht solch ein… Chaos.“ Ein verschmitztes Lächeln begleitete ihre Worte, denn sie meinte den Ankömmling erkannt zu haben, obwohl sie im schon lange, sehr lange nicht mehr begegnet war.
    „Ich sollte mich kurz umziehen… in diesem Aufzug scheint es mir nicht Recht zu sein, Euch zu empfangen.“


    Mit einem Schnipsen ihrer Finger, verwandelte sie sich in einem Rauschen in einen mächtigen Herren. Mit seinem Bart und der gutbürgerlichen Gewandung stellte er einen starken Kontrast zu seinem nur wenig bekleideten, dafür muskulös gebauten Gast dar. "Mein guter, alter Freund! Bist Du's wirklich? Lass Dich umarmen!"
    Mit beschwingten, ausladenden Schritten trat er auf Rakshor zu und liess ohne jede Hemmung seine mächtigen Pranken auf dessen Schultern klatschen. "Was für eine Freude Dich zu sehen! Das Chaos ist komplett!"
    Unter dem fröhlichen Lachen, das nun folgte, hüpfte das Bäuchlein des Noldil munter mit.

  • Bong.


    Der Drix prallte gegen Rakshors Brust wie gegen eine Panzerplatte. Das lag weniger an Rakshors muskulöser Statur, sondern vielmehr an der Tatsache, dass er ein Gott war und sich instiktiv gegen den Stoß panzerte, kaum dass er diesen kommen sah. Sein Auge war schnell wie das einer Fliege. Der Drix fiel bewusstlos zu Boden und verschwand unter den Vorhangfetzen, die ihn umhüllten. Rakshor kam nicht dazu, den Drix höflich aufzuheben, welcher sicher das Haustier seiner Gastgeberin war. Noldil verwandelte sich im Nu in den wohlbeleibten Mann, als der er mit Rakshor zusammen so manchen Krug gelehrt hatte.


    Der Verschlinger lächelte. Nicht das oberflächliche, herablassende Lächeln, voller Mitleid mit der Dummheit seines Gegenübers, das er meist an den Tag legte, sondern ein Lächeln, das von Herzen kam.


    "Noldil", sagte er und erwiderte dessen herzliche Umarmung. Wenn es einen gab, den er Freund nennen konnte, dann war es dieser Gott - oder diese Göttin, je nachdem. Noldil war der Einzige unter den Göttern gewesen, der an Rakshors Visionen geglaubt hatte - wenn er auch nicht immer mit allem einverstanden gewesen war. Und er war es auch gewesen, der ihn auffing, als Rakshor von der Macht des Dunklen hinab auf Asamura geschleudert wurde wie ein Ball, ein lebender Komet, ohne Gedächtnis, ohne Wissen, wer und was er war. Noldil hatte ihn im Fluge gefangen - Rakshor sah sie noch vor sich, ihr Gesicht mit den vollen Wangen, die sommersprossige Stirn in Falten gelegt, umgeben von wehendem roten Haar, das von der freigewordenen Energie Funken sprühte, als würde ihr Haupt in Flammen stehen - und während des gemeinsamen Sturzes hatte Noldil ihn in aller Eile mit einem energetischen Schutzmantel umhüllt. "Frag nicht, vertrau mir einfach", hatte sie gesagt und ihn wieder losgelassen. Inzwischen hatte Rakshor auch erfahren, wovor sie ihn hatte schützen wollen: ein gewaltiges Ereignis von kosmischen Ausmaßen hatte sich in der Astralebene abgespielt, während dessen mehrere Götter sich völlig veränderten, andere vergingen ganz. Nur Noldil blieb, wie sie - oder er - war. Und Rakshor, den er in den schützenden Mantel gehüllt hatte, so dass der Zeitsprung an ihm vorüber strich. Auf diese Weise hatte Rakshors Reise nach Asamura weitaus länger gedauert, als sie hätte dauern sollen. Aber er hatte sie heil überstanden.


    "Du hast eine interessante Inneneinrichtung, mein Freund", sagte Rakshor mit einem Schmunzeln, als sie ihre Umarmung wieder lösten. "Man fühlt sich hier auf Anhieb wohl bei all der Unordnung. Viel gemütlicher als vorher. Lebendig, es sieht lebendig aus, nicht so tot und steril. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich auf ein Glas Wein zu dir setze?" Rakshor wusste, wie die Antwort ausfallen würde und so nahm er Platz in der unordentlichen Kuschelecke. Er angelte sich eine Frucht, die auf dem besudelten Teppich lag. "Lange ist es her, doch nicht lang genug, als dass ich die Freuden des Fleisches vergessen hätte - und den, der sie uns einst gebracht hat. Was wäre die Welt nur ohne dich!" Er biss ab, das Obst knackte und der säuerliche Saft erfrischte Rakshors Rachen. Wie herrlich ein ordinärer Apfel doch schmecken konnte!


    Vom Schankraum klangen aufgeregte Laute zu ihnen hinauf. Da unten herrschte ein plötzlicher Tumult. Draußen hörte man Leute durch die Gänge rennen.

  • „Interessant? Du hast Dir natürlich wieder den passendsten Moment ausgesucht, hier hereinzustürmen. Aber das hast Du schon immer beherrscht. Du packst die Gelegenheit am Schopf, um aus einem unbedeutenden Chrüsimüsi ein vollendetes Chaos entstehen zu lassen!“, mit einem Handwedeln scheuchte Noldil die Bediensteten von Dannen, welche darüber nicht unglücklich zu sein schienen.

    „Ach, ich habe Dich vermisst, alter Freund… oder soll ich Dich eher Jungspund nennen… die Zeit scheint nicht an deinem Körper genagt zu haben, obwohl Du Dich bekanntlich so oft unter Aasgeiern aufhältst!“
    Noldil gluckste zufrieden über seine Wortwahl und sinnierte einen Moment vergangenen Tagen nach, während er sich neben Rakshor in die Kissen plumpsen liess.
    „Wo hast Du so lange gesteckt? Junge, Junge, was sich die Götter die Mäuler zerrissen haben über Dich. Das hätte Dir gefallen! Eine Theorie jagte die nächste und zurück blieb ein immenser Haufen Einzelteilchen, die niemand zusammenzufügen vermochte… und mich… haben sie ja nicht gefragt!
    Noldil grinste sein Gegenüber an und tätschelte zufrieden sein Bäuchlein, bis ihm jedoch seine Pflichten wieder einfielen. „Was bin ich doch für ein elender Gastgeber! Kein Wein wurde Dir angeboten und anstatt einem gut gewürzten Braten nimmst Du mit herumliegenden Früchten Vorlieb. Nicht in meinem Haus!“, donnerte die Stimme Noldils plötzlich wie ein Gewittersturm los.
    Im nächsten Augenblick schwang die Tür auf und eine grossgebaute Almanin brachte eine Karaffe und mit Edelsteinen besetzte Gläser vom besten Wein herein. Sie verneigte sich, und verschwand so schnell und lautlos wieder, wie sie aufgetaucht war.


    Noldils Blick haftete noch an ihrem wiegenden Hintern, als sich die Pforte bereits wieder hinter ihr schloss. „Wunderschön. Diese Kurven! Die weiblichen Formen sollten nicht nur aus Kanten und Ecken bestehen. Nur Aasgeier lieben Knochen“, er räusperte sich, und quittierte Rakshors sichtlichen Genuss für den Apfel mit einem nachsichtigen Lächeln. „Vielleicht hätte ich doch in weiblicher Gestalt verharren sollen, um Deine Aufmerksamkeit nicht mit einer Frucht teilen zu müssen…“


    Plötzlich erklangen aus den unteren Räumen laute Rufe und Schreie. „Ach, es gibt doch nichts besseres, als zwischendurch eine ordentliche Prügelei in der Schenke!“, grölte Noldil noch mit Begeisterung in der Stimme.
    Als das Gepolter jedoch zunahm und sich auszubreiten schien, wurde der Gott unwillig. „Kaum bist Du hier, bricht ein Tumult aus… war ja nicht anders zu erwarten! Hoffentlich zertrümmern sie mir nicht noch meine seltenen Sammlerstücke“, sein Blick blieb drohend an Rakshor hängen, „den mechanischen Flaschenöffner eines äusserst kreativen Goblins...sein Name ist mir entfallen... oder die von Waldalben aus einem Bäumchen geformte Statue meiner Selbst wird mir niemand so leicht ersetzen können.“
    Schliesslich stemmte er sich etwas umständlich aus der gepolsterten Ecke heraus. „Schauen wir und das doch Mal aus der Nähe an. Wir sind uns schliesslich fürs Nichts zu schade, stimmt‘s, alter Freund?“, mit diesen Worten steuerte er auf die Tür zu, welche mit lautem Tosen wie von einem Windstoss aufgedrückt wurde.

  • Der Hinterhof des Tempels glich einer Oase. Blühende Bäume bildeten eine Parklandschaft, in der die tagsüber Vögel zwitscherten und nachts die Zikaden zirpten. Der Hof war von einer hohen Mauer umgeben, welche die Gäste vor unerwünschten Blicken von draußen schützte, so dass sie sich in aller Ruhe auf Decken unter freiem Himmel vergnügen, nackt baden oder anderen Freuden nachgehen konnten. Andere nutzten die Lichtungen und Wege einfach, um sich auszuruhen, ehe es in die nächste Runde ging. Das Herz der Oase bildete ein künstlich angelegtes Wasserbecken, kunstvoll geschwungen und mit blau bemalten Kacheln ausgekleidet in dem eine prachtvolle Fontäne sprudelte.


    Diese Fontäne war eine der größten Attraktionen des Tempels, denn jedermann rätselte, wie sie wohl zustande kam. Die meisten vermuteten eine Magiequelle dahinter, doch in Wahrheit war dies das Resultat von Goblintechnologie der neusten Generation: Wasserkunst. Eine ganz neue Disziplin, mit der man sich später gute Kundschaft in Adelskreisen erhoffte, doch momentan war Noldil der Einzige, der über eine solch künstliche Fontäne in seinem Garten verfügte. Die Funktionsweise war aufwändig, aber nicht kompliziert: In einem Turm des Tempels befand sich, gut verborgen, ein Wasserheber, der das nasse Element bis in die höchste Spitze hinauf brachte. Von dort aus rauschte es durch ein Rohrsystem wieder hinab in Richtung Wasserbecken und sorgte dafür, dass das Wasser im Zentrum der Oase als Fontäne hervorsprudelte, so hoch wie ein Haus. Die ausgelassenen Gäste spielten darin, sprangen hindurch oder ließen sich die Tropfen auf den Rücken prasseln, um ihre verschwitzten Körper zu reinigen und die Haut massiert zu bekommen.


    Doch heute morgen war die Fontäne versiegt.


    Den ganzen Tag schon waren die Goblins beschäftigt gewesen, die Urache für den Defekt zu finden. Der Wasserheber war intakt und so vermutete man, dass das Hauptrohr verstopft war. Man hatte einen Erdmagier geordert, der helfen sollte, die Rohre freizulegen. Dieser stellte fest, dass irgendetwas grundlegend mit dem Erdreich unter der Oase nicht stimmte, das über eine gewöhnliche Rohrverstopfung hinaus ging und orderte einen Wassermagier zur Unterstützung. Dieser bestätigte, dass auch das Grundwasser erheblich gestört war und sich von ihm nicht kontrollieren ließ. Die neugierigen Gäste des Sündentempels hatten sich um das Wasserbecken versammelt, um die Magier belustigt beim Versagen zu beobachten.


    Irgendwann schienen die Bemühungen der beiden dann doch Wirkung zu zeigen. Das Zentrum des Wasserbeckens beulte sich nach oben. Erst ein wenig, dann stärker, so dass es über die Wasseroberfläche hinaus ragte.


    "Hör auf damit, du machst das Fundament kaputt!", rief der Erdmagier erbost.
    "Ich bin das nicht! Du machst das mit deinem Rumgepfusche!", entgegnete der Wassermagier.


    Beide stellten ihre Zauberei ein, doch der Berg wurde trotzdem immer größer. Einen Meter, zwei, dann sogar drei und es schien nicht aufhören zu wollen! Das Fundament riss, die blau bemalten Fliesen polterten klirrend hinab. Einige lachten die Magier aus, andere schimpften auf die Magie und forderten ein Verbot.


    Der Wirt der Taverne des Sündentempels, die Mumie Zott, eilte umher und versuchte die Gäste des Platzes zu verweisen, um die offensichtliche Panne aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit zu tilgen und den guten Ruf des Tempels zu wahren. Vergebens. Er war froh, als er gewahr wurde, dass Noldil in der Begleitung eines anderen am Ort des Geschehens auftauchte.


    "Herr!", rief er erleichtert. "Seht euch das an! Der ganze Betrieb des Tempels liegt still, weil alle diesen ... diesen sich bäumenden Erdberg anschauen! Die Magier haben versagt und die Goblintechniker ebenso, selbst dann, als ich ihnen doppelten Lohn anbot. Ihr müsst diesen Missstand dort schnellstmöglich beheben, damit die Gäste wieder zahlenden Tätigkeiten nachgehen!"

  • Er stieß die Arme zu beiden Seiten und dann brach die Kruste endgültig auseinander. Gleißendes Licht empfing ihn. Schlamm und Kacheln spritzten zu allen Seiten davon. Ein unmenschliches Heulen entrang sich seiner Kehle, er warf den Kopf in den Nacken um all den Hunger und Schmerz heraus zu lassen, die ihn plagten.


    Er stand da, halb aufgerichtet in der Gestalt des Weißen, wie eine riesige, fette Kobra mit Stacheln auf dem Rücken. Er kniff die Augen zusammen, das Licht blendete ihn nach all der Zeit, die er im Dunkeln verbracht hatte, um sich durch die unterirdischen Wasseradern hier her zu schlängeln - hin zu demjenigen, der ihn rief. Sein Leib war schmutzig und zerkratzt, die Harpunenwunden bluteten wieder und bereiteten ihm unerträgliche Schmerzen.


    "Ich hab solchen Hunger!", heulte er. Die Schmerzen raubten ihm den Verstand, doch sie betäubten nicht die Gier in seinem Bauch. Nyel warf sich in einem gewaltigen Schwung nach vorn, die Erde bebte unter dem Gewicht seiner zweieinhalb Tonnen, das Wasser spritzte. Dann robbte er unerwartet schnell auf seinen Armen nach vorn und zog den Rest seines sieben Meter langen, walzenförmigen Leibes aus dem Erdkanal. Das Fett wabbelte bei jeder Bewegung. Seit Tagen war er nur am Fressen, doch hatte er noch lange nicht genug. Wahllos ergriff er die umstehenden Landwandler und stopfte sie in seinen Rachen, biss ab, ließ den Rest fallen, ergriff den nächsten. Biss und riss, biss und riss. Sie schrien und quiekten und versuchten, vor ihm davon zu laufen, doch eine Mauer umgab das Areal und der einzige Ausgang war verstopft von den Körpern jener, die in Panik hindurchdrängen wollten. Er brauchte nur zuzugreifen. Was für ein himmlischer Ort! Blut lief Nyels Kinn und seine Kehle hinab. Es leuchtete dunkelrot auf seiner weißen Narbenhaut.

  • „Bei allen Pampelmusen!“
    Einen Moment war Noldil sprachlos, als das Ungetüm aus seinem Brunnen herausschoss und das Kunstwerk in einen Haufen aus Schutt verwandelte.
    „Wie haben die Goblins den da bloss reinbekommen?!“, sinnierte er entgeistert und starrte den dreckverkrusteten und mit schartigen Wunden übersäten Körper des Weissen ungläubig an.

    „Ich hab solchen Hunger!“
    , heulte da das Wasserwesen auf.
    Im nächsten Augenblick wälzte sich der Leib bereits vorwärts, streckte seine Arme aus und griff nach den Gästen, die sich nicht schnell genug in Sicherheit brachten.
    „Was zum…?!“, als einer seiner Goblinmeister mit fehlendem Bein vor ihm achtlos auf den Boden geworfen wurde, bekam Noldil seit langem wieder seinen ersten richtigen Wutanfall.
    „WAS fällt Dir ein? Wie kannst Du es wagen, meinen Tempel auf diese Weise in die Schande zu ziehen? Du kannst Dir nicht vorstellen, was für eine Konzentration und einen Aufwand es mich gekostet hat, mit all den Goblins, Zwergen, Allmanen und Alben zu verhandeln, bis sie sich endlich gemeinsam an einen Tisch gesetzt und sich nur schon auf die Farbe der Marmorplatten zu einigen vermochten!“ Das Gesicht des Gottes lief rot an, wie der Wein, den er tief unter dem Tempel in einem Gewölbe gelagert hatte.


    Die Schreie seiner Untertanen liessen ihn verzweifelt die Arme verwerfen. „Meine lieben Gäste! Beruhigt Euch wieder… ich gebe für alle eine Runde aus! Oder nein, besser, Ihr seid den Rest des Tages eingeladen, alle Freuden des Tempels auf meine Kosten zu geniessen… aber rennt doch bitte nicht davon!


    Wie eine fette Schlange wand sich das Wesen in Noldils Innenhof und schien die Welt um sich herum nicht mehr wahrzunehmen. Sowohl eigenes wie auch fremdes Blut lief ihm über den Körper, denn die Tempelwachen hatten versucht, das Ungetüm zu attackieren, leider vergeblich.
    Plötzlich formte sich eine Idee in des Gottes Gedanken.
    „Macht die Tore frei, ebnet dem Herrn der Meere den Weg in seine Heimat!“


    Im nächsten Moment schnippte Noldil mit den Fingern und nach einer kurzen Drehung stand eine in Leder und Felle gekleidete Norkara an seiner Stelle. Um ihren Hals trug sie Ketten aus Zähnen von Raubkatzen und Wölfen, doch auch Haifischzähne waren zu erkennen. Ihre langen Haare waren kunstvoll geflochten, und nur einige vorwitzige Strähnen hatten sich aus dem Kunstwerk herausgewunden.
    In den Händen hielt sie ein spiralförmig gewundenes Gehäuse von mächtigem Ausmass. Das ehemalige Haus der Wasserschnecke war mindestens so ausladend, wie der Kopf der Frau selbst und schimmerte perlmuttfarben.
    „So mein werter Freund, ihr habt tatsächlich die Ehre, in den Genuss meiner musikalischen Künste zu gelangen. Geniesst das Konzert!“, meinte Noldil mit einem Zwinkern zu Rakshor hinüber.
    Dann übertönte sie mit magisch verstärkter Stimme das Geschrei und Getümmel: „Du hast Deinen Hunger nun gestillt, Bewohner des Meeres! Gesättigt, müde, doch zufrieden und ohne Schmerzen sollst Du nun in Deine Heimat zurückkehren.“
    Einen Augenblick schien Nyel innezuhalten, doch sobald Noldils Stimme verklungen war, glitt sein Blick bereits weiter suchend über das Trümmerfeld.
    Doch nun schloss die Göttin die Augen und setzte ihr wundersames Instrument an die Lippen.


    Im nächsten Moment ertönte ein Klang, der an das Rauschen des Meeres erinnerte, durchzogen von den unterschiedlichsten Stimmen von Wasserwesen, welche selbst den mutigsten Forschern noch nicht unter die Augen gekommen waren. Wie eine Flöte vermochte Noldil das spiralförmige Gehäuse zu gebrauchen und wiegte sich dazu sanft umher, als würde sie sich von einer Meeresströmung treiben lassen.
    Die Schreie verklangen und die Gäste und Untertanen schauten vorsichtig aus ihren Verstecken hervor, um ihre Göttin und das Schauspiel, das sich ihnen bot, im Blick zu behalten.
    Bloss das Schmatzen und Stöhnen von Nyel war noch zu vernehmen, doch Noldil liess sich nicht beirren.
    Sie liess ihre Magie in das mächtige und doch so filigrane Instrument hineinfliessen, und wie eine sanfte Meeresbrise streichelten die Klänge über den wuchtigen und doch so verletzlichen Körper des Weissen.
    Ganz allmählich verschlossen sich die blutigen und eitrigen Wunden, und zurück blieben Narben. Selbst die abgebrochenen Lanzen schienen mit dem Körper zu verschmelzen und wie die natürlichen Stacheln eines Seeigels eins zu werden, gleich so, als wären sie schon immer ein Teil des Meereswesens gewesen.
    Der Gigant lauschte den Klängen und begann sich plötzlich wie hypnotisiert im Gleichklang mit Noldil hin und her zu wiegen. Der Hunger wurde unwichtig, schwand gar dahin, genauso wie auch die Schmerzen nur als eine verblassende Erinnerung zurückblieben.


    Darauf hatte die Göttin gewartet.
    Langsam begann sie voranzugehen… wie ein Nachtwandler hievte sich der mächtige Leib des Weissen langsam hinterher, nicht ohne dabei weitere Marmorplatten und Statuen in Mitleidenschaft zu ziehen. Voller Bewunderung und Staunen kamen die Menschen aus ihren Verstecken hervor und so setzte sich die seltsame Prozession langsam in Bewegung, dem Meer entgegen.

  • Amüsiert beobachtete Rakshor, wie Noldil das Monstrum mit den Klängen ihrer Musik hypnotisierte. Und mehr als das - der geschundene Leib heilte. So, wie Nyels Schmerzen und sein Hunger versiegten, versiegte auch die verzweifelte Wut, die ihn getrieben hatte. Sein Blick wurde schläfrig und er robbte hinter Noldil her, die in tänzerisch wiegendem Schritt der zartrosa Marmorstraße folgte. Rakshor schlenderte neben ihr. Ihm gefielen die Klänge der Schneckenflöte, überhaupt liebte er gute Musik.


    "Ihr habt nichts von Eurer Virtuosität eingebüßt, Noldil. Ich möchte gar behaupten, ihr habt eure Kunst an den Gipfel ihrer Vollendung getrieben. Dass ihr nun sogar meine Untertanen damit beeinflussen könnt ..."


    "Ich bin nicht ... Euer Untertan, Herr des Chaos", ächzte Nyel. "Clawis allein vermag es, mir Befehle zu erteilen. Er ist der Gott der Elemente und somit auch Herr von uns Elementaren!"


    Rakshors Gesicht wurde hart. "Sandstürme, Taifune, Feuersbrünste und Sturmfluten", er blieb stehen und hob beide Arme in die Luft, mit ihnen erhob sich der Sand der Umgebung, "gibt es ein größeres Chaos als das, was die Sterblichen Naturkatastrophen nennen? Gibt es etwas Schöneres? Mein sollten die Elemente sein! Und nicht Domäne dieses Pfuschers!"


    Der Sand begann sich um Rakshor zusammen zu ziehen und langsam um ihn zu kreisen. Nyel heulte auf und schlug mit den Armen um sich, als würde er in Flammen stehen. Niemand außer den Göttern sah, wie der feine Sand in seine Kiemen drang, in seine Augen, Nase und Ohren und ihn von innen stach wie Milliarden von Nadeln. Nyels gewaltige Schwanzflosse schwang hin und her, als wolle er davon schwimmen und fällte die Bäume zu beiden Seiten des Weges.


    "Du wirst mir gehorchen", sprach Rakshor hart. Seine Stimme erhob sich im Sturm, der um sie toste. "Die Elemente werden künftig dem Chaos dienen und nicht länger diesem Handwerker! Nyel, du hast die Ehre, die Fluten unter meine Herrschaft zu bringen. Das Wasser wird fortan meinem Willen folgen! Nicht eher wirst du diese Hülle, in der du hier vor mir liegst, wieder verlassen, ehe du nicht all meine Wünsche zu meiner vollsten Zufriedenheit erfüllt hast! Und nicht eher werde ich dich von diesen Schmerzen erlösen, ehe du dich nicht bedingungslos meiner Herrschaft beugst!"


    Er ballte die Finger seiner ausgestreckten Hände zur Fäusten. Nyel schrie auf, zuckte zusammen und schlug dabei derart mit der Schanzflosse auf die Straße, dass er einen tiefen Krater hinein trümmerte. Gestein prasselte wie Hagel auf sie herab. Die Kiemen an seinen Flanken tropften rot. Der Krater füllte sich rasend schnell mit Grundwasser, das er gerufen hatte und Nyel stürzte sich hinein. Es reichte nicht mal, um seinen Rücken zu bedecken. Er tauchte den Kopf unter, verschränkte die Arme über dem Genick und versuchte, möglichst wenig von sich aus dem Wasser heraus schauen zu lassen. Seine Rückenflosse zitterte.


    "Noldil, mein Freund, werdet Zeuge des historischen Zeitpunkts, als der Sand sich mit den Fluten verbündete! Werdet Zeuge dessen, wie das Element des Lebens zum Werzeug der Zerstörung wurde!" Die Augenhölen seiner Schädelmaske begannen zu leuchten. "Nyel, sprich mir nach", befahl Rakshor. "Ich, Nyel, der Herr des Wassers, schwöre euch, Rakshor, die Treue, bis das diese Welt entzwei geht und als eine Staubwolke im Chaos versinkt!"

  • Noldil runzelte die Stirn und ein verärgerter Zug schien über ihr hübsches Gesicht zu huschen.
    Es war nicht in ihrem Sinne, den Elementar leiden zu lassen.
    „Du strafst meine Worte Lügen, Rakshor mein Freund!“
    Ihr Blick blieb an Nyel hängen, welcher sich in seiner Qual windete und versuchte, der Folter des Gottes zu entkommen. Als er vor Schmerz aufschrie und Noldil das Blut bemerkte, welches das Wasser rot färbte, zuckte sie zusammen.
    Als sie realisierte, dass ihr Instrument nichts gegen Rakshors Methoden auszurichten vermochte, liess sie es in hundert Seifenblasen verschwinden, welche bei jedem einzelnen Zerplatzen einen sanften Ton von sich gaben.


    „Was werden meine Gäste über mich denken, wenn mein Versprechen gegenüber dem Herr der Meere auf solche Art und Weise in den Staub gezogen wird? Wenn seine Wunden aufbrechen, anstatt verheilen? Er von noch mehr Schmerzen gepeinigt wird, als ich versprach, sie ihm zu nehmen?“
    Entrüstet baute sich die üppige Frau vor Rakshor auf und stemmte ihre Arme in die Hüfte. Als Norkara war sie gross gebaut und mit Rakshor beinahe auf einer Höhe. Ihre Augen funkelten zornig.
    Trotzdem konnte sie dem Jüngling nicht wirklich böse sein. Auch wenn sie sein Handeln nicht gutheissen wollte, schätze sie ihn doch zu sehr. Aber manchmal musste man auch den Göttern die Leviten lesen.


    Plötzlich jedoch trat ein schelmisches Funkeln in ihre Augen und die Haltung veränderte sich. Die Aufgebrachtheit schien von ihr abzufallen und machte stattdessen einem neckischen Gebaren Platz.
    Sie trat mit wiegender Hüfte näher zu Rakshor heran, so nah, dass ihre Haarlocke, welche sich aus ihrer kunstvollen Hochsteckfrisur gelöst hatte, ihn an der Schulter kitzelte, während sie sich vorbeugte und ihm leise ins Ohr flüsterte: „Und was soll ich von meinem liebsten Gast halten, der sich doch ansonsten auf solch charmante Weise darauf zu verstehen weiss, zu bekommen, was er gerne möchte?“
    Mit einem Finger streichelte sie hauchzart der nackten Brust ihres ansehnlichen Gegenübers nach.
    "Du hast es doch gar nicht nötig, auf solche Mittel zurückzugreifen. Bereits dein Anblick bringt Frauenherzen zum Schmelzen und lässt die tapferen Krieger ihre Schwerter schwingen.“
    Ihr warmer Atem war als Lufthauch zu spüren und roch nach süssem Wein und saftigen Früchten, ihre Stimme klang wie die Versuchung selbst.
    „Sogar ich bin nicht vollständig dagegen gefeit… du könntest mir deine Macht auch auf weniger rüde und phantasielose Art beweisen.“
    Ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen, als sie sich wieder etwas von ihm zurückzog, ihn aus dunklen Augen aufmerksam musterte und versuchte einen Blick auf seine Regungen hinter der Maske zu erhaschen.

  • Die kalte, sadistische Freude, die Rakshor empfand, als er Nyel seiner Macht ausgeliefert vor ihm lag, begann im Angesicht von Noldils Lächeln zu weichen, so wie sich die eisigen Gletscher ins Gebirge zurückziehen, wenn die Frühlingssonne nahte und der Natur wieder ihren Raum gaben. Rakshor lockerte die Fäuste und der Sand sank als feiner Schleier zu Boden. Die letzten verbliebenen Seifenblasen zerplatzten mit leisen Tönen, als würde jemand ein Glockenspiel mit sanften Schlägen betätigen und die gleichzeitig wichen die Schmerzen von Nyel. Die mächtige Flosse hörte auf zu zittern.


    "Danke mir", sagte Rakshor. "Ich habe dich erlöst."
    "Danke", erwiderte Nyel schwach.
    "Worte sind mir nicht Dank genug. Ich will deinen Schwur."
    "Vielleicht später ... Herr des Chaos." Nyels Stimme war kaum noch zu hören und nur einen Augenblick später war er eingeschlafen.


    Missgestimmt verzog Rakshor die Augenbrauen. Sein Blick schweifte von dem schlafenden Koloss herüber zu Noldil, die nur eine Armlänge entfernt stand und ihn auf eine verlockende Weise herausfordernd ansah, während ein schelmisches Grinsen ihre vollen Lippen umspielten. Er schob seine Schädelmaske zurück, so dass sie seinen Mund sehen konnte, während seine Augen im Schatten verborgen blieben.


    "Noldil, meine Sonne", sprach er nun sanfter. "Du solltest die Herrin des Sandsturms sein ... denn du verstehst es besser, ihn zu bändigen, als ich." Er griff nach ihrer Hand und drückte sie einen Moment sanft. "Die letzten Jahre - oder waren es Äonen? - waren ein einziges Martyrium. Ich trage blanken Hass in meinem Herzen. Er ist mal wie Eis, das mich grausam und kaltherzig macht und mal wie Feuer, das mich von innen verzehrt." Er löste den Griff, schüttelte den Kopf und zog die Maske wieder über sein Gesicht. "Dieser Hass verlangt, dass ich ihm Gehör verschaffe. Jemand wird büßen müssen, oder er verbrennt mich."

  • Amüsiert beobachtete Noldil, wie der Meeresriese sanft entschlummerte. Sein Körper hob und senkte sich regelmässig unter seinem Atem und liess das Wasser leichte Wellen schlagen. Wenn man das Trümmerfeld ausser Acht liess, wirkte das Bild friedlich, welches er bot.
    Doch ihr war Rakshors Ausdruck nicht entgangen. Er schien nicht ganz so zufrieden zu sein wie sie mit dem Ausgang der Auseinandersetzung.


    Trotzdem waren seine Worte sanft und lösten ein vertrautes Gefühl der Wärme in ihr aus.
    „Ich? Herrin des Sandsturmes?“, sie lächelte unwillkürlich. „Dafür bin ich nicht geschaffen. Mein sind die Künste und Feste. Ich geniesse die Freuden im Leben, schätze es, müssig zu sein. Lieber sehe ich den Goblins zu, wie sie geschäftig umherwuseln, oder schwelge abends bei den Liedern der Musiker in Erinnerungen und Träumen. Es würde zu viel der kostbaren Zeit in Anspruch nehmen, all Deine stürmischen Handlungen zu bändigen.“


    Als sie die Berührung seiner Hand spürte, fühlte sich Noldil in eine andere Zeit zurückversetzt… mehrere Ewigkeiten war es her, seit diese Hände sie berührt hatten. Mal sanft wie eine Frühlingsbriese, mal mit einer Wildheit, welche bloss das Chaos in sich tragen konnte.
    Ihre Augen blieben an seinem Mund hängen und sie verspürte den Drang, ihn lächeln zu sehen. Wie oft hatten sie zusammen gelacht, wenn sie bei gutem Wein zusammengesessen und sich Geschichten erzählt hatten.
    Doch nun verzog sich dieser weiche Mund zu einer harten Linie, als er von dem Hass erzählte, welcher sein Herz vergiftete. Es bedrückte Noldil, ihn so zu wissen und gerne hätte sie ihm Trost gespendet.


    „Rakshor, mein Freund. Womöglich hast Du allzu lange dem Glück des Lebens entsagt. Stärke liegt nicht im Hass. Sie liegt in der Liebe, in der Leidenschaft.“
    Sie fühlte sich ihm näher denn je, als er seinen Schmerz mit ihr teilte. Er hatte ihr seine Schwäche dargelegt. Gerne hätte sie ihn umarmt, ihm gezeigt, dass er nicht alleine war oder die düsteren Worte, welche über seine Lippen kamen, mit ihrem Mund erstickt.
    Die vielen Schaulustigen und inzwischen auch das Putzpersonal hielten sie jedoch davon ab, denn sie wollte Rakshor nicht als schutzbedürftig oder schwach dastehen lassen.
    Als er jedoch seine Maske bestimmt nach unten zog, war der initme Moment vorüber. Noldil liess sich ihre Enttäuschung und Betroffenheit über seine Worte nicht anmerken, doch sie respektierte auch seine Entschlossenheit.


    „Wenn Du Deinen Hass ausleben musst, um Dich danach wieder als Dich selbst zu fühlen, dann tu es. Aber bitte halte Dich bei diesen Angelegenheiten von meinem Tempel fern. Dies ist ein Ort der Lust, der Freuden, des Vergnügens und der Künste. Schmerz und Tod haben hier Nichts verloren“, ihr Blick war ernst und unnachgiebig.
    Als sie jedoch meinte, dass ihre Botschaft bei dem Jüngling angekommen sein müsste, wurde sie wieder weicher und ihre blauen Augen funkelten freudig.
    „Ansonsten bin ich natürlich immer glücklich darüber, Dich hier bei mir begrüssen zu dürfen. Ob nun zu einem Kartenspiel unter Freunden, oder einem entspannenden Besuch in der Therme... Hast Du vor noch etwas zu verweilen, oder hast Du keine Zeit für Deine alte Freundin und willst bald wieder Deiner Wege ziehen, jetzt, wo Du meinen Tempel so in Mitleidenschaft gezogen hast?"
    Noldil blickte ihn erwartungsvoll an. Und ein Funke der Neugier sprach aus ihrer Stimme:
    "Wie ich hörte, bist Du inzwischen ein vielbeschäftiger Mann.“

  • "Viel beschäftigt bin ich, fürwahr. Es gibt so viel nachzuholen. Vieles blieb unerledigt in der Zeit meiner ... Abwesenheit und manches, was ich einst erschaffen hatte, musste wieder vergehen. Ein letzter Rakshamane ist mir geblieben, von einstmals zehn. Es wird Jahre dauern, ehe ich würdigen Ersatz gefunden habe. Und der eine, der mir vorschwebt, will diese Ehre nicht." Er verneigte sich ein wenig. "Noldil, ich bitte um Verzeihung für meinen Fehltritt. Ich war nicht Herr meiner Selbst. Natürlich werde ich für die entstandenen Schäden an deinem Tempel aufkommen. Wenngleich du zugeben musst, dass der kleine Teich hier mitten auf dem Weg doch auch seinen Reiz hat."


    Er betrachtete ihr freundliches, rundes Gesicht. Und für einen Augenblick wünschte er sich, dass sie beide Sterbliche wären, die sich an einem schönen Ort, vielleicht einer Oase in der Tamjara, niederlassen könnten um gemeinsam alt zu werden und in Frieden zu sterben. Es war ihnen nicht vergönnt, keinem von ihnen, denn sie waren die Zahnräder, welche die Welt in Gang hielten. Kein Gott konnte etwas tun oder lassen, ohne dass das Gefüge sich verschob, jedes Wort, jeder Fingerzeig war spürbar bis in die Grundfesten des Alls. Aber für eine Nacht lang seine entsetzliche Macht zu vergessen, seinem Hass zu entrinnen und so zu tun, als sei er noch immer ein gewöhnlicher Mann, das konnte ihm niemand verwehren, nicht einmal der Unergründliche.


    Nun lächelte er doch und bot Noldil seinen Arm. "Lass uns den Krieg, den ich über euch bringen werde, für ein paar Stunden vergessen. Ich werde dir zeigen, wie schön das Chaos sein kann."


    Als Noldil sich bei ihm eingehakt hatte, ließ er die Flügel eines Geiers aus seinem Rücken sprießen. Die braunen Federn entfalteten sich raschelnd und erneut erhob sich der Wind, der von Osten kam und den Sand mit sich brachte. Er griff unter seiner Schwingen, fuhr unter Noldils Kleid und zerzauste ihre Haare. Die Füße der beiden Götter lösten sich vom Boden und sie ließen den Tempel unter sich zurück. Immer kleiner wurde das Dach mit den hundert Türmchen und bald waren die verspielte Architektur und die Zerstörung, die Rakshors Zorn gesät hatte, in der Ferne verschwunden. Unangetastet und grün lag Naridien zu ihren Füßen. Der Sand trug sie mit sich über das fruchtbare Land. Die Wälder und Weiden glitten unter ihnen hinweg, Flüsse glitzerten wie blaue Bänder und die Seen sahen aus wie Spiegel, in denen man die Wolken sah. Sie passierten ein Gebirge, in dessen Gipfel sich weiße Wolken verfangen hatten. Rakshor hielt Noldil sicher in seinen Armen, während er sie über Asamura trug. Sie begleiteten einen Schwarm Krähen, die heiser schreiend um sie herum schwirrten, auf ihrem Weg nach Südosten. Und noch bevor die Sonne am Horizont in ihrem Blute versank, erstreckten sich unter ihnen die sandigen Wellen der Tamjara. Innerhalb eines Tages hatten sie den halben Kontinent überquert.


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