Steppensturm [Oneshot]

  • Dies ist die Vorgeschichte von Khawa.


    Steppensturm


    193 nach der Asche. Zeitiges Frühjahr.
    Almanien, Großherzogtum Souvagne. Nördliche Grenzregion.


    Die Rakshaner nutzten die Gunst des Regens für ihren Raubzug. Es war noch sehr früh am Morgen, stockfinster und alle Schleusen des Himmels waren geöffnet. Der Regen perlte in Bächen von ihrer Überkleidung aus gefettetem Leder und ihre dunklen Turbane waren schwer vom Wasser. Die ponygroßen Hyänen waren bis auf die Haut durchnässt und ihr Fell stand struppig ab. Bei solch einem Wetter würde man die Plünderer weder sehen, noch würden die Wachhunde sie riechen, bevor es zu spät war.
    »Herhören«, befahl Khawa. Der klatschende Regen sorgte dafür, dass er in normaler Lautstärke zu seinen Kriegern sprechen konnte, während sie sich um ihn drängten. »Vor uns im Tal liegt das Gehöft, das ich ausgesucht habe. Das Gebäude braucht uns nicht zu interessieren. Wir konzentrieren uns wie gehabt auf die Tiere. Wir setzen auf Geschwindigkeit und vermeiden die Konfrontation. Wir kommen, wir rauben, wir verschwinden.«
    Er blickte in die Runde. Die Männer folgten seiner Erklärung aufmerksam aus dunklen Augen, das Einzige, was von ihren verschleierten Gesichtern zu sehen war. Er sah keine Angst. Es war nie die Frage gewesen, ob sie Erfolg haben würden, es ging nur um das Wie.
    »Skiran hält in Rufweite Wache, auch wenn wegen des Regens kaum Störungen zu erwarten sind. Eskir führt Trupp eins. Er ist schon unten, er wird das Gatter öffnen, sobald alle in Position sind. Trupp eins wird nach dieser Besprechung am Zaun entlang um die Weide herumreiten und jagt von hinten die Herde heraus. Trupp zwei unter meinem Kommando empfängt die Rinder an dieser Stelle hier mit einem Korridor. Sobald die Viecher ankommen, flankieren wir sie und treiben sie im Galopp nach Norden zu Skiran, während Eskirs Männer von hinten aufschließen. Wenn alles gut läuft, wissen die Almanen gar nicht, das wir da waren, ehe sie beim Morgengrauen die fehlende Herde entdecken. An der Azursee machen wir zu Sonnenaufgang kurz Halt, lassen Mensch und Tier verschnaufen, dann geht es heim nach Rakshanistan mit einem Festessen, das für mehrere Monate reicht! Noch Fragen? Nein? Dann auf eure Positionen!«
    Es kam Bewegung in die Truppe. Die schlammige Wiese des Weidelands schmatzte unter den Pfoten der Hyänen. Auf das Tragen von Rüstungen hatten die Rakshaner verzichtet, da sie nicht die Absicht hatten zu kämpfen und auf diese Weise Gewicht sparen wollten, doch trugen sie einen leichten Knochensäbel und einen Reiterbogen aus Horn bei sich, ebenso wie einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Die Männer klopften sich gegenseitig aufmunternd auf den Rücken und verteilten sich in unterschiedliche Richtungen.
    Aufmerksam behielt Khawa die Krieger im Auge. Es war keine allzu aufwändige Abschiedszeremonie erfolgt, da niemand mit Verletzen oder gar mit Verlusten rechnete. Die Moral war trotz des Wetters hervorragend, die Männer hochmotiviert nach seiner Serie von Erfolgen. Seine Taktik, wegen der man ihn Steppensturm nannte, ging auf. Khawas Krieger bleiben nie länger als ein paar Stunden am selben Ort und nie kehrten sie in das selbe Gebiet zurück. Die deutlich besser ausgerüsteten almanischen Ritter bekamen sie seit Monaten nicht zu fassen und die gesamte nordwestliche Grenzregion Almaniens war inzwischen verarmt, während man Khawa in Rakshanistan als Helden feierte.
    Mit einem kurzen Fersenklopfen trieb er seine Hyäne an und postierte sich an der Flanke des Korridors aus Hyänenreitern. Sein Tier war unruhig und keckerte, weil es sich auf die Hatz freute. Die Hyäne trug, wie es bei Rakshanern üblich war, kein Zaumzeug, sondern wurde nur dich die Beine und die Stimme ihres Reiters gelenkt. So blieb der massige Kopf frei und sie konnte in alle Richtungen beißen, wenn erforderlich.
    Die Krieger waren in Position, der Korridor bereit. Trupp eins war wegen des Starkregens trotz der kurzen Entfernung nicht mehr zu sehen. Jeden Moment würde Eskir das Gatter öffnen und die Hatz der Herde beginnen.
    Ein Schrei gellte und endete mitten drin. Alle Köpfe fuhren nach Norden herum. Hinter den Hügelkuppen, die das Tal von allen Seiten einschlossen, war etwas geschehen. Khawa brauchte nicht sehen, was passiert war, um zu wissen, dass Skiran nicht mehr war. Mit seinem Schrei hatte der treue Kundschafter das Letzte getan, was ihm möglich gewesen war.
    »Abbruch!«, brüllte Khawa. »Flucht nach Süden!« Es war die entgegengesetzte Richtung, von der aus der Schrei ertönt war. Khawa trieb seine Hyäne an, galoppierte einige Schritte und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er riss das Tier im vollen Lauf wieder herum, mit ihm seine Truppe. Vor ihnen waren hinter dem Hügelkamm Lanzenspitzen aufgetaucht, denen eiserne Helme folgten. An den Schäften hingen schlaff vom Regen die Banner von almanischen Adelshäusern herunter. In der Dunkelheit wirkten sie alle grau und schwarz.
    Die Hyänen jaulten schrill. Khawa blickte sich hastig in alle Richtungen um, doch es gab keinen Fluchtweg und er hörte auf, sein Tier in immer neue Richtungen zu treiben. Es tänzelte auf der Stelle und wollte durchgehen, nur mit Mühe hielt er es unter Kontrolle. Die Rakshaner kamen um ihn herum zum Stillstand und dängten sich zusammen. Auch auf den anderen Hügelkämmen waren nun Eisenhelme aufgetaucht. Innerhalb weniger Augenblicke war Khawas gesamte Einheit von almanischen Rittern und lanzentragenden Fußsoldaten eingekesselt. Wie hatte das geschehen können? Woher hatten sie gewusst, wo sie sich befanden?
    Khawa kam nicht mehr dazu, sich weitere Gedanken zu machen. Er musste eine Entscheidung treffen, und zwar sofort. Er zog in einer fließenden Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher, riss seinen Bogen in Schulterhöhe und spannte. »Angriff!«, brüllte er und ließ zeitgleich die Sehne los. Es knallte wie ein Peitschenhieb, als der Pfeil in einen gerüsteten Körper einschlug. Ein Fußsoldat ging zu Boden. Sofort eröffnete der Feind das Gegenfeuer. Während der erste Almane fiel, stürzten auch die ersten Hyänenreiter von ihren Tieren. Eine Reihe von Bogenschützen musste sich hinter den Rittern und Lanzenträgern verbergen. Khawa legte den nächsten Pfeil ein und schoss. Die Hyäne des Reiters neben ihm kreischte, von Pfeilen gespickt, und ging durch. Ihr Reiter rutschte leblos von ihrem Rücken. Das große Tier stürmte auf die Reihe der Almanen zu und biss um sich. Ein Fußsoldat hing quer in ihrem Maul und sie schüttelte ihn, doch gegen eine geschlossene Linie gerüsteter Soldaten kam auch ein ganzes Rudel ihresgleichen nicht an. Mehreren Lanzen spießten sie auf, ehe sie ein zweites Mal mit ihrem todbringenden Gebiss zubeißen konnte.
    Khawa wurde schlagartig die völlige Aussichtslosigkeit der Lage bewusst. Mochte er trotz seines jungen Alters ein noch so guter Anführer sein, auch er war nicht allmächtig. Dieser Feind war nicht nur bestens auf Khawa und seine Truppe vorbereitet und die Bewaffnung passend eingestellt, sondern die Almanen waren auch in der Überzahl. Der Ring hatte keine Lücken. Mehr als einen heldenhaften letzten Kampf würden die Hyänenreiter ihnen nicht entgegensetzen können.
    »Blut!«, brüllte Khawa und riss den Hornbogen in die Luft. Damit löste er seinen Kommandoanspruch auf und gab das Signal zum letzten Gefecht.
    Sie würden heute bis auf den letzten Mann sterben und würden nicht viele mit sich nehmen können. Doch das war es wert. Zum Leben eines Plünderers gehörte auch ein früher Tod. Khawa hatte sich freiwillig für dieses Leben entschieden und somit auch für ein zeitiges Sterben. Er hätte auch hinter der Front bleiben und als einfacher Nomade sein Leben führen können. Doch das war nicht, wofür Khawa fo-Azenkwed geboren war! Er war der Steppensturm!
    Khawa ließ den Bogen zu Boden fallen und riss seinen Knochensäbel aus der Scheide. Er versuchte, zu erkennen, wo der Befehlshaber der Almanen sich befand. Den würde er auf die andere Seite mitnehmen. So wie Skiran mit seinem letzten Atemzug für seine Kameraden gekämpft hatte, würde es auch Khawa tun und jeder einzelne, der unter seinem Kommando gestanden hatte.
    Es zischte erneut, neben Khawa brach eine Hyäne zusammen und begrub ihren Reiter unter sich. Ein weiterer Pfeil flog knapp an Khawas Turban vorbei und bohrte sich in die Stirn des Rakshaners hinter ihm. Viele waren nicht mehr geblieben, die kämpfen konnten.
    Die Almanen zogen ihren Kreis nun enger und stellten das Schießen ein, um nicht ihre Kameraden auf der gegenüberliegenden Seite zu gefährden. Der Regen, der die Rakshaner zuvor geschützt hatte, würde ihr Leichentuch werden.
    Khawa ritt in einem letzten Akt der Verzweiflung auf die Linie der gepanzerten Soldaten zu. Er hatte wegen der Dunkelheit den Anführer nicht ausmachen können und würde ein willkürliches Opfer wählen. Die anderen Überlebenden seiner Truppe folgten seinem Beispiel und gemeinsam rasten sie im Pulk auf die Almanen zu. Vielleicht gelang es ihnen ja sogar, die Linie zu durchbrechen! Er trieb sein Tier zum schnellstmöglichen Galopp an, in der Absicht, es kurz vor der Linie der Lanzen abspringen und mitten in der Linie der Soldaten landen zu lassen. Er kam bis in Sprungweite, dann brach seine Hyäne unter ihm zusammen.
    Khawa machte einen Überschlag und rollte durch den Schlamm. Die Pfoten der anderen Tiere trampelten über ihn hinweg, er wälzte sich hin und her, um nicht zertrampelt zu werden. Der Schlag einer großen Pfote traf ihn, stark wie der Tritt eines Pferdehufes, und schleuderte ihn ein Stück durch die Luft. Erneut stürzte er in den Schlamm. Um Luft ringend blieb Khawa liegen, das vermummte Gesicht im Dreck. Seinen Säbel hatte er verloren, so wie seinen Bogen.
    Es wurde still.
    Kein Keckern, kein Jaulen und kein rakshanisches Wort. Nur das Kirren almanischer Rüstungen und Stimmen, die Asameisch sprachen. Der Regen trommelte auf den besiegten Anführer des rakshanischen Plündertrupps nieder.
    Mühsam stützte er sich auf die Unterarme, dann rappelte er sich auf alle viere. Starke Schmerzen im Bauchraum quälten ihn. Er hob den Kopf mit dem regenschweren Turban. Direkt vor ihm standen ein paar schlammverschmierte eiserne Panzerstiefel.
    Unweigerlich blickte Khawa nach oben und sah vor sich einen Ritter in eiserner Rüstung und einem klatschnassen, gemusterten Wappenrock. Das musste der Anführer dieser Streitmacht sein. In seiner Hand hielt er das gezogene Schwert. Doch er wartete noch. Offenbar war er doch nicht der Anführer.
    Neben ihn trat ein Bürschlein, ein sehr junger Adliger, kaum dem Knabenalter entwachsen, in einer aufwändigen Rüstung. Das Visier seines Helmes hatte er nach oben geklappt, um besser sehen zu können, so dass auch Khawa seinerseits sein junges, spitzes und blasses Gesicht erkennen konnte. Während der Ritter genau zu wissen schien, was nun zu tun sei, waren dem Knaben Angst und Unsicherheit ins Gesicht geschrieben. Er war noch zu jung für den Krieg und zu jung für das Führen einer Streitmacht. Wahrscheinlich war der Ritter in Wahrheit der Kopf hinter dem Ganzen gewesen.
    Auch das vermummte Gesicht Khawas spiegelte Angst, er hatte im Angesicht seiner zu erwartenden Hinrichtung am ganzen Leib zu zittern begonnen. Er war nie ein Feigling gewesen, doch seine gefallenen Kameraden, die Verzweiflung und den eigenen Tod vor Augen, überkam ihn Panik.
    Es gab nur wenige Worte auf Asameisch, die er kannte. Dazu gehörten jene, die er nun sprach: »Bitte nein! Bitte!«
    Khawa hätte jeden ausgelacht, der ihm erzählte, vor einem Feind um Gnade gewinselt zu haben, und nun tat er es selber. Er bettelte in einer fremden Sprache, im Dreck eines fremden Landes, um sein Leben. Der gestandene Krieger drückte sich vor dem jungen Adligen auf den Erdboden.
    Ob es dessen jungen Alter und seiner entsprechend mangelnden Abgestumpftheit zu verdanken war oder an Khawas steinerweichenden Flehen lag - seiner Bitte um Schonung wurde stattgegeben. Er durfte sich erheben.
    Man trieb ihn zu Fuß zwischen den schweren Schlachtrössern voran, so wie er vorgehabt hatte, die Rinder zu treiben, die noch immer in ihrem Gatter standen und nun nicht dazu dienen würden, das rakshanische Heer mit Nahrung und Leder zu versorgen. Seine Kameraden daheim würden vergebens auf die Heimkehr von Khawa, dem Steppensturm, und seiner Truppe warten. Ein letzter Blick auf seine gefallenen Kameraden war ihm nicht vergönnt, als man ihn abführte.
    Der Grund seiner Schonung war profaner, als er erwartet hatte und er erfuhr ihn, als sie beim Hof des Duc eintrafen: Khawa sollte als lebende Trophäe dienen. Als Beweis der ersten siegreichen Schlacht unter der Führung des jungen Ciel Felicien de Souvagne, dem er genau dies nicht zugetraut hatte und der ihn stolz seinem Vater vorführte.
    Khawa verlor an diesem Morgen seine Kameraden, seine Familie, seinen Rang, seine Freiheit und die wilde Steppenheimat, in der er gelebt hatte. Was blieb, war ein Sklave in einer fremden Welt, in der man Behausungen aus Stein baute und sich mit hohen Mauern umgab. Ein Land, in dem ein Mensch das Eigentum eines anderen sein konnte und in dem man die Gesetze von einem Papier ablas anstatt aus dem Flug der Sandwehen und dem Knochenfraß der Geier.
    Der Steppensturm war nicht mehr. Was geblieben war, wusste Khawa nicht.