Auf zu neuen Gipfeln

  • Kapitel 1 - Ein aussichtsloses Unterfangen


    Shamin rieb sich die Schläfen und seufzte tief, die Augen in Resignation geschlossen. Warum? Womit hatte sie das verdient? Namon konnte ihr tausendmal ins Ohr flüstern, dass es eine Ehre sei, dass man sie nur ausgewählt hatte, weil sie die beste war; es änderte nichts. Diese Aufgabe war schlicht und ergreifend eine Pein, ein schlechter Witz, der Versuch, ihr eins auszuwischen und Schwachstellen an ihr zu offenbaren. Nicht mehr und nicht weniger. Sie waren nun bereits zehn Minuten über der Zeit und noch immer fehlte mehr als die Hälfte der Anwärter. Hinzu kam, dass einige der anwesenden sich kaum mit mehr als körperlicher Präsenz rühmen konnten. Über die ganze Entfernung, auf die Shamin stets im Kontakt mit anderen Wert legte, mit Ausnahme vielleicht von Namon, konnte sie den süßlichen Gestank von Alkohol riechen, und die bissige Note ungeputzten Gefieders. Das waren ausnahmslos junge Leute, die hier vor ihr standen oder, um für den Großteil zu sprechen, eben nicht! Wie konnten sie sich derart gehen lassen? Shamin schüttelte es innerlich, doch sie schluckte ihren Ekel hinunter und öffnete die Augen. Auch diese Gruppe würde sie formen, wie jene davor und die davor, bis sie entweder hinwarfen oder als fähige Krieger und Kriegerinnen neue Aufgaben erhielten und endlich dazu beitrugen, ihr Volk vor dem peinlichsten und schändlichsten Aussterben zu bewahren, dass die Welt je gesehen hatte.


    „Wo ist der Rest?“, blaffte sie ohne Begrüßung. Unsicher sahen die Harpyien sich an und versuchten den stechenden Augen ihrer neuen Trainerin auszuweichen. Schließlich räusperte sich ein junger Mann leise. „Sie… äh, sie schlafen noch.“ Shamins Augen verengten sich zu Schlitzen. „Es ist Trainingszeit“, knurrte sie bedrohlich. „Es ist 6 Uhr morgens“, warf ein anderer ein und der vorwurfsvolle Ton in seiner Stimme ließ Shamin mit den Zähnen knirschen. „Du!“, polterte sie dem ersten Sprecher zu. „Geh sie holen! Sofort. Alle anderen: Runden laufen! Ich stoppe die Zeit und die entscheidet, ob es Mittagessen gibt.“ Zögernd machte sich der schlaksige Junge auf den Weg zu den kleinen Hütten, die den Anwärtern als Wohnraum dienten, doch die anderen rührten sich nicht von der Stelle. „Besser, ihr fangt an“, ertönte Namons sanfte Stimme. „Sie kann sehr ungemütlich werden.“ Er zwinkerte Shamin zu, die weiterhin finster in die Runde blickte. „Laufen?!“, löste sich eine Harpyie aus ihrer Starre. „Wozu sollen wir laufen? Wir haben Flügel.“ Shamin stemmte die Hände in die Hüften. „Laufen stärkt den Charakter“, erwiderte sie trocken. „Und es gibt euch Zeit zum Nachdenken. Los jetzt.“
    Widerwillig setzte sich einer nach dem anderen in Bewegung. Shamin hatte die Laufstrecke selbst angelegt, wie alles in dem kleinen Hüttendorf. Die Bahn umrundete die Ausbildungsstätte einmal, nahm dabei aber keineswegs den direkten und ebenen Weg. Bergauf, bergab, schlängelte sich der Pfad und maß in der Länge bestimmt das Doppelte der benötigten Strecke. Shamin hatte sich in die Luft erhoben und kontrollierte mit Argusaugen, ob die Neuankömmlinge sich an den Weg hielten und die Täler nicht im Flug überbrückten. Wann immer einer dies versuchte, schickte sie einen kleinen Wirbelwind hinab, der die Schummelei unmöglich machte.
    Von den zwanzig Nachkömmlingen, die Namon hierher gebracht hatte, hatten nur zwölf letztlich bleiben dürfen, von denen Shamin sich allerdings einiges versprochen hatte. Hoffentlich war dies nur ein holpriger Start und sie wurde nicht enttäuscht. Später würde sie auch mit ihrem Greifen noch ein ernstes Wörtchen reden müssen, denn mitnichten war ihr entgangen, dass dieser den Abend bei Wein und Kartenspiel am Tisch des Grüppchens zugebracht hatte. Von Dingen wie Kennenlernen, Eingewöhnung und gute Ausgangslage wollte sie dann nichts hören! Es war ein Privileg für die jungen Harpyien, bei ihr aufgenommen worden zu sein, da hatten sie sich gefälligst zu fügen, sonst würden sie sie, Shamin, noch früh genug kennenlernen.


    Der junge Harpyier, denn sie weggeschickt hatte, kam erst nach einer halben Stunde zurück, doch Shamin wollte ihm keinen Vorwurf machen. Sie war sich sicher, dass er sich nur nicht getraut hatte, mit leeren Flügeln aufzuschlagen und nun hatte er zumindest vier seiner Kameraden im Schlepptau. Alles klar. Also fehlte die rote, von den Flügelspitzen bis zum Rumpf knallig eingefärbte Kramin oder Krala oder so ähnlich, der hübsche mit dem gescheckten Gefieder und Rangar, doch das verwunderte sie nicht weiter. Von Anfang an war der große Harpyier auf Konfrontation mit ihr gegangen. Sie hatte ihn trotzdem behalten. Er hatte großes Potential und er war eine Herausforderung. Wenn sie ihn klein bekäme, wäre das nicht nur ein persönlicher Triumph, es würde ihren Stellenwert innerhalb der Luftstreitkräfte deutlich anheben und wenn alles glatt ging, eine Privataudienz bei Soshon Nebelkrähe persönlich einbringen. Und mit ein bisschen Glück würde ihr dann – endlich – die ersehnte Magierausbildung zu den höchsten Graden gewährt werden.


    Mehr schlecht als recht mühten ihre Schüler sich nun die Laufstrecke entlang und Shamin orderte Namon als Aufpasser, um sich um die Drückeberger zu kümmern. Wie ein heller Blitz schoss sie auf die Hütten zu und landete lautlos vor der Türe. Ihre Flügel schmiegten sich an ihren drahtigen Körper, dann verschwand sie in einer dichten Staubwolke und trat ein. Zum Glück dämpfte ihr Zauber den größten Gestank, doch Shamin rümpfte trotzdem die Nase. Irgendwo dampfte Erbrochenes vor sich hin, der Boden klebte und die Luft war auch ohne ihr Zutun schon stickig und dicht. Die Staubwand breitete sich in dem kleinen Raum aus. Der hübsche Junge kauerte am Boden vor der kleinen Holzpritsche, die eigentlich nur für eine Person gedacht war. Drin lagen jedoch zwei. Das rote Gefieder hob sich deutlich von der schwarzen Pracht Rangars ab, doch Shamins Blick fiel stattdessen widerwillig auf sein Gemächt, das entblößt zur Seite gerutscht war. Shamin kniff die Augen zusammen und verdichtete ihren Zauber, nahm den dreien fast jegliche Luft zum Atmen, bis sie unweigerlich aufwachten, Panik in ihren trüben Augen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich orientiert hatten. Japsend griffen sie sich an die Kehle und tasteten blind vor sich in der Luft herum. Rangar stieß das Mädchen von sich und sprang aus dem Bett auf den sich windenden Harpyier am Boden. „Joni?“, krächzte der Schwarze, doch dieser jaulte nur. „Wir müssen hier raus!“ Er stolperte nach vorne, krachte gegen den kleinen Tisch und trat etliche leere Flaschen um, doch Stück für Stück näherte er sich dem faden Lichtschein der geöffneten Tür. Shamin beobachtete alles kalt, ohne den Zauber nur ein kleines Bisschen abzuschwächen. Das Mädchen kämpfte sich dem dunklen Schatten Rangars hinterher, doch der Schönling blieb weiter wimmernd am Boden liegen. „Steh auf, du Weichei!“, fauchte Shamin und trat mit dem Fuß nach ihm. „Wer ist da?“, druckste er mit zittriger Stimme hervor. „I’semi, bist du es? Wirst du mich für meine Sünden strafen?“ Shamin rollte mit den Augen. „Natürlich nicht! Glaubst du, die Windelementarin nimmt sich Zeit für Ungeziefer wie dich? Hoch jetzt mit dir!“ Mit eisernem Griff packte sie seinen Arm und zerrte ihn ohne Mühe auf die Knie, obwohl sie deutlich kleiner war. Sie scheuchte ihn den anderen hinterher aus der Hütte und erst draußen löste sie den Zauber. Der hübsche Joni erbrach zu ihren Füßen. Fast zeitgleich kreischte die Rote los, an deren Namen Shamin sich noch immer nicht hundert prozentig erinnern konnte. „Willst du uns umbringen?! Ich habe überhaupt keine Luft mehr gekriegt! Überhaupt nicht!“ Sie hatte ihre feuerroten Flügel aufgestellt und echauffierte sich gestenreich. „So schnell stirbst du nicht, dumme Gans“, sagte Shamin gelangweilt und gab dem kauernden Joni einen Schlag mit der Flügelspitze auf den Hinterkopf. „Das ist Körperverletzung! Ich könnte mich beschweren!“, zeterte die junge Frau weiter. „Viel Erfolg.“ Sie starrten sich wütend an, doch bei Shamins Todesblick gab jeder irgendwann klein bei. „Das Training läuft bereits. Besser ihr fangt an, sonst lasse ich euch die ganze Nacht lang rennen.“
    „Ich trainiere nicht.“ Das Mädchen verschränkte die Arme vor dem Körper. „Und du kannst mich nicht zwingen.“ Trotz schwang in ihrer Stimme mit. „Kann ich doch“, sagte Shamin kalt und im Bruchteil einer Sekunde hatte sie den Bolzen ihrer Armbrust auf die Stirn der Verweigerin gerichtet. Sie genoss den Moment, die panisch geweiteten Augen, das blinde Tasten nach dem starken Rangar zu ihrer Seite, der sich bislang weder gerührt, noch ein Wort gesagt hatte. Dann löste sie auf. „Will ich aber nicht. Entweder du tust, was ich dir sage, oder du verpisst dich und kommst nie wieder.“ Tatsächlich hatte schon einmal ein Schüler sein Leben gelassen (Shamin sträubte sich gegen die Behauptung, sie hätte ihn umgebracht) und das hatte der Harpyie – so viel Freiheiten sie auch sonst genoss – großen Ärger eingebracht. Wenn es sich irgendwie einrichten ließ, versuchte sie seither alle heil durchzubringen, auch wenn die Anwärter das nicht zu wissen brauchten. „Wie? Du holst mich extra und dann schickst du mich weg?“ Verwunderung mischte sich in ihren Ton. „I-ich kann gehen, wann immer ich will?“ „Natürlich“, brummte Shamin und versuchte den Gedanken an die geforderte Quote ausgebildeter Kämpfer zu ignorieren, „doch wiederkommen brauchst du dann nicht. Und es trotzdem zu tun, ist das letzte, das ich dir rate.“ Die großen Augen der jungen Harpyie schossen zu Rangar, sehr zu Shamins Unmut. Wenn sie Pech hatte, verlor sie schon am ersten Tag ihre große Hoffnung. „Du, Krala, Baby“, sagte er mit tiefer Stimme, „du weißt, dass ich am liebsten gar nicht hier wäre und dir überall hin folgen würde… aber ich kann nicht. Was denken sie, wenn ich nach einem Tag zurück komme? Vater wird…“, er hielt inne und sah Shamin finster an. Sie verstand: es gab Dinge, die sollte sie nicht wissen. „Lass es uns versuchen, okay?“ Er zog Krala an sich heran und grabschte ihr schamlos an den Hintern, die herausfordernden Augen dabei auf Shamin gerichtet. Ohne ein weiteres Wort stapfte diese los, jedoch nicht ohne den Wind zu drehen, sodass das Geflüster von hinten zur ihr hinüber geweht wurde. „Kein Sorge, Baby. Wir machen es uns hier schon noch gemütlich. Und der untervögelten Alten das Leben zur Hölle.“
    „Versuch das nur“, antwortete Shamin in Gedanken mit zusammengebissenen Zähnen.

  • Shamin beendete gerade ihre Abendmeditation als Namon den kleinen Wohnraum betrat. Er versuchte ganz leise zu sein, was ihm nicht gelangt. Mit gekräuselten Lippen öffnete Shamin ein Auge und sah den großen Greif auf Krallenspitzen an der Wand entlang schleichen. Er bemerkte ihren Blick und blieb abrupt stehen. „Hehe, hi“, sagte er, „bin ich zu früh?“ Einen Moment überlegte sie, ihren Freund und Bruder zu triezen, doch dann entspannten sich ihre Züge. „Nein, ich bin gerade fertig geworden. Tee?“ Namon nickte und ließ sich auf einem der großen Teppiche nieder. „Also“, setzte er an, während Shamin an der kleinen Kochstelle zu Gange war. „Was denkst du? Für den ersten Tag war es doch nicht schlecht, oder?“ Er rollte sich auf den Rücken und begann sich zu kratzen. „Lass das!“, drohte Shamin, ohne sich umzudrehen. „Weißt du eigentlich, wie lange es dauert, die Haare aus dem Teppich zu kriegen?“ Schuldbewusst klickte Namon mit dem Schnabel. „Tut mir leid, Minchen.“ Die Harpyie fuhr herum und schaffte es erstaunlicherweise nichts auf dem Tablett umzuschütten. „Und das lässt du auch. Du sollst mich nicht so nennen.“ Festen Schrittes kam sie zurück und stellte den Tee ab, bevor sie sich selbst niederließ.
    „Ach, es war schon in Ordnung heute“, seufzte sie. „Aber das liegt vermutlich daran, dass meine Erwartungen von Mal zu Mal geringer werden.“ Namon hob das Gefieder über seinem rechten Auge an. „Wirklich!“, beteuerte Shamin. „Eigentlich hätte keiner von ihnen ein Mittagessen verdient gehabt und noch viel weniger einen freien Abend.“ Bei den letzten Worten bohrte sich ihr Blick regelrecht in den Greifen. „Komm schon, Shamin. Du musst ihnen wenigstens ein bisschen Belohnung in Aussicht stellen. Sonst wirst du sie nie auf deine Seite kriegen.“
    „Ich WILL sie überhaupt nicht auf meiner Seite. Ich“ - Namon unterbrach sie.
    „Ich habe mich falsch ausgedrückt. Was ich meinte… sie werden nie Freude daran haben, hier zu sein und die Ausbildung zu durchlaufen, wenn sie nicht ab und an etwas Schönes machen können. Und wenn sie keine Freude haben, werden sie nie motiviert sein und du wirst immer und immer wieder mit ihnen kämpfen müssen.“ Finster drein blickend schlürfte Shamin von ihrem Tee. „Das sagt du mir jedes Mal“, presste sie hervor. „Naja“, begann Namon, „weil ich hoffe, dass es irgendwann durchsickert.“ Schützend hob er einen Flügel vor das Gesicht, als ein Teelöffel auf ihn zu geschossen kam.
    „Gehört zu den schönen Dingen zufällig auch Wein trinken und Kartenspielen?“ Die Frage schwebte einen Moment zwischen ihnen, dann spreizte Namon den Flügel und spähte hindurch. „Ich, ähm, ich denke, das kann man durchaus als etwas Schönes bezeichnen, ich meine, es sei denn man ist Du.“ Er kicherte nervös. „Namon?“ Fast schien der Greif unter dem gelben Starren aus Shamins Augen zu schrumpfen. „Ich hätte es wissen müssen!“, stöhnte er.
    „Was, dass ich es herausfinde?“ Er überging die Frage.
    „Ich dachte, ich lerne die Neuen schon einmal ein wenig kennen, breche das Eis, taste ab, fühle vor, du weißt schon. Damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.“
    „Du hast die Kandidaten bei der Auswahl in den Orten doch bestimmt schon genauestens analysiert?“, bohrte Shamin weiter. „Du wirst ja sicher nicht einfach jeden nächst besten hierher bringen.“
    „Natürlich nicht, Shamin.“ Namon seufzte. „Wenn du mich für gestern Abend zurechtweisen oder bestrafen willst, dann mach einfach, ok? Doch wenn du es nur einmal versuchen würdest, würdest du merken, dass es nichts Verwerfliches an einem kleinen Gläschen oder auch zweien und einem geselligen Kartenspiel gibt.“ Shamin presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. „Niemals“, zischte sie, ihr Gesicht eine Maske. „Niemals.“ Namon war klug genug, nichts weiter zu sagen. Er war ohnehin der einzige, der dieses Thema überhaupt ansprechen konnte, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Eine Weile schwiegen sie, doch der Greif spürte, dass Shamin etwas auf der Seele brannte.
    „Möchtest du etwas über den ein oder anderen wissen? Damit mein Besuch nicht ganz umsonst war.“ Die freundlichen Adleraugen blitzten aufheiternd.
    „Ach naja… wo du es schon sagst“, begann die Harpyie zögerlich und quittierte Namons amüsierten Ausdruck mit einem Knurren, „ich fragte mich, aus welchen Verhältnissen dieser große, dunkle stammt – Rangar. Er erwähnte etwas, als ich sie holen ging, dass er nicht einfach so unverrichteter Dinge zurück könne; und er nannte seinen Vater.“ Tatsächlich hatte der junge Mann sie den ganzen Tag über gedanklich beschäftigt. Wie zu erwarten gewesen war, hatte er die meisten Übungen gut gemacht, auch wenn ihm die Unlust und der Groll stets ins Gesicht geschrieben gestanden hatten. Tief in ihm musste eine Wut schlummern, vielleicht auch Trauer, irgendetwas, dass ihn so verbittert und resigniert werden ließ und ihn zugleich antrieb und drängte.
    „Hm“, nickte Namon. „Ich weiß, wen du meinst. Ein äußerst schweigsamer Zeitgenosse. Aber wenn er etwas sagt… dann hat es das in sich. Austeilen kann er.“ Die Öffnung des Schnabels deutete ein Lächeln an. „Aber von sich hat er nichts erzählt.“
    „Und der Ort, von dem er stammt? Ist dir da etwas aufgefallen?“
    Namon stieß hörbar Luft aus und klickte einige Male mit den Krallen. „Es gab viele Frauen dort. Sehr junge aber auch sehr alte. Außer Rangar habe ich nicht einen Kerl gesehen und man sagte mir auch, der Herr des Hauses sei unpässlich.“
    „Wo war das?“ Ganz unbewusst stricht Shamin die Tischdecke auf dem kleinen Rundtisch glatt.
    „Südlich. Siedlung Kingaya, glaube ich.“
    „Hm. Nichts Besonderes daran. Nur die Geburtsstätte eines weiteren verstaubten Philosophen.“
    „Mison“, sagte Namon automatisch und auch ein wenig stolz über sein Wissen.
    „Irgendetwas ist mit Rangars Vater. Vielleicht muss er zukünftig die Familie ernähren.“
    „Ich kann ihn ja später bei Wein und Spiel danach fragen.“
    Dieses Mal flog eine ganze Tasse auf Namons Gesicht zu.


    Nach der Lagebesprechung und der Planung für die nächsten Tage, standen Namon und Shamin noch ein Weilchen auf der Veranda der kleinen Hütte und genossen die untergehende Sonne. Im Tal hatte sich eine dichte Wolkenmasse eingenistet und die Sonne versank Stück für Stück in diesem weißen Bett und färbte es rosig ein. Bei diesem Anblick konnte man fast glauben, es gäbe nichts als die Gipfel und Hallen des Hymaya, keine Orks und sonstige feindliche Völker, die darunter lauerten und die Venthros von allen Verbündeten abschnitten. Wobei… Verbündete war wohl nicht das passende Wort. So zumindest Shamins Meinung. Einst hatte man vom gegenseitigen Handel profitiert, doch als die Venthros nicht mehr liefern konnten, als das Silber sie verließ und mit ihm nicht nur Glück sondern auch Ehre und Moral, hatten die Lichtalben schnell das Interesse verloren, wenn man von den Greifen für ihre Lichtreiter einmal absah. Den meisten ihrer Artgenossen war dieser Umstand traurigerweise relativ egal. Shamin war geteilter Meinung. Durch die Greifenausbildung hatte sie des Öfteren Kontakt mit Lichtalben und sie verachtete sie ebenso wie sie sie bewunderte. Auf seltsame Weise fühlte sie sich den kühlen Fremden verbundener als ihren eigenen Leuten, doch zugleich spürte sie ihre Arroganz und Überheblichkeit. Auch in den höheren Kreisen der Luftstreitkräfte wurde kontrovers über das Volk aus dem Norden diskutiert, doch man war sich einig, dass man nur mit deren Hilfe wieder zu altem Glanz würde aufsteigen können; mit deren Hilfe und mit einem wilden Wirbelwind, der all den jungen Leuten ordentlich die Köpfe frei blies.


    „Ist es nicht schön?“, sagte Namon leise.
    „Das ist es.“
    Langsam trat der Greif näher an sie heran und legte ihr einen Flügel um die Schultern. „Und du trägst dazu bei, dass es das auch bleibt, Schwesterchen. Du kannst stolz auf dich sein.“

  • Die folgenden Wochen verliefen derart ruhig, dass Shamin zusehends misstrauisch wurde und jeden Tag damit rechnete, dass eine Bombe hoch ging. Sie war Namons Rat gefolgt und gewährte den Rekruten täglich Pausen und abends ein wenig gemeinsame Zeit vor der strikten Nachtruhe. Tagsüber arbeiteten die Harpyien an ihrer körperlichen Ausdauer, ihrer Kraft und ihren Flugfähigkeiten. Ergänzt wurde das Training von Schießübungen mit der Steinschleuder, das großen Zuspruch fand und fast allen gut gefiel, mit Ausnahme von Joni und Kola, die Schwierigkeiten damit hatten. Kola war es auch, die regelmäßig in Heulkrämpfe ausbrach, wenn ihre Lungen vom Laufen brannten oder die Flügel vor Erschöpfung zitterten. Da Shamins Mitgefühl der Größe eines Reiskorns glich, ergriff stets Namon die Initiative, legte seine starken Flügel um das Mädchen und ließ es an seiner Schulter weinen, bis es sich beruhigt hatte.
    Weniger schweißtreibend war der zweite Teil der Ausbildung, in dem Shamin ihre Schüler Spuren und Zeichen der Natur zu lesen lehrte. Sie ahnten das Wetter und die Winde voraus, machten sich die Vegetation und Gegebenheiten der Umgebung zu Nutze, studierten das Verhalten von Tieren und ordneten Pflanzenarten zu. Sie mischten Kräutertinkturen, kreierten einfache Rezepte auf Basis dessen, was sie fanden, lernten Symptome verschiedener Verletzungen und Krankheiten und dazugehörige Behandlungsmaßnahmen kennen und vollführten Reparaturarbeiten an Gebäuden und Ausrüstung.


    Die Tage gingen ins Land, ohne, dass etwas Außergewöhnliches passiert wäre und obwohl Shamin einige der Anwärter das ein oder andere Mal beim Trinken oder nächtlichen Ausflügen auf einen nahen Felsvorsprung erwischte, erschienen sie alle meist pünktlich zum Training. Etwas stimmte nicht. Sie sprach Namon darauf an, doch der winkte ab.
    „Wieso kannst du dich nicht einfach darüber freuen? Sieh nur welche Fortschritte sie gemacht haben! Und das Dorf war nie in einem besseren Zustand. Selbst die Schäden des großen Wintersturms sind alle behoben.“
    Doch so sehr ihr Bruder sich anstrengte, Shamin blieb unruhig.


    Eines Morgens erwachte sie dann von lautem Klopfen an ihrer Tür. Binnen Sekunden war sie auf den Beinen.
    „Shamin Sturmtochter?“, fragte ein auffallend kleiner Harpyier. Dunkle, kreisrunde Färbungen um seine Augen gaben ihm ein gewissenhaftes Aussehen.
    „Die bin ich.“
    „Ich bringe Kunde von Soshon Nebelkrähe.“ Er ließ die Worte wirken und blickte dabei hochnäsig drein. Shamin tat ihm nicht den Gefallen, ihre Aufregung zu zeigen. Schon jetzt wusste sie, dass sie den Kerl nicht leiden konnte.
    „Er wünscht Euer…“, skeptisch sah er sich um, „sagen wir ‚Ausbildungszentrum‘ zu besuchen.“
    „Wann?“
    Verdutzt über die barsche Frage, legte der kleine Mann den Kopf schief und spitzte missbilligend die Lippen. „Bald. Nächste Woche.“
    „Gut. Habt Dank.“ Shamin machte sich daran die Türe zu schließen.
    „Er kommt nicht allein.“ Triumphierende Freude blitzte durch seine Augen, als Shamin in ihrer Bewegung stockte. Nun war ihre Neugierde offenbar durchgeschienen.
    „Sondern?“, fragte sie genervt von seiner Überheblichkeit und ihrer eigenen Reaktion.
    „Der Kommandant der Lichtreiter wird ihn begleiten. Besser Ihr bringt diese Ansammlung toter Bäume ein wenig auf Trab. Guten Tag.“ Mit einer halbherzigen Verbeugung ging er ein paar Schritte zurück und schwang sich in den Himmel hinauf. Shamin blickte ihm nach, bis er nur noch ein dunkler Punkt am dämmernden Horizont war und überlegte fieberhaft.
    Ein Besuch von Soshon Nebelkrähe war an sich schon eine Besonderheit und kurz hatte sie zu hoffen gewagt, dass er etwas mit ihrem Antrag auf eine Elementarausbildung zu tun hatte. Die Tatsache, dass ihn ein Lichtalb begleitete, hatte diese Hoffnung im Keim erstickt. Stattdessen war ein ambivalentes Gefühl zurückgeblieben. Gab es Zuspruch zu ihrer Greifenausbildung? Sollte dieser Zweig womöglich ausgebaut werden? Gab es neuen Bedarf? Oder war das Gegenteil der Fall und es gab Beschwerden? Shamin schluckte und ließ den Blick schweifen wie es der Botschafter zuvor getan hatte. Tote Bäume… Verächtlich zischte sie. Wollte sie sehen, wie er etwas Vergleichbares aus dem Boden stampfte. Dann ging sie zurück ins Haus, um die Morgenmeditation zu absolvieren.


    Später sprach sie mit Namon über den Besuch und zu ihrem Erstaunen nickte der Greif ernst.
    „Ich habe Gerüchte gehört, als ich die Rekruten zusammensuchte.“
    „Was für Gerüchte?“, fiel ihm Shamin unwirsch ins Wort. „Wieso hast du nichts gesagt?“
    „Du gibst nichts auf Tratsch – deshalb.“
    „Raus mit der Sprache!“
    „Angeblich ist eine Streitmacht der Lichtalben aus Avinar abmarschiert, um den Zwergen zur Hilfe zu eilen.“
    „Was?“
    „Ja, so redete man in den Siedlungen. Es gibt wohl Krieg um eine bedeutende Zwergenfeste irgendwo, nicht weit von hier.“
    „Aber weit von Avinar…“ Gedankenverloren strich Shamin die Fäden des Teppichs in eine Richtung.
    „Mir erschien es auch erstaunlich. Ich gab nicht viel darauf.“
    „Und seither hast du nichts mehr gehört?“
    „Nein. Allerdings war ich seither auch die ganze Zeit hier.“
    „Das ist höchst merkwürdig. Was könnte die Alben dazu treiben, ihre geliebte Heimat zu verlassen? Du hast Recht… vielleicht hat der Besuch damit zu tun. Auf alle Fälle müssen wir das Dorf an einigen Stellen auf Vordermann bringen und die Rekruten anweisen, sich ordentlich aufzuführen! Mein Ruf bei Nebelkrähe darf auf keinen Fall beschmutzt werden.“

  • Mit einer Mischung aus Belustigung und Sorge beobachtete Namon Shamin die nächsten Tage. Eine allumfassende Nervosität hatte von ihr Beschlag genommen, die sich in einem noch strengeren Ton, noch größerer Akribie und Gereiztheit bemerkbar machte. Doch im Vergleich zu dem, was sie sich selbst aufbürdete, waren die extra Einheiten für die Rekruten kaum der Rede wert. Manchmal fragte sich Namon am Morgen, ob seine Schwester überhaupt geschlafen hatte.
    „Mach dir keine Sorgen, das Lager ist in einem super Zustand“, wagte er sich eines Abends hervor, als sie nach einer stärkenden Gemüsebrühe endlich einmal ein paar Augenblicke ruhig auf der Veranda saßen.
    Shamin seufzte. „Es ist egal, wie gut und ordentlich es ist. Er wird das eine finden, das ich übersehe!“
    „Ich bezweifle, dass so etwas existiert, es sei denn, du hast dir auch zum Ziel gesetzt, das Gras gleichmäßig wachsen zu lassen. Alles wird gut! Du wirst sehen.“
    „Ich traue den Kindern nicht.“
    Aha, dachte Namon. Endlich spricht sie ihre wahre Sorge aus. Er wartete einen Augenblick, um sie zum Reden zu bewegen.
    „Findest du es nicht auch komisch, dass sie auf einmal bei fast allem mitmachen? Das kann ja wohl kaum an dem Bisschen Pausen und Wein liegen, das ich ihnen erlaube. Die hecken doch was aus.“
    „Ehrlich gesagt, habe ich mir das auch schon gedacht“, gab Namon zu und sah im Augenwinkel, wie Shamins Kopf zu ihm hinüber schoss. „Sie sind schon erstaunlich gefügig.“
    „Was?“ Entsetzen weitete ihre Augen. „Und… und was tun wir dagegen?“
    „Nichts.“
    „WAS?“
    Namon zuckte mit den Schultern. „Wir können nichts tun. Es sei denn, du sperrst sie alle weg, während Nebelkrähe und der Alb hier sind. Was vermutlich auch ein wenig merkwürdig wirkt.“
    „Aber ich muss doch irgendetwas tun können!“ Shamin war auf die Beine gesprungen und begann auf und ab zu tigern. „Irgendwas!“
    „Du heizt sie nur ein. Wenn sie etwas geplant haben, wird es ihnen noch viel mehr Spaß machen, wenn du es zu verhindern versuchst. Und falls sie nichts geplant haben, könntest du sie auf falsche Gedanken bringen.“
    Mit beiden Händen stützte Shamin sich auf die Brüstung und starrte in die Ferne. „Es wird nach hinten los gehen. Ich weiß es.“
    Namon stand auf und legte ihr vorsichtig einen Flügel über die Schulter. „Ich weiß, es fällt dir nicht leicht, auf andere zu vertrauen. Aber du kannst nicht alles kontrollieren. Ruh‘ dich lieber noch ein bisschen aus! Deine Augenringe kannst du nämlich kontrollieren…“

    Am Morgen des hohen Besuchs erwachte Shamin lange bevor es hell wurde. Der Himmel war noch beinahe schwarz und die Sterne funkelten noch zu Tausenden über ihr. Um den Kopf frei zu kriegen, dehnte sie sich vor ihrer Hütte ausgiebig durch und schloss mit einer besonders langen Meditation. Ihre Gedanken loszulassen fiel ihr heute allerdings schwer. Ständig ertappte sie sich dabei, wie sie all die Dinge durchging, die schief laufen konnten. Was, wenn dem General das Trainingsgelände zu klein war? Die Hütten zu einfach, die Ausrüstung zu alt? Was, wenn er die Anzahl Rekruten zu gering fand? Ihre Verfassung mangelhaft? Mit einem tiefen Atemzug versuchte Shamin sich wieder auf ihre Mitte zu konzentrieren. Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut. Im Mantra sprach sie Namons Worte stumm vor sich hin und versuchte auch daran zu glauben.


    Wenn man von einer Sache schon das absolute Extrem verkörperte, war es unmöglich, dies noch zu übertreffen. Zumindest hatte Namon das gedacht. Trotzdem gelang es Shamin, die immer so dastand, als hätte sie nicht nur einen Stock, sondern eine ganze Platte verschluckt, eine noch steifere und aufrechtere Haltung einzunehmen, während sie das Eintreffen Nebelkrähes und des Lichtreiters erwartete. Glücklicherweise war der Generalmarschall der Lüfte pünktlich wie die Morgensonne und sie und die Rekruten standen nur in etwa eine halbe Stunde wie Statuen auf dem kleinen Platz vor den Hütten und schwiegen sich an.
    Soshon Nebelkrähe war ein groß gewachsener Harpyier mit silbrig-grauem Gefieder und stechenden dunklen Augen. Nach Namons Geschmack blickte er viel zu ernst drein, doch Shamin floss bei seinem Anblick förmlich dahin. Neben ihm schwang sich der Alb von seinem Greifen und was Namon dort sah, was schon eher sein Fall. Cremefarbenes Fell zog sich über einen schlanken Körper und endete in so feinem Gefieder, wie er es noch nie gesehen hatte. Ihre Augen strahlten grün und sie hatte lange Wimpern. Namons Herz schlug schneller. Hoffentlich beabsichtigten ihre Gäste ein wenig zu bleiben, er würde sich in der Zwischenzeit um die Dame kümmern. Mit klopfendem Herzen versuchte er ihren Blick zu fangen, doch sie starrte stur zur Seite.
    „Generalmarschall, Oberfeldwebel, willkommen.“ Shamin ging zwei Schritte auf die Männer zu und verbeugte sich.
    „Sturmtochter.“ Nebelkrähes Stimme war tief und melodisch. „Nett, dass Ihr uns empfangt. Wo können wir uns in Ruhe unterhalten? Eine der Hütten nehme ich an?“ Während er sprach, hatte er die kurze Distanz zwischen ihnen überbrückt und war im Begriff einfach an Shamin vorbei zu gehen. Der Alb folgte ihm dicht auf den Fersen. Shamin blieb nichts, als es ihm gleich zu tun.
    „Selbstverständlich, Sir. Gleich dort vorne ist meine Hütte, dort können wir-„
    „Gut. Ich wünsche Tee. Wir werden nicht lange bleiben. Was ist mit den Jünglingen? Warum trainieren sie nicht?“
    All das sagte er, ohne einmal zur Seite zu sehen. Namon sah mitleidig zu seiner Schwester, die wie vom Blitz getroffen stehen geblieben war. Endlich löste sie sich aus ihrer Starre.
    „Los mit euch! Das Morgenprogramm, aber dalli!“, bellte sie den in Reih‘ und Glied stehenden Rekruten entgegen und wandte sich ruckartig ab, dem Marschall zu folgen.