Neuer Wind in Avinar

  • Der Heimweg war merkwürdig. Obwohl es nach Hause ging, wollte sich kein freudiges Gefühl einstellen. Der Weg war lang und anstrengend und die Stimmung unter den Alben geteilt. Sie hatten das schrecklich verwüstete Schlachtfeld vor Dunkelbruch gesehen, sie hatten sich vorbereitet, körperlich wie mental und dann waren sie unverrichteter Dinge wieder abgezogen. So fühlte es sich zumindest für viele der Krieger an, wie Baldur aus ihren Gesprächen deutete. Einmal, als er unmittelbar neben zwei jungen Alben gegangen war, hatte er sich schließlich in deren Unterhaltung eingemischt. „Entschuldigt“, hatte er höflich begonnen, „doch findet ihr nicht, dass es viel Gutes an unserem Einsatz gibt? Wir haben dazu beigetragen, dass es Frieden gibt. Und wir sind alle noch am Leben, das allein ist doch das größte Geschenk.“ Als Antwort hatte er abschätzige Blicke geerntet. „Solange nur ein einziger Rakshaner lebt, kann es keinen Frieden geben!“, knurrte der größere der beiden. „Wir hätten sie vernichten sollen, als wir die Chance dazu hatten.“ Die Knöchel des Mannes traten weiß hervor, als er seinen Speer fester packte. „Doch sind es auch nur Lebewesen aus Fleisch und Blut, die der Schlacht überdrüssig waren. Ihr habt doch mit ihnen gespeist…“, versuchte Baldur es erneut, woraufhin der zweite Soldat ausspuckte. „Nein. Das habe ich ganz sicher nicht und jeder, der es tat, sollte sich was schämen.“ Baldur gab auf. Er hoffte nur, dass nicht allzu viele die Meinung dieser beiden teilten. In einem ruhigen Moment sprach er Blitzsohn darauf an, ohne die Namen der Männer preiszugeben. „Natürlich weiß ich, dass viele so denken“, entgegnete der Oberst. „Denkt Ihr, ich habe das alles nicht gründlich abgewogen? Trotzdem bin ich froh, so gehandelt zu haben. Lieber habe ich ein paar mürrische Krieger in meinen Reihen als ein verwüstetes Land, Tod und Leid zum Empfang. Die einzige Meinung die zählt, ist die des Regenten. Wenn er mich ebenfalls gestraft sehen will, so werde ich abdanken. Alles andere interessiert mich nicht und wer sich beschweren will, der soll kommen und es mir ins Gesicht sagen.“ Dass sich dies keiner traute, wussten sie beide.


    Tage wurden zu Wochen und es wurde zusehends kälter. Bald schneite es und ein zugiger Wind blies durch die Ebenen. Zermürbung machte sich langsam aber sicher breit und Baldur hoffte, sie würden bald ankommen. An einem klaren Morgen durchbrach schließlich das Eintreffen eines Lichtreiters die Monotonie. Eine ganze Weile sprach er mit Oberst Blitzsohn, während unter den Kriegern die wildesten Spekulationen die Runde machten. Nervosität nahm Baldur in Beschlag. Was war an Avinars Grenze geschehen? Hatte der Bote des Chaos‘ seine Leute noch früh genug erreicht? Am liebsten wäre er sofort zu Blitzsohn geeilt, nachdem der Lichtreiter wieder abgehoben hatte, doch er wagte es nicht. So musste er sich mit den anderen gedulden, bis der Oberst seine Kommandanten und Gefreiten losschickte, die Neuigkeiten zu verbreiten. Erleichterung rollte durch die Reihen der sonst so gesetzten Alben. Baldur sah, wie sich einige in den Armen lagen, wie gejubelt wurde und an mancher Stelle gar geweint. Oril sei Dank. Der Tarrik hatte Wort gehalten. Avinar war vorerst sicher… Nach Ankunft dieser Neuigkeit war auch die Stimmung insgesamt besser. Mittlerweile waren die Kandoren am Horizont erkennbar und ein jeder sehnte sich danach, Familie und Freunde zu sehen und endlich heimzukehren. Sie nahmen wieder den Weg über die Nordküste und Baldur wagte zu hoffen, gleich in Calorod bleiben zu können. Er sah das kleine Haus vor dem inneren Auge, den Gemüsegarten und das warme Gesicht seiner geliebten Frau. Diese Hoffnung wurde ihm jedoch schon am nächsten Tag zerstört.


    „Sobald wir innerhalb Avinars Grenzen sind, werden wir nach Nord-Westen ziehen“, sagte Blitzsohn in einer Sitzung mit den Kommandanten, zu der auch Baldur geladen war. „Ich werde Euch und Eure Leute auf die Grenzwachten aufteilen und mit meiner Truppe nach Noldor gehen. Der große Rat muss einberufen werden. Ich muss mit General Sonnensturm und den Priestern sprechen.“ Nachdem alle Aufträge verteilt waren, glitt sein ernster Blick zu Baldur. „Ihr kommt mit mir Baldur. Ich biete Euch eine neue Anstellung.“ Es klang nicht so, als hätte Baldur eine Wahl.
    Die Reise war also noch lange nicht zu Ende. Immerhin konnte Baldur einen Besuch zu Hause heraushandeln, während das Heer am Fuße der Kandoren ein Nachtlager aufschlug. Am Gartentor zögerte er kurz. Er sah Alienor in der erleuchteten Küche stehen, Teig knetend, ganz so, als wäre er nie weg gewesen. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, doch er brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie traurig und voll Sorge war. Wochenlang war sie nun schon alleine, ohne den blassesten Schimmer, ob er noch am Leben war. Hoffentlich hatte wenigstens Jaro gelegentlich ein kleines Zeichen von sich nach Hause geschickt oder vielleicht hatte sie den Jungen gar in Falathri besuchen können. Langsam und leise ging Baldur weiter. Er wollte sie nicht erschrecken. Sachte öffnete er die Haustüre. „Alienor? Liebling, ich bin es, Baldur“, rief er und hörte augenblicklich schnelles Fußgetrappel. Rutschend kam seine Frau am Ende des Ganges zum Stehen und einen Moment lang starrte sie ihn einfach an. Ihre Brust hob und senkte sich heftig, der Teigstößel fiel ihr klappernd aus der Hand. Mit ausgebreiteten Armen machte Baldur ein paar Schritte auf sie zu, dann schien sie wieder Herrin ihrer Sinne zu werden und stürmte ihm in die Arme. „Oh Oril sei Dank!“, schluchzte sie. „Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen.“ Baldur strich ihr sanft über den Kopf. „Sch…“, tröstete er sie. „Mir geht es gut, meine Sonne.“
    „Oh Baldur… ich habe dich so vermisst; euch beide. Das Haus kam mir so riesig vor ohne euch. Niemand, der mich nach dem Abendessen fragt, niemand, der seine Schuhe an der Türe nicht abklopft, niemand der sein Bett ungemacht zurück lässt…“ Baldur presste ihr in ihrem Redeschwall einen Kuss auf die Stirn. „Ich habe dich auch vermisst. Hast du etwas von Jaro gehört? Wie geht es ihm?“
    „Er schickt mir dann und wann eine Karte oder einen Brief. Mittlerweile kann er schon recht gut schreiben, ist das nicht schön? Die Lehre bei Goldanil scheint ihm sehr zu gefallen und wie es aussieht, ist er bei unserem alten Freund sicher.“
    „Das freut mich. Jaro ist ein kluger Junge, das wussten wir schon immer, nicht wahr?“ Sie lächelten sich an und Baldur folgte seiner Frau in die Küche. Das Wissen um die Neuigkeiten seinerseits trübte seine Freude zusehends. Er musste Alienor sagen, dass er nicht lange bleiben würde, doch noch brachte er es nicht über das Herz. Freudig plaudernd machte die hübsche Albe sich wieder an die Arbeit. Sie berichtete Baldur von den überschaubaren Geschehnissen in Calorod, von der Ernte, von den Wintervorräten und von Gestaltungsideen, die sie für den Frühling hatte. Zuneigung flutete warm durch Baldurs Adern. Er trat nahe an sie heran und legte seine Arme von hinten um ihren schlanken Körper. „Ich liebe dich“, raunte er und ein paar Atemzüge standen sie einfach so da und genossen die Nähe des anderen. „Du musst wieder gehen“, sagte Alienor dann unvermittelt. Baldur nickte und verstärkte seine Umarmung „Ich wusste es“, fuhr sie fort, ihre Stimme hart. „Ich wusste es und habe Vorkehrungen getroffen. Dieses Mal komme ich mit.“ Erstaunt ließ Baldur die Arme sinken. „Egal, was du sagst, meine Entscheidung steht! Du lässt mich nicht noch einmal alleine zurück, mit der Befürchtung, dass du vielleicht nie wieder kommst! Wohin geht es?“
    „Nach Noldor“, sagte Baldur sanft und dreht sie zu sich herum. Er hätte auf sie einreden sollen, dass sie bleiben musste, dass seine Befehlshaber es nicht erlauben würden, dass das kein Ort für sie war. Aber er konnte nicht. Er kannte sie zu gut. Würde Blitzsohn sie abweisen, würde sie alleine hinterher reisen. Sie hatte ihren Entschluss bereits gefasst und nichts würde sie davon abbringen. Also sagte Baldur einfach nichts, sondern küsste sie voller Liebe auf den Mund, zog sie an sich und hob sie schließlich hoch, um sie ins Schlafzimmer zu tragen.


    Noldor war atemberaubend. Baldur und Alienor, die Falathri für groß und prächtig gehalten hatten, wussten gar nicht, so sie zuerst hinschauen sollten. Es gab Gebäude, die größer als ganz Calorod waren, Glasfassaden die die Naturgesetze ad absurdum zu führen schienen, Springbrunnen, so groß, dass sie zu dieser Jahreszeit zu glitzernden Eisflächen umfunktioniert wurden und Parkanlagen, die durch den Schnee in den Baumgerippen wirkten wie eine Märchenlandschaft. Am liebsten mochten die beiden die breite Promenade an der hoch gelegenen Steilküste. Die Steinfliesen waren glatt gewetzt von Wind und Wetter und dem Getrappel unzähliger Füße und überall gab es Bänke, auf denen man den Sonnenuntergang über dem Eismeer betrachten konnte. Meer und Stadt färbten sich rötlich ein und trotz der kalten Luft blieben Baldur und Alienor häufig sitzen, bis der Feuerball ganz in den kalten Wogen versunken war. Es war, als wären sie wieder siebzehn und frisch verliebt, sie den Kopf auf seiner Schulter und er den Arm um sie, kaum gewahr, welchen Schatz er in den Händen hielt.


    Tagsüber hatte Baldur meist frei. Er hatte gedacht, Blitzsohn würde ihn zu den meisten Sitzungen mitnehmen, ihn verschiedenen Leuten vorstellen oder auf sein Fachwissen im Bezug auf die Zwerge zurückgreifen, doch er hatte sich getäuscht. Seit dem Ankunftstag hatte Baldur den Magier nicht mehr gesehen, zuletzt auf dem Platz vor dem Ratsgebäude. Es lag in Noldors Zentrum und war das größte und prächtigste von allen. Das gesamte Erdgeschoß wurde von Säulengängen getragen und die Meißelungen in der Decke erzählten die Geschichte von Oril bis zur Gefangennahme Rakshors und der Zwangsvereinigung mit Malgorion. Darüber folgten mehrere Stockwerke die allesamt von einer gewaltigen gläsernen Kuppel in der Mitte überragt wurden, unter der sich, wie Baldur wusste, der Tagungssaal befand. Wann immer er daran vorbei kam, fragte Baldur sich, wann er zu einem der Treffen einberufen wurde. Gerne hätte er den Komplex von innen begutachtet. Sein Wiedersehen mit Oberst Blitzsohn kam aber ganz anders und unerwartet. Eines Tages stand der Magier urplötzlich vor seine Türe. Alienor lag noch im Bett und Baldur hatte gerade begonnen Frühstück zu machen. „Guten Morgen. Darf ich rein kommen?“, sagte der Oberst und trat im selben Moment in die kleine Wohnung, die er ihnen beschafft hatte. „Natürlich“, antwortete Baldur unnötigerweise. „Möchten Sie Tee?“ Blitzsohn winkte ab. „Ich bleibe nicht lange.“ Mit verschränkten Händen war er vor einem der großen Fenster stehen geblieben und blickte hinaus. „Wir haben gestern Euren Auftrag diskutiert. Ihr werden weiterhin Kontakt zu den Zwergen pflegen und mir umgehend alles berichten.“ Baldur setzte zu einer Frage an, doch Blitzsohn kam ihm zuvor, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Ein Lichtreiter wird Euch regelmäßig Besuch abstatten und die Botschaften entgegen nehmen. Darüber hinaus erhaltet Ihr aber noch eine viel wichtigere Aufgabe.“ Ohne seine Körperhaltung zu ändern, drehte Blitzsohn sich zu Baldur um und sah ihm ernst in die Augen. „Ihr wisst, dass unser Volk einst über Wissen verfügte, dass unser aller Vorstellungskraft überschreitet.“ Baldur nickte. „Nun. Viele Gelehrten forschen seit Jahren daran und es gab durchaus schon Erfolge. Doch nun haben ein paar Forscher aus Noldor eine neue Spur entdeckt, eine vielversprechende Spur.“ Mit gesenktem Blick begann er auf und ab zu gehen. „Die Erkenntnis traf sie, als sie gewissermaßen in einer Sackgasse feststeckten. Der einzige Grund, warum wir nicht weiter kommen, warum Oril uns nicht erleuchtet, ist, dass der Zugang zu all dem kostbaren Wissen, vor seinem Licht verborgen ist.“ Blitzsohn blieb stehen und sah Baldur direkt an. „Es liegt unterirdisch“, schloss er.

  • Baldur fand während seiner Recherchen zunächst vor allem jüngere Informationen, die ihn zu der Annahme gebracht hatten, dass in den Tiefen etwas zu finden sein könnte, welches die Vorstellung der Sterblichen übersteigt.


    Expedition zum Mittelpunkt Tasmerons - Team Kaisho
    Expedition zum Mittelpunkt Tasmerons - Team Schwarze Krake


    Im Jahre 201 wurden zwei Expeditionen gestartet, um das Innere Asamuras zu erforschen. Sie sollten getrennt voneinander in Evalon starten, jeweils im Kellergewölbe einer anderen Ruine. Eine Expedition wurde von Naridien aus gesandt (Team Schwarze Krake), eine vom Kaisho-Abkommen (Team Kaisho). Die Reise hatte aufgrund der Rivalität von Naridien und Kaisho-Abkommen etwas sehr Prestigeträchtiges und erwuchs schon vor dem eigentlichen Start zu einem ehrgeizigen Wettrennen.


    Team Kaisho verstrickte sich jedoch schon zu beginn in einem Übermaß an Organisation, in der Absicht, alles perfekt durchzuplanen und alle Fehler auszuschließen. Das führte dazu, dass sie nicht einmal ihren Zielort in Evalon erreichten und die Expedition noch vor dem Beginn abgebrochen wurde.


    Team Schwarze Krake drang recht weit ins Innere des Planeten vor. Der Weg war jedoch weit und es gab einige Steinschläge, so dass die meisten Teilnehmer entweder auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen verschwanden oder die Gruppe verließen und zurück an die Oberfläche kehrten.


    Während von den Mitgliedern von Team Kaisho nichts weiter herauszufinden war, da sich die Teilnehmer verstreut hatten oder namentlich nicht erwähnt wurden, gab es von Team Schwarze Krake einige Überlebende, über die Näheres bekannt war:


      Der Düsterling Terc
      Der Tiefling Firxas
      Der Chaosharpyr Nox, der als Bote zwischen Ordnung und Chaos fungierte und allen ranghohen Lichtalben persönlich bekannt war.


    Baldur hatte nun die Möglichkeit, diese Personen zu kontaktieren und zu befragen oder in den Folianten der Bibliothek zu forschen, ob es noch weitere Informationen über die Versuche gab, das Innere der Welt zu erkunden.

  • Baldur streckte sich mit verzerrtem Gesicht. Wie lange saß er wohl schon an dem Lesetisch in Noldors Bibliothek? Das Tageslicht war längst entschwunden und selbst die Glimmsteine, die überall drapiert waren, verloren bereits an Helligkeit. Die eingesogene Energie der Sonnenstrahlen war fast aufgebraucht. Nach und nach entzündeten die Bibliothekare Feuerschalen und gaben Pulver hinein, um die Flammen weiß einzufärben und ein angenehmeres Licht zum Lesen zu schaffen.
    Zum wiederholten Male überflog Baldur die Berichte über die Forschergruppe der schwarzen Krake. Nicht er, sondern Alienor hatte sie gefunden. Überhaupt hatte sich die Anwesenheit seiner Frau in Noldor als Gold wert erwiesen. Zwar konnte Baldur lesen und schreiben, doch er kam langsam voran, denn richtig gelehrt hatte man es ihm nie. Dementsprechend empfand er auch keine große Freude dabei und war überaus erstaunt gewesen, als Alienors Augen sich freudig erregt geweitet hatten, als er mit der Zugangserlaubnis zu Noldors Bibliothek nach Hause gekommen war.
    „Du hast uneingeschränkten Zugang, Baldur! Uneingeschränkt!“ Erwartungsvoll hatte sie ihn angestarrt, mit vor Begeisterung geröteten Wangen. „Weißt du denn nicht, was das für ein Privileg ist? Nirgends in ganz Avinar gibt es einen reichen Schatz an Schriften wie hier, ja vielleicht auf der ganzen Welt nicht!“
    Baldur hatte sie nur liebevoll angeblickt und geschmunzelt.
    „Ach Schatz! Ich würde alles dafür geben, mich dort umsehen zu können! Du könntest ruhig ein wenig mehr Begeisterung zeigen.“
    „Du wirst diese Gelegenheit bekommen.“ Das Schmunzeln hatte sich in ein Grinsen verbreitert. „Ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest.“
    Alienor, die sich zuvor in Rage geredet hatte, hatte ein wenig gebraucht, um das Gesagte zu verarbeiten und Baldur verwirrt angestarrt.
    „Ohne dich brauche ich ja Monate, um überhaupt etwas zu finden! Du liest viel besser als ich“, hatte er derweil angefügt und natürlich hatte Alienor es sich nicht zwei Mal sagen lassen und ihn am nächsten Morgen deutlich früher als gewöhnlich geweckt.


    Baldur seufzte. Mittlerweile glaubte er, das Abenteuer des Expeditionsteams beinahe auswendig zu kennen und doch suchte er weiter nach verborgenen Hinweisen, wo er seine Suche am besten beginnen und wen er aufsuchen sollte. Er war äußerst überrascht, wie detailreich die hiesigen Aufzeichnungen waren, wo doch kein Lichtalb Teil der Expedition gewesen war. Oder doch? Mehrfach stolperte er über Passagen, die ungereimt wirkten, ganz so, als sei ein Teilnehmer der Expedition willentlich ausradiert worden. War alleine die Tatsache, dass es diese Aufzeichnungen in Noldor gab, Indiz genug, um auf lichtalbische Beteiligung zu schließen? Baldur wusste es nicht. Gleichzeitig war ihm klar, dass dies nur eines von vielen fehlenden Puzzlestücken war. Er rieb seine Schläfen. Im Leseraum wurde es zusehends leerer. Am liebsten wäre auch Baldur nach Hause gegangen. Sein Magen knurrte, sein Mund war ausgetrocknet und Rücken und Glieder schmerzten vom langen Sitzen in gebeugter Haltung. Alienor tummelte sich hingegen noch in den endlosen Regalreihen und suchte nach mehr. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Recherche zu übernehmen, während Baldur ihre Fundstücke durcharbeitete. Bevor sie das Tagespensum nicht für voll erklärte, würden sie nirgendwo hingehen.


    Erneut senkte er den Blick auf die feinsäuberlichen Zeilen. Mehrere Personen wurden namentlich erwähnt und Baldur war überrascht, dass er einem davon schon begegnet war: Nox, der Chaosharpyier war Teil der Expedition gewesen. Ihn aufzusuchen war naheliegend. Doch war es auch erfolgsversprechend? Neben den anderen eindeutig benannten Teilnehmern sah Nox recht alt aus. Der Düsterling kannte sich mit Sicherheit am besten aus. Die Unterwelt war sein Revier. Doch war er auch vertrauenswürdig? Und würde er Baldur helfen? Überhaupt: ihn zu finden war an und für sich schon reine Glückssache. Der dritte im Bunde war ein Tiefling. Ebenfalls kein Volk, mit dem die Lichtalben ein freundschaftliches Verhältnis pflegten. Immerhin war er ein Geistmagier, wenn die Aufzeichnungen richtig lagen. Konnte Blitzsohn bei vollkommen Fremden eine Verbindung herstellen? Wieder seufzte Baldur. Zu gerne hätte er mit dem Oberst darüber debattiert, dessen Meinung erfahren, doch er wagte nicht, den Magier aufzusuchen. Mit Sicherheit hatte er genug um die Ohren und wollte nicht von kindischen Fragen belästigt werden. Wie jedes Mal vertagte Baldur die Entscheidung und widmete das letzte Bisschen seiner Konzentration der Expedition selbst. Recht schnell war ihm klar gewesen, dass diese Reise alles andere als eine harmlose Forschungsexpedition unter die Erde werden würde. Seine Erfahrung unter Tage und im Umgang mit den Zwergen würden ihm wohl weit weniger helfen als erhofft. Eine Truppe Krieger an seiner Seite weit mehr und darum würde er Blitzsohn auf jeden Fall bitten müssen. Die Schwarze Krake war weiter hinab gedrungen, als Baldur sich auch nur vorstellen konnte und immer wieder blieb sein Blick an ihrem Expeditionsleiter hängen. Mummenschanz… Die Informationen über den Mann ließen zu wünschen übrig, aber ein Gefühl sagte Baldur, dass das weniger an der Qualität des Berichts, sondern viel mehr an der Persönlichkeit des Mannes selber lag. Das Herz Tasmerons… Der Begriff schwebte über all den anderen Wörtern, doch Information, was sich dahinter verbarg, blieb der Text schuldig. Gedankenverloren strich Baldur seinen Notizzettel glatt. Viel stand dort noch nicht.


    Viele Artefaktbeschreibungen, Vieles wahrscheinlich aus Sagen.
    Expedition Schwarze Krake: Ruine in Evalon, Teilnehmer: Nox (Chaosharpyier), Firxas (Tiefling), Terc (Düsterling), Mummenschanz (mysteriöser Expeditionsleiter), weitere Mitglieder nicht explizit genannt
    Was wissen die Zwerge? -> Lurkin Linsenformer aufsuchen?
    Blitzsohn: Truppe Krieger, Greifenreiter?, was erhofft er zu finden?
    Gab es lichtalbische Expeditionen?


    „Baldur?“
    Müde hob er den Kopf. „Hm?“
    „Ich glaube ich habe etwas gefunden.“ Langsam kam Alienor auf ihn zu, den Blick auf einen Stapel Blätter gerichtet. Viele der alten Schriften waren in dieser Form vorhanden. Gebundene Bücher waren nicht die Regel.
    „Es ist heute schwer zu sagen, ob wir es früher wussten, ob es überhaupt jemand tat“, las sie vor. „Doch alle Anzeichen, die ich finden kann, alle Schriften, die ich mühevoll entzifferte, alles deutet darauf hin, dass sie eins sind. Natur, Magie und Technologie sind eins, bedingen und kontrollieren einander in blindem Selbstverständnis. Kaum auszumalen, was der, der darüber gebietet auszurichten vermag. Wobei ich glaube, dass es diesen Jemand nicht geben kann. Mir scheint, das Zentrum aller Dinge ist ein eigenständiges Wesen, dessen Existenz weit über dem liegt, was unser albisches Gehirn sich vorstellen kann. Allerdings kann man es sich möglicherweise zu Nutze machen, auch wenn ich nicht weiß wie und bezweifle, dass wir es je wussten – oder wissen dürfen. Schon diese Worte nieder zu schreiben, könnte mir eine Verbannung einbringen, wenn Kenntnis davon in die falschen Hände gerät.“
    Ernst sah sie auf und wartete auf Baldurs Reaktion. Sein Kopf rauschte. Der Tag war zu lang gewesen, er konnte nicht denken.
    „Das passt doch zu dem, was in den Expeditionsberichten stand, oder nicht? Was, wenn das das Herz Tasmerons ist?“ Ihre Augen funkelten.
    „Wo hast du das gefunden?“
    Alienor lachte leise. „Das glaubst du mir nicht… es fiel einfach aus einem Buch heraus, einer unbedeutenden Enzyklopädie der Astronomie, die ich eigentlich nur heraus genommen habe, weil Goldanil der Autor ist.“
    Baldur horchte auf. „Denkst du…?“
    Alienor schüttelte den Kopf. „Jeder kann es dort hinein gesteckt haben.“
    „Hm…“ Es sähe Goldanil ähnlich, selbst schon Forschungen betrieben zu haben. Wenn er doch nur hier in Noldor wäre! Wie viele Tage mochten wohl noch bleiben, bis Oberst Blitzsohn Baldur zum Aufbruch bewegte?
    „Ich werde ihm schreiben“, sagte er bestimmt. „Wenn er etwas mit diesen Aufzeichnungen zu tun hat, kann er mir vielleicht bei der Entscheidung helfen. Steht dort noch mehr?“
    „Ja. Die Aufzeichnungen ziehen sich über ein paar Seiten, doch vieles davon erscheint mir wirr. Wir müssen es in Ruhe durchsehen.“
    Baldur streckte ihr die Hand entgegen, doch anstelle das Papier auszuhändigen, strich Alienor ihm über den Kopf. „Das kann bis morgen warten. Du siehst furchtbar aus! Lass uns für heute Schluss machen.“
    Obwohl Baldur wusste, wie dringend er weiter kommen musste, hätte er schwören können, noch nie schönere Worte gehört zu haben.

  • Baldur erwachte erschöpfter, als er zu Bett gegangen war. Seine Träume waren wirr gewesen und mehrfach war er verschwitzt aufgewacht. „Du hast zu viele Gruselgeschichten gelesen“, murrte er sich selbst zu und schlurfte nach neben an, wo seine Frau bereits am Frühstückstisch saß.
    „Morgen“, brummte Baldur und Alienor beantwortete seinen Gruß ohne von dem Schriftstück auf ihrem Teller aufzusehen. Es roch wundervoll malzig-süß und Baldur beeilte sich, sich von dem heißen Goresthi zu nehmen, bevor er nachsah, was sie las. Schon mit dem ersten Schluck erwachten seine Lebensgeister.
    „Ist das der Text von gestern? Der in Goldanils Buch lag?“
    „Mhm.“
    „Ah. Hast du noch mehr herausgefunden?“ Er blickte sie erwartungsvoll an, doch es dauerte einen Moment bis sie aufsah und antwortete.
    „Entschuldige… ich musste einen Gedanken zu Ende führen. Es ist… schwierig. Ehrlich gesagt verstehe ich kaum etwas. Das, was ich dir gestern vorgelesen habe, ist noch das Klarste.“ Sie fuhr mit dem Zeigefinger einige Zeilen ab. Das Blatt war dicht und gleichmäßig beschrieben, was deutlich im Kontrast zu der Aufregung stand, die der Ton des Textes verriet.
    „Was, wenn ich sogar noch weiter gehe? Nicht bloß alles Leben und alles Wissen auf dieser Erde, nein, könnte es nicht sein, dass auch all die Sterne am Nachthimmel ein Teil eines Ganzen sind? Oder Teile von uns. Abbilder, Momentaufnahmen. Wenn wir noch besser verstehen sie zu lesen, werden wir dort dann unsere eigene Geschichte finden?“
    Sie blickte auf und seufzte. „So geht es über Zeilen hinweg. Und immer wieder mahnt er sich selbst, den Gedanken nicht weiter zu führen. Es ist wie die Mitschrift eines Selbstgespräches.“
    Baldur nippte von seinem Malzgetränk. „Ich weiß nicht… das könnten auch nur die Fantasien eines neugierigen Studenten sein. Ich werde Goldanil vorsichtig fragen, ob er je in solch eine Richtung geforscht hat und ansonsten sollten wir uns vielleicht eher auf die Forschungsberichte fokussieren.“
    In Alienors Gesicht lag Sorge, als sie an die gegenüberliegende Wand starrte. „Weißt du… ich bekomme mehr und mehr das Gefühl, dass wir Goldanil nicht darüber schreiben sollten. Wir könnten uns in ernsthafte Gefahr begeben.“
    Verwirrt runzelte Baldur die Stirn. „Ich verstehe nicht…“
    „Was, wenn jemand den Brief abfängt? Jemand, der gezielt nach eben solchen Hinweisen sucht?“ Hektisch durchsuchte sie die Blätter. „Hier: Schon diese Worte nieder zu schreiben, könnte mir eine Verbannung einbringen, wenn Kenntnis davon in die falschen Hände gerät. Selbst Andeutungen könnten uns oder Goldanil in Gefahr bringen.“
    Baldur nahm sich einen Moment eher er antwortete. „Aber was sollen wir sonst tun? Dies ist die heißeste Spur und Oberst Blitzsohn hat mir aufgetragen, diese Forschungen anzustellen.“
    „Dein Oberst ist nur ein kleines Licht in Avinar! Er wird uns sicher nicht helfen, wenn es hart auf hart kommt.“
    „Soll ich ihm also sagen, dass meine Suche erfolglos war? Alienor, das kann ich nicht.“
    Ein entschlossenes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht seiner Frau aus. Baldur fand es fast ein wenig beängstigend.
    „Sollst du nicht. Wenn wir Goldanil nicht per Brief fragen können, müssen wir es eben persönlich tun.“
    Erneut verzog Baldur fragend das Gesicht. „Aber wie? Er ist meilenweit entfernt und wir können hier nicht weg.“
    Nun lachte Alienor. „Wir laden ihn hierher ein, du Tölpel!“

  • Nur eine Woche später traf Goldanil in Noldor ein, allerdings ohne Jaro. Auf Alienors Frage, setzte der Gelehrte sofort ein entschuldigendes Gesicht auf.
    „Ehrlich gesagt, meine Liebe, ist Jaro derzeit nicht in Falathri.“
    „Wie? Nicht in Falathri? Wo ist er dann?“ Alienor stemmte die Hände in die Hüften.
    „Ich habe ihn nach Almanien geschickt, um etwas für mich zu erforschen. Keine Sorge,“ fügte er eilig an und nahm die Hände hoch. „Alles ist vorbereitet worden. Er ist sicher angekommen und wird gut versorgt. Ich bin mir sicher, er wird keinerlei Probleme haben. Euer Junge ist zäher als man auf den ersten Blick sieht und die Reise wird ihm guttun. Bei mir begann er sich bereits zu langweilen.“
    „Er ist ein kleiner Junge!“
    Beschwichtigend legte Baldur seiner Frau die Hände auf die Schultern. „Eigentlich ist er das schon nicht mehr, mein Stern. Mach dir keine Sorgen. Er ist dein Sohn, den kriegt nichts so schnell klein.“
    Zwar gelang es ihm nicht, den sorgenvollen Blick aus Alienors Gesicht zu wischen, doch immerhin ließ sie sich genug beruhigen, dass sie Goldanil nicht direkt wieder davonjagte.



    „So, meine Lieben,“ begann der alte Gelehrte, nachdem sie bei Tee und Haferkeksen am Küchentisch Platz genommen hatten. „Nun würde es mich brennend interessieren, wie ihr Zugang zur Bibliothek erhalten habt – zur ganzen Bibliothek. Zeit meines Lebens ersuche ich darum und wurde immer abgewiesen.“ Goldanil tauchte einen Haferkeks in seinen Tee und sah auffordernd zwischen Baldur und Alienor hin und her. „Allerdings bin ich auch nur einer der renommiertesten Sternenforscher des Landes.“ Seine Augen blitzten amüsiert.
    Baldur seufzte. „Ich habe eine Anstellung bei Oberst Felon Tharmor Blitzsohn.“
    Überrascht zog Goldanil eine Augenbraue hoch.
    „Er wollte mich als Mittelsmann für die Zwerge und dann hat einfach eines zum anderen geführt. Es ist eine lange Geschichte.“
    „Und als Belohnung durftest du den kalten Norden gegen Noldors Prunk eintauschen und seine Bibliothek auseinander nehmen?“
    Baldur lachte. „Ja: ich stehe immer noch in seinen Diensten. Er sucht nach Mitteln und Wegen Avinar zu alter Kraft zu führen, oder zumindest wieder sattelfest gegen Angriffe aus dem Süden zu machen.“ Warum er um den heißen Brei herum redete, anstatt direkt zur Sache zu kommen, wusste Baldur selbst nicht.
    „Versteh mich nicht falsch, Baldur. In Noldor wimmelt es von Wissenschaftlern, Handwerkern und Intellektuellen, Vanyars Militärmaschinerie ist nicht weit entfernt und er wählt einen Linsenschleifer aus Calorod? Worum geht es wirklich?“
    Hilfesuchend blickte Baldur zu Alienor, die ihre Tasse mit beiden Händen umfassend auf ihrem Stuhl lümmelte. Sie zuckte bloß mit den Schultern.
    „Was immer Blitzsohn auch sucht, es liegt unterirdisch. Und wenn ich mich irgendwo auskenne, dann dort. Außerdem, das hat er zwar so nicht gesagt, glaube ich, dass er seine Aktivitäten lieber auf kleiner Flamme köcheln möchte. Noldors Koryphäen sind zu gut vernetzt und Avinars Führungsriege zu uneins.“
    Schon bei seinen ersten Worten hatte Goldanil seine Tasse abgestellt und ungläubig die Augen aufgerissen. „Nein, Baldur. Tu das nicht.“
    Es wunderte Baldur nicht, dass Goldanil sofort eins und eins zusammen zählte. „Habe ich denn eine Wahl? Der Oberst persönlich hat mich beauftragt.“
    „Und wird er dich auch decken, wenn die falschen Leute Wind davon bekommen?“
    Darauf wusste Baldur nichts zu erwidern. Tatsächlich hatte er sich diese Frage selbst schon gestellt. Blitzsohn war ein ehrenhafter Mann, doch ob er seine Position und seinen Ruf gefährden würde, um einen unbedeutenden Handwerker zu decken, war mehr als unwahrscheinlich.
    „Ich werde euch bei dieser Sache nicht helfen.“ Goldanils Stimme war fest, sein Blick war ernst.
    „Du hast dir schon einmal die Finger verbrannt, nicht wahr?“, durchbrach Alienor ihr Schweigen und Goldanils gequälter Ausdruck bestätigte ihre Worte. „Das hier stammt aus deiner Feder.“ Ohne den Blick von ihm zu lösen, schob sie den Notizzettel über den Tisch.
    „Bei Orils heiligem… woher habt ihr das?“