Ein neuer Lebensabschnitt

  • Jaro lehnte an der kalten Felswand. Die Beine hatte er angezogen und die nackten Füße teilweise in den Sand gegraben. Er blickte auf das Meer, das in einiger Entfernung sein Wechselspiel mit dem Ufer vollzog. Der Himmel war dicht und grau und auch das dunkle tiefe Blau des Wassers spiegelte die Wetterlage wieder. Garaxymo war im Kommen.
    Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Rauschen, das in der kleinen Höhle einen dumpfen Ton annahm. Er war groß geworden, seit er zum ersten Mal hier Platz genommen hatte. Die Beine konnte er nicht mehr ganz ausstrecken und im Kalmos würde die Sonne am späten Nachmittag wohl zu weit eindringen, als dass er sich noch ausreichend verkriechen könnte. In der Sonne war es ihm im Kalmos einfach viel zu warm und ohne geeigneten Schutz holte er sich sehr schnell einen Sonnenbrand. Das Meer hingegen liebte er. Es war Freiheit. Und es verkörperte gleichermaßen Wildheit und Kraft wie auch absolute Ruhe. Es war Pol und Gegenpol zu gleich und es nur zu sehen und zu hören brachte Jaro den inneren Ausgleich.
    Der Sand war kalt und angenehm. Bald würde es dunkel werden, doch Jaro sah auch in der Dämmerung scharf wie am Tag. Er verfolgte die Flugbahn zweier Seevögel, die sich zu jagen schienen, hinauf und hinab in eleganten Bögen durch den Abendhimmel. Er konzentrierte sich ganz auf die Tiere und versuchte die Details ihres Gefieders zu erkennen, um sie zuordnen zu können. Doch selbst für Jaro waren sie zu weit entfernt und bewegten sich zu schnell.
    Schließlich beschloss er sich auf den Rückweg zu machen. Vom Strand bis nach Calorod war es ungefähr ein halbstündiger Fußmarsch und er wollte doch rechtzeitig zum Abendbrot zu Hause sein.
    Calorod war ein kleiner Handels- und Handwerkerort. Es war um einen Zugang zum unterirdischen Handelsnetz herum entstanden und tarnte ihn gleichzeitig. Unterirdisch wurde gehandelt, überirdisch gefertigt. Nach außen hin schien das Dorf wie eine reine Handwerkergemeinde. Neben den Ballivòrs lebten noch ein paar weitere Familien der Handwerkerkaste dort. Außerdem gab es eine kleine Kapelle, wo man sich gewöhnlich am Malgorioris einfand und die Hütte der Heilerin Brerin Tharmir, die etwas abseits weiter ins Gebirge hinein lebte, da es dort, wie sie sagte, die besten Kräuter ins ganz Avinar gab. In die Stadt Falathri war es ein Tagesmarsch.
    Auch wenn Calorod nun vielleicht auf den ersten Blick wie ein bäuerliches Dorf scheint, ist es vor allen Dingen aber ein lichtalbisches Dorf. Die Gebäude und Höfe der Familie haben nichts gemein mit einem menschlichen Bauernhof oder einer menschlichen Werkstatt. Wenn natürlich weit nicht so hoch gebaut wie in den Städten, so streckt sich doch ein jedes Gebäude mit mehreren Türmchen gen Himmel, verziert mit filigranen Ornamenten, die die großen Fensterfronten einrahmen. Die üppigen Gärten der Familien leuchten vor dem Hintergrund der kargen Gebirgslandschaft auf der einen und dem hellen Strand auf der anderen Seite und aufwendige Springbrunnen zieren ihre Mitte.
    Jaro folgte dem Pfad entlang des kleinen Bächleins, das aus dem Gebirge kam. Das kalte klare Wasser plätscherte fröhlich in seinem felsigen Bett. Schon von weitem sah Jaro, dass seine Eltern Besuch hatten. Zwei weitere Personen schritten im Wohnraum auf und ab. Als er das Tor zum Innenhof erreichte, drangen die Bruchstücke einer nachdrücklichen Unterhaltung zu ihm vor. Er wusste, dass er seinen Vater nicht stören durfte, wenn dieser Besuch hatte und hielt sich auch daran. Ein bisschen zu zuhören war jedoch nicht verboten und so kletterte Jaro behände in eine der kleinen Steinnischen unweit der Wohnräume. Sollte plötzlich jemand aus dem Gebäude stürmen, so könnte er Jaro von dort nicht sehen. Auch wenn seine Eltern ihm bisher nur wenig über die aktuellen Ereignisse in Avinar und den umliegenden Reichen berichtet hatten, so hatte er doch Einiges herausgehört und sich den Rest aus den immer regelmäßigeren Besuchen aus Falathri zusammen gereimt: Etwas war nicht in Ordnung. Die Zwerge waren bis zur Bartspitze in den Krieg verwickelt und soweit Jaro es verstanden hatte, fürchteten viele im Herzland, dass mit dem Fall der Zwerge auch viele andere Völker in die Krallen des Chaos gerieten.
    Einer der Besucher redete laut auf seinen Vater ein.
    „Wenn die Zwerge das unterirdische Handelsnetz aufgeben, müssen wir den Zugang bei Calorod versiegeln. Ihr wisst was zu tun ist, Baldur. Der Rat von Falathri verlässt sich auf Euch und dieses Dorf. Ihr habt es geschworen.“
    Sein Vater antwortete nicht oder zu leise für Jaros neugierige Ohren, doch er sah ihn im Geiste vor sich, den Blick nach unten gerichtet, nachdenklich und angespannt. Sein Vater würde sein Versprechen halten, auch wenn es ihm widerstrebte. Von klein auf hatte er Jaro dies vermittelt. Die Tugenden der Ehrlichkeit, des Mutes und der Standhaftigkeit waren sogar in den Torbogen ihres Heimes gemeißelt.
    „Gibt es Neuigkeiten über die Pläne des Chaos‘ bezüglich Avinar?“, fragte eine neue Stimme.
    „Nein Goldamir. Die Zwerge haben momentan dringlichere Probleme als unsere Situation auszuloten. Wieso sollten sie sich um uns scheren, wenn wir ihnen als Verbündete in der Ordnung nicht zur Hilfe eilen?“, antwortete Baldur ernst.
    „Sprecht nicht so flachs über derart ernste Themen, Baldur! Wir haben andere Probleme und es ist nicht an euch Handwerkern uns politische Ratschläge zu erteilen. Es war noch nie ratsam einfach nach vorne zu preschen. Unsere Grenze dicht zu halten ist schwer genug und zwar nicht nur gegen die Truppen des Chaos oder anderen düsteren Abschaum. Der Norden regt sich, Baldur. Und eher würde ich mich von der nächsten Klippe stürzen als meine Heimat in ihren verfluchten Händen zu sehen. Jedenfalls wird der Informationsfluss immer schlechter! Ein Großteil unserer Lichtreiter spielt stille Post zwischen dem ehrwürdigen Regenten und unseren Räten und Priestern und die Venthros sind ebenso von uns abgeschnitten wie bald die Zwerge. Solange wir noch die Möglichkeit haben, müssen wir sie nutzen.“
    Kurz war es still. Dann sprach Baldur mit fester Stimme und Jaro wusste, dass er nicht weiter über das Thema diskutieren wollte.
    „Die nächste Linsenlieferung kommt in ein paar Tagen. Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
    „Gut“, antwortete die Stimme. „Wie geht es Eurem Sohn?“
    „Er wird ein guter Handwerker“, war die knappe Antwort seines Vaters. „Ihr habt seine Fertigkeit vermutlich selbst schon bewundern dürfen. Die letzte Lieferung in Euer Haus stammt aus seiner Hand.“
    „Ist er hier? Könnt Ihr ihn uns vorstellen?“
    „Er ist noch unterwegs. Tut mir leid.“
    „Sehr schade.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Ein paar Tage später arbeitete Jaro in der Werkstatt. Er war gerade an drei Okularen für eine Forschungseinrichtung aus Falathri zu Gange, für die er ein spezielles Linsensystem zusammenfügte. Sein Vater hatte es entwickelt, um die Nachteile der Einzellinse auszumerzen. Jaros Arbeitsstil zeichnete sich durch fast schon meditative Ruhe aus. Seine Arbeitsfläche war zu jederzeit sauber und aufgeräumt und alle benötigten Werkzeuge legte er sich zu Beginn bereit. In Kleinstarbeit bearbeitete er die glattgeschliffenen Linsen, um sie schließlich in das Gehäuse fügen zu können. Am linken Ende der Werkbank lagen die Einzelteile eines kleinen Taschenhohlspiegels in Reih‘ und Glied, den er nebenbei für sich selbst fertigte. Er erhoffte sich, mit Hilfe des Spiegels ein Feuer entfachen zu können. Anfang des Jahres hatte er sich schon ein kleines Fernglas gebaut, das seinen Visus nochmals halbierte. Verbunden mit seiner natürlichen Sehkraft konnte Jaro damit 4x weiter scharf sehen als gewöhnliche Lichtalben.
    Vertieft wie er war, merkte Jaro erst, als er direkt neben ihm stand, dass sein Vater den Raum betreten hatte. Baldur beobachtete ihn eine Weile bei der Arbeit und als Jaro dann einen Arbeitsschritt abgeschlossen hatte, bat er ihn um ein Wort.
    „Ich habe lange mit mir gerungen, Jaro. Eigentlich wollte ich warten, bis du älter bist. Aber ich kann zurzeit überhaupt nicht einschätzen, was kommt und vor allem wie schnell – und deine Mutter beginnt mich zu schelten“, fügte er zwinkernd hinzu, „und deshalb habe ich mich entschieden, dir schon jetzt etwas sehr Wichtiges über dich zu erzählen. Du bist ein schlauer Junge, Jaro, du hast bestimmt schon lange herausgefunden, dass es etwas herauszufinden gibt und ich denke, du wirst auch gut mit der Information umzugehen wissen: in meiner Familie, wie auch (uns bis zu deiner Geburt nicht bekannt) in der deiner Mutter gibt es frostalbische Vorfahren. Und nun ist es geschehen, dass sich diese Gene nach vielen Generationen wieder durchgesetzt haben. Ich spreche direkt heraus, Jaro: du bist von der Rasse betrachtet ein Frostalb.“
    Jaro sagte erst einmal nichts. Er wusste auch gar nicht so recht, wie er sich fühlte. Vielleicht lag es daran, dass er mit irgendetwas gerechnet hatte oder dass die Information doch noch nicht in aller Fülle zu ihm durchgedrungen war, aber er war erstaunlich gelassen, ruhig.
    „Ich sage dir das vor allem aus einem Grund: du weißt nicht, wie tief der Konflikt zwischen unserem Volk und den Frostalben im Norden reicht. Wir sind hier in Calorod sehr weit weg von diesem Thema, doch in den Städten und sowieso überall, wo der Kampf um die Astralebene tobt, ist es allgegenwärtig. Du musst es um jeden Preis geheim halten und lernen, deine verräterischen Eigenschaften zu vertuschen.“
    Jaro sah seinen Vater an.
    „Welche Eigenschaften habe ich denn?“
    Vor allem bist du Licht- und Wärmeempfindlich“, begann er und als Jaro den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hob er die Hand und fügte schnell an: „und hier verbirgt sich gleich eine Sache, die immer dein Geheimnis bleiben sollte: deine Halskette.“
    Jaro holte den Stein unter seinem Hemd hervor und schaute auf ihn hinab.
    „Das, mein Sohn, ist ein Dunkelstein. Er wird in meiner Familie von Erbe zu Erbe gegeben und er ist der Grund, warum du bisher hier bei uns ein normales Leben führen konntest.“
    Es ist also kein Talisman?“
    „Naja, gewissermaßen schon. Er beschützt dich. Und auch Oril beschützt dich.
    Wie auch Malgorion und Oril, so sind die Frostalben und wir Lichtalben wie zwei Seiten einer Medaille. Wir sind verbunden und doch getrennt. Und bei einer Medaille kann nur eine Seite im Licht liegen und die andere Seite ist in die Dunkelheit verbannt, zumindest solange jede Seite starr an ihrer Position festhält. Du bist der Beweis, dass wir nicht unbedingt verschieden sein müssen, wir wollen es nur. Deswegen wird Oril dich auch immer beschützen, wenn du an ihn glaubst und deshalb gibt es keinen Grund, warum dein Dunkelstein kein Talisman Orils sein sollte. Aber – und das ist sehr wichtig, Jaro – kaum jemand in Avinar sieht das so! Sollte jemand den Dunkelstein sehen, so wird er mit großer Sicherheit als Mal des Bösen gesehen und er wird dich sofort enttarnen. Und auch wenn du je einem Frostalb begegnen solltest, zeige ihm den Stein nicht. Ich kenne seinen genauen Wert nicht, aber ich weiß, dass sich nicht viele Frostalben einen Stein leisten können.“
    Jaro ließ das Gesagte auf sich wirken. Er betrachtete noch immer den Stein. Ein Gedanke kam ihm in den Sinn und er runzelte fragend die Stirn.
    „Aber in der Sonne halte ich es ja trotzdem kaum aus.“
    Natürlich ist die Kraft des Steines beschränkt. Gerade im Kalmos merkst du das. Doch ich sage dir, ohne ihn könntest du die Sonne gar nicht ertragen. Selbst Licht alleine würde dir zu schaffen machen.“
    Und außerdem? Woran erkennt man einen Frostalben denn noch? Ich sehe doch nicht anders aus als die meisten.“
    Optisch wirst du kaum Unterschiede finden. Und weil du schon immer hier lebst, hast du natürlich viele lichtalbische Eigenschaften an dir. Wir leben vegetarisch und richten unser Handeln und Denken streng tugendhaft aus. Nie würden wir Tiere jagen oder einsperren und das prägt auch unseren Charakter. Viele Lichtalben sind der Meinung, dass genau dies unsere einstigen Brüder in die Dunkelheit verbannt hat: die Intoleranz gegenüber anderen Völkern und der grausame Umgang mit Tieren.
    Ja und sonst merkt man es dir höchstens an deiner verschlossenen Art an.“,
    sagte Baldur lächelnd und boxte seinen Sohn spielerisch.


    Der nächste Tag war ein großer Tag für Jaro: er durfte seinen Vater zum ersten Mal nach Falathri begleiten, um die Okulare zu übergeben.
    „Ich möchte dich heute jemandem vorstellen“, hatte Baldur gesagt, „einem alten Freund und Gelehrten. Er teilt unseren Glauben und ich vertraue ihm. Ich dachte mir, es schadet nie, einen Freund zu haben“, fügte er zwinkernd an.
    Also hatte Jaro am Abend eine Tasche gepackt mit Äpfeln und ein paar Roggenfladen. Die Okulare hatte er in Leinentücher gewickelt und in ein gepolstertes Päckchen verstaut. Sie verließen Calorod gegen Mitternacht und folgten einem Pfad entlang der Ausläufer des Gebirges. Gegen Mittag erreichten sie die Stadt. Jaro staunte nicht schlecht: elfenbeinfarbene Gebäude erhoben sich zu hunderten gen Himmel, der Boden war überall mit großen hellen Steinfliesen gepflastert und zwischen den Häusern schmückten hängende Gärten eine jede Gasse. Es war unglaublich hell, tausend Glaselemente reflektierten das Licht ebenso wie die Gebäude selbst. Jaro legte sich eine Hand über die Augen, um besser nach oben schauen zu können, doch Baldur zischte: „Nicht!“
    Sie erreichten einen größeren Platz, in dessen Mitte sich mehrere Frauen und Mädchen an einem großen Brunnen tummelten.
    „Das ist der Marktplatz von Falathri. Hier kann man an vier Tagen die Woche Obst, Gemüse und Getreideerzeugnisse von den umliegenden Dörfern kaufen. Immer am Malgorioris gibt es zudem Milch und Käse von fahrenden Händlern“, flüsterte Baldur ihm zu.
    Eines der Mädchen am Brunnen lächelte Jaro zu und winkte. Jaro sah zu Boden.
    Nach einiger Zeit erreichten sie einen größeren Gebäudekomplex, der wie die Außenmauern mit mehreren Verteidigungssystemen aus Hohlspiegeln versehen war. Der Bau war noch höher als die umliegenden Häuser und die Türme waren breiter angelegt. Über der großen Eingangspforte war ein Schriftzug gemeißelt:

    Akademie für die ehrenhafte Wissenschaft und Forschung
    des Lichts und der Sterne
    Falathri, Jahr 10 n.d.A.


    Die Eingangshalle war ein kreisrunder, hoher Raum und wurde nach oben hin von einer gläsernen Kuppel geschlossen. Rechts und links zweigten Treppenhäuser ab und am hinteren Ende saßen drei Frauen an Empfangsschaltern. Der helle Marmor des Bodens fand sich in den Säulen der Halle wieder.
    „Wir haben einen Termin bei Goldanil Tiren Orillectus“, sagte Baldur zu einer der Damen. „Wir bringen seine Bestellung.“
    Die Dame nickte und blätterte in ihren Unterlagen. Schließlich ging sie nach hinten, öffnete eine Luke an einem kleinen Rohr und steckte einen Zettel hinein. Jaro sah das Stück Papier durch die gläserne Leitung nach oben fliegen.
    Die Empfangsdame drehte sich zu ihnen zurück und bat sie, kurz auf den Wartebänken Platz zu nehmen.
    Baldur lächelte ob Jaros fragendem Gesichtsausdruck.
    „Sie erzeugen künstlich Wind in dem Leitungssystem“, erklärte er. „So können sie von Stockwerk zu Stockwerk kommunizieren, ohne herum schreien oder Leute herum scheuchen zu müssen.“
    Im gegenüberliegenden Treppenhaus erschien ein älterer Mann. Jaro sah ein freundliches Gesicht, in das sich erste Falten gruben.
    „Baldur! Schön, dass Ihr hier seid“, sprach er mit einer warmen Stimme.
    Er schüttelte seinem Vater die Hand, als sie sich in der Mitte der Halle trafen.
    „Und das muss Euer Sohn sein. Es ist mir eine Ehre, junger Jaro.“
    Jaro verbeugte sich leicht, wie sein Vater es ihm geheißen hatte.
    „Na, na, so viel Förmlichkeit.“
    Er tätschelte Jaro die Schulter. Jaro reichte ihm schon bis an das Kinn.
    „Folgt mir. Ich habe die Okulare schon sehnsüchtig erwartet. Die neuen Teleskope werden eine perfekte Ergänzung zu unserem ‘Auge von Oril‘.“
    Sie stiegen Treppe um Treppe hinauf und Goldanil erklärte ihnen die Funktion eines jeden Stockwerkes. Schließlich kamen sie ganz oben an und betraten das Büro des Gelehrten. Ein riesiger Schreibtisch nahm einen Großteil des Raumes ein. An der Rückwand standen Vitrinen in Reih‘ und Glied und beherbergten unzählige optische Gerätschaften. Jaros Blick fiel auf eine riesige Wandkarte zu seiner Linken, auf der feinsäuberlich in winziger Schrift der Sternenhimmel katalogisiert war. Goldanil bemerkte seinen Blick.
    „Ja, das ist mein Lebenswerk. Schon seit Jahrzehnten studiere ich den Nachthimmel und katalogisiere seine Veränderungen.“
    Er wandte sich an Baldur. „Vor allem dank Euren einzigartigen Gerätschaften, mein lieber Baldur.“
    Baldur verbeugte sich.
    „Jaro, gib‘ Goldanil die Okulare.“
    Der Wissenschaftler nahm das Päckchen entgegen und öffnete es sogleich mit der Vorfreude eines Kindes. Er nahm eines heraus und betrachtete es genau.
    „Perfekt“, murmelte er und bedeutete Jaro und seinem Vater ihm zu folgen.
    Sie stiegen eine filigrane Wendeltreppe hinauf und fanden sich unter freiem Himmel wieder. Stolz zeigte Goldanil ihnen das ‘Auge von Oril‘ und die drei unfertigen Teleskope.
    Hier verbringe ich meine Nächte.“
    Jaro inspizierte das ‘Auge von Oril‘. Er hatte schon viel über diese Instrumente gehört, doch bisher noch keines zu Gesicht bekommen. Er betrachtete die Messschieber und das Fernrohr und stellte sich vor, wie Goldanil hier Nacht für Nacht saß und den Himmel beobachtete. Sein Vater stand mit dem Wissenschaftler bei den Teleskopen und sie unterhielten sich leise.
    „Ich sehe derzeit viele Veränderungen, Baldur. Ich habe mit der Sternwarte Noldors gesprochen und sie sehen es auch. Und auch viele unserer Magier berichten davon: Malgorion wurde gesichtet. Es ist schwer zu erkennen, was Oril plant, doch die Unordnung nimmt zu. Rakshor gewinnt an Kraft und er schielt bereits auf Avinar. Wir wissen beide, dass wir auch Malgorion brauchen, um auf lange Sicht zu widerstehen.“
    „Das bestätigt meine Befürchtungen. Der Rat schickt ständig Botschafter nach Calorod. Ich weiß nicht, wie lange wir dort noch bleiben können.“
    Ich beobachte nur. Das habe ich schon immer getan. Deuten und entscheiden, das machen andere. Und nicht immer die Richtigen! Die Ordnung steht mit dem Rücken zur Wand und es muss sich etwas tun. In solch schwierigen Zeiten können wir nicht allen unsere Tugenden und Ordnung aufzwingen, wir müssen lernen andere Denkweisen zu akzeptieren.“
    Er beugte sich zu einem der Teleskope hinab und begann das neue Okular anzubringen. „Doch wer sind wir schon, Baldur? Handwerker. Wissenschaftler.“
    Ich denke, Ihr könntet erheblich mehr Einfluss nehmen, wenn Ihr nur wolltet, Goldanil. Ihr seid ein Forscher Orils. Und Ihr seid ein Teil des Rates von Falathri.“
    Berater bin ich, ein Teil bin ich nicht. Heutzutage muss man vorsichtig sein mit Ratschlägen. Das Chaos sollte unsere größte Sorge sein, doch wir konzentrieren uns auf den astralen Krieg mit den Frostalben. Wir müssten die Ordnung stärken, wenn du mich fragst. Wir brauchen mehr Verbündete. Und wo sucht man sich Verbündete?“
    Er erhob sich von dem Teleskop und sah Baldur an. „Dort wo Hilfe benötigt wird! Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich vorschlagen, den Arashi zu helfen. Und zwar jetzt, solange Avinar noch relativ sicher ist vor Rakshors Truppen. Orils Stand ist nachwievor fest. Stell dir nur vor, wir schlagen sowohl die Arashi als auch den Rabenstamm der Nokara auf unsere Seite, indem wir ihnen im Kampf mit den kalten Fluten helfen. Das würde uns nicht nur die eigenen Reihen stärken, sondern auch unsere frostalbischen Feinde in eine andere Position bringen.“
    Der wilde Rabenstamm?“
    Goldanil lächelte müde. „Das ist das Problem und der Grund, warum dies immer nur Spinnereien eines alten Mannes bleiben werden. Sogar aufgeschlossene Lichtalben wir du, Baldur, werden zu allererst, vielleicht auch ganz unwillkürlich, von ihren Vorurteilen geleitet.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Goldanil bestand darauf, dass sie noch eine Tasse Tee mit ihm tranken, bevor sie sich zu ihrer nächtlichen Unterkunft aufmachten. Jaro ließ seinen Tee zunächst ungerührt und wartete bis er weniger heiß war. Für einen kurzen Augenblick hatte er den Eindruck, einen Ausdruck der Erkenntnis über Goldanils Gesicht huschen zu sehen, doch dieser fuhr einfach fort, ihm von den unterschiedlichen Aspekten der Sternenforschung und den aktuellen Konstellationen zu erzählen.
    Mit Einbruch der Dunkelheit verabschiedeten sie sich dann und machten sich auf zum Gasthaus ’Orilleuchten‘, das sich ein paar Gassen weiter befand.
    Sie waren noch nicht weit gegangen, da hielt Baldur sein Sohn an und wies ihn durch eine Geste an, ganz still zu sein. Vorsichtig drehte er sich um und auch Jaro wagte einen Blick nach hinten. Zwei sichtlich angetrunkene Krieger traten aus dem Zwielicht einer Gasse hervor. Baldur legte seinen Arm vor Jaro und schob ihn hinter sich.
    "Guten Abend, meine Herren", sagte er.
    "Guten Abend", grollte der eine. "Ihr habt mit Sicherheit ein bisschen Kleingeld bei Euch für zwei arme Seelen."
    Baldur griff in seine Gürteltasche, um ein paar Münzen herauszuholen. Weise hatte er nur einen Teil des Verdienstes durch die Okulare dort untergebracht. Trotzdem klimperte der Beutel deutlich, als er das Kleingeld herausfischte.
    "Da ist mehr drin", sagte der zweite.
    Baldur warf ihnen die Münzen rüber. "Nehmt dies als Geschenk und lasst uns weiter ziehen, ehrenwerte Krieger."
    "Ehrenwert... Spar dir die Schmeicheleien! Wir kennen unseren Stand."
    Er ging einen Schritt auf Baldur und Jaro zu.
    "Gib mir den Beutel."
    Baldur zögerte kurz. Die Hälfte der so wichtigen Einnahme wäre dann weg, doch er und Jaro vielleicht in Sicherheit. Jaro spähte vorsichtig hinter seinem Vater vor. Die Männer trugen schmucklose Harnische und schwere Stiefel. Auf der Brust konnte Jaro das Stadtwappen Falathris erkennen. Baldur löste langsam den Beutel vom Gürtel. Dann passierte alles sehr schnell: gerade als Baldur einen Schritt nach vorne machte um den Beutel einem der näher kommenden Männer zu reichen, sprang der andere Jaros Vater an und trat ihm hart in die Seite. Baldur stürzte und seine versteckte Brusttasche klimperte verdächtig laut.
    "Aha", brummte der zweite und beide machten sich daran auf Baldur zuzugehen. Einer hatte ein Messer gezückt. In diesem Moment sprang Jaro dazwischen und stellte sich schützend vor seinen Vater.
    "Jaro, geh weg da, ich werde ihnen den zweiten Beutel auch geben."
    Doch Jaro rührte sich nicht von der Stelle. Seine einzige Waffe war seine Wut, eine Wut, die er zum ersten Mal in seinem Leben spürte. Geschickt wich er der Faust des ersten Kriegers aus und rammte ihm den Ellbogen seitlich in den Hals. Der Krieger schrie auf und zückte ebenfalls ein Messer.
    "Was willst du tun, Kleiner?!"
    Gemeinsam gingen sie auf Jaro zu, dieser wich dem ersten Messerhieb aus, bekam aber einen festen Tritt des anderen in den Bauch und fiel rittlings zu Boden. Sein Kopf schlug auf dem Pflaster auf und er spürte, wie der kühle Dunkelstein sich von seiner Brust löste. Er versuchte danach zu greifen, doch zu spät. Die Halskette rutschte ihm aus dem Hemd.
    Die Krieger verharrten.
    "Ist das...?"
    "Es ist nur ein Talisman Orils", rief Baldur. "Jaro, hast du dich verletzt?"
    "Ich kenne solche Anhänger", posaunte der andere. "Sie zeigen sie uns in den Lehrgängen. Wo hast du den her, Junge? Wir sollten dich mit auf die Wache nehmen und unserem Kommandanten zeigen! Er wird uns sicher belohnen."
    "Wenn er erfährt, dass ihr Zivilisten angreift?"
    Goldanil schritt auf die Gruppe zu. "Soll ich ihm berichten, dass ihr wie räudige Geschöpfe der Nacht Zivilisten angreift und sie ausraubt?"
    "Gelehrter Orillector", stotterte der eine und verbeugte sich eilig.
    "Gebt mir die Gürteltasche und verschwindet! Ihr sollt unsere Stadt beschützen und sie nicht zu einem gefährlichen Ort machen! Eine Schande seid Ihr für die Stadtwache. Hinfort sage ich!"
    Er wandte sich Baldur und Jaro zu und half ihnen auf, während die Soldaten sich durch die nächste Gasse davon machten.
    "Folgt mir. Ihr nächtigt heute bei mir."
    Sie gingen zurück in Richtung Akademie und zweigten danach in eine breite Gasse ab. Goldanil ließ sie ins Haus und geleitete sie in den Wohnraum.
    "So und jetzt erzählt mir von dem Dunkelstein."


    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Auf dem Heimweg am nächsten Tag, fragte Jaro seinen Vater nach den kalten Fluten und die Kriege von denen er gehört hatte. Baldur antwortete geduldig und soweit er konnte. Er erzählte von der frostalbischen Invasion und von den Stämmen der Norkara.
    "Auf das Meer hinaus fahren“, sagte Jaro, „das würde ich auch gerne einmal tun.“
    „Das Meer und seine Bewohner sind gefährlich, Jaro. Und das sind auch die, die es befahren.“
    Kurz waren sie still.
    „Du hast zu Herrn Orillector gesagt, dass wir Calorod vielleicht verlassen müssen.“
    Baldur nickte und als er zu Jaro hinüber sah, erkannte dieser Sorge und Trauer im Blick seines Vaters.
    „Es kann sein, es muss nicht. Wir sind sehr nah an den besetzten Gebieten und sollten die Rakshaner bei uns einfallen, trifft es uns mit als erstes. Darauf möchte ich nicht warten.“
    „Aber noch können wir bleiben“, fügte er aufmunternd hinzu und sie erklommen den letzten kleinen Anstieg bevor Calorod hinter der nächsten Biegung auftauchen würde.


    Alienor kam sofort aus dem Haus gestürmt, als Jaro und Baldur durch das Tor traten.
    „Mein Junge“, seufzte sie und drückte ihren Sohn fest an sich. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Goldanil hat mir eine Nachricht geschickt.“
    Sie ließ von Jaro ab und ging auf Baldur zu. „Er hat gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen, aber wie sollte ich nicht?!“
    „Es ist alles gut, wir sind mit einem blauen Auge davon gekommen. Oder viel eher: mit geprellten Rippen, nicht wahr, Sohn?“ Er sah Jaro gespielt kämpferisch an. Alienor stemmte die Fäuste in die Hüften.
    „Das ist nicht lustig, Baldur!“
    „Ich weiß, mein Stern, tut mir leid.“ Er zog sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Aber du wärst sehr stolz auf unseren Jungen gewesen.“
    „Daran zweifle ich nicht. Und jetzt kommt, ich habe Olusara gekocht. Ihr seid bestimmt hungrig.“
    Hungrig waren sie in der Tat. Jaro hatte das Gefühl, er hätte den ganzen Topf alleine verschlingen können. Die Kartoffeln und das Gemüse für den Eintopf stammten aus ihrem eigenen Garten, doch die Kräuter hatte Alienor extra bei Brerin Tharmir geholt.
    Nach dem Essen holte sich Jaro die mütterliche Erlaubnis für einen Spaziergang ins Gebirge. Auch hier kam er gerne her, vor allem abends, wenn die Sonne gerade hinter den Gipfeln verschwand und einen pastellfarbenen Regenbogen in den Himmel malte. Die Wiesen der gemäßigten Höhen wurden dann bereits feucht vom Tau und die Bergziegen versammelten sich an ihren Schlafplätzen. Jaro hatte gelernt ihr Vertrauen zu gewinnen. Ganz ohne Blessuren war das allerdings nicht von Statten gegangen. Die Männchen wie die Weibchen besaßen große gekrümmte Hörner und setzten diese auch ein, wie Jaro hatte lernen müssen. Nun aber wusste er, wie er sich verhalten musste, um in ihrer Mitte geduldet zu werden. Er hatte sogar gelernt sie zu melken und kam somit von Zeit zu Zeit zu dem Luxus eines Bechers frischer Ziegenmilch. Vorsichtig begab er sich in ihre Nähe und setzte sich in einigem Abstand auf die Wiese. Nach ein paar Minuten kam die erste Ziege auf ihn zu. Jaro rührte sich nicht, hielt sich gebeugt und sah das Tier nicht an. Es wartete neben ihm, ein weiteres kam hinzu. Schließlich stieß eines der beiden ihn sanft von hinten an und Jaro stand langsam auf. Er bewegte die flache Hand auf das Tier zu und berührte vorsichtig die Schnauze. Die Ziege senkte den Kopf und Jaro wiederholte die Bewegung. Nun durfte er sich der Herde anschließen, die Tiere anfassen und bekam seinen Becher Milch.
    Als er dort in der Mitte der Tiere saß, ließ er die Geschehnisse der letzten Tage Revue passieren. Er stellte fest, dass er sich inmitten der Ziegen wesentlich wohler fühlte, als unter Alben. So aufregend und schön die Stadt auch gewesen war, hatte er sich dort bedrängt gefühlt, eingeengt und beobachtet.
    Jaro versuchte in sich hinein zu hören, aber hier in seiner vertrauten Umgebung fühlte sich alles an wie immer. Einzig die Wut, die in Falathri kurz in ihm aufgestiegen war, beschäftigte ihn. In diesem Moment hatte er sich stark gefühlt und ganz instinktiv gehandelt. Obwohl er noch nie zuvor gekämpft hatte, hatte sein Körper gewusst, was zu tun war.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Ein paar Tage später ging Jaro mit seinem Vater früh morgens aus dem Haus. Sie folgten dem kleinen Pfad, der in die Kandoren führte. Als sie ein gutes Stück bergauf gegangen waren, blieb Jaro stehen und drehte sich um. Von hier aus konnte man in der Ferne den blauen Streifen des Meeres erkennen, aus dem gerade Stück für Stück die Sonne auftauchte. Es würde ein wolkenloser kalter Tag werden. Der Himmel war grellblau und wurde immer heller, je näher er dem goldgelben Mantel der aufgehenden Sonne kam, bis er an dessen Grenze fast weiß erschien. Einen Augenblick lang betrachtete Jaro das Naturschauspiel, atmete tief ein und spürte wie die kalte reine Luft seine Lungen füllte. Dann wandte er sich ab und eilte seinem Vater hinterher. Einen Zwerg ließ man besser nicht warten.


    Der Eingang wurde von einem Baum behütet und war kaum erkennbar, wenn man nicht wusste wonach man suchte. Seine kräftigen Wurzeln umklammerten das Gestein wie die Klauen eines Greifen seine Beute. An einer Stelle aber schwebten sie über einer Mulde, nur dass dies nicht bloß eine Mulde, sondern der Beginn eines Ganges war. Er war zunächst kaum höher als 1 m, weitete sich aber schnell zu einem stattlichen Tunnel aus. Nach kurzer Gehzeit erreichte man eine Felswand, in die geschickt und für das bloße Auge unsichtbar ein seitlich versetzter Durchgang eingearbeitet war. Hier konnte man erstmals das handwerkliche Können der Zwerge bewundern. Der Eingang zum unterirdischen Wegenetz war zu jeder Zeit entweder verschlossen oder bemannt und Baldur und Jaro wurden dort von einem Zwerg empfangen. Jaro wusste mittlerweile genug über die Zwerge, um zu erkennen, dass dies weder ihr Handelspartner noch einer der stattlichen Krieger war, die sonst am Eingang warteten. Sein Bart war zwar geflochten und gepflegt, doch aus groben Strängen und ohne jeglichen Schmuck. Das Alter eines Zwerges war schwer zu deuten, doch Jaro schätzte, dass dieser noch sehr jung war. Mit Sicherheit waren die meisten erfahrenen Krieger für Wichtigeres abgezogen worden.
    Sie blieben in einigem Abstand stehen und Baldur trug ihr Anliegen vor. Der Zwerg hörte still zu, nickte bloß und bedeutete ihnen mit einer Geste ihm zu folgen. Baldur hatte immer schon zu Jaro gesagt, dass er ein natürliches Talent im Umgang mit den Zwergen hatte. Jetzt glaubte Jaro auch zu wissen warum: es war der Frostalb ihn ihm oder viel mehr dessen reservierte und auf Abstand bedachte Eigenschaften. Ganz automatisch hielt er die Distanz, die ein Zwerg schätzte, wenn er auf einen Fremden traf.
    Sie wussten vor dem Treffen meist nicht, welcher Händler an diesem Tag zum Treffpunkt kommen würde. Jaro zählte in seinem Kopf nach: er kannte mittlerweile immerhin schon vier verschiedene.
    An diesem Tag kam Lurkin Linsenformer. Sein Bart und Haar war grau und sein Gesicht faltig, doch seine braunen Augen blickten klar und Jaro wusste, dass selbst er dem Zwerg hier unten unterlegen war, was die Sehkraft anging. Lurkin hatte wie immer jede Menge gläserne Perlen in verschiedenen Farben in seinen Bart eingeflochten und trug einen hellen Umhang, der ohne Zweifel von lichtalbischen Händen gewebt worden war. Jaro fielen die silbernen Verzierungen an den Rändern des Umhangs auf und er fragte sich, wie der Zwerg an solch ein Kleidungsstück gelangt war. Lurkin war einer der gewitztesten Händler, mit denen Jaro bisher zu tun gehabt hatte. War er tatsächlich geködert worden oder hatte er etwas besessen, das sein Gegenüber um jeden Preis hatte haben wollen? Lurkin bemerkte seinen Blick und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
    „Ja, junger Lichtalb, du siehst richtig: ich trage einen Umhang, der mit dem Blut deines Gottes verziert ist. Er ist hier nicht viel wert, doch das interessiert mich nicht. Ich kenne seine wahre Bedeutung.“
    Innerlich schalt sich Jaro für seinen Leichtsinn, so gestarrt zu haben. Man durfte einem Zwerg nie zu Beginn des Handels, noch bevor die Waren überhaupt zur Sprache gekommen waren, das Gefühl geben, überlegen zu sein.
    „Was habt Ihr heute für uns, Lurkin?“, fragte Baldur.
    „Linsen, Bleche, Streben und Schrauben. Alles, was Euer Handwerkerherz begehrt, mein lieber Baldur.“
    Er verbeugte sich und griff dann nach hinten in seinen Wagen.
    „Seht Euch diese Prachtstücke an.“
    Er zog eine Linse heraus, die selbst im Zwielicht des Ganges zu strahlen schien.
    „Ich kann Euch zehn Stück davon geben, dazu genug Metall, um sie zu verkleiden. Was könnt ihr mir dafür bieten?“
    „Habt ihr Runensteine dabei?“
    Lurkin zog zischen Luft ein. „Baldur, Baldur… selbst wenn ich welche hätte, wie beabsichtigt Ihr sie zu bezahlen?“
    „Ich habe heute besonders viel Obst und Gemüse dabei. Und meine Frau hat eine ganze Kiste voll Pittas gebacken. Sie halten sich den ganzen Winter und bereits eines sättigt wie eine große Mahlzeit.“
    „Ihr bietet mir Essen für einen Runenstein? Soll ich Euch aus dem Tunnel schleifen lassen?“
    Jaro zählte die Sekunden und pünktlich nach 15 brach Lurkin in schallendes Gelächter aus.
    „Ein kleiner Scherz, mein Freund. Ihr wisst natürlich, dass ich Euch dafür keinen Runenstein geben werde. Es sei denn, Ihr hättet vielleicht ein bisschen Fleisch für mich? Einen geräucherten Schinken? Der hält sich auch über den Winter, er allerdings schmeckt auch.“

    Jaro sah, wie sein Vater die Zähne zusammenpresste, doch er sagte nichts.
    „Ach Baldur! Mit Euch macht das keinen Spaß! Ihr lasst Euch überhaupt kein bisschen reizen. Jetzt wieder im Ernst: ich gebe euch die Linsen und das Metall für die Verpflegung, die Ihr bei Euch tragt.“
    Baldur zog ein zusammengefaltetes Stoffpaket aus seiner Tasche. Langsam entfaltete er es. Es enthielt eine Reihe verschieden farbiger Perlen aber auch größere Anhänger aus Glas, in die filigrane goldene und silberne Muster eingearbeitet waren.
    „Ich gebe Euch all meinen Glasschmuck für einen Runenstein.“
    Lurkin ballte die Fäuste und knurrte. Er drehte sich zu seinem Wagen und spähte unter die Plane. Er schob ein paar Dinge zur Seite und kam schließlich mit einem länglichen braunen Päckchen zurück.
    „Ihr wisst genauso gut wie ich, dass ich keine Runensteine habe! Ihr Wert hat sich in letzter Zeit mindestens verdoppelt. Aber“, er wandte sich nun an Jaro und sein Blick erhellte sich wieder, „ich habe das hier als Gegenstück für den Schmuck. Wäre das nicht etwas für dich, Junge?“
    Er öffnete das braune Päckchen und enthüllte ein kleines Stilett. Die Klinge war ungefähr so lang wie Jaros Unterarm und dort, wo sie auf die Parierstange traf, war eine blaue Glaskugel eingearbeitet. So glatt und makellos die Oberfläche der Klinge war, so filigran verziert war die des Hefts und des kleinen Knaufs. Es schien aus einem Guss gefertigt und Jaro musste es nicht hochheben, um zu wissen, dass es federleicht sein würde.
    „Das ist eine Klinge zwergischer Schmiedekunst und Ihr wollt sie uns für eine Handvoll Schmuck überlassen? Unser Glück, dass sich auch der Wert frischer Nahrung verdoppelt hat.“
    Baldur lächelte und Jaro sah, dass auch Lurkin grinste. Sie hatten einen gemeinsamen Standpunkt gefunden.
    „Dann sind wir uns also einig?“
    Baldur nickte und nahm seinen Packsack vom Rücken. Jaro tat es ihm gleich und sie tauschten die Güter mit dem Zwerg aus. Als letztes drückte dieser Jaro das Paket mit dem Stilett in die Hand.
    „Hüte es gut. Es ist leicht wie eine Feder und schneidet wie der Teufel. Betrachte es als Geschenk, weil ich dich mag.“ Er dreht sich nochmal zu Baldur.
    „Wenn Ihr einen Runenstein wollt, müsst Ihr größere Geschosse auffahren. Ein mannsgroßer Hohlspiegel wäre ein Anfang.“
    Dann drehte er sich um und ging.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Der junge Zwerg hatte sie zum Tor geleitet und als sie unter dem Baum herausstiegen, war Jaro überrascht, dass es bereits nach Mittag war. Er trug das Stilett in der Hand und betrachtete es. Die Arbeit an den astronomischen Geräten hatte ihn schon oft mit Metall in Kontakt kommen lassen, doch kein Werkstück war je wie dieses Messer gewesen. Es war massiv und kalt und wirklich unfassbar leicht. Sein Blick fuhr über die Verzierungen am Heft und zu der blauen Glaskugel. Sie hatte die Farbe seiner Augen.
    „Au!“ Blut quoll aus einem kleinen Schnitt an Jaros Handfläche. Er hatte die Klinge nur gestreift.
    „Gib Acht, mein Sohn“, sagte Baldur. „Lurkin hat nicht übertrieben, als er sagte, es schneidet wie der Teufel.“ Er schulterte den Rucksack neu. „Du kannst dich glücklich schätzen. Die Schmiedekunst der Zwerge sucht Ihresgleichen. Es ist etwas ganz Besonderes.“
    „Warum denkst du, hat er es mir gegeben?“
    Baldur seufzte. „Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, er wollte die Diskussion um die Runensteine beenden. Um den Glasschmuck – da bin ich mir sicher – ging es ihm nicht. Zwar hat er eine Schwäche dafür, doch er weiß genau, dass ich auch andere Güter dafür genommen hätte.“
    Er sah seinen Sohn von der Seite an. „Ich glaube, dass es den Zwergen im Allgemeinen nicht sonderlich gut geht. Ich denke, die Nahrung hat den Ausschlag gegeben. Aber das sind alles nur Vermutungen, ich weiß zu wenig über die aktuellen Ereignisse.“
    Dann lächelte er. „Wer weiß, vielleicht mag er dich wirklich einfach nur.“
    „Wieso wolltest du einen Runenstein kaufen?“
    „Nun ja“, Baldur kratzte sich am Kinn. „In erster Linie wollte ich herausfinden, ob er welche hat und wie er auf diese Forderung reagiert. Andererseits, wer würde sich nicht gerne einen in den Vorgarten stellen? Hätten wir einen bekommen, hätte ich es nicht bereut.“
    „Und hatte er welche?“
    „Nein. Ich glaube, er hatte wirklich keine.“


    Nach ihrer Rückkehr gingen Baldur und Jaro direkt in die Werkstatt. Alienor brachte ihnen einen Teller mit Obst und Honigkuchen und eine Karaffe Goresthi, einem warmen Malzgetränk. Sie leerten die Rucksäcke und räumten alles sorgfältig in die Regale ein, sodass die Arbeitsflächen frei blieben.
    „Was ich dir noch sagten wollte: Goldanil hat angeboten, dich zur Lehre bei sich aufzunehmen“, sagte Baldur während er die ersten Linsen wieder aus dem Regal holte und mit einem dünnen Tuch polierte. „Natürlich nur, wenn du willst“, fügte er hinzu.
    Jaro reinigte die Schleifmaschine. „Ich weiß nicht, ob es mir in der Stadt gefällt.“
    „Das hat Goldanil auch gesagt. Er hat vorgeschlagen, dass du nur wochenweise zu ihm kommst und dann jede dritte Woche zu Hause verbringen kannst.“
    „Warum soll ich überhaupt von hier fort? Es gefällt mir hier.“
    „Ich weiß mein Sohn“, seufzte Baldur. „Aber du bist ein guter schlauer Junge, Jaro und ich habe dir bereits alles beigebracht, was es braucht, um ein guter Handwerker zu sein. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt und denke, es ist Zeit, dass du noch andere Dinge lernst. Goldanil wird dich lehren, die Sterne zu deuten, dich mit ihrer Hilfe zeitlich und räumlich zu orientieren und er kann dir Geschichten aus der Welt erzählen, wie du sie sonst kaum zu hören bekommst… wenn du so entscheidest.“
    Jaro blickte auf. „Wann habt ihr das besprochen?“
    „Noch in der Nacht in Falathri, nachdem du zu Bett gegangen warst. Goldanil hat es vorgeschlagen.“
    „Woher kennst du Herrn Orillector, Vater?“
    Baldur lächelte. „Ich habe mich schon gewundert, wann du wohl fragst, mein misstrauischer Junge. Mittlerweile ist er vor allen Dingen ein Geschäftspartner und wissenschaftlicher Kollege, doch einst war er der beste Freund meines Vaters.“
    Er legte die polierten Linsen in eine Holzschale und suchte sich die Bauteile für das Gehäuse zusammen.
    „Keine Angst, du kannst es dir in Ruhe überlegen, Jaro.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Jaro saß am Meer. Der Wind zerrte an seinen Kleidern und sein Kopf war gefüllt mit dem Dröhnen der Luftmassen und dem stetigen Rauschen des Wassers. Der junge Lichtalb hatte die Augen geschlossen und fokussierte sich ganz auf die Geräusche. Er merkte wie er sich entspannte und sein Atem fügte sich nahtlos in das Auf und Ab der Wellen, das zu einer allgegenwärtigen Hintergrundkulisse verschmolzen war. Sie war nicht länger substanzlos, sondern schien seinen Körper zu stützen und ihn sanft zu wiegen.
    Als Jaro das nächste Mal die Augen öffnete war fast eine Stunde vorüber und der Entschluss gefasst. Er würde das Angebot des Gelehrten aus Falathri annehmen. Nicht nur spürte er, dass es seines Vaters Wunsch war, er war auch neugierig. Er dachte an die große Sternenkarte und an das Auge Orils, ein Schatz für jeden Handwerker und Wissenschaftler. Er würde all das lernen: wie man die Sterne las und wofür all die Instrumente eingesetzt werden konnten, die er seit frühster Jugend zusammenbastelte. Er könnte hoch oben auf dem Dach der Akademie stehen und das Leuchten des Sternenhimmels beobachten, in der angenehmen Dunkelheit und Kühle der Nacht.
    Und Calorod musste er nicht aufgeben. Nicht den Strand, nicht die Wiesen der Bergziegen, nicht seine Eltern. <Mit der Hektik der Stadt werde ich schon fertig>, dachte er und stand auf. Er wollte seinen Eltern seine Entscheidung mitteilen.


    Als Jaro in die Nähe seines zu Hause kam, erkannte er sofort, dass wieder Besuch da war. Laute Stimmen drangen aus dem Wohnraum. Vorsichtig schlich er näher an das Gebäude heran, um heimlich einen Blick durch eines der Fenster erhaschen zu können. Jaro erschrak, als seine Mutter plötzlich aus dem Nichts ans Fenster trat. Sie hob den Kopf und ihr Blick fiel auf ihren Sohn. Ihre Augen waren voller Trauer.
    „Versteck‘ dich“, formten ihre Lippen, „schnell.“

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  • Jaro eilte aus dem Dorf. Er traute sich nicht, seine Sachen zu holen, sondern ging wie er war in Richtung Gebirge. Wohin sollte er gehen? War der Besuch wegen ihm gekommen? Die Männer der Stadtwache aus Falathri hatten seinen Dunkelstein gesehen und Jaro wusste um der Frostalben Stand hier in Avinar. Waren sie hier, um ihn gefangen zu nehmen? Er dachte an den letzten Besuch aus Falathri und daran, wie er heimlich belauscht hatte, dass sie Informationen von seinem Vater einforderten. Vielleicht hatte es auch damit zu tun. Hatte Baldur nicht herausfinden können, was sie wissen wollten? Möglicherweise war es nur eine vorbeugende Maßnahme seiner Mutter, ihn wegzuschicken. Allerdings… Etwas in ihrem Blick hatte Jaro verraten, dass er tatsächlich in Gefahr schwebte.
    Jaro kam zum Stehen und fand sich in Mitten der Bergziegen wieder. Seine Füße hatten ihn automatisch zu einem ihrer Schlafplätze gebracht. Und wieso eigentlich nicht? Jaro vollzog das Ritual und ließ sich inmitten der Tiere nieder. Er verspürte Furcht. Weniger davor, gefunden zu werden, als dass seine Eltern zu Schaden kommen könnten; und dass er ihnen nicht helfen konnte. Eine kleinere Ziege kuschelte sich an ihn und gedankenverloren strich er ihr über das Fell. Es tat gut, die Tiere um sich zu haben. Sie strahlten Ruhe aus und gaben ihm ein Gefühl von Geborgenheit.
    Die Dämmerung setzte ein und es begann zu regnen. Weiter oben im Gebirge schneite es bestimmt. Die Temperatur alleine machte Jaro nichts aus, doch er hätte sich gerne vor der Nässe geschützt. Zudem verspürte er Hunger. Die Ziegenmilch hatte zwar gut getan, doch gesättigt hatte sie ihn nicht ausreichend. Wie lang musste er sich verstecken?
    Langsam kroch ihm Müdigkeit in die Glieder und er rollte sich am Boden zusammen. Von der Entfernung betrachtet war Jaro nur ein weiterer heller Fleck in der schlafenden Ziegenherde.


    Eine Stimme weckte Jaro. Es war stockfinstere Nacht.
    „Junge? Was treibst du hier draußen?“
    Die Stimme war brüchig und Jaro kannte sie. Er hob den Kopf und erblickte Brerin Tharmir, die auf einen knorrigen Stock gestützt vor ihm stand.
    „Du bist doch Baldurs Sohn. Was machst du hier? Du wirst erfrieren.“
    „Ich muss eingeschlafen sein“, antwortete Jaro. Wie viel durfte er der Heilerin anvertrauen?
    „Ganz offensichtlich. Bestimmt hat es nichts mit dem Auflauf bei deinen Eltern zu tun. Die Horde von Schnöseln ist immer noch dort.“ Sie lachte krächzend, als sie Jaros Erstaunen erkannte. „Ich bin zwar alt, doch weder blind noch dumm. Und jetzt komm. Du kannst dich ebenso gut bei mir in der Hütte verstecken.“

    Öfters schon war Jaro mit seiner Mutter zu Brerin gegangen, um Kräuter, Öle oder Salben einzukaufen, doch in ihrer Hütte war er noch nie gewesen. Niemand hätte Brerins Heim für ein lichtalbisches Haus gehalten, wenn er zufällig daran vorbei gekommen wäre. Es war niedrig und krumm und nur zwei kleine Fenster zierten seine Seiten. Sie schritten durch den großen Kräuter- und Gemüsegarten der Heilerin, auch wenn die Beete zu dieser Jahreszeit größtenteils brachlagen. Das kleine Gewächshaus im hinteren Teil des Grundstücks sicherte Brerin im Winter das Nötigste. Die Hütte war geräumiger als Jaro erwartet hatte, wenn auch ebenso dunkel. Im linken hinteren Eck befand sich ein offener Kamin, in dem ein kleines Feuer knisterte und Bündel von Kräutern trocknete. Es roch herrlich nach gebratenen Nüssen und kandiertem Obst, welches vermutlich in dem darüber angebrachten Backofen schmorte. Die Hütte bestand nur aus einem Zimmer, in dem durch einen schweren gewebten Vorhang eine Nische abgetrennt war, die wohl Brerins Bettstatt enthielt. Nahe des Kamins stand ein großer hölzerner Schaukelstuhl und der Rest des Raumes wurde von der Küchenzeile eingenommen, über der sich ein paar Bücher, Einmachgläser und unzählige Dosen auf schiefen Regalbrettern drängten.
    Jaro setzte sich in der Nähe der Türe auf einen kleinen Schemel und ließ sich von Brerin eine Tasse Kräutertee und eine Pitta in die Hand drücken.
    „Ich gehe morgen für dich nachsehen, ob du nach Hause zurück kannst. Deine Mutter hat sowieso Nüsse, Trockenobst und Honig bestellt. Bis dahin bleibst du hier, mein Junge.“
    Jaro nickte widerwillig. Hoffentlich war mit seinen Eltern alles in Ordnung und er wünschte, er könnte ihnen beistehen. Doch dann dachte er an den bestimmten Blick seiner Mutter und seufzte resigniert. Er half ihnen vermutlich am meisten, wenn er sich in Sicherheit befand.

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  • Jaro träumte von Schnee. Er war allein inmitten von unendlichem Weiß und seine Umrisse hoben sich kaum vom Hintergrund ab. Er blickte hinunter zu seinen nackten Füßen und schob ein wenig Schnee zur Seite. Ihm war nicht kalt. Der Schnee fühlte sich weich an, vertraut und fiel in regelmäßigen dicken Flocken lautlos zu Boden. Himmel und Erde verschmolzen miteinander, es gab keinen Horizont. Jaro dreht sich im Kreis. „Hallo?“, rief er. „Ist da jemand?“ Weit und breit war nichts zu sehen, nichts zu hören. Jaro kniete sich hinunter und begann mit den Händen ein Loch in die Schneedecke zu graben. Er grub und grub, doch er fand nichts, nur immer weitere Schichten Schnee und Eis. Langsam ging er in eine beliebige Richtung. Wo war er? „Hallo?“, rief er noch einmal. Wind kam auf. Zuerst war es nur ein laues Lüftchen, doch schon bald flogen ihm die Haare wild um den Kopf und die Flocken tanzten einen irren Tanz, während sie sich mühevoll zu Boden kämpften. Schließlich musste Jaro gebeugt gehen, um überhaupt noch voran zu kommen. Er stemmte sich Meter um Meter gegen den Wind, der von allen Seite an ihm riss und zerrte. Erschöpft fiel er schließlich auf die Knie. „Ist da jemand?“, rief er noch einmal, dieses Mal schon leiser, als ihn plötzlich eine Hand an der Schulter berührte. Er schrak auf.


    „Na, na“, krächzte Brerins Stimme. „Du glühst wie ein Becher heißer Wurzelwein! Du wirst dir wohl kein Fieber geholt haben?“ Sie ließ ihn los und tauchte einen Lappen in eine Schüssel voll grünlichem Wasser, bevor sie ihn Jaro auf die Stirn drückte. „Ich habe das Fenster schon auf gemacht, damit ein wenig kalte Luft rein kommt.“ Sie nickte in Richtung des kleinen hellen Vierecks, das sich deutlich vom Dunkel des Raumes abhob. Jaro blinzelte. Er hing noch halb im Traum. „Trink das“, befahl die alte Heilerin und drückte ihm eine hölzerne Schale in die Hand. Jaro trank artig. Die Flüssigkeit war sehr kalt und von bitter-süßem Geschmack. Milrod, im Volksmund auch als Eiswurzel bezeichnet“, erklärte sie fröhlich. „Ich verspreche dir, niemand braut einen derart guten Trank daraus wie ich! Vielleicht mit Ausnahme der Waldvölker; wenn ich nur einmal mit einem ihrer Heiler sprechen könnte…“ Sie war aufgestanden und murmelte weiter über Tränke und Pflanzen, doch die Worte waren nicht mehr für Jaro bestimmt. Er setzte sich auf, nahm das Tuch von der Stirn und leerte das Getränk, dessen angenehme Kälte er bis hinab in den Bauch spüren konnte. Noch immer sah er die weiße Welt seines Traums klar vor sich, nicht wie gewöhnlich, wenn die Bilder des Schlafes sich sofort verflüchtigten und beim Versuch, sie im wachen Zustand zu greifen, wie Quecksilber zwischen den Fingern hindurchglitten. Er meinte sogar noch zu spüren, wie sich der eigenartige Schnee angefühlt hatte.
    „Ich bringe deiner Mutter jetzt ihre Bestellung“, unterbrach Brerin seine Gedanken. „Wenn du magst, kannst du dir von dem Brei auf dem Herd nehmen.“


    Es dauerte nicht lange, bis Brerin zurück kam. Und sie hatte Jaros Rucksack bei sich. Jaro sah, dass sie kurz zögerte, bevor sie ins Haus trat, wahrscheinlich noch einmal abwägend, wie sie es ihm sagen sollte. Aber er wusste es sowieso bereits: er musste fort.
    Der Rucksack enthielt Wechselkleidung, seine liebsten kleinen Werkzeuge, etwas Geld und Verpflegung und einen Brief von Alienor aus dem ein Bild seiner Eltern rutschte. Während Brerin - wahrscheinlich aus Feingefühl - im Garten zu Gange war, las Jaro den Brief.


      Mein Junge,


      ich weiß nicht, ob du es verstehen oder verzeihen kannst, obwohl ich mir sicher bin, dass du mehr mit bekommst, als mir lieb ist. Wir möchten dich in die Obhut Goldanils geben, denn dein Vater, eigentlich unser ganzer Ort ist in das Visir mächtiger Leute geraten, die nun immer wieder bei uns unterkommen werden. Ihr Interesse gilt in erster Linie unserem guten Verhältnis zu den Zwergen, denn sie wollen es für ihre Zwecke nutzen. Trotzdem haben wir Grund zu befürchten, dass sie unserem kleinen Geheimnis auf der Spur sind, deinem Geheimnis, Jaro, auch wenn es nie direkt zur Sprache gekommen ist. Ich weiß nicht, wie du dich selbst entschieden hast, aber Goldanils Angebot konnte günstiger nicht kommen und auch, wenn du uns vielleicht nicht so regelmäßig sehen kannst, wie geplant, so wirst du es doch gut bei ihm haben. Er hat eine gewisse Stellung und viele respektieren ihn. Du wirst in seiner Obhut vollkommene Anonymität genießen, das hat er mir versprochen.
      Mein Schatz, bitte verzeih‘ uns, dass wir nicht mehr persönlich mit dir sprechen konnten. Die Ereignisse haben uns überrumpelt. Wir werden uns bald wieder sehen.


      In Liebe, Mama und Papa


      P.S.: Ich soll dir von deinem Vater sagen, er hofft, an alle deine wichtigen Basteleien gedacht zu haben.


    Jaro faltete den Brief langsam wieder ordentlich zusammen und betrachtete das Bild seiner Eltern. Er weinte nicht, das hatte er noch nie solange er sich erinnern konnte, doch hatte er schon einen beträchtlichen Kloß im Hals. Er fragte sich, ob er ihr schreiben durfte. Würden die Briefe überwacht werden? Er wollte Alienor sagen, dass es in Ordnung war, dass er verstand und sie und Baldur sich nicht grämen brauchten. Und dass er sich eigentlich ohnehin entschlossen hatte, bei Goldanil in die Lehre zu gehen. Sie sollten seinetwegen nicht traurig sein. Vielleicht konnte er Brerin beauftragen, diese Nachricht zu übermitteln.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Jaro brach früh morgens auf, als die ersten Silhouetten in dem Zwielicht kurz vor Sonnenaufgang an Schärfe gewannen. Er hatte Brerin eine Nachricht für seine Eltern überlassen, die sie mündlich weitergeben sollte. Lesen ging einigermaßen, wenn auch mühsam und nur, wenn sich der Schreiber dieselbe Mühe gab wie seine Mutter. Schreiben aber konnte Jaro kaum. Er fragte sich, ob Goldanil dies von ihm verlangen würde.
    Jaro folgte demselben Pfad, den er mit Baldur bereits gegangen war und kam erstaunlich gut voran. Ein paar Mal passierte er Bauern, die Handkarren voll Waren in Richtung Falathri hievten und einmal versteckte er sich vorsorglich in der Böschung am Rande des Weges, als ihm eine Gruppe Krieger entgegen kam. Jaro war froh, dass sein Vater ihm auch das kleine Fernglas eingepackt hatte. Er konnte andere morgendliche Wanderer bereits aus großer Entfernung erspähen. Um die Mittagszeit herum legte Jaro eine Pause ein und aß etwas. Wahrscheinlich war Alienor gerade jetzt in der kleinen Küche mit dem Holzofen und bereitete Nachschub für die Vorratskammer. Das ganze Hause würde nach der Süße der schmorenden Früchte und dem warmen Geruch brennenden Holzes duften und vom beruhigenden Geklapper des Schneebesens erfüllt sein, mit dem die Albin den Pittateig vorbereitete. In den letzten Jahren war er zu dieser Zeit oft schon mit seinem Vater unter der Erde bei einem zwergischen Handelspartner gewesen, doch früher, als er noch kleiner war, hatte dies die Kulisse seines Morgens bestimmt. Dann war er barfuß hinunter gelaufen und Alienor hatte ihn mit ihrem freundlichen Lächeln begrüßt und in ihre Arme geschlossen. „Guten Morgen, kleine Schlafmütze“, hatte sie meist gesagt und ihm eine Tasse kalten Tee eingeschenkt. Anschließend hatte es Jaro aber auch in jungen Jahren meist in die Werkstatt seines Vaters gezogen, wo es all die faszinierenden Materialien, Objekte und Werkzeuge gab. Er seufzte. War es das, was man Heimweh nannte? Bevor es unerträglich wurde, beschloss er weiterzugehen… und blieb nach nur wenigen Schritten wieder stehen. Erst hatte er gedacht, seine Augen hätten ihm einen Streich gespielt, doch bei genauerem Hinsehen konnte er im Dunkeln einer kleinen Steinnische deutlich die Umrisse eines Lebewesens erkennen. Was auch immer es war, es schien ihn ebenfalls anzusehen.
    Reflexartig griff Jaro sich an seinen Kopf, als sich die Frage darin formte: „Wer bist du?“ Jaro setzte an zu antworten, doch bevor er Zeit hatte, auch nur den Mund zu öffnen, drangen die nächsten Worte in seinen Geist. „Jaro, der Lichtalb, gehst nach Falathri; vermisst deine Eltern. Goldanil. Dunkelstein.“
    „Hör auf damit!“, rief Jaro und hielt sich den Kopf. Die Stimme verstummte. Dann: „Siehst du die Ziegen?“ „Ich – was?“ Jaro blickte sich um. „Nein, hier sind keine Ziegen. Ich habe seit Stunden keine gesehen.“
    Mittlerweile hatten seine Augen sich so weit an die Dunkelheit der Nische gewöhnt, dass Jaro die Umrisse seiner Begegnung besser erkennen konnte. Ein Wesen wie dieses hatte er noch nie gesehen. Es saß dort, hatte seine dürren Beine angezogen und mit noch dünneren Armen umklammert und blickte mit unnatürlich großen Augen zu ihm auf. Sein Kopf wirkte irgendwie zu groß für den Körper, zumindest soweit Jaro das deuten konnte.
    „Ich bin ein Steinpilz“, antwortete es ihm in seinem Geiste. „Ich habe Angst vor den Ziegen.“
    „Du musst keine Angst haben“, sagte Jaro, obwohl er vermutete, dass er die Worte gar nicht laut hätte aussprechen müssen. „Sie sind ganz lieb, wenn man weiß, wie man mit ihnen umgehen muss.“


    --------------------


    Der Fungi Lii schnupperte. Eindeutig Ziegengeruch. Auf die Augen konnte er sich nicht verlassen. Aber sein Geruchssinn war unübertroffen. Er hörte Jaros Verwunderung und Verwirrung. Außerhalb des großen Waldes waren die Gedanken anderer Kreaturen unüberhörbar. Falathri? War das auf seinem Weg? Der junge Frostalb hatte keine schlechten Gedanken in seine Richtung. Gerade beschäftigten sie sich mit der Frage, ob Pilze sprechen können. Vielleicht konnte er ihn als Schild verwenden? Er trat aus den Schatten und öffnete den kleinen Mund, der selten die Worte der Wurzellosen formte. „Darf ich dich ein Stück begleiten?“

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    Es war schwer zu sagen, was ihn mehr überraschte: das Aussehen des kleinen Wesens oder die Tatsache, dass es nun normal mit ihm sprach. Die Stimme war zwar sehr leise und dünn, doch sie klang ansonsten so gewöhnlich, als spräche ein anderer Alb zu ihm. Und dies war kein Alb, nein, es ähnelte tatsächlich nichts, was Jaro kannte. Dieser Steinpilz, wie er sich nannte, reichte Jaro kaum zur Hüfte und hatte keine Nase, dafür umso größere Augen. Seine Haut war bräunlich und sein großer, leicht schorfig aussehender Kopf wies eine deutliche Furche auf. Gekleidet – wenn das der passende Begriff war – war er ausschließlich mit Pflanzen und als er dort stand, die Hände vor dem dünnen Körper zusammengeführt und seine Frage äußerte, hatte Jaro sofort das Bedürfnis zu helfen. „Natürlich. Ich gehe in diese Richtung“, er zeigte mit der Hand nach Norden. Andererseits… was wusste er schon von diesem Wesen? Offensichtlich konnte es zaubern. Immerhin hatte es seine Gedanken gelesen und in seinem Kopf mit ihm gesprochen. Was, wenn er sich in Gefahr begab?


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    Misstrauen. Das war ungünstig. Der Fungi Lii blickte auf. „Das ist kein Zauber, Herr Alb. Das ist die Sprache der Wurzelwesen. Wir sprechen für gewöhnlich nicht mithilfe dieser Gesichtsöffnungen … Münder – wie ihr sie nennt.“ Jaro schob die Brauen zusammen. „Von mir hast du nichts zu befürchten, Herr Alb. Gefährlich bin ich nicht. Mein Name ist Ursuli – oder Urs.“
    Jaro schien irritiert über die Bezeichnung „Gesichtsöffnung“, was Urs zum Kichern brachte. „Ja, ich meine in deinem Gesicht, Herr Alb. Du scheinst auch nicht oft von ihr Gebrauch zu machen.“ Er legte den Kopf schief.


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    Eher unbewusst führte Jaro eine Hand an den Mund und starrte den Fungi Lii an, der zu kichern begann. Wurzelwesen… war das wirklich ein Pilz? Oder gar eine Pflanze? Es hatte ganz normale Beine, wenn auch nur zwei Zehen an jedem Fuß. <Er>, dachte Jaro, <es ist ein Er.>
    Obwohl er noch immer etwas misstrauisch war, sagte ihm sein Gefühl, dass von dem Fungi Lii keine unmittelbare Gefahr ausging.
    „In Ordnung, Urs“, sagte er. „Du kannst mitkommen. Aber sag, wohin bist du unterwegs und was bringt dich in diese Gegend? Ich war schon oft in diesem Gebirge unterwegs, doch ein Wesen wie dich habe ich hier noch nie gesehen.“
    Sie setzten sich in Bewegung und Jaro verlangsamte seinen Schritt, da er fürchtete, Urs könnte mit seinen kurzen Beinen sonst nicht mithalten. An dieser Stelle waren sie so nahe an der Küste, dass Jaro das Meer in der Ferne erspähen und sein stetiges Dröhnen hören konnte. Nein, er musste sich nicht fürchten, er war hier zu Hause und kannte die Gegend wie seine eigene Westentasche.
    Er sah hinunter zu dem kleinen Pilz, der neben ihm her trottete.
    „Du kannst mich Jaro nennen“, sagte er.


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    „Ich komme aus dem Waldkönigreich und bin unterwegs, um die nördlichen Wälder zu erforschen. Die Fungi Lii verlassen den Wald selten, Herr – Jaro.“ Urs beschleunigte seinen Schritt, um den jungen Alb nicht zu sehr aufzuhalten. Aber er spürte, dass er den schnellen Schritt nicht lange durchhalten würde. Er hatte seit Tagen keinen Zucker mehr bekommen. Mit den fremden Bäumen konnte er keine Verbindung aufnehmen. Sie waren verschlossen und er hatte keine Zeit.


    --------------------


    Nördliche Wälder… Einen richtigen Wald gab es in Falathris Nähe nicht, nur wie hier, ein paar einzelne Bäume und Sträucher und natürlich die Stadtbepflanzung. Jenseits der Nordgrenze der Kandoren war ein Wald, soweit Jaro wusste, doch dahin war es von Falathri aus noch einmal ein weiter Weg. Die Gipfel ragten in diesem Teil des Gebirges am höchsten auf und der sicherste Weg führte an der Küste entlang, dafür in großem Umweg. Er blickte hinab zu dem kleinen Wesen und Urs blickte zurück. Dem leicht erstaunten und furchtsamen Ausdruck nach, hatte er Jaros Gedanken ebenfalls mitbekommen. Ob er sich mit dieser Reise übernommen hatte?
    Sie umrundeten eine ausladende Hügelkuppe und dahinter kamen sie schließlich in Sicht. Urs hatte also Recht gehabt: es waren Ziegen in der Nähe und sie grasten direkt am Weg. Der kleine Fungi Lii war stehen geblieben und so hielt auch Jaro an und drehte sich zu ihm um. Urs blickte von den Ziegen zu Jaro, schien kurz zu erstarren, dann knickten ihm die Beinchen ein und er ging zu Boden.

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  • Konnte man vor Angst in Ohnmacht fallen? Behutsam hob Jaro den kleinen Pilz auf. Er wog so gut wie nichts. Sachte legte er den kleinen Körper über eine Schulter und ging weiter. Er hatte zwar noch keine Ahnung, was er mit dem Wesen anstellen oder wie er ihm helfen sollte, doch einfach hier zurücklassen war keine Option. Nach Falathri war es sowieso nicht mehr weit.

    Und tatsächlich; kaum eine Stunde später kamen die ersten Gebäude der Stadt in Sicht, mit ihren cremefarbenen Fassaden und gespickt mit dem grün, der üppigen Stadtbepflanzung. Jaro hatte kaum einen Fuß in die Stadt gesetzt, da regte sich Urs.

    “Hunger!”, das Wort dröhnte in Jaros Kopf, wobei das nicht ganz stimmte. Es war eher so, dass Jaro den Hunger fühlte, jedoch nicht in seinem Bauch sondern in seinem Kopf. “Hunger! Hunger!”

    “Lass das!”, sagte Jaro laut und erregte die Aufmerksamkeit einer Albin, die das Schaufenster ihres Blumenladens polierte.

    “Wie bitte?”, fragte sie und Jaro wich instinktiv zurück. Sie legte die Stirn kraus. “Keine Angst, Kleiner. Hast du etwas zu mir gesagt?”

    “Ich… nein.” Jaro schüttelte den Kopf, in dem noch immer das seltsame Hungergefühl brodelte. Urs befreite sich von Jaros Griff und kletterte ihm ganz auf die Schulter. Nun bemerkte ihn auch die Frau und ihr Mund formte ein tonloses O. Schnell ging Jaro vorüber. Bloß keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen!

    “Tut mir leid Herr Jaro”, sagte Urs laut, “es ist nur... ich brauche wirklich dringend Zucker. Nein”, fügte er direkt an, “deine Pittas kann ich nicht essen.”

    “Könntest du bitte aufhören meine Gedanken zu lesen?”, flüsterte Jaro.

    “Du denkst aber so laut!”, beschwerte sich Urs und Jaro seufzte.

    “Na gut, wo finden wir dann etwas zu essen für dich?”


    Wenige Augenblicke später fand sich Jaro am Rand einer weniger geschäftigen Straße wieder. Nervös blickte er von Seite zu Seite, die Arme um den Körper geschlungen. Urs umrundete währenddessen den dürren Schnurbaum. Es war bereits der fünfte. Das kleine Wesen strich mit seinen Händchen über die Rinde, klopft dagegen, legte den Kopf an den Stamm, legte sich vor dem Baum auf den Boden, stand wieder auf, blickte hinauf in die Krone und begann von vorne. Wie lange mochte das noch dauern? Jaro musste zu Goldanil und es dämmerte bereits. Zu gut erinnerte sich Jaro an das letzte Mal, da er zur Abendstunde durch Falathris Gassen gewandert war. Dieses Mal würde ihm Goldanil bestimmt nicht zufällig über den Weg laufen. Urs unterbrach sein Ritual und sah zu Jaro. “Du hast Angst.” Die Worte formten sich in Jaros Geist und irgendetwas daran war anders. Es gab natürlich keinen Tonfall bei dieser Art zu sprechen, aber Jaro fühlte Zorn. “Ja, ich bin wütend”, kam sofort Urs’ Antwort. “Und traurig. Wie könnt ihr ihnen das nur antun?” Jaro verstand nicht, was Urs meinte und er hatte auch keine Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es gab Dringlicheres.

    “Hast du genug… gegessen? Können wir weiter?”

    Urs ließ die Hände von der Rinde sinken. “Sie haben ja kaum genug für sich selbst.” Wieder sprach er nur in Jaros Geist. War er etwa eingeschnappt? “Aber ich werde nicht verhungern. Wir sind anders als ihr. Wir geben immer, auch wenn wir fast nichts haben.”

    Mit Sicherheit wusste Urs von Jaros Verwirrung, doch er machte sich nicht die Mühe, ihn aufzuklären. Ohne ein weiteres Wort ging er auf Jaro zu und sah zu ihm hoch.

    “Was ist?”, fragte Jaro.

    “Ich gehe mit dir. Du denkst an ein sicheres Versteck und ein sicheres Versteck ist immer gut, vor allem, wenn man an einem feindseligen Ort ist.” Urs zog an Jaros Hosenbein, also hob Jaro ihn hoch und setzte ihn sich wieder auf die Schulter. Was Goldanil wohl zu seinem zusätzlichen Gast sagen würde?

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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