Die Schatten Alexandres

  • Die Schatten Alexandres
    Frühling des Jahres 203 nach der Asche.
    Beaufort, Anwesen des Duc de Souvagne. Zweite Kelleretage unter dem Palast.


    Alexandre hatte einen seiner ›besonderen Tage‹, wie seine Schüler zu sagen pflegten. Zu unterscheiden, ob es ein guter oder ein schlechter Tag war, gestaltete sich manchmal schwierig, also waren sie bei dieser neutralen Begrifflichkeit gelandet. Die meisten hatten inzwischen vorsichtshalber den Tempel des Blutes verlassen, nur Prince Ciel war in dem unterirdischen Gewölbe bei seinem Mentor verblieben. Ihm gegenüber war Alexandre stets höflich und anständig gewesen, nach dessen Maßstäben, wohlgemerkt. Es gab keine Veranlassung anzunehmen, dass sich dies ausgerechnet heute ändern sollte. Ciel fürchtete ihn nicht. Alexandre konnte unangenehm werden und bisweilen auch unerträglich, aber gefährlich war er nicht.
    Der Prince saß also ganz entspannt im Schneidersitz im Meditationsraum auf dem Nagelbrett und las ein Buch über die ›Lehre von den Eigenschaften der Stoffe und ihren Reaktionen‹, während der verstimmte Erzhexer immer wieder mit wehenden Gewändern an der offenen Tür vorbeirauschte. Entweder wusste er nicht, was er tun sollte oder er nahm sich zu viel gleichzeitig vor. Ciel, der für die Übung nur ein leichtes Oberteil und eine kurze Hose trug, wartete darauf, dass der Erzmagier das tat, was er an solchen Tagen immer zu tun pflegte - dass er zu ihm kam, um ihn mit einer willkürlichen Anschuldigung zu konfrontieren:
    ›Ciel, ich bin erschüttert ob dieser Person, mit der du dich neuerdings abgibst. Sie ist abscheulich ordinär und völlig unter deinem Niveau.‹
    ›Ciel, deine Art der Ernährung ist deiner Blutbildung abträglich und obendrein viel zu opulent. Du misst dem Genuss des Augenblicks zu viel Beachtung bei. In der Monotonie liegt der Schlüssel zum Erkennen des wahrhaft Besonderen.‹
    ›Ciel, wenn du weiter deine Ausbildung so vernachlässigst, wird aus dir nie ein nennenswerter Bluthexer - nicht, dass du diese Bezeichnung momentan überhaupt verdienen würdest. Fleiß, mein Lieber, Ausdauer und Disziplin - sagen dir diese Begriffe etwas?‹
    Derlei Dinge waren es, die der Meister dann heranzog, um ein länger währendes Gespräch einzuleiten. Während die anderen Schüler einen besonders übellaunigen Lehrmeister wahrnahmen, der das Haar in jeder Suppe suchte, bis er eines fand und dem man nur aus dem Weg gehen konnte, verstand Ciel den Ruf. Alexandre wurde allein nicht mehr fertig mit den Schatten, die ihn jagten und suchte Ablenkung. Wenn es ihm half, war Ciel gern bereit, in die Falle zu tappen, sich die Anklage anzuhören und anschließend mit ihm verschiedene Aspekte ihrer Kunst zu diskutieren. Er war gespannt, womit Alexandre heute aufwarten würde.
    Es dauerte nicht lange, da kam der Erzhexer wie erwartet in den Meditationsraum, die Finger vor dem Bauch verschränkt und sehr ernst dreinschauend. Die Kapuze warf einen Schatten über seine Augen. Ciel blickte von seinem Buch auf. Alexandre war noch bleicher als sonst und seine Augäpfel zitterten in dem hageren, unrasierten Gesicht. Eine Wolke von Körpergeruch umgab ihn. Allein an seinem selbst für seine Verhältnisse ungepflegten und geistig verwirrt scheinenden Auftreten hatten die Schüler erkannt, dass einer der besonderen Tage war und das Weite gesucht. Die Hexer und Hexenmeister hatten etwas länger ausgehalten und seine Stimmungsschwankungen und Anschuldigungen ertragen, doch auch sie waren irgendwann unter einem höflichen Vorwand gegangen. Man sagte, dass Genie und Wahnsinn nah beieinanderlagen und Alexandre war ein hervorragendes Beispiel zur Untermauerung dieser These.
    Ciel schlug das Buch zu, legte es neben dem Nagelbrett auf dem Boden ab und blickte seinem Mentor aufmerksam ins Gesicht. Er hatte vor Alexandre keine Angst, wie irre der bisweilen auch dreinschaute und seine Ungepflegtheit konnte er gut ignorieren.
    »Ciel, du hast mich allein gelassen«, sprach der Erzhexer düster und blieb nah vor ihm stehen, so dass sein Schüler den Kopf in den Nacken legen musste. Alexandre war nicht gerade klein, auch wenn er gebeugt ging wie ein Greis.
    »Ich konnte Euch nicht mit nach Ehveros nehmen, Meister«, antwortete Ciel ruhig.
    »Ach nein? Bin ich nicht repräsentativ genug für den Tross des Großherzogs? Woran liegt es, an meinem mangelnden Schneid? Bin ich nicht gut genug, um der Krönung von Prinzessin Ricarda an der Seite der Hoheiten beizuwohnen? Muss man sich schämen, wenn man sich mit mir zeigt? Keine Scheu, sag mir nur alles ins Gesicht.«
    Ciel war zu höflich, um die wahren Gründe abschließend zu benennen, und beließ es bei einem Teil der Wahrheit.
    »Wir brauchen Euch hier vor Ort, Meister. Ihr seid die Lebensversicherung meines Vaters und meiner Brüder. Ihr seid von unschätzbarer Wichtigkeit für uns. Euch darf keinesfalls etwas geschehen. Und ich selbst wäre sehr betrübt, sollte Euch etwas zustoßen. Ihr wisst, wie sehr ich Euch als Mensch schätze und nicht nur als Erbringer magischer Dienstleistungen.«
    Alexandres zitternde Augen versuchten, Ciels Mimik zu deuten, um herauszufinden, wie ernst er diese Worte meinte. Sie suchten das Gesicht seines Schülers nach Anzeichen von Sarkasmus ab, doch scheiterten an der perfekten, antrainierten Maskerade. Alexandre selbst hatte dabei geholfen, sie zu vervollkommen. Der Erzhexer rümpfte kurz die Nase.
    »Ich will es für diesmal dabei bewenden lassen. Das nächste Mal würde ich mir wünschen, dass du dich persönlich von deinem Mentor verabschiedest und nicht irgendeinen namenlosen Domestiken schickst. Das gebietet der Anstand und würde von Respekt zeugen, sofern du welchen vor mir empfindest.«
    Er drehte sich in einer schroffen Bewegung um, wobei seine Mäntel sich aufbauschten. Ciel bekam die wehenden Stoffbahnen zu fassen und hielt sie fest. Der Erzhexer blickte über seine Schulter hinweg auf die zugreifende Faust. »Gerade sprach ich noch von Respekt.«
    »Verzeihung, Meister. Ich wollte nicht, dass Ihr geht. Bitte bleibt noch ein wenig und gewährt mir die Gunst einer Konversation.«
    Ciel gab die Kleidung frei, damit der Meister sich wieder umdrehen konnte. Sie hatte sich staubig und dreckig angefasst. Alexandre nestelte an den vielen Stoff- und Pelzschichten herum, als würde er sie wieder in Ordnung bringen wollen. Er sah heute aus wie eine Vogelscheuche, über die jeder, der vorbeigekommen war, einen zusätzlichen Mantel geworfen hatte. Des Erzhexers Augen huschten unruhig zwischen Ciel und seinem befreiten Rockzipfel hin und her.
    Ciel saß nach wie vor kerzengerade auf den Nägeln. Seine Muskeln waren angespannt, um das Körpergewicht gleichmäßig auf die Spitzen zu verteilen.
    »Alexandre, Euch liegt etwas auf dem Herzen. Ich bitte darum, als Freund mit Euch sprechen zu dürfen und nicht als Schüler.«
    »Wir sind hier in meinem Tempel«, erwiderte der Erzmagier in arrogantem Ton, »und innerhalb dieser vier Wände sind wir keine Freunde.«
    »Dann bitte ich Euch höflich, mir nach oben zu folgen, in meine Gemächer, Meister.«
    »Was ist, wenn meine Person daran überhaupt kein Interesse hegt?«
    »Ihr würdet mir damit einen großen Gefallen erweisen. Es ist lange her, seit wir auf einer persönlichen Ebene miteinander sprachen. Ich vermisse Euch als Freund, Alexandre.«
    Der Erzhexer zog ein ungnädiges Gesicht. Aber er setzte sich endlich im Schneidersitz vor Ciels Nagelbrett nieder.
    »Ach ja? Tust du das?«, fragte er gedehnt. Als Ciel nickte, wurde sein Gesicht noch eine Spur abweisender. »Dafür hast du dich ziemlich unangemessen von mir verabschiedet, Adept Ciel. Müßig zu erwähnen, dass ich nicht nur beleidigt, sondern tief gekränkt bin, besonders, da du der Einzige bist, der sich meinen Freund schimpft.«
    »Es war nicht richtig von mir und ich gelobe Besserung. Ich hatte zu jener Zeit sehr viel um die Ohren. Ihr seht wirklich furchtbar aus, Meister. Was quält Euch noch?«
    Alexandre überging die Frage.
    »Der Grad deiner Selbstbeherrschung hat ein bemerkenswertes Maß erlangt, wie ich sehe. Das Meditieren auf dem Brett mit den nicht abgestumpften Nägeln dient eigentlich der Schulung für die Meistergrade. Was schätzt du - wie immun bist du wirklich gegen die Bedürfnisse und Abwehrmechanismen deines Körpers?«
    »Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei zehn die Selbstbeherrschung einer Statue aus Stein darstellt, also unerreichbares Ideal bleibt, und eins den Säugling, würde ich mich bei sieben einordnen.«
    »Das ist hochgegriffen für einen Adepten, um nicht zu sagen hochmütig.«
    »Ich bin der Einzige von Euren Schülern, der Euch heute ertragen kann, also werde ich wohl der Beste unter ihnen sein, was das anbelangt, meint Ihr nicht?« Ciel schmunzelte etwas.
    »Möglich. Und dennoch bleibt es vermessen.«
    »Wollt Ihr es testen? Ich lasse es auf eine unvorbereitete Prüfung ankommen. Testet mich. Und wenn ich sie bestehe, will ich danach von Euch hören, dass ich nicht nur Euer Lieblingsschüler, sondern der Beste bin.«
    Alexandre erwiderte Ciels fordernden Blick. Sein Kopf zuckte kurz.
    »Dein wieder erwachter Ehrgeiz erfüllt mich mit Zuversicht, dass du aus deinem Talent tatsächlich noch etwas machen könntest. Mit fünfundzwanzig Jahren sollte kein Bluthexer deines Potenzials noch als Adept herumdümpeln. Also gut«, sagte der Erzhexer langsam. »Die Prüfung wird nicht einfach und ich will weder Rückfragen noch eine Beschwerde hören. Sie ist eine Frage des Standhaltens. Hältst du stand? Steig herunter von dem Nagelbrett und setz dich zu mir.«
    Ciel stieg in langsamen, kontrollierten Bewegungen herunter. Seine Beine waren bedeckt von einem Muster roter Dellen, doch nirgends hatten die Spitzen seine Haut durchdrungen. Er war gespannt, was ihn erwartete. Er setzte sich neben seinen Mentor auf den nackten Steinboden.
    »Ich bin bereit.« Ciel grinste herausfordernd. »Los. Prüft mich.«
    Alexandre beugte sich zu ihm hinüber und drückte ihm die Lippen auf den Mund. Ciel riss überrascht die Augen auf. Sein loses Mundwerk war binnen eines Augenblickes zum Schweigen gebracht worden. Alles Mögliche hatte er von seinem Meister erwartet, aber das nicht. Was jetzt? Wenn das die Prüfung war, war sie ziemlich fies. Der Erzhexer schloss die Augen und saugte sanft an seinen Lippen. Ciel hielt still, um es nicht zu vermasseln. Er versuchte, das Geschehen zu rationalisieren. Das war nur ein Kuss, im Prinzip eine Lippenmassage durch einen anderen Mund. Haut, die auf Haut rieb. Alexandre war zärtlich. Es fühlte sich schön an, auch wenn seine unrasierten Bartstoppeln ziemlich kratzten und man sehr deutlich schmeckte, dass er die Zähne das letzte Mal vor mehreren Tagen geputzt haben musste. Ciel konnte so etwas ausblenden und das reine Gefühl war sehr angenehm. Er schloss die Augen und entspannte sich, während Alexandre seine Lippen mit sanftem Sog liebkoste. Er besann sich auf die erlernten Meditationstechniken. Seine Atmung blieb ruhig, so wie sein ganzer Körper. Es war in Ordnung. Sollte der Meister ihn ruhig küssen. Alexandre streckte die Zunge heraus und malte damit Ciels Lippen nach, dann schob er sie ihm zwischen die Zähne. Langsam umfuhr er Ciels Zungenspitze. Während Ciels Körper ruhig blieb, schien der des Erzhexers innerlich zu erbeben. Und das war, was ihn verriet. Ciel wich mit dem Kopf zur Seite aus und befreite seinen Mund.
    »Das ist doch nicht wirklich eine Prüfung, Alexandre.«
    Der Erzhexer betrachtete ihn beleidigt mit zusammengekniffenen Augen. Seine Lippen glänzten feucht und er hatte gerötete Wangen. »Ich habe ja gesagt, dass es schwierig für dich wird«, konterte er. »Aber wenn du eine andere Zunge im Mund so viel weniger ertragen kannst als ein scharfes Nagelbrett unter dem Gesäß, dann ...«
    »Schluss mit dem Unfug. Haltet mich nicht zum Narren! Mit Euch stimmt etwas nicht. Ich habe Euch vor wenigen Minuten angeboten, als mein Freund mit hinauf in meine Gemächer zu kommen, damit wir auf Augenhöhe miteinander reden können. Euch geht es nicht um meine Ausbildung, Ihr habt wieder einen dieser ... dieser Tage! Euer Fleisch ruft und es ruft sehr laut. Ihr braucht Hilfe, Meister.«
    Alexandre sah wenig begeistert aus.
    »Ich möchte nicht wieder zu Benito gebracht werden, ich bin gesund. Er hatte das letzte Mal heimlich einen Vogel gezeigt, als er mit dir über mich sprach und etwas von Überarbeitung faselte, aber ich habe es bemerkt. Er hält mich für verrückt. Für nicht ganz dicht im Oberstübchen.«
    »Unfug, er hat sich mit dem Finger an der Stirn gekratzt.«
    »Oh, bitte, Ciel!«
    »So lange Ihr nicht ehrlich zu mir seid, brauche ich das auch nicht zu sein. Zu Eurer Beruhigung: Nein, ich wollte Euch nicht zu Benito schicken, sondern mit in mein Zimmer nehmen. Und dies ist nicht länger eine Bitte. Beweg dein Heck, Alex. Wir gehen hoch in den Palast.«
    »Das war ... sehr unhöflich formuliert. Wirklich.« Der Erzhexer erhob sich umständlich. »Wir hatten eine bindende Vereinbarung. Du wünschst, ein Schüler unter Schülern zu sein, dann benimm dich gefälligst auch so. Wir beide wissen, dass du das nicht müsstest und dass auch hier unten de facto alle Befehlsgewalt bei dir liegt. Aber wenn du wirklich etwas lernen willst, musst du dich meinem Einschätzungsvermögen und meinen Anweisungen als dein Mentor beugen - und nicht den Spross aus höherem Hause heraushängen lassen. Demut, Ciel. Opferbereitschaft. Das gilt auch für dich.«
    Ciel kam sehr viel schneller und eleganter auf die Füße als sein Lehrer.
    »Ich habe bereits sehr viel von dir gelernt. Und daher weiß ich, dass auch du nicht immun bist gegen physische Zwänge. So sehr du es dir auch wünschst. Ich bin inzwischen in der Lage, einzuschätzen, wo deine Grenzen liegen, da ich nicht nur deine Kunst, sondern auch dich als Mensch kennenlernen durfte. Seit zehn Jahren nenne ich dich nun einen Freund. Ich habe dich nie allein gelassen, Alex. Ich war nur manchmal auf Reisen. Sieh, ich bin heute bei dir, als alle anderen gingen, die es im Gegensatz zu mir nicht müssten. Sie sind fort. Wo bin ich? Ich bin hier, an deiner Seite. Vertrau mir, wenn ich dich um etwas bitte. Dann muss ich keinen Befehl daraus machen.«
    »Das ist Erpressung. Und hat nichts mit wirklichem Vertrauen zu tun.«
    »Darum geht es nicht, Alex, sondern darum, was gut für dich ist. Vertraue darauf, dass ich das weiß und dass meine Anweisungen keiner Laune entspringen. Und jetzt komm.«
    Ciel zog seine normalen Kleider über und gab die Führung. Sie stiegen die Treppen hinauf, rückten die Statue wieder über den Geheimgang und öffneten die Tür der Kapelle. Zwischen den Bäumen und Büschen heraus traten sie in den Garten. Für Außenstehende sah es so aus, als hätten sie in dem Gebäude nur eine Andacht gehalten. Nur Eingeweihte wussten, dass die Kapelle lediglich der Deckel war. Große immergrüne Bäume und Büsche schützten das Gebäude und die nähere Umgebung vor zufälligen Blicken, damit man nicht so einfach abschätzen konnte, wer wann hinein und hinaus ging.
    Ciel brachte den Erzhexer hinauf in seine Gemächer und rief seinen Leibdiener herbei.
    »Ferrau, bereite dem Marquis ein warmes Bad vor und sorg dafür, dass seine Kleider gewaschen werden. Alex, du kannst dich derweil auf den Stuhl setzen.«
    Der Stuhl war im Gegensatz zum Sofa abwaschbar, was anschließend nötig wäre in Anbetracht von Alexandres katastrophalem Pflegezustand. Als Ferrau im Nebenraum das Bad vorbereitete, nahm Ciel seinen Leibdiener kurz zur Seite.
    »Nathan kennt den Mann, du kennst ihn noch nicht. Es ist Marquis Alexandre de la Grange, mein magischer Mentor. Der Marquis ist unter seiner Kleidung schwer gezeichnet. Lass ihm nach der Rasur die unterste Kleiderschicht an, diese wird er selbst ausziehen, sobald du den Raum verlassen hast. Auch in Unterwäsche wird er seine Hände vor den Schritt halten, sprich ihn nicht wohlmeinend auf diese Körperhaltung an, wenn er für irgendeine Arbeit ungünstig steht, sondern akzeptiere dies und arbeite drumherum. Auch wünscht er nicht, von dir oder sonst jemandem gewaschen zu werden, sondern er wird sich, nachdem du gegangen bist, allein in die Wanne begeben. Du solltest ihm immer die Gelegenheit geben, seinen Körper vor deinen Blicken zu verbergen und ihn nicht nackt überraschen. Er braucht frische Kleidung, seine muss unbedingt in die Wäsche. Es ist spät, bring ihm gleich die Schlafsachen. Sie sollten weit sein und das Oberteil mindestens bis über das Gesäß reichen.«
    Ferrau wirkte etwas verwirrt ob der vielen Sonderwünsche, nickte aber.
    »Warum ist der Marquis so heruntergekommen?«, wunderte er sich. »Weshalb kümmert sich sein Leibdiener nicht um ihn?«
    »Alexandre hat kein sehr gutes Verhältnis zu seinem Körper. Am liebsten tut er so, als wäre sein Leib überhaupt nicht da und kümmert sich entsprechend nicht darum. Normalerweise sorgt Isidore, einer seiner Schüler, für das Notwendigste, doch der ist nicht anwesend. Es geht meinem Mentor heute nicht gut. Wir beide werden uns um ihn kümmern, auch wenn dies nicht unsere Aufgabe ist. Er ist mein Freund und Freunde lässt man nicht hängen.«
    Nachdem Alexandre fertig zurechtgemacht worden war, was einige Zeit dauerte, lag er im Schlafzeug auf dem ausgezogenen Sofa. Es war voller Decken und großen weichen Kissen. Der Erzhexer war rasiert und sein dunkelblondes Haar wieder in Form eines ordentlichen Kurzhaarschnitts gebracht. Er wirkte nicht nur ordentlicher, sondern auch gesünder nach der Pflege und dem warmen Bad. Auch die Zähne hatte Ferrau ihm geputzt. Er sah nun wieder aus, wie man als Marquis aussehen sollte, abgesehen von seinem zwar schlanken, aber vollkommen untrainierten Körperbau, und er roch auch wieder standesgemäß.
    »Darf ich mich noch ein wenig zu dir legen?«, fragte Ciel.
    Alexandre nickte. Er schien überrascht, doch erfreut. Ciel kroch kurzerhand zu ihm unter die Decke, legte seinen Arm um ihn und sie schmiegten sich aneinander. Der Prince hatte keine Berührungsängste, auch wenn viele das wegen seiner Enthaltsamkeit annahmen. Lange lagen sie einfach nur schweigend beieinander unter der warmen Decke, ehe Ciel das Wort ergriff.
    »Du vermisst Nähe, stimmt`s? Darum diese sogenannte Prüfung.«
    Alexandres Kopf wurde rot. Er rutschte ein Stück tiefer, presste sein Gesicht in Ciels Achsel, umarmte ihn und sagte nichts. Er zitterte, vielleicht unterdrückte er ein Weinen. Den Unterkörper hatte er weit weg von ihm gebettet.
    »Jeder hat seine schwachen Momente, auch ein Bluthexer«, sagte Ciel leise und erwiderte die Umarmung. »Du kannst heute Nacht bei mir bleiben. Wenn du magst, schlafe ich bei dir auf dem Sofa. Morgen wird es dir besser gehen.«
    »Ich hasse mich so dermaßen dafür«, tönte es erstickt unter seinem Arm hervor. »So erbärmlich und schwach. Ich bin eine wandelnde Negation meiner eigenen Lehren. Ein Schandfleck, ein Mahnmal fleischlicher Schwäche. Am liebsten würde ich mich umbringen.«
    Ciel streichelte ihn ein wenig.
    »Nein, das willst du nicht wirklich. Du willst etwas ganz anderes. Du selbst bist vermutlich der Einzige, der dich für schwach hält, alle anderen bewundern dich dafür, wie du nach solch einer Vergangenheit nicht nur lebst, sondern noch derartige Leistungen erbringen kannst. Du bist der jüngste Erzhexer, den Souvagne je gesehen hat, vielleicht weltweit. Komm, hör auf mit dem Blödsinn. Dein Herz rast ja. Für heute hör auf zu kämpfen und entspann dich. Gönn dir einen Abend Pause. Danach darfst du wieder stark sein.«
    Alexandre schüttelte den Kopf.
    »Ich kann nicht, Ciel. Dein Bruder, er wollte die Narben sehen. Er war freundlich und im Gegensatz zu dir fragte er sogar. Wie hätte ich Nein sagen können? Er wollte begreifen, was geschehen war. Die Unterhose durfte ich anbehalten - du hingegen musstest ja unbedingt auch diese fürchterliche Narbe sehen. In dem Moment, als ich mich ihm unverhüllt zeigte, war es in Ordnung, aber in der Nacht kam alles zurück. Die ganzen Geschehnisse, das Bewusstsein, was unwiederbringlich zerstört worden ist. Es überwälzt mich wie eine Lawine. Es bringt mich um, Ciel!«
    »Nichts bringt dich um. Ich bin da, Alex. Wir sind seit zehn Jahren Freunde und genau so lange weiß ich davon. Mir musst du nichts beweisen oder vorspielen. Versuche, mir für ein paar Stunden zu vertrauen. Ich bin stark für uns beide. Dir wird hier nichts geschehen und niemand wird über dich lachen. Sei eine Nacht einfach mal du selbst und gestehe dir ein, dass es dir auch mal schlecht gehen darf. Rede mit mir darüber und ich halte dich im Arm. Es ist nichts dabei.«
    Endlich rang Alexandre sich durch, zu antworten, ohne jedoch Ciel dabei ins Gesicht zu sehen.
    »Dreaux hat mich mit meinem Körper konfrontiert und mich daran erinnert, was für ein erbärmliches Stück Fleisch ich bin. Ich bin ein Fall für das Gruselkabinett oder den Jahrmarkt. Ich vermisse Nähe, will geliebt werden, Hände auf meiner Haut spüren. Diese Narben ersticken jeden Wunsch nach Nähe zu mir im Keim. Und ich kann nicht bieten, was sonst noch dazugehört. Ich wünsche mir so sehr, dass mich jemand in den Arm nimmt und wir einfach gut zueinander sind. Und dass nicht nur toleriert wird, dass ich mehr nicht kann, sondern dass es von vornherein gar nicht erst erwartet wird. Ja, mein Fleisch ruft. Und es gelingt mir heute nicht, es zum Schweigen zu bringen.«
    Alexandre drehte sich auf den Rücken und schnaubte in ein Taschentuch, das er unter ein Kissen stopfte. Sein Gesicht war verzogen von seelischer Qual. Ciel legte sich so, dass ihre Gesichter wieder auf gleicher Höhe waren. Er verstand ihn besser, als der Erzhexer ahnte.
    »Weißt du, Alex, die eine Aussage hätte von mir stammen können. Die mit dem Wunsch, gut zueinander zu sein, ohne dass der andere mehr erwartet.«
    Alexandres Augen zuckten kurz zu Ciel herüber.
    »Ach wirklich? Nun, dann war mein Unterricht vielleicht nicht ganz umsonst. Aber du hast eine Wahl, Ciel, das ist der Unterschied. Du könntest, wenn du wölltest. Oder nicht? Du könntest doch, oder?«
    »Ja ich könnte. Und ja, ich habe meine Wahl getroffen - ich will nicht.«
    »Aber du wünschst Zärtlichkeit?«, hakte Alexandre nach.
    »Zärtlichkeit aus Liebe heraus, nicht aus Lust. Das ist der Unterschied. Ich bin ja nicht gefühllos. Aber Trieb und Gefühl sind zwei paar Schuhe. Das eine Paar möchte ich mir nicht anziehen. Das andere trage ich bereits.«
    Alexandre stützte sich seitlich auf und musterte sein Gesicht. Er versuchte, zu verstehen. Erneut scheiterte er. Ciel half ihm und blinzelte ihm zu.
    »Das war ein Ja, Alex.«
    Alexandre zögerte nicht länger. Er beugte sich über ihn und sie versanken in einen langen Kuss.