Eisbrecher [Oneshot]

  • Eisbrecher

    Dunkelheit kann man nicht sehen. Sie ist.
    Erhard Blanck



    Wir schreiben das Jahr 201 nach der Asche. Heute habe ich den Befehl gegeben, die Toten zu essen. Es ist der erste Tag des neuen Jahres, doch zum Feiern ist keinem von uns zumute. Unser Festmahl bilden jene, die von der Skorbut dahingerafft wurden. Bisher haben sie tiefgefroren über Deck gelagert, nun holen wir sie nacheinander wieder herein. Wenig mehr wissen wir über das Übel, als dass man von innen nach außen verblutet. Wir haben alles versucht, es gibt nichts mehr, was wir den Göttern noch opfern könnten. Indem wir das Fleisch auf den Maschinen im Rumpf unseres Eisbrechers fast zu Kohle erhitzen, hoffen wir, den Tod mit dem Verzehr nicht auch in unsere eigenen Körper zu tragen. Ob das helfen wird, weiß niemand. Die Ungewissheit frisst sich durch unsere mürben Seelen. Es heißt warten und die Hoffnung nicht gänzlich zu verlieren. Es ist die große Aufgabe für jeden weiteren Tag und mir als Kapitän obliegt die Verantwortung über alles, was uns zusehends schwindet: Vorräte, Treibstoff, Zuversicht.


    Es ist unsagbar kalt, selbst für einen Frostalben. Milat Sil ist weit entfernt und wir haben kaum noch Treibstoff. Die Maschinen laufen auf Reserve. Der seit Wochen anhaltende Sturm verhindert, dass wir die Segel hissen können und das Packeis wird dichter. Warten, wie den Großteil unserer Zeit, die Maschinen nur dann anwerfen, wenn Aussicht besteht, auch wirklich vorwärts zu kommen. Beten, dass wir bis dahin nicht endgültig festfrieren. Die Kartenspiele und Würfel liegen ungenutzt im Schrank, die Flaschen sind so leer wie unsere Seelen.


    Vor tausend Jahren versank Tiamor zusammen mit den Hochkulturen. Die Götter haben den Kontinent entzweigerissen, der wirbelnde Abgrund tat sich auf und Nyels kaltes Reich verschluckte das Zentrum der Weisheit. Nun ruht sie in lichtloser Finsternis auf dem Meeresgrund. Mit ihr versank das Bewusstsein um Moral, um technischen und gesellschaftlichen Fortschritt und die Herzen wurden zu Eis so wie das Land. Viele glauben, dass dieses Ereignis Schuld an allem ist, das große Versinken, der Untergang von allem was wir liebten und allem, das zu Liebe fähig war. Was blieb, war der Rest. Oft genug fragen wir uns, was unsere Ahnen verbrochen haben, doch nicht einmal die Legenden kennen die Antwort. Ungewissheit, einmal mehr. Was blieb von der einstigen Größe? Selten noch pendeln dampfgetriebene Tauchschiffe zwischen den versunkenen Ruinen Tiamors und der öden Eiswüste an der Oberfläche hin und her, um etwas von seinem alchemistischen Licht in ihrem Herzen nach oben zu tragen. Mir aber ist dieser Weg verwehrt. Ich gehöre nicht zu den Glücklichen, die noch von der Weisheit kosten, die vergessen werden sollte. Nicht zu jenen, die Magie erlernen können, das Privileg der Untersseefahrt genießen dürfen und hernach ein Leben in Reichtum führen, in Palästen aus Eis, schön wie Glas und frei von Hunger.


    Mit gefrorenen Wimpern blicke ich hinaus, die Augen tränen vom eisigen Wind. Der Eisbrecher, zwischen schwarzem Ozean und sonnenlosem Winterhimmel ein flackerndes Licht, das versucht alles zu geben, was es hat, bis die Maschinen versagen. Unser Tod unbemerkt, nur besungen vom heulenden Wind. Das Schiff ein weiteres nie gefundenes Wrack, vom Schnee zugedeckt für den ewigen Schlaf. Noch ist es nicht so weit, aber bald, wenn sich nichts tut.


    Ein Ruck geht durch den Rumpf, als hätte der Dunkle mein Flehen erhört. Es knirscht, kracht und knackt, der Stahl ächzt und der Wind jault auf. Ein Stück freier Fahrt, vorwärts, ein weiteres Stück Hoffnung voran. Mit dem Eisbrecher bahnen wir uns seit einem Jahrzehnt den Weg durch das Packeis zwischen Skille und Frostkönigreich, zwischen Skallion und Thogrim, in der Hoffnung, irgendein Geschäft zu machen. Von guten Geschäften redet schon lange niemand mehr, Hauptsache, es reicht, um dem Tod ein paar Wochen länger zu entkommen. Nur wenig mehr als das ist uns geblieben. Warum man auf das Meer hinausfährt, dafür hat jeder andere Gründe. Die meisten unterschätzen schlichtweg, was sie hier draußen erwartet. Die einen suchen nach Abenteuer, die anderen nach Reichtum, wieder andere nach einer neuen Heimat. Nur wenige finden, was sie suchten. Ihr Schreien und Weinen sind hier draußen kaum zu hören. Und wenn es doch auf Ohren stößt, sind diese taub. Jeder hat genug mit sich selbst zu tun.


    Es sind die Ereignisse zwischen der ewigen Warterei, welche diese Reisen trotz allem lohnenswert machen. Es sind die silbernen Leiber der Sandjäger, die man an guten Stellen zu Gesicht bekommt und die einem für ein Entgelt aus Perlen die Schwärme in die Netze treiben. Es ist der Schwarzmarkt auf der schwimmenden Eisinsel Skille, wo die Norkara Felle gegen Waffen tauschen, Rentierfleisch gegen gefrorenen Kohl, Eisen gegen verbotene magische Artefakte und wo die Sandjäger die schlaffen Leiber von erlegten Riesenkalmaren gemeinsam an Land zerren, um die Stücken später zu horrenden Preisen an verhungernde Seefahrer zu verkaufen, die ihm Packeis feststecken. Und die sie, wenn der Preis nicht stimmt, ihrem Schicksal überlassen. Skille ist der Ort, wo man tiefgefrorene Ghule handelte, um sie im Maschinenraum eines verhassten Rivalen wieder auftauen zu lassen, damit sie sich an dessen Mannschaft gütlich tun. Es gibt viele Möglichkeiten, das Schicksal im Norden gegen bare Münze noch bitterer zu machen.


    Doch oft genug kommt die Gefahr nicht von außen. Ich bin auf meine Mannschaft angewiesen und die ständige Angst hat schon manch einen wahnsinnig gemacht. Eine Meuterei wäre das Ende. Wenn die Stimmung endgültig zu kippen droht, muss ich entscheiden, ob ich eine handvoll wertvoller Perlen, die eigentlich für die Sandjäger bestimmt sind, ins Packeis werfe, um die abgerläubischen Gemüter meiner Männer zu beruhigen oder ob ich das Gleiche mit meinem einzigen verbleibenden Maschinisten mache, um Nyel, dem Immerhungrigen, ein Opfer zu gewähren. Soll ich die Öllampe entzünden, um die verbitterten Gemüter etwas zu erwärmen, oder das Öl besser in die Maschinen kippen? Man kann es hier draußen nur falsch machen. Jede Handlung, um ein Übel zu lindern, zieht ein anderes Übel nach sich. Oft denke ich daran, wie es wäre, mich von der Reling zu stürzen und vom malmenden Eis zerquetschen zu lassen, um der weißen Wüste zu entkommen, von der manch einer sagt, dass sie nur ein Spiegel des Abgrunds sei.


    Seit ich den Eisbrecher mit der stärkeren Maschine ausgerüstet habe, ist der Kampf allerdings nicht mehr ganz so hoffnungslos. Wir sind schneller und können unseren Rivalen oftmals davonfahren, ohne wertvolle Energie zu vergeuden und unsere Gesundheit und unser Leben zu riskieren. Wir können uns in Regionen vorwagen, die unser Eisbrecher vorher nicht schaffte. Skilles Verlockungen scheinen nicht mehr ganz so weit entfernt für uns zu sein. Doch die neu gewonnene Freiheit hat ihren Preis, so wie alles hier. Die Maschine verbraucht noch mehr Treibstoff als die Alte. Sie ist lauter und man hört uns durch den Sturm schon von weitem. Und schon sind da die Rufe der Mannschaft, wieder die alte Maschine auszurüsten und die Neue gegen Treibstoff und Proviant einzutauschen sowie Medikamente gegen Skorbut. Vielleicht könnten wir davon auch einen neuen Maschinisten anheuern.


    Die wenigen Handelsstädte sind die einzigen Ruhepunkte, ob Skille unter dem Mantel des Zwielichts, Selsborg im Nebel der Fremde oder Mital Sil, die ich als einzige je Heimat nennen konnte, bevor ich an Bord des Eisbrechers stieg. Die Landgänge lindern den Wahnsinn der Mannschaft und auf den Märkten kann man das Eine gegen das Andere tauschen, so dass man vielleicht etwas länger überlebt.


    Das wertvollste Gut aber sind immer noch die Geschichten. Man lauscht ihnen und kann sich einmal zurücklehnen und muss sie nicht selbst durchleben, ein anderes Mal erzählt man die eigene Geschichte weiter und erhält zum Dank ein Kleinod oder erfährt beim Gespräch etwas, das auf einen möglichen Handel hinweist. Nützliche Warnungen, unterhaltsame Märchen, aber vor allem Träume - Geschichten sind die Währung für alles, was unbezahlbar ist.


    Diesmal rufen uns weder Skille noch Selsborg. Wir sind in umgekehrter Richtung unterwegs, südlich, nach Milat Sil. Nach Hause. Alles, was mich damals von sich stieß, zieht mich nun an wie eine warme Verheißung. Ich spüre, dass ich alt werde. Die Fahrt wird noch einige Wochen dauern, vorausgesetzt, wir frieren nicht endgültig fest. Ich kehre ich den Abenteuern im Norden auf ewig den Rücken, setze niemals mehr einen Fuß auf den Eisbrecher. Genug ist genug und alles, wonach ich noch suche, ist heimzukommen.


    Ich bohre mit der Zunge an meinem Zahnfleisch herum, taste nach, ob alles in Ordnung ist - und schmecke Blut.