Flucht aus Rantamar

  • Bozzy war tot. Wie ein Lauffeuer breitete sich diese Nachricht in Rantamar aus. Dies war jedoch nicht allein dem Versterben des jungen Goblins geschuldet, sondern vermehrt den Umständen seines Todes. Er war von einem seiner Klienten gefunden worden im Keller des Hauses. Mit durchgebissener Kehle und weiteren Biss- und Kratzspuren an den Armen. Der Geruch der Verwesung hatte noch nicht eingesetzt, doch das Blut war bereits eingetrocknet und begann in die schweren Steinplatten zu sickern und sie in einem dunklen Rot zu verfärben. Der arme Goblin, welcher den Toten fand, hatte kreischend kehrtgemacht und war die Treppe hochgestürmt, denn auch die heulenden und fauchenden Geräusche hinter den verschlossenen Türen im Kellerraum verhiessen nichts Gutes.
    Es wurde gemunkelt. Über eine Bestie mit Reisszähnen und leuchtend roten Augen. Über frevelhafte Experimente, die Bozzy Zeit seines Lebens in dem Kellergewölbe durchgeführt haben soll. Über weitere seltsame Kreaturen, die er gefangen und seziert hätte. Obwohl viele Goblins bei Bozzy ein und aus gingen, um seine Heilkunst zu beanspruchen oder sich einen Schlummertrunk geben zu lassen, wollte nun plötzlich jeder etwas über seine Schandtaten zu erzählen haben. Jedem schien er schon immer suspekt gewesen und keiner wollte seine Dienste in Anspruch genommen haben.


    Während in Rantamar Aufruhr herrschte, hatte sich die Verursacherin längst in einen dunklen, stinkenden Abfluss verkrochen und harrte dort wundenleckend der Nacht.
    Arafis konnte sich kaum entsinnen, wie sie vom Haus in diesen Schacht gelangt war, der sie vor neugierigen Blicken und dem grellen Tageslicht schützte.
    Umso deutlicher waren ihr jedoch die grässlichen Ereignisse davor in Erinnerung geblieben. Sie war kaum zu einem Gedanken fähig, doch die Bilder des Grauens spielten sich immer wieder vor ihrem inneren Auge ab.
    Die Wölfin kauerte eng an den Boden gepresst und zitterte am ganzen Leib. War es der muffige Gestank des Abflusses, der in ihrer Nase kratzte oder der beissende Geruch ihres eigenen Körpers? Es spielte keine Rolle, denn ihr Geruchsinn war abgestumpft in den Jahren unter der Erde. Er war nur noch ein billiger Abklatsch dessen, was er einmal war und nicht besser als der eines einfachen Menschen.
    Auch ihre Augen hatten gelitten, verbrachte sie doch ihre Tage in fast immerwährender Dunkelheit. Und wenn Bozzy sie dann einmal aus ihrem Gefängnis hatte holen lassen, und eine Lampe ihre Augen blendete, hatten die Höllenqualen für sie erst so richtig begonnen. Nein, das Licht war nicht ihr Freund. Sie verabscheute die Helligkeit und umarmte die Dunkelheit, welche ihr Sicherheit und Schonung versprochen hatte.
    Einzig ihre Ohren zuckten unentwegt, um jedes kleinste Schaben, jedes leise Trippeln, jedes unerwartete Geräusch gierig aufzunehmen. Wer konnte schon wissen, ob nicht auch hier unten diese grässlichen Goblins lauerten und nach ihr suchten?


    Als jedoch das Fiepen einer Ratte erklang, horchte die Wölfin auf. Automatisch gab ihr leerer Bauch ein unsägliches Knurren von sich. Arafis konnte sich nur noch vage vorstellen, wie Gemüse schmecken mochte oder auch Früchte, die sie doch früher liebend gern genascht hatte. Hingegen lief ihr das Wasser im Maul zusammen, wenn sie nur schon an Rattenfleisch dachte.
    Es war das Einzige gewesen, was sie in den Jahren gefressen hatte. Gut, zwischendurch auch eine Schabe, die sie selbst fing und manchmal sogar, wenn Bozzy einen guten Tag hatte oder von seinen Sezierereien Abfall übrigblieb, ein Stück Knochen mit Resten dran. Arafis wollte gar nicht wissen, was oder wen sie da gerade frass, aber der Hunger war auch viel zu gross gewesen. Die meiste Zeit über hatte man ihr jedoch Ratten hineingeworfen – tot oder lebendig.
    Obwohl sie sich kaum in der Lage fühlte aufzustehen, wollte sie einen Versuch wagen. Der abgemagerte Leib kämpfte sich hoch und das brackige Wasser tropfte aus ihrem verfilzten Fell. Jede einzelne Rippe hätte man an dem Wolfskörper zählen können. Selbst das Gesicht wirkte eingefallen und mehr wie ein Totenschädel.
    Einen hoffnungslosen Versuch später, das kleine Getier zu erschnuppern, lauschte sie wieder auf ihre Umgebung.


    Plötzlich zuckten ihre Ohren, als sie ein Geräusch vernahm, das nicht in die Stille der Kanalisation hineinpasste. Sofort war ihr ganzer Körper unter Spannung, denn eindeutig waren es Schritte und Stimmen, die sich der Gestaltwandlerin näherten. Ihre Instinkte rieten ihr zur Flucht vor der unbekannten Gefahr, und so trabte sie zügig los, weg von der Quelle der Unruhe.
    Inzwischen hüllte Dunkelheit sie ein, doch sie meinte an den Wänden ein schwaches Flackern zu erkennen, als ob jemand mit einem Licht durch die Gänge streifte.
    Diese unsäglichen Goblins! Warum konnten diese kleinen Teufel sie nicht einfach in Ruhe lassen!
    Panisch rannte sie los, so dass die Brühe zu ihren Füssen um sie herum aufspritzte und die Ratten verschreckt davonstoben.
    „Habt ihr das gehört? Da vorne ist was!“, erklangen aufgeregte und zornige Rufe. Nun war sich Arafis sicher, dass die Grünlinge sie aufgespürt hatten.