Ein Labyrinth aus Büchern

  • Ein Labyrinth aus Büchern


    Jedes Semester gibt es Führungen durch die Bibliothek, und die Neulinge müssen sich Kenntnisse zum Regelwerk aneignen, welches jedes Jahr um einige Punkte erweitert wird. So ist es nicht nur untersagt Seiten aus Büchern zu reissen oder Feuermagie zu nutzen, sondern auch Pferdeäpfel in den Gängen zu hinterlassen oder Feen in Gläser einzusperren.
    Speis und Trank sind in der Bibliothek strengstens verboten!
    Bei Notfällen können der Hausmeister oder die Bibliothekarin zu Rate gezogen werden.


    Die intermagische Akademie und die Weltenbibliothek sind von einem verwinkelten Labyrinth an Gängen durchzogen. Das Gemäuer wird von magischen Laternen und leuchtenden Stalaktiten erhellt. Nach Themengebieten sortiert befinden sich zig Bücher meist säuberlich eingeräumt in den Regalen der entsprechenden Abteilung.


    Mit etwas Glück findet sich der leidenschaftliche Leser auch in einer der Lesenischen wieder, welche sich überall verstreut in der Bibliothek befinden. Dort finden sich bequeme Sessel und Sofas, sowie Haufenweise Bücherstapel, welche die Studierenden dort zurückgelassen haben. Teilweise sind sie durch Geheimtüren zugänglich oder durch Wandbehänge versteckt.


    Auch Falltüren erzählen von längst vergangenen Tagen und es wird gemunkelt, eine davon führe gar in den grossen Maschinenraum, welcher die Beheizung des Gebäudekomplexes zuständig sei.


    Klar ist jedoch, dass das Gebäude einem riesigen Labyrinth aus Gängen und Büchern gleicht, in dem sich höchstens das (fast immer) hilfsbereite Personal wahrlich gut auskennt.

  • Atri


    Um diese Uhrzeit war noch nicht viel los in der alten Bibliothek, denn die Studierenden weilten im Unterricht und andere Gäste tauchten meist erst einige Zeit später auf, wenn tausende Meter über ihnen die Sonne das Himmelszelt erobert hatte.
    Atri hingegen nutzte die ersten Stunden des Tages gerne, um durch die Gänge zu streifen und auf Beutezug zu gehen. Gerade baumelte sie kopfüber an einem der sanft schimmernden Stalaktiten und schaukelte dabei ihren obsidianfarbenen Körper spasseshalber leicht hin und her.
    Eigentlich sollte sie ja bei der frostigen Totenlady sein, doch heute war einer dieser Tage, wo sich das Düsterlingsweibchen vor ihrer Arbeitgeberin gruselte, die die ganze Nacht über fette Bücher herumgewälzt hatte.
    Und ausserdem waren die fülligsten Ratten immer im Morgengrauen unterwegs!
    Ihr würde schon eine gute Ausrede einfallen, wenn die Albin sie nach ihrem Verbleib befragen sollte.
    Doch vielleicht… sollte ich mir jetzt schon Gedanken dazu machen!


    War die Totenlady wütend, so schrie sie weder herum, noch bestrafte sie einen direkt. Stattdessen betrachtete sie einen mit diesem durchdringenden Blick, der die Knie weich werden liess und wo Atri genau wusste, dass das Spiel noch nicht entschieden war. Und seltsamerweise hatte die Düsterling danach auch immer Albträume. Sie war überzeugt davon, dass dies Yeriels Verdienst war, denn wenn sie einen Auftrag besonders gut erledigt hatte, spiegelte sich dies ebenso in lebendigen und bunten Träumen wieder.
    Dies und die Tatsache, dass sich die Albin gerne mit Untoten umgab, erhielten ihr bei dem Staubteufel ein gewisses Mass an Respekt und Vorsicht.
    Sobald die Gehbehinderte jedoch einen Moment der Schwäche zeigte, nutzte Atri dies schamlos aus, gehorchte ihren Befehlen nur äusserst widerstrebend und schwerfällig. Verachtung und Bewunderung lagen manchmal nah beieinander.


    Ich könnte ihr erzählen, ich hätte nur einen kurzen Spaziergang machen wollen… doch dann, erschien plötzlich einer dieser vielarmigen Fische vor dem Fenster, streckte seine Tentakel aus und wollte mich aus der Bibliothek heraus in seinen Schlund ziehen! Mit Zähnen und Klauen kämpfte ich dagegen an und nur mit Müh und Not konnte ich entkommen…
    Atri war eine notorische Lügnerin, doch eines musste man ihr lassen - sie besass eine blühende Fantasie. Ihre Geschichten und Streiche hätten ein ganzes Buch gefüllt, und noch befand sie sich im Teenageralter.
    Auch bei der Totenlady hatte sie sich, als sie noch als Spionin für sie arbeitete, anfangs im Lügenerzählen versucht, doch aus irgendeinem Grund schien die unheimliche Tante spätestens am nächsten Tag beinahe mehr zu wissen, als Atri selbst. Die Düsterling verdächtigte deshalb die untoten Viecher sie zu beschatten und hegte eine rege Abneigung gegen sie.
    Was sie nicht wusste war, dass Yeriel des nachts ihre Träume beobachtete und ihnen die Erlebnisse des Staubteufels entlockte, was bei dem einfach gestrickten Geist meist wunderbar funktionierte.


    Plötzlich bemerkte Atri eine feine Bewegung vom anderen Ende des Ganges. Ihre runden Augen, welche die Farbe von zwei Rosenquarzen aufwiesen, fixierten das Insekt, das einer Regalreihe entlangkrabbelte.
    Etwas irritiert registrierte sie, dass es seltsam goldgelb leuchtete.
    Ob es giftig war?
    Ihr Bauch knurrte vernehmlich und als sie realisierte, dass es sich bei dem Tierchen um eine Schabe handelte, waren alle ihre Bedenken wie weggewischt.
    Sie liebte es, wenn die harten Citrinschalen zwischen ihren Zähnen knackten.
    Die Kakerlaken gaben einen wundersamen Snack für Zwischendurch ab!
    Das Vieh kam immer näher, während Atri sich für den Absprung bereithielt. Der dunkle Körper war unauffällig getarnt in dem steinernen Gemäuer, nur die rosafarbenen Augen leuchteten wie zwei Edelsteine im fahlen Licht.


    Kaum war die Golkerlake an ihrem Platz vorbei, liess sich das Düsterlingsweibchen zu Boden fallen, wo sie sich geschickt mit Händen und Füssen abfing. Die Fühler der Beute bewegten sich alarmiert, doch im selben Moment, als sie sich der Gefahr bewusst wurde, hatte Atri sie bereits mit ihren Klauen ergriffen.
    Gespannt beobachtete sie das Zappeln der dünnen Beinchen, als sie sich ihre Mahlzeit nur einige Zentimeter vor die Nase hielt, um daran zu schnüffeln. Die runden Augen mussten dem kleinen Insekt wie zwei helle Monde vorkommen.
    Nein, die Schabe roch genau so, wie sie riechen sollte – nämlich nach Schabe!
    Mit einem Happs schob sich der Staubteufel das verzweifelte Wesen in den Mund und biss es mit einem vernehmlichen Knacken in zwei Hälften. Das Gezappel erstarb.
    Was für ein unüblicher Geschmack.
    Doch Atri machte sich keine weiteren Gedanken darüber, als sie Schritte hörte. Mit einem unwilligen Knurren kletterte sie ein Stück an der rissigen Mauer empor, um dann wieder ihren Platz an dem Stalaktiten einzunehmen und die Lage zu observieren.