Jäger und Gejagte -- Jeelen und Lydia

  • Jäger und Gejagte


    Der goblinische Meuchelmörder wirkte nicht alt und nicht jung und schien nur aus drahtigen Muskeln zu bestehen. Sein Haar war zur Glatze abgeschoren. Alles was er tat, bis zum letzten Detail, schien er mit Effizienz und Präzision auszuführen, selbst seine Bewegungen. Er sah sich um und suchte die Umgebung nach seinen Feinden ab, wobei er nur seine Augen und seine langen, spitzen Ohren bewegte.


    Es waren dunkle Augen die allerdings im Moment vor Erschöpfung einen Teil ihres Feuers verloren hatten.


    Das Töten hatte den Goblin erschöpft. Seine Lungen brannten, Hüfte, Rücken und Arme schmerzten und seine Kehle fühlte sich an, als hätte er heißen Wüstensand verschluckt.


    Schweiß lief ihm über das Gesicht und den Nacken, brannte in seinen Augen, so dass er die Umgebung nur noch verschwommen wahrnehmen konnte.


    Seine Haut war mit Brandflecken, Verletzungen und Blutspritzern übersät. Der Geruch Fäkalien und verrottendem Müll stieg ihm in die Nase, eindeutig zu nah an der Gosse. Das Feuergefecht hatte ihn ausgelaugt. Zum ersten Mal seit sein Mentor ihm das Schießen beigebracht hatte, fühlten sich seine Hände, die den Griff der Armbrust umklammerten, ungeschickt an.


    Nur mit Mühe konnte er sich in die Seitengasse schleppen. Er presste seinen Rücken gegen die feuchte Backsteinwand eines Freudenhauses und schnappte nach Luft.


    Laternenlicht spiegelte sich in den Pfützen des dreckigen Bodens. Obwohl es in seinen Ohren beständig summte und brummte, hörte er die nahenden Feinde. Er leckte sich über die Lippen. Er tastete mit seiner spitzen Zunge nach der Narbe, die nicht nur seine Ober- und Unterlippe senkrecht zerschnitt, sondern auch seine rechte Gesichtshälfte.


    Der Goblin schmeckte Salz und hoffte, dass es Schweiß war und kein Blut. Oder sollte es doch Blut sein, so hoffte er inständig, es wäre nicht sein eigenes.


    Irgendwann hatte Jeelen aufgehört zu zählen, wie viele Personen er in seinem Leben getötet hatte. Bei Achtzig hatte er aufgehört zu zählen. Achtzig Personen, denen er die Reise ins Jenseits spendiert hatte.


    Und gerade eben hatte er wieder unter Beweis gestellt, zu was er fähig war, wenn man ihn in die Ecke drängte. Sie hatten ihn vor einer billigen Taverne angegriffen. Es war ein guter Kampf gewesen. Acht Männer mit Kleidung die sie tarnen sollte, und bis an die Zähne bewaffnet verfolgten ihn. Die Bolzen aus ihren Armbrüsten waren funkensprühend an den Wänden abgeprallt.


    Jeelen hatten sich hinter einem Gefährt in Deckung gebracht und in kürzester Zeit drei von ihnen ausgeschaltet. Für jeden war nur ein einziger Schuss nötig gewesen. Zwei Kerle hatte es in den Hals erwischt, ein Bolzen hatte den Schädel des dritten Mannes durchschlagen.


    Trotz seiner Erschöpfung musste er bei der Erinnerung daran lächeln. Präzise Arbeit, auf die er stolz war.


    Der Goblin wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und schaute sich erneut suchend um. Er war sich nicht sicher, wo er im Moment war. Es war im Grunde egal. Er holte noch einmal tief Luft, um Sauerstoff in seine Muskeln zu pumpen, und sprang gegen die rostige Metalltür in der Wand gegenüber.


    Die Tür flog krachend auf, als er mit seiner linken Schulter dagegen prallte. Jeelen rollte sich ab und befand sich für einen Moment in völliger Dunkelheit, bevor er sich orientieren konnte.


    Er war in einer seltsamen Gaststätte gelandet, mit Papierwänden und gedämpfter Beleuchtung. Mit der Waffe im Anschlag drehte er sich einmal um sich selbst. Hinter den Papierwänden konnte er die Umrisse von Personen ausmachen.


    Der Goblin schoss nicht. Er wollte niemanden umbringen, der es nicht darauf anlegte. Unschuldige Zivilisten gehörten am allerwenigsten dazu.


    Der kurze Gang in dem er sich befand, verzweigte sich vor ihm. Gerade als er sich wieder in Bewegung setzen wollte, sah er eine kleine Granate um die Ecke fliegen und klappernd in einigen Metern Entfernung aufschlagen.


    Jeelen sprang nach links und krachte durch die Wand aus Holz und Papier. Er landete auf dem Tisch eines abgetrennten Speisezimmers. Kuchen und Teetassen flogen durch die Luft und die Gäste stoben kreischend auseinander.


    Instinktiv hatte Jeelen die linke Seite gewählt, denn es war die Richtung aus der die die Schwarzpulvergranate gekommen war. Die Explosion ließ Flammen und Schrapnelle durch die dünnen Wände regnen. Und schon sah er sein erstes Ziel – einen Artgenossen mit einer gewaltigen Armbrust. Ohne stehen zu bleiben, feuerte er einmal und der Bolzen seiner Armbrust drang durch das Ohr des fremden Goblins in dessen Hirn. Das Geschrei um ihn herum wurde lauter.


    Jeelen rollte sich von der Tischplatte ab, als er sich beim Aufrichten umdrehte, sah er drei weitere Häscher. Zwei der Männer waren mit Armbrüsten bewaffnet, der dritte trug eine unbekannte Waffe. Den nahm er sich als ersten vor.


    Zwei Bolzen seiner Armbrust durchschlugen den Brustkorb des Mannes und er flog krachend zu Boden ohne auch nur einmal einen Schuss aus dem höllischen Ding abgefeuert zu haben.


    Zwei weitere Bolzen trafen einen der anderen Männer in den Bauch. Der letzte Goblin von ihnen feuerte, und Jeelen konnte sich gerade noch mit einem Sprung aus der Schusslinie bringen. Ein Bolzen streife schmerzhaft seine Wange.


    Er blutete. Inzwischen hatte er sich völlig aufgerichtet, und der Mann versuchte, seinen Bewegungen mit der Armbrust zu folgen. Er war viel zu langsam mit der Waffe in diesem engen Bereich und nahm sich selbst dadurch jede Chance auf einen zweiten Schuss. Jeelen zückte blitzartig eines seiner Wurfmesser und warf es so schnell, dass es nur noch als verschwommenes Etwas zu sehen war. Der Kerl klatschte zuckend mit dem Messer im Hals zu Boden.


    Jeelen schüttelte sich kurz um seine Muskeln zu lockern. Warmes Blut lief ihm über die Wange seinen Hals hinunter. Seine Ohren zuckten nach hinten. Hinter sich hörte er das verängstigte Gemurmel und Geweine der Gäste.


    Wo war die verdammte Nummer Acht seiner Verfolger? Einer fehlte!
    Im gleichen Moment wurde sein Kopf nach vorne geschleudert. Etwas hatte hart seinen Schädel getroffen und ihm kam nur ein Gedanke – er hatte Nummer Acht gefunden!


    ***


    Seine Welt war in Rot getaucht, und langsam tauchte er daraus wieder auf. Sein Hemd klebte an seinem schweißnassen Rücken. In dem kalten Raum kühlte sein verschwitzter Körper schnell ab. Jeelen zitterte.


    Er war nicht tot, das war schon einmal äußert positiv. Er war extrem erschöpft, zerschlagen, alles schmerzte und er hatte seit einigen Tagen nichts gegessen und nur etwas zu Trinken bekommen. Schlaf war ebenso Mangelware gewesen, er fühlte sich gereizt und hilflos.


    Mittlerweile traute er niemand mehr. Es gab nur noch Aino und ihr Team der Geister. Alle anderen Personen waren Feinde und Statisten in seinem Leben. Gut er war ein Auftragsmörder, nicht gerade die besten Voraussetzungen um noch an das Gute in anderen Personen zu glauben.


    Er jagte für Geld, jagte ohne die Gründe dafür zu hinterfragen. Manchmal jagte er auf Ainos Befehl andere Konkurrenten. Er hatte auch schon Abschaum gejagt - aus Wut auf eigene Faust. In dem Moment Ankläger, Richter und Vollstrecker in einem, wenn er nicht gerade selber wieder gejagt wurde.


    Diesmal lag er bei der Konkurrenz auf der Opferbank. Verfolger Nummer Acht hatte ihm eins über den Schädel gezogen, ins Land der Träume geschickt und hierher verfrachtet. Wo immer „hierher“ auch war. Jeelen wusste es nicht.


    Er erinnerte sich dunkel an das Verhör, die Schmerzen, die Schläge und all die andere Dinge die sie mit ihm angestellt hatten. All die Quälerei hatte nur ein Ziel, sie wollten erfahren wer sein Auftraggeber war. Von wem er den Auftrag erhalten hatte, dieser Schlange den Kopf abzuschlagen.


    Sie wollten wissen wer ihn geschickt hatte.
    Sie mussten es wissen.
    Er musste schweigen.
    Solange er schwieg, blieb er am Leben.


    Langsam klärte sich sein Blick. Sie mussten ihn für schwer verletzt oder tot gehalten haben vermutete er, denn sie hatten ihn scheinbar in die Kühlkammer geschoben. Langsam drehte er den Kopf und starrte die Tür an.
    Er hatte Angst, dass seine Peiniger zurückkamen und das Spiel von neuem begann.
    Zeitgleich sehnte sich Jeelen nach einer vertrauten Person, einem Kameraden aus seiner Bande, irgendwem dem er trauen konnte. Auch wenn das im Moment bedeutete, dass sein Kollege ebenfalls in dieser Hölle festsitzen würde.


    Solche Gedanken waren jetzt nicht hilfreich. Die Kälte biss in seine Haut, kühlte aber auch seine aufgewühlten Nerven. Er biss sich auf die Zunge, um richtig wach zu werden.


    In dem Moment wurde die Sicherheitsverriegelung der Tür geknackt, die Tür wurde leise aufgedrückt und Lydia musterte ihren Kumpel.


    ***


    Lydia kämpfte gerade noch gegen die Übelkeit an, die der Gestank bei ihr verursachte, als sie ein bekanntes Zischen hörte. Sie hielt inne und lauschte. Das Geräusch kam aus der vorletzten Zelle. Ihr Herz schlug schneller, als sie sich vorsichtig näherte. Sie hatte ihren Goblin gefunden.


    Die Zelle war ähnlich wie die anderen eingerichtet, sah aber mehr nach Folterraum aus. An einer Wand stand ein fahrbarer Schubladenschrank. Drei der Schubläden waren geöffnet und man sah medizinisches Besteck.


    Auf einem Metalltisch in der Nähe lagen weitere chirurgische Instrumente, Skalpelle, eine Zange. Unter all den Gegenständen hatten sich dunkle Pfützen auf weißen Handtüchern gebildet.


    Lydia hörte selbst, wie sie zischend den Atem einzog. Sie hatte nicht genau gewusst, was sie erwarten würde – aber damit hatte die Zwergin nicht gerechnet. Jeelen lag mit dem Rücken auf dem Untersuchungstisch. Seine Arme und Beine waren an den Tisch gebunden. Er war fast nackt. Sein Gesicht war mit Schwellungen überzogen, so dass er momentan kaum noch Ähnlichkeit mit dem Mann hatte, den Lydia sonst kannte. Seine Kleidung war aufgeschlitzt worden und Lydia konnte darunter das malträtierte Fleisch sehen.


    „Ich hab Dich gefunden“, flüsterte Lydia.


    Der Goblin zuckte bei dem Klang ihrer Stimme zusammen, als wollte er nicht glauben, dass die Zwergin real war. Lydia steckte ihre Armbrust ins Holster und machte sich daran Jeelen zu befreien. Langsam und vorsichtig löste sie die Fesseln. Die Zwergin lächelte den Goblin aufmunternd an.


    Jeelen blinzelte einige Male und musterte sie tonlos. Der Goblin legte die Ohren an und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sein Mund nur noch eine dünne, grimmige Linie war. Das war seine Art lautlos zu weinen.


    „Kannst Du ohne Hilfe laufen?“, fragte Lydia nach.
    „Ja, denke schon“, krächzte er leise. Er lächelte schwach und leckte sich über seine aufgesprungenen Lippen.


    ***


    Lydia half ihm auf und flößte ihm eine grauenerregend-bittere Flüssigkeit ein. Jeelen hinterfragte nicht um was es sich dabei handelte, sondern trank das widerliche Gebräu gehorsam aus.


    „Zieh die Fetzen aus!“, flüsterte Lydia gehetzt.
    „Hier? Hast Du mich mal angeguckt?", fragte Jeelen ungläubig.


    „Witzbold. Die blutigen, zerfetzten Klamotten müssen weg. Damit kannst Du nicht laufen“, wies ihn die Zwergin an, kramte in ihrem Rucksack und reichte ihm saubere Kleidung.
    „Klar. In Ordnung“, antwortete Jeelen und zog die Reste seiner blutbeschmierten Kleidung aus und schlüpfte vorsichtig in die neuen Sachen.


    „Die Schlösser wurden von mir geknackt. Wir gehen langsam aber vorsichtig raus. Schleichen ist jetzt das oberste Gebot, wir beide können nicht gegen alle antreten. Aber wir versuchen es.


    Entweder legen sie uns um, oder wir beide landen im Loch. Direkt am Fahrstuhl befindet sich eine erste Kontrollstelle mit zwei dort postierten Wachen. Weitere Wachposten sind vermutlich auf Kontrollgang. Du folgst mir Jeel und mach bitte keine Dummheiten", flüsterte Lydia und zupfte dem Goblin aufmunternd am Ohr.
    "Süße Du führst, ich folge Dir – egal wohin. Danke", antwortete Jeelen nur.


    "Dank mir sobald wir hier raus sind Jeel. Bis jetzt sind sie ahnungslos. Du wirst folglich keine unliebsamen Überraschungen erleben“, belehrte Lydia ihn.


    Sie schlüpfte aus ihren Stiefeln und klemmte sie sich unter einen Arm. Jeelen murmelte sein Einverständnis und Lydia gab sofort die Führung. Beide betraten den Fahrstuhl. Die Zwergin schob Jeelen zuerst hinein, so dass sie ihn abschirmen konnte. Dann setzte sich das Gefährt in Bewegung.


    „Wenn wir das lebend überstehen, werde ich sesshaft und hänge den Job an den Nagel“, stöhnte Jeelen.
    „Meinst Du das ernst? Oder ist das nur Verletzungsgejammer?“, fragte Lydia während sie den Goblin stützte.


    Jeelen wischte sich mit einer Hand erschöpft übers Gesicht und grinste Lydia dann schräg an.


    „Du kennst mich. Nur Gejammere“, gestand er und biss die Zähne zusammen.
    „Dachte ich mir Jeel. Geht Dir gleich ein bisschen besser nach dem Trank“, antwortete Lydia freundlich.


    „Ist nicht so, dass ich es nicht versucht hätte. Der Versuch ist gescheitert…“, erklärte er Lydia und lehnte sich für einen Moment an sie an.
    „Allein oder mit wem? Wie sah der Versuch aus?“, hakte Lydia liebevoll flüsternd nach.


    „Mit einer Frau. Ihr Name ist Gree. Es hat nicht geklappt. Ich konnte mit ihr nicht über gewisse Dinge reden. Aber über solche Dinge muss ich reden Lydia. Da es nicht ging, bin ich gegangen…“, gestand der Goblin leise.


    „Ist doch komisch, mit mir kannst Du über alles reden“, schmunzelte die Zwergin.
    „Mehr noch. Mit Dir kann ich sogar schweigen …“, gab Jeelen zurück.


    Die Zwergin strich dem Goblin kurz über den Schädel.


    „Noch sechs Sekunden bis Feindkontakt“, mahnte Lydia, „noch fünf, vier, drei…“.
    Jeelen stellte sich direkt neben Lydia vor die Türen und holte tief Luft. Sein Puls verlangsamte sich. Er konzentrierte sich ganz auf sein Gehör.


    Wie aus einiger Entfernung hörte er Lydia den Countdown beenden „…zwei, eins“.
    Der Fahrstuhl hielt an und öffnete sich langsam.


    Hinter einem Schreibtisch saßen eine männliche und eine weibliche Wache. Keine von ihnen war Jeelens Einschätzung nach älter als 20 Jahre. Sie trugen schwarze Lederkleidung. Er konnte ihre Überraschung erkennen, als sie aufblickten.


    Lydia hatte ganze Arbeit geleistet, sie waren völlig ahnungslos. Noch während sich der Blick der weiblichen Wache von ihren Unterlagen löste, war Lydia aus dem Fahrstuhl getreten. Die Wache wollte gerade aufspringen und der Zwergin irgendwas zurufen, als diese ihnen die Stiefel entgegen warf.


    Genauer gesagt zielte sie mit dem linken Stiefel auf den Mann, mit dem rechten Stiefel auf die Frau. Sie warf beide Stiefel im gleichen Moment. In ihren Händen hatten sie sich in Waffen verwandelt. Die Stiefel trafen mit äußerster Präzision ihr Ziel. Der Absatz des linken Stiefels traf den Wächter an der Stirn, so dass dieser wie gefällt vom Stuhl rutschte. Der andere traf die Frau auf Nase und Mund. Sie konnte gerade noch ihre Hände zum Gesicht führen, für einen Schrei reichte ihre Zeit nicht mehr.


    Direkt nach dem Wurf sprang Lydia über das Pult und landete weich wie eine Katze zwischen den beiden Wachen. Sie schlug der weiblichen Wache mit brachialer Gewalt die Faust ins Gesicht, so dass sie bewusstlos zu Boden stürzte.


    Jeelen wandte sich dem Mann zu. Der Kerl war benommen, kam langsam wieder zu sich und versuchte sich aufzurappeln. Er versuchte die Situation einzuschätzen. Sein Arm streckte sich zum Notfallknopf auf dem Pult. Fataler Fehler – Jeelen schlug mit seiner rechten Handkante auf dessen Genick. Die Wache brach zusammen und klatschte erneut auf den Boden. Der Goblin drehte sich um und sah, dass sich die Frau nicht von Lydias Schlag erholt hatte. Sie war immer noch bewusstlos. Der Goblin holte Atem und lauschte.


    „Mit den Stiefeln?“, fragte Jeelen ungläubig.
    „Ich konnte schlecht Dich werfen Jeel“, antwortete Lydia und hob ihre Stiefel auf.


    „Du gehst als Erste Lydia“, wies er die Zwergin an.
    „Richtig. Du folgst mir und meinen Anweisungen Grüner, also spar Dir den Atem“, kam sofort die Antwort, was den Goblin grinsen ließ.


    Lautlos schlich Lydia vor, zunächst langsam, dann zunehmend schneller. Sie bezog an der nächsten Biegung Posten und schaute sich sorgsam um. Als Lydia Jeelen anstarrte, streckte er ihr die Zunge raus.


    „Lass den Blödsinn. Bewaffne Dich lieber“, tadelte Lydia ihn leise.
    „Schon dabei Bällchen“, antwortete der Goblin und durchsuchte die Wachen.


    Lydia sparte sich jeden Kommentar zur Jeelens Liebenswürdigkeit. Sie wusste er meinte es alles andere als böse. Der Grüne schäkerte mit ihr. Vor- und Nachteile von Intelligenz, schoss es der Zwergin durch den Kopf. Wer Grips hatte, nutzte ihn auch oft für seltsame Scherze oder Spielerei.


    Vor allem dann, wenn die Person ein Goblin war und es dem Kerl trotz scheinbar schweren Verletzungen und allgegenwärtiger Gefahr langweilig wurde.


    Die Wachen trugen Armbrüste im Schulterhalfter und Ersatzmunition am Gürtel. Jeelen stopfte die gesamte Munition in seine Kleidung und nahm sich eine der Waffen. In einem Gestell unter dem Pult befanden sich zwei Macheten. Jeelen ignorierte die Stichwaffen. Einen Nahkampf würde er in seinem Zustand nicht überstehen. Zudem waren die Macheten plump und unhandlich.


    Lydia schlich weiter und Jeelen folgte ihr lautlos, die Waffe in der Hand. Hier unten war es kalt und es roch seltsam. Der Geruch erinnerte ihn an die Häuser der Heiler, und andere unschöne Orte.


    Die Zwergin rannte auf die Ausgangstür zu. Dahinter führte ein Gang zu einer Abzweigung. Lydia öffnete die Tür gerade so weit, dass sie hindurch schlüpfen konnte.


    „Warte hier, ich sichere den Korridor“, teilte sie ihm mit.
    „Alles klar – sei schön vorsichtig“, antwortete Jeelen.


    Er beobachtete die Zwergin, wie sie auf die Abzweigung zu schlich und links um die Ecke bog. Er hielt die Tür mit dem linken Fuß offen und lauschte aufmerksam durch den kleinen Spalt, jederzeit bereit Lydia zur Not beizustehen.


    Einer seiner Marotten, was einmal in seiner Obhut war, genoss seinen Schutz und seine Fürsorge. Auch wenn Lydia zu seinem Schutz angerückt war, würde er sie niemals opfern.


    Nach einigen Minuten hörte er das unverwechselbare Geräusch, mit dem ein Körper zu Boden stürzt. Einige Sekunden später hörte er es erneut.


    „Zwei sind ausgeschaltet. Geh an der Abzweigung links, und nimm nach zehn Metern den zweiten Gang auf der rechten Seite. Ich erwarte Dich“, flüsterte Lydia leise den Gang runter. Sie wusste der Goblin würde sie hören.


    `Schon unterwegs´, antwortete er gedanklich.


    Jeelen drückte die Tür auf und schlüpfte hindurch. Gebückt, lautlos und mit der Armbrust im Anschlag schlich er vorsichtig weiter. An der Abzweigung machte er Halt und spähte in beide Richtungen, bevor er nach links in den Korridor einbog. Eine lange Reihe von identisch aussehenden Türen säumte den Gang zu beiden Seiten. Keine von ihnen war beschriftet, aber an jeder war ein schweres Schloss angebracht.


    Hinter der zweiten Abzweigung entdeckte er die zwei Wachmänner. Einer lehnte zusammengesunken an der Wand, der andere lag flach auf dem Boden. Er hielt inne, kniete sich nieder und überprüfte den Plus der Wachen. Tot. Als er ihnen die Munition abgenommen hatte, ging er vorsichtig weiter. Lydia wartete vor einer weiteren Tür auf ihn. Jeelen stopfte der Zwergin einen Anteil Munition in die Taschen und wartete ab.


    „Was jetzt?“, fragte der Goblin.
    „Diese Tür führt zum Zellentrakt. Ich kundschafte, warte hier“, sagte Lydia aber Jeelen grabschte sie am Arm und hielt sie fest.
    „Nein. Du wartest hier und hältst mir den Fluchtweg frei. Verstanden?“, hakte der Goblin nach.


    „Jeel, das ist unser Fluchtweg! Wo bist Du mit Deinem Kopf? Sei ruhig und warte. Es wird nichts Schlimmes mehr passieren“, teilte Lydia ihm mit.


    Der Goblin wollte schon fragen, was sich die Zwergin vorstellte, was noch alles Schlimmes passieren sollte, besann sich aber eines Besseren. Die kleine Frau schlich an Jeelen vorbei und schon war sie um die Ecke verschwunden.


    Jeelen wartete zerknirscht aber gehorsam und zählte die Sekunden.


    Lydia schlich weiter. Keine fünf Meter vor ihr saß ein Wachposten. Er saß hinter einem Schreibtisch. Zu ihrer Überraschung war dieser Kerl besser trainiert, als die anderen vorne. Anstatt zu schreien, Befehle zu erteilen oder nach seiner Waffe zu greifen, wirbelte der Wachmann einfach herum und versuchte mit der linken Hand den Alarmknopf am Pult zu drücken. Lydia legte ihre Armbrust an und schoss. Die Tischplatte direkt unter der Hand des Wachmanns zerbarst in ihre Holzteile.


    Der Kerl sprang auf und versuchte seine Waffe zu ziehen. Die Zwergin rannte los und sprang mit einem Satz über das Pult. Noch im Sprung konnte sie abschätzen, wo ihr Tritt den Mann treffen würde. Lydia traf ihn mit voller Wucht mitten im Gesicht und fühlte den Aufprall, mit dem der Kopf des Mannes auf dem Boden aufschlug.


    Sie landete und wirbelte sofort herum, bereit mit einem Faustschlag nachzusetzen, stellte aber fest, dass dazu kein Grund bestand. Der Kerl war mit dem Hinterkopf auf den Boden geknallt und zwar dermaßen hart, dass er nie wieder aufwachen würde.


    „Feind ausgeschaltet“, flüsterte Lydia.
    Der Goblin schloss sofort zu ihr auf.


    „Bist Du in Ordnung?“, fragte er flüsternd.
    „Ja mir geht’s gut“, antwortete sie ihm leise.


    Jeelen wandte den Blick vom Wachmann ab und sah den langen Zellenkorridor hinunter. Es war still. Wieder konnte er die seltsame Kälte spüren die an ihm zerrte.


    Er sah sich nach dem Verriegelungsmechanismus um, fand den Schalter, mit denen sich die Zellen öffnen ließen und bete zu allen ihm bekannten Göttern, dass der Mechanismus nicht blockiert war.


    Hinter sich hörte er, wie sich die Türen öffneten. Einen Moment lang dachte er, einen großen Fehler begangen zu haben. Wer konnte schon ahnen, wen oder was sie hier verwahrt oder weggesperrt hielten. Aber jetzt waren die Türen auf, und es war zu spät sich darum noch Gedanken zu machen.


    Lydia rannte den Zellentrakt entlang, blieb vor jeder Tür kurz stehen und spähte hinein. Jeelen folgte ihr auf dem Fuße.


    Die Räume waren eine Mischung aus Gefängniszellen und Krankenzimmern mit Untersuchungstischen anstatt Betten. Zudem war in jedem Raum ein gewaltiger seltsam anmutender Stuhl montiert. Verhörstühle. Stuhl-, Untersuchungs- und Folterwerkzeug in einem – je nachdem was der Anwender bezweckte.


    Drei der Zellen wiesen dunkelbraune und schwarze Schmierspuren an den Wänden, Decken und Böden auf. Der Gestank nach Blut, Urin und Fäkalien war überwältigend und kaum erträglich. Diese Gäste waren auf die übliche Art hier ausgezogen – Füße voran.


    Erst jetzt dämmerte Jeelen, wo er sich eigentlich befand. Nervös schaute er sich um und versuchte den Kloß im Hals loszuwerden.


    „Hey“, sagte Lydia sanft und strich Jeelen vorsichtig über den Schädel, „ich werde Dich hier rausholen“.
    "Ich dachte ich wäre nur...", setzte er an und schwieg.
    "Später Jeel", gab die Zwergin zurück.


    „Was war das?“, flüsterte der Goblin und spitzte die Ohren.
    "Was meinst Du?", fragte Lydia nach und versuchte zu erlauschen, was ihr Kumpel gehört hatte.


    „Sie haben uns gefunden", erklärte Jeelen einige Sekunden später.
    "Wir müssen uns jetzt sofort auf den Weg machen“, sagte Lydia so ruhig wie möglich.


    „Ich bin bereit, zur Not können wir rennen - das packe ich. Wo ist der Rest von unserem Team?“, fragte Jeelen und berührte Lydia kurz am Arm.
    „Ich bin der Rest des Teams“, grinste Lydia ihn an und spähte dann auf den Korridor hinaus, „Auf geht’s – folg mir“.


    Die Zwergin bewegte sich so schnell, wie sie es Jeelen zumuten konnte. Sie wusste, wenn die Schießerei anfing, würde sie ihm so viel Deckung wie möglich geben müssen. Es war eine Frage der Zeit, bis die Wachen vor Ort waren. Dass ihr Freund dermaßen zerschlagen war, bereitete Lydia Sorgen. Sie vergewisserte sich, dass Jeelen ihr auch wirklich folgte.


    Sie gingen durch die Tür auf die Abzweigung zu. Kurz davor blieb Lydia stehen und presste ihren Rücken gegen die Wand. Aus dem Korridor waren die Schritte schwer bewaffneter Männer zu hören. Sie hörte Rufe, konnte aber kein Wort verstehen.


    „Wie viele Jeel?“, flüsterte Lydia.
    Der Goblin kniff konzentriert die Augen zusammen und lauschte angestrengt.


    „Ich höre dreizehn Männer – sei vorsichtig“, warnte der Goblin.


    Von den Wachmännern war jetzt nichts mehr zu hören. Lydia vermutete, dass sie sich mit Handzeichen verständigten und ausgeschwärmt waren. Für einen Moment schloss sie die Augen, hielt den Atem an und lauschte ebenfalls konzentriert.


    Jetzt hörte sie auch das Rascheln von Leder und schweren Stiefeln. Für ungeübte Ohren tappten sie lautlos über den Boden, jedoch nicht für sie und für Jeelen schon mal gar nicht. Die Zwergin hatte im Moment durch den seltsamen Widerhall nur Schwierigkeiten die Entfernungen der Feinde richtig abzuschätzen.


    Aber das spielte in diesem Moment keine Rolle, denn eines war hundertprozentig sicher, sie kamen näher und rückten auf sie zu. Alles andere wäre unsinnig.


    Lydia lehnte sich zurück und tippte vorsichtig Jeelen an.


    „Ich werde die Deckung verlassen und Dir Feuerschutz geben. Bei erster Möglichkeit schmierst Du Dich mit so viel Blut wie möglich ein. Der Ausgang ist möglicherweise nur ein einziger Aufzug. Du wirst Dich nicht an der Decke halten können, drum spielst Du toter Mann. Jetzt heißt es für Dich, sobald ich anfange zu schießen, versuchst Du, so schnell wie möglich um die rechte Ecke zu gelangen. Egal was passiert, bleib nicht stehen und warte nicht auf mich. Hast Du das verstanden?“, raunte Lydia Jeelen ernst zu.


    Jeelen nickte und leckte sich über seine kaputten Lippen.


    Lydia holte Luft, entspannte sich so gut es ging, dann stieß sie sich von der Wand ab und betrat den Korridor. Vier Wachmänner rückten vorsichtig zu ihrer Position vor.
    Jeder von ihnen war mit einer Armbrust bewaffnet. Was da anrückte war eindeutig eine ganz andere Liga.


    Sie schienen Jeelen auch noch in seinem jetzigen Zustand sehr ernst zu nehmen, was Lydia trotz der brenzligen Situation irgendwie mit Stolz erfüllte.


    ***


    Lydia schaute so grimmig wie es nur ein Zwerg auf Rachefeldzug konnte und eröffnete gnadenlos das Feuer. Ihre Waffe erfüllte diesmal mehr als nur einen Zweck.


    Die Repetierarmbrust in ihrer rechten Hand diente dazu, ein Sperrfeuer zu legen. Bolzen um Bolzen schlug in die Wand neben dem Mann an der Spitze des Trupps ein und ließ Tellergroße Brocken in der Gegend herumfliegen.


    Mit wedelnden Armen sprang dieser zurück und versuchte panisch, seine eigene Armbrust in Anschlag zu bringen, nicht wissend, dass Lydia dies beabsichtigt hatte. Der Kerl blockierte damit die anderen Nachrückenden seiner Gruppe und hinderte sie daran zu feuern. Sie würden schließlich nicht ihren eigenen Gruppenführer durchsieben.


    Mit der nächsten Bolzenladung ihrer Armbrust schoss Lydia alle Lichter im Korridor aus. Einige Sekunden nach dem sie das Feuer eröffnet hatte war es stockfinster.


    Als die Aufgabe erledigt war, zog sich die Zwergin wieder um die Ecke zurück und lud erneut nach. Jeelen verschwand gerade um die Ecke auf der anderen Seite des Korridors.


    Ein schwacher Lichtschein schimmerte aus der Richtung, in die Jeelen verschwunden war. Mit dem Rücken zur Wand ging Lydia in die Hocke und schnellte um die Ecke. Der Anführer des Trupps war vorsichtig herangeschlichen, um sie zu überraschen.


    Seine Armbrust hatte er gegen die Schulter gestützt. Die Zwergin richtete sich vor ihm auf und ließ ihre Faust von unten gegen das Kinn des Burschen krachen und hörte als Antwort das Brechen des Knochens.


    Mit der freien Hand grabschte sie zeitgleich die Armbrust der Wache und hielt es fest. Sekunden später traf Lydias Knie mit voller Wucht den Schritt des Mannes, dieser ging wimmernd zu Boden, während die Zwergin ihm die Armbrust entriss um wieder hinter der Ecke zu verschwinden.


    `Auch die Truppe der Geister ist eine ganz andere Liga!´, dachte die Zwergin grimmig.


    Schlagartig fiel ihr die Sekundärfunktion von einigen Goblinwaffen ein. Heimliche, tödliche Gimmicks zur Überraschung eines Feindes. Sie steckte die eigene Armbrust weg und untersuchte mit beiden Händen vorsichtig die fremde Waffe.


    `Wo ist hier nur die verdammte Sekundärfunktion? Scheiße, Scheiße, Scheiße. Kaum schick ich den Goblin weg, wen brauch ich? Den Goblin!´, dachte Lydia wütend.


    Ihre Finger fanden den Anschlagsbolzen, der in einer Vertiefung vor dem Abzugshebel lag. Sie drückte den Knopf so fest sie konnte. Der Mechanismus, der die in der Armbrust installierte Sprengladung aktivierte, sandte leichte Erschütterungen durch die Waffe.


    `Oh oh´, schluckte Lydia.


    Sie warf die Armbrust auf die anrückenden Männer und rannte im selben Moment in die andere Richtung.


    Die Zwergin hörte Rufe. Einer von ihnen schien ein klares Schussfeld zu haben. Dann zig Schreie, als ihre Verfolger die bebende Armbrust erkannten. Lydia hörte, wie der Trupp versuchte sich schnellstmöglich zurückzuziehen.


    „SCHARFE MIENE!!!“, schrie ein Goblin seinen Kollegen zu, für all jene die immer noch nicht auf den Boden geschaut hatten um welche Waffengefahr es sich handelte.


    Die Kontaktmine in der Armbrust explodierte. Die Schockwelle verfolgte Lydia den Korridor entlang und schleuderte die Zwergin zu Boden. Sie fing sich ab und griff mit der freien Hand an die Kante der Mauer, schwang sich um die Ecke und zog sofort die eigene Armbrust.


    `Sekundarfunktionen, die Rettung in letzter Not sagte Jeel mal. Für wen? Goblinwaffen, mehr Gefahr für den Träger als für jeden Feind! Wer baut eine Miene in eine Armbrust ein? Nur ein Goblin!´, knurrte die Zwergin gedanklich.


    Lydia wusste nicht, ob der Anführer der Truppe die Explosion überlebt hatte. Sie hatte versucht die Mine möglichst weit weg von ihm zu werfen. Außerdem war der Kerl dank des Eiertritts in gebückter Haltung gewesen. Das konnte sein Leben verschont haben. Sie musste weiter wachsam bleiben.


    Jeelen starrte sie mit offenem Mund an.


    „Was hast Du da drin gemacht?“, zischte er leise.
    „Bisschen Krawall. Die Sekundärfunktion… daran habe ich mich erinnert. Das ist eine eingebaute Sprengladung im Schaft der Armbrust verdammte Ork-Kacke!“, fluchte Lydia.
    „Jaaa… “, antwortete Jeelen.


    Der Goblin schien immer noch auf die Antwort auf seine Frage zu warten. Lydia funkelte ihren Freund an, deutete mit dem Zeigefinger auf ihn und schüttelte dann den Kopf.


    „Zuhören wir befinden uns in einem Gang, der von Osten nach Westen verläuft. Du musst schnell weiter nach Osten vorrücken. Sie wollen uns in den Rücken fallen. Wenn sie clever sind haben sie sich aufgeteilt um uns abzufangen“, warnte Lydia ihren Freund und setzte sich sofort in Bewegung. Jeelen folgte ihr erneut auf dem Fuße.


    „Du bist meine Rettung“, flüsterte Jeelen.
    „Ich fühle mich geehrt. Ungefähr Fünfzig Meter von unserer Position aus, befindet sich zu Deiner Linken ein kleiner Aufzug. Vermutlich für Wartungsarbeiten oder so. Den benutzen wir und dann haben wir es nach draußen geschafft. Also reiß Dich noch einmal zusammen, es ist nicht mehr weit“, teilte Lydia dem Goblin mit.


    „Ich könnte Dich knutschen Lydia“, kicherte Jeelen.
    „Dazu musst Du das Gebäude mit heiler Haut verlassen. Danach kannst Du gerne Deine Lippen auf so oft Du magst auf meine drücken“, lachte Lydia leise.


    Der Goblin musste über die Erklärung trotz allem Lachen. Mit Jeelen im Schlepptau rannte Lydia den Gang hinunter. Bis auf die Schritte und das gequälte Atmen von dem Goblin war es totenstill.


    Die Zwergin konnte nicht einmal die leisesten Befehle hören, aber wenn die Wachen sich per Handzeichen verständigten, würde es auch keine verräterischen Geräusche geben.


    Sie erreichten eine weitere Abbiegung. Lydia hielt Jeelen zurück, sprang um die Ecke, rollte sich ab, die Armbrust dabei im Anschlag. Sie hatte heftige Gegenwehr erwartet und war total perplex den Gang leer vorzufinden. Lydia richtete sich auf und rannte weiter. Jeelen folgte ihr so gut er konnte.


    „Noch zwanzig Meter“, informierte ihn Lydia.


    Die beiden Meuchelmörder rannten den Gang weiter hinunter und Lydia konnte das Summen und stampfen des Aufzugs hören, der durch irgendeine seltsame Maschinerie in Bewegung gesetzt wurde.


    „Ein Lastenaufzug“, flüsterte Jeelen Lydia zu.
    Lydia tauschte mit Jeelen die Position und überwachte den Korridor. Jetzt konnte sie die Stimmen und schweren Stiefelschritte der Truppe hören, dass sie abfangen sollte.


    Aus den Augenwinkeln registrierte sie, wie Jeelen vorsichtig in den Aufzug kletterte. Er hatte sich schon halb zu ihr umgedreht, als klappernd eine Granate um die Ecke rollte.


    Lydia trat ohne zu zögern Jeelen ins Kreuz um ihn sichernd zu Boden zu schicken. In derselben Sekunde wirbelte die Zwergin wie eine Furie herum und kickte mit voller Wucht die Granate zurück in die Richtung aus der sie gekommen war.


    Noch in der Luft ging die Granate hoch. Der Lärm den sie in dem engen Korridor verursachte war ohrenbetäubend. Die Zwergin wusste, dass die Granate aus Verzweiflung geworfen worden war. Der Einsatz von Granaten war das letzte Mittel um Flüchtige aufzuhalten. Und auf so engen Raum bedeutete es zudem direkten Schaden in jede Richtung – auch die der eigenen Leute.


    Die Schrapnelle würden hier so lange von den Wänden abprallen, bis sie entweder ihre kinetische Energie verloren oder sich einen Weg ins Fleisch fressen würden.


    Die Feinde hatten jetzt nicht mehr die Absicht, Jeelen oder sie gefangen zu nehmen oder überhaupt noch lebendig zu fangen.


    Oder besser gesagt, der Trupp der sie jagte wollte sie töten. Ihr Ruf stand auf dem Spiel. Da waren zwei tote Feinde ein Scheißdreck gegen.


    Lydia sprang blindlings Jeelen in den Aufzug nach. Es war eine harte Landung. Die Zwergin fühlte den Aufprall in ihrer Schulter. Schrapnelle streiften ihre Arme und Beine und etwas Heißes streifte ihr Gesicht. Für einen winzigen Moment verlor sie das Zeitgefühl. Als sie sich wieder gefangen hatte, war sie bereits wieder auf den Füßen und griff nach dem Bedienelement des Aufzugs.


    Die Zwergin setzte den Aufzug in Bewegung und zwar Richtung Dach.


    Dichter Rauch zog durch den Gang und Lydia glaubte dazwischen Bewegungen erkennen zu können. Dann sah die Zwergin sie richtig. Männer in schwarzen Lederrüstungen.


    Sie feuerte mit der Armbrust, noch bevor sie sich dessen überhaupt selber bewusst wurde. Eine der Gestalten wirbelte herum und ging zu Boden. Sofort sprang eine zweite über sie, schirmte den Gefallenen ab und eröffnete ebenfalls das Feuer.


    Die Bolzen bohrten sich hinter Jeelen und Lydia in die Wand des Aufzugs. Lydia erwiderte das Feuer, traf noch zwei der Feinde, bevor sich die Türen des Aufzugs endlich schlossen. Die Kabine setzte sich mit einer Schnelligkeit in Bewegung, die ihnen beiden den Magen umdrehte.


    Lydia sah an sich herab und entdeckte ein halbes Dutzend Schnittwunden an ihrem Bein und Blut das auf ihre Brust tropfte, dass aus der Wunde an ihrer Wange stammte.
    „Kacke“, knurrte sie leise.


    „Aus der Sache mit den paar Blessuren und kaputten Sachen rauszukommen ist ein großes Glück“, nuschelte Jeelen und stützte sich an ihr ab.


    Er atmete schnell und flach. Blutiger Schaum rann aus seinem Mund. Lydia steckte sofort die Armbrust weg und tastete seinen Oberkörper ab. Blut floss aus den offenen und wieder aufgebrochenen Wunden und als Lydia ihre Hand zurückzog war sie tiefrot.


    „Ich pack´s nicht stimmt´s? Naja… es war ein ehrbarer Versuch“, sagte Jeelen heiser.
    „Doch, Du packst das! Du wirst nicht sterben. Nicht jetzt und vor allem nicht hier. Das lasse ich nicht zu Jeelen“, sagte Lydia vehement.


    Jeelen öffnete den Mund um zu antworten, grinste aber dann nur kaputt und schloss ihn wieder, während ihm weiter Blut aus den Mundwinkeln lief.


    „Hör zu. Leg Dich flach auf den Boden. Die werden uns oben bestimmt abfangen. Ich zieh die Aufmerksamkeit auf mich. Sobald die mir nachsetzen wird Dich Aino rausholen“, erklärte Lyida freundlich und half Jeelen sich auf den Boden abzulegen.


    „Allein… allein wirst Du es schaffen… geh. Du hast es versucht“, sagte der Goblin hustend und sein ganzer Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Lydia sah, dass er durch seine blutverschmierten Lippen versuchte, sie anzulächeln.
    „Sei leise Jeel“, flüsterte Lydia.


    „Nein. Flieh, so lange Du noch kannst. Aber sag mir vorher noch Deinen Namen. Ich möchte Deinen Namen wissen Schatz. Ich heiße Jeelen Zilis. Wie heißt Du?“, fragte Jeelen.


    Lydia musste sich anstrengen nicht zu weinen, aber ganz verhindern konnte sie es nicht und wischte sich erbost eine Träne weg, die sich aus einem Auge gestohlen hatte.


    „Ich heiße Lydia Dunkelgneis. Wir sind aus demselben Stein gehauen Jeel. Du bedeutest mir sehr viel. Zwerge lassen niemals einen der ihren zurück. Du gehörst zu mir, ich werde nicht fliehen. Wir siegen gemeinsam, oder wir fallen Seite an Seite.


    Aber ich denke wir packen das. Versagen ist keine Option für mich. Noch nie hat ein Zwerg aufgegeben. Bleib liegen und lass mich machen. Sobald Deine Chance gekommen ist – lauf. Aino wartet mit einem Schiff auf uns“, sagte Lydia und küsste Jeelen auf seine blutigen Lippen.


    Der Goblin blieb reglos liegen, schloss die Augen und wartete auf seine Chance.


    „Der Abholpunkt ist der nördliche Rand des Daches. Dort holen sie uns ab. Du musst mit erbittertem Widerstand rechnen. Halte Dich bedeckt, Du kannst keinen offenen Kampf riskieren. Schleich von Deckung zu Deckung. Und dann renn um Dein Leben, wenn Du das Schiff siehst“, teilte Lydia Jeelen mit.


    „Ich kann, muss und werde zur Not“, sagte der Goblin und zog die Armbrust.


    Lydia betrachtete die Armbrust in ihren Händen. Sie stellte den Feuermodus der Waffe auf Schnellschuss. Damit würde sie zwar extrem viel Munition verbrauchen, aber es würde auch ihre Trefferquote erhöhen.


    „Fast geschafft, halte durch“, munterte die Zwergin ihren Goblin auf.


    Lyida richtete sich auf, als sie bemerkte, wie sich der Aufzug verlangsamte. Ihre Wunden an den Beinen, ihrem rechten Arm und ihrem Gesicht brannten wie Feuer. Und sie selbst brannte vor unbändiger Wut, als sie kurz auf den zerschundenen Körper von Jeelen herabblickte. Die Zwergin war bereit zu explodieren und die Feinde niederzumachen.


    „Bereit“, knurrte sie leise.


    Die Fahrstuhltüren öffneten sich und gaben den Blick auf einen schönen, sonnigen Tag frei als wollte das Wetter sie verhöhnen. Auf dem Dach roch es bereits nach Herbst. Lydia zählte sechs Männer in voller Ausrüstung.


    Alle mit Spezial-Armbrüsten ausgerüstet. Ein siebter unterschied sich von ihnen nicht nur dadurch, dass er nur ein Messer in der Hand hielt. Er trug außerdem einen perfekt sitzenden Lederanzug. Er hatte schwarzes Haar das an den Spitzen rot gefärbt war und ihm bis zum spitzen Kinn reichte.


    Der Goblin war so dünn, durchtrainiert, androgyn und zäh, dass Lydia erst beim zweiten Blick auffiel das der vermeintliche „Kerl“ eine Frau war. Sie sah aus wie ein Skelett, das man mit grünem Leder überzogen hatte.


    Der Zwergin war es in dem Moment gleich, welchen Geschlechts wer dort draußen war. Sie waren nur eines – Feinde. Lydia schoss auf alles, was sich bewegte und scherte sich einen Scheiß um Leben und Tod.


    ***


    Kathy war etwa eine halbe Minute vor dem Lastenaufzug auf dem Dach des Gebäudes. Sie befahl ihrem Trupp sich in Position zu bringen, dann erreichte der Aufzug das Dach.


    Kathy musste immer noch gegen das tiefe Gefühl der Demütigung ankämpfen, dass sie empfand. Das Rettungsteam bestand scheinbar aus nur einer Person. Gleich würde sie sehen um was für einen Burschen es sich dabei handelte.


    Wie war eine einzige Person so weit gekommen? Kathy konnte dem Bericht einiger überlebender Wache entnehmen, dass es scheinbar ein wütender Zwerg war, der sie wie ein Haufen Idioten hatte dastehen lassen.


    Die Information, dass eine Granate geworfen werden konnte, war ein schwacher Trost. Wobei im Grunde war die Berichtsinfo lächerlich, die Granate hatte den Eindringling nicht mal aufgehalten. Also war sie selber aufs Dach geeilt um diesen Satansbraten abzufangen, der ihr den Tag so vermieste.


    Sie würde ihrem Vorgesetzten die beiden Mistkerle auf einem Silbertablett servieren. Den Zwerg tot, den Goblin singend - in der Hoffnung, dass man ihr weiterhin die Befehlsgewalt über ihre Operative-Einheit überließ.


    Und sollte ihr Team auch versagen, sollte es ihr Recht sein.


    Sie war „voll drauf“, wie sie selber ihren Rausch aus Kampfdrogen beschrieb. Zudem brannte sie darauf selber in den Kampf zu ziehen. Sie war mit Leib und Seele Assassine und dies hier war ihre Sektion die sie zu verteidigen hatte.


    Als sich die Fahrstuhltür öffnete, sah sie als Erstes, dass die Granate doch nicht nutzlos gewesen war. Der Goblin lag in einer Blutlache auf dem Boden des Aufzugs. Ein Problem weniger.


    Nicht jedoch der Zwerg, der anscheinend nur ein paar Kratzer abbekommen hatte und zum Kämpfen bereit war. Es war eine Zwergin und die war viel schneller als Kathy vermutet hatte.


    Die Zwergin war möglicherweise genauso schnell wie sie mit ihren alchemistisch-verbesserten Reflexen. Die verdammte Zwergin war sogar so schnell, dass sie zwei Mitglieder des Teams erledigen konnte, bevor sie überhaupt den Fahrstuhl verlassen hatte.


    Die Armbrust in ihren Händen gab ihre Feuerstöße ab und die Bolzen durchschlugen mühelos die Helme, der angeblich sicheren Rüstung.


    Kathy ging in Deckung, als ein drittes Mitglied ihres Teams tödlich getroffen zu Boden ging. Ihre Bande war eine Gruppe aus Dieben, Schutzgelderpressern und Räubern. Hatte sie wirklich erwartet dass diese Burschen zwei Berufsmörder aufhalten konnten? Sie schaute auf ihr Kampfmesser und verfluchte ihre dumme Waffenwahl. Sie war kein Stück besser als ihre chaotische Truppe!


    Sie hatte einfach vorgehabt etwas Spaß zu haben. Sie war arrogant gewesen, sich nur auf Nahkampfwaffen festzulegen, die eingesteckten, kleinen Giftpfeile dienten nur der Betäubung. Andererseits hatte sie für gewöhnlich auch kein Problem damit, nahe genug an ihre Opfer heranzukommen, um sie mit eigenen Händen zu töten.


    Eine Armbrust begann zu feuern, gefolgt von einer zweiten. Sie rappelte sich auf und ging hinter einem Belüftungsschacht in Deckung. Ein viertes Mitglied ihres Teams stieß einen heiseren Schmerzschrei aus, und Kathy sah, wie der Mann seine Armbrust fallen ließ und keuchend seinen Bauch umklammerte – Bauchschuss. Dann sackte er vornüber und fiel zu Boden.


    Soweit Kathy registriert hatte, hatte die teuflische Zwergin noch keinen einzigen Bolzen daneben gehen lassen.


    Kathy arbeitete sich langsam an der Seite des Schachtes entlang, um der Zwergin in den Rücken zu fallen. Aufgrund der unregelmäßigen Feuerstöße der Armbrust hatte sie eine ungefähre Ahnung, wo sich die Zwergin im Moment befand und wohin sie abrücken wollte.


    Wieder kam es zum Schusswechsel. Sie hörte eine zweite Feuerrate aus der Armbrust.


    Kathy huschte vom Schacht und sah die grimmige Zwergin, die im gleichen Moment ihre Deckung verließ und zu einem der anderen großen Luftschächte rannte, die das Dach begrenzten.


    Nur ein einziger Mann ihrer ganzen Truppe sprang auf, um sich mit der Zwergin anzulegen. Kathy vermutete, dass es der letzte Überlebende ihres Teams war. Ohne vernünftig zu zielen, feuerte ihr Teammitglied, er hatte scheinbar mittlerweile panische Angst vor der verfluchten Zwergin. Die Bolzen schlugen Löcher in den Boden.


    „Das wirst Du nicht tun!“, zischte der Goblin plötzlich wütend.
    Sein Gesicht war eine Maske aus Wut. Es war ein so wilder Zorn, der an Wahnsinn grenzte.


    Der Goblin sprang aus dem Aufzug, brachte gleichzeitig die Armbrust in Anschlag und schoss auf den letzten ihrer Männer um der Zwergin beizustehen.


    Kathy beobachtete aus dem Augenwinkel, wie ihr letzter Mann auf der anderen Seite des Daches ins Gras biss, während sich der Kerl noch in der Luft befand. Kathy war sicher, dass er bei dem Sprung hart landen würde, dann hätte sie ihn und würde die Zwergin zur Kapitulation zwingen.


    Aber der Kerl drehte sich, drehte noch eine Spirale. Es war doppelter Salto nach hinten ohne dabei die Hände benutzen zu müssen und schon stand er wieder auf den Füßen – gelandet wie eine Katze.


    Einen Moment stand er so da, frisches Blut rann aus seinen Mundwinkeln, sammelte sich an seinem Kinn und tropfte zu Boden. Seine Beine gaben unter ihm nach, und er stolperte, wankte und rutschte aus. Der Goblin stürzte zu Boden, um zuerst auf den Knien und dann auf allen vieren aufzuschlagen.


    Er fletschte die Zähne, und kämpfte sich keuchend wieder auf die Beine. Keine Sekunde später rannte der Goblin auf den nördlichen Rand des Daches zu, auch wenn man ihm die Schmerzen ansah.


    Kathy blinzelte erstaunt.


    Was für ein Kerl!
    Was für ein Goblin!
    Ihrer durchaus würdig!
    Was ein widerliches und gefährliches Miststück.


    Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verknallt. Sie würde ihn einsacken, brechen und dann mit ihm ihren Spaß haben. Vorher musste nur die grimmige Zwergin weg, die hier noch herum spukte und jeden umnietete der nicht nach Zwerg roch bis auf diesen Goblin.


    Kathy rannte so schnell sie konnte auf den Eindringling zu. Sie schleuderte mehrere ihrer winzigen Narkosepfeile nach ihm.


    Der Kerl stolperte, fing sich aber sofort wieder und rannte weiter. Kathy wusste nicht, wie oft sie ihn getroffen hatte, aber das war völlig egal. Ein einziger Treffer war vollkommen ausreichend.


    Das der Bursche weiter rennen konnte lieferte ihr den Beweis dass er entweder über eine wahnsinnige Willenskraft verfügte oder ebenfalls mit Drogen aufgeputscht war. Das Straucheln hatte ihn nicht viel Zeit gekostet, aber für Kathy war es genug. Sie stürzte sich mit einem Schrei auf den Burschen, um ihn mit dem Messer aufzuschlitzen und kampfunfähig zu machen.


    Eigentlich wäre Kathys Angriff erfolgreich gewesen, aber im letzten Moment hatte sich der Kerl umgedreht und die Attacke mit überkreuzten Armen abgewehrt. Schlimmer noch, er griff schneller zu als sie vermutet hatte, bekam ihren Arm zu fassen und drehte ihn brutal um.


    Nur einen winzigen Sekundenbruchteil später, bekam Kathy die Faust von ihrem Gegner ins Gesicht gerammt. Ihr wurde schlecht und schwindlig. Der Kerl hatte ihr die Nase zertrümmert. Geschockt und wütend schrie sie auf.


    Er versuchte ihr einen weiteren Hieb zu verpassen, dem sie aber nun ohne Mühe ausweichen konnte. Der Goblin hatte mit der letzten Aktion sein Pulver verschossen und das Narkotikum zeigte zusätzlich seine Wirkung.


    Kathy antwortete mit einer Kombination aus einem brutalen Hieb vor das Brustbein, gefolgt von einem Treffer in die Magengrube. Der Bursche grunzte auf und verzerrte das Gesicht. Er konnte zwar die meiste Schlagenergie abfangen durch einige Ausfallschritte, aber es war immer noch genug.


    Der Goblin atmete schwer und spuckte Blut aus, das sich in seinem Mund gesammelt hatte, zeitgleich versuchte er den Rückzug anzutreten.


    „Hallo Schätzchen“, sagte Kathy, „Du hattest Deine Chance. Jetzt hab ich ein nettes Verhörzimmer für Dich reserviert“.


    Kathy täuschte einen Angriff vor und machte einen Schritt nach vorne. Wieder konnte der Bursche ausweichen, aber sein Blick war inzwischen verschwommen. Kathy wusste, dass der Kerl versuchte, sie zu fixieren, aber das Betäubungsmittel trübte bereits zu stark seine Sehkraft. Und hier auf dem Dach, wo es keinen festen Fixpunkt nach oben gab, musste sein Schwindelgefühl noch wesentlich stärker sein.


    Kathy leckte sich über die Lippen und konnte ihr eigenes Blut schmecken, das dank seines Hiebes aus ihrer zerstörten Nase lief.


    „Wir werden eine Menge Spaß haben. Du bist ein ganz schön zäher Brocken. Nur leider auf der falschen Seite“, sagte sie freundlich und setzte zu einer neuen Finte an.


    Sie zog ein weiteres Messer und tat so, als wollte sie ihn erneut aufschlitzen und der Kerl sprang zurück. Kathy sah dass er um sein Gleichgewicht kämpfen musste. Er war dermaßen angeschlagen, dass er seine letzten Reserven für den Kampf mobilisiert hatte.


    „Komm her zu mir und ergib Dich. Dir geht langsam der Platz und die Puste aus Schätzchen. Wenn Du Dich auf der Stelle ergibst und hinhockst, fällst Du nicht so tief“, lachte sie.


    Der Kerl sah sie über die Schulter hinweg an. Kathy hatte Recht. Die niedrige Mauer, die das Dach umfasste, war nicht mal mehr ganz einen Meter entfernt. Er wandte seinen Blick wieder ab und Kathy startete von neuen einen Angriff der ihn endgültig an die Brüstung trieb. Er war festgenagelt und konnte nicht mehr ausweichen.


    „Kannst Du fliegen Schätzchen?“, fragte Kathy süffisant.


    Die Augen des Burschen waren dunkel, fast unnatürlich düster. Für einen Moment sah sie, wie er durch die Nebel der Schmerzen, Verletzungen, Überanstrengung und Betäubungsmittel wieder klare Sicht bekam.


    Was starrte er an?!?


    "Er nicht, aber Du", fauchte Lydia als sie schlitternd hinter Kathy auftauchte.


    Ungläubig sprang Kathy zur Seite und versuchte der Zwergin noch auszuweichen. Lydia trat mit voller Wucht zu. Kathy knallte gegen das Geländer, durch den Schwung verlor sie den Halt und stürzte über die Brüstung.


    Kathy fiel knapp an der Tragfläche eines Luftschiffes vorbei und stürzte in den Abgrund.


    Lydia packte Jeelen, warf ihn sich über die Schulter und sprang in den Korb des Luftschiffes.


    „Jetzt kannst Du Dich bedanken“, raunte sie dem Goblin ins Ohr.