• Richter


    Dave reichte mir einen Umschlag.
    "Für mich?", fragte ich aufgeregt und nahm den Umschlag mit zittrigen Fingern entgegen.


    "Natürlich", gab Dave freundlich zurück.
    "In dem Umschlag ist die Zielperson oder?“, richtete ich mich an Pavo.
    „Ja richtig“, sagte der Goblin und hockte sich neben mich.


    „Bekommt er diesmal die Gelegenheit sich zu beweisen?“, fragte Pavo.
    „Er ist ziemlich jung... ihm darf nichts geschehen... aber irgendwann muss er es lernen. Wir bereiten uns vor und warten auf die Dinge die da kommen, wenn ein Auftrag passt... JA“, sagte Dave irgendwie seltsam ergriffen.


    "Genial!", antwortete ich ihm, grinste von einem Ohr zum anderen und drückte ihn zum Dank felsenfest.


    "Schon gut! Zwei Dinge, lass Dich nicht umbringen und lass die Zielperson nicht entkommen. Falls was schief läuft, Eigenschutz vor Auftrag. In dem Fall, sofort abrücken! Und ruf mich sofort! Ich hole Dich raus", versicherte mir Dave.
    "Verstanden", versicherte ich ihm.


    Der Name oben auf der Seite des zweiten Umschlags lautete Edgar Harralli, ein Büttel. Ich bekam nicht den Auftrag, ihn zu töten, sondern las drei Wochen später von seiner Ermordung. Ich war froh, dass ich den Job nicht zugeteilt bekommen hatte. So wie die Leiche aussah, war es ein harter Kampf gewesen. Sein Mörder musste ganz schön was abbekommen haben.


    Im dritten Umschlag lautete der Name der Zielperson Wilson Monterri, ein Rohrleger, der mit der Schwarzen Nebel-Brigade verstrickt war. Er starb eine Woche später, allerdings fand man nie heraus, wie. Er hätte sich nicht mit den Nebligen und den Geistern anlegen sollen.


    Schwerer Fehler.


    Der vierte Umschlag galt einem Mann mit dem Namen Seamus Dolus, ein Nachtclubbesitzer, der versehentlich vergaß sein Schutzgeld pünktlich abzuliefern. Schien eine persönliche Sache von einem der „Oberen“ zu sein. Er wurde in der Gasse hinter seinem Lokal niedergeschossen.


    Ich studierte brav all diese Schriftstücke mit akribischer Genauigkeit um zu lernen.


    ****


    In dieser Nacht las ich in meinem neuen Schriftstück, dass mir Aino mitgegeben hatte.


    Der Name auf der ersten Seite lautete Janette Hartenstein. Sie war Richterin im 5. Sektor, unverheiratet, jedoch in einer Beziehung mit einer Anwältin namens Marrini Giborro, einer Goblin.


    Sie wohnte mit einem Hund namens Felix in einem innerstädtischen Reihenhaus nahe der Tulpenstraße, nicht weit vor der Gold-Strand-Taverne entfernt. Das Gerichtsgebäude liegt in der Innenstadt.


    Ich würde ungefähr 20 Minuten zu Fuß brauchen.


    Das gezeichnete Bild von Janette zeigte eine Frau mittleren Alters mit breiter Stirn und kakaofarbener Haut. Eine Tamjid? Ich las dass ihr Vater Tamjid gewesen war, während ihre Mutter eine Naridierin gewesen war - deshalb auch der ungewöhnliche Name für diese Frau.


    Ihre Augenfarbe war durchdringend Grün, ihr Haar dicke schwarze Locken, ihre Nase war überproportional groß und dominierte ihr ganzes Gesicht. Wenn man sie zuerst anschaute, sah man nur eine gewaltige Kartoffelnase.


    Ich musste schmunzeln, vor dieser Richterin musste sich sicher so mancher ein Grinsen verkneifen.


    Sie trieb regelmäßig Sport, fünfmal die Woche mit einem persönlichen Ausbilder. Ob sie sich dieses Todes-Urteil eingehandelt hatte, weil sie den Falschen ins Loch geschickt hatte oder weil sie einen wichtigen Prozess übernehmen sollte, darüber wusste ich nicht das Geringste.


    Vielleicht hatte dieser Auftrag auch gar nichts mit ihrem Beruf zu tun. Auch das war mir unbekannt. Unsere Informanten stellten sicher, dass ich diesbezüglich ahnungslos bleib und ich versuchte meine Neugier im Zaum zu halten, sonst würde mich Dave einen Kopf kürzer machen.


    Je weniger wir Ausführenden über das „Warum“ wussten, umso geringer war die Versuchung, mehr über unsere Kunden herauszufinden. Es war einfach ein Auftrag ohne persönlichen Bezug. Etwas dass man einfach mechanisch ausführen sollte. Ich hoffte, dass ich das auch hinbekommen würde.


    Ich schlief tief und traumlos, als auf einmal Seddiks Stimme durch die Dunkelheit drang und mich weckte. Er sagte irgendwas von "komm" und es dauerte einen Moment, bis ich kapierte, dass er meinte ich sollte ihm folgen.


    „Wie bitte?“, fragte ich total verschlafen.
    „Dave will Dich sprechen, dringend“, erklärte er.


    In dem fremden Zimmer das eigentlich Dave gehörte aufzuwachen, in diesem Bett, um diese Uhrzeit war so befremdlich, dass ich erst einmal völlig orientierungslos war. Ich setzte mich im Bett auf, rieb mir die Augen, stolperte über Fedor der vor dem Bett lag und folgte dann dem großen Ork. Kaum bei Dave angekommen, deutete er mir an, mich zu setzten.


    „Morgen“, sagte ich, während sich meine Augen direkt wieder an die Finsternis gewöhnten. Daves Stimme drang durch den Halbschlaf meiner Gedanken.


    „Du hast grünes Licht. Dein Zeitfenster - 24 Stunden. Gutes Gelingen und Pada“, sagte er knapp.


    Die Worte grünes Licht und 24 Stunden, plötzlich war ich hellwach, so wach als hätte ich einen Liter Kaffee intus. Ich stand auf und zog mich an. Als ich mit meinem Rucksack aus dem Zimmer kam, goss Pavo gerade Kaffee aus einer Kanne in zwei große Tassen.


    „Tut mir leid, schon so früh herum zu wuseln“, sagte ich.
    „Nicht schlimm“, erwiderte er und reichte mir eine Tasse und nahm von seiner selber einen Schluck.


    „Wie viel Uhr ist es jetzt?“, fragte ich ohne den Kaffee anzurühren.
    „Vier“, sagte er grinsend.


    „Ich muss los, zum ersten Mal“, erklärte ich aufgeregt und hätte wirklich gerne den Kaffee getrunken. Aber ich bekam nichts runter.


    Gasmi kam schläfrig herunter und starrte mich an.


    „Was ist los?“, fragte er gähnend.
    „Arbeit – ich muss weg“, erklärte ich kurz.


    Er nahm mir den Kaffee aus der Hand und trank ihn.
    „Warte eine Sekunde, ich komm ein Stück mit. Das ist erlaubt“, sagte er und keine 10 Minuten später reisten wir ab.


    Gasmi erklärte mir, dass es ein geflügeltes Wort in unseren Kreisen gibt, wonach sich die Kunst eines Assassinen darin zeigt, wie nah er seinem Opfer kommt.


    „Einige der dümmsten Mörder standen nur zwei Fuß neben ihrem Opfer, als sie den Abzug drückten, wohingegen höchst versierte Schützen ihre Zielpersonen aus einer Entfernung von gut fünf Häuserblocks umnieteten.


    Ein Killer im engen Kontakt mit dem Opfer muss die Reaktionen erschrockener Passanten mit einkalkulieren, ein Bogenschütze muss dagegen Geschwindigkeit, Sonne, Witterung, Hindernisse oder auch einen zufälligen Beobachter berücksichtigen.


    Beides erfordert höchstes Können, beides wirst Du lernen. Der Trick liegt darin, Dir eine Position zu verschaffen, in der Du möglichst bequem an die Zielperson herkommen kannst, sie möglichst bequem erledigen kannst und unmittelbar danach möglichst bequem entkommen kannst. Nun geh Kurzer und lass Dein erstes Blut fließen. Viel Glück“, sagte Gasmi.


    ****


    Ich stand in nichtssagenden Lumpen in der Nähe des Fuhrwerk-Platzes, las in meinem Buch wie jeder x-beliebige, gelangweilte Pendler auf dem Weg zur Arbeit und blickte von Zeit zu Zeit auf die Uhr.


    Die Haustür von Janettes Haus ging auf und sie kam heraus. Sie trug ein marineblaues Kleid und weiße Schuhe für den kurzen Fußmarsch bis zum Gericht – ich trug ein unauffälliges Äußeres.


    Als sie den Stadtpark betrat, steckte ich das Buch ein und folgte ihr in ungefähr 30 Meter Abstand, den ich immer konstant hielt. Ich war mir sicher, dass irgendwo Aino, Pavo und Dave getrennt voneinander lauerten und mich beobachteten wie das Auge Ainuwars persönlich.


    Einfach um zu sehen, wie sich ihr „Zögling“ unter Druck des ersten Auftrages bewährte und gegebenenfalls korrigierend einzugreifen. So waren die drei.


    Janette ging an ein paar Touristen vorbei, die sich die Statuen im Park ansahen und bog dann nach links in einen Weg durch den Park. Sie ging zügig – nicht so schnell dass man ins Schwitzen kam, aber so, dass man nicht trödeln durfte. Normalerweise bin ich es der auf andere warten muss, allein durch meine Schrittlänge – egal jetzt musste ich langsamer unterwegs sein.


    Ich spürte kurz nach ihr, sie war ganz schön aufgeregt – wer weiß was heute anstand? Sie hielt den Rücken beim Gehen aufrecht, und auf einmal kam mir so der Gedanke einfach blitzartig zuzuschlagen, um ihr das Rückgrat zu zertrümmern – aus dreißig Meter Entfernung mit einem gut gesetzten Schuss eigentlich kein Problem, aber ich durfte keinen Spaß haben… der Auftrag war wichtig.


    Als sie den Rand des Parks erreichte, wurde sie langsamer und kam an eine Straßenkreuzung. Sie nutzte die Pause, um sich zu bücken und einen Schnürsenkel zu richten. Mir blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu warten. Da genügend andere Fußgänger dort standen und warteten, fiel es nicht auf dass ich zu ihr aufschloss.


    Dennoch kam ich mir vor, als stände ich plötzlich im Scheinwerferlicht.


    „meine Damen und Herren – und hier ist er… der Killer von Richterin Kartoffelnase… Applaus Applaus Applaus“.


    Ich schaute an dem Geschäftsmann vor mir vorbei und richtete den Blick auf Janette. Ich kratzte mich beiläufig bei dem Gedanken ihr einen tödlichen Hieb zu verpassen, aber auch das durfte ich nicht. Ich könnte es hier tun, an der Ecke des Parks, mein Messer ziehen und dann… aber nein.


    Janette richtete sich auf und nahm schnell wieder ihren vorherigen, zügigen Gang auf. Ich ließ die anderen Fußgänger vor mir die Straße überqueren und hielt mich zurück, bis ich von neuem einen angemessenen Abstand zu ihr hatte.


    Ich war immer noch 30 Meter hinter ihr, als sie die Treppe zum Gerichtsgebäude hinauf ging und darin verschwand.


    Ich schaute ihr kurz nach, dann ging ich weiter die Straße entlang und betrat einen Lebensmittelladen. Eine kleine, heiße Arashi-Frau führte ihn.


    Innen war es dunkel und dreckig wie in einem Zwergen-Bau. Die Regale waren mit einer klebrigen Staubschicht überzogen und garantiert seit Monaten nicht gewischt worden.


    Ich nahm eine Packung Leinentuch aus dem Regal und ließ sie zu Boden fallen, als wäre sie mir aus der Hand gerutscht. Blitzschnell holte ich die Repetierarmbrust aus dem Holster und schob sie in den Raum zwischen dem untersten Regal und dem Boden. Das Messer folgte ihm einige Sekunden später.


    Wahrscheinlich würde ich meine beiden Lieblinge nachher gründlich reinigen müssen, wenn ich sie wieder abholte, aber zumindest brauchte ich mir keine Gedanken machen, dass die Arashi sie beim Kehren finden würde.


    Dieser Boden hatte vermutlich Jahrzehnte keinen Besen mehr gesehen. Mit der Packung Leinentuch ging ich zur Kasse.


    „Das macht 2 Kronen“, sagte sie höflich mit einer hauchdünnen Stimme.


    Ihre Mandelaugen musterten mich und ich musterte ausgiebig ihre Theke. Wie sie sich wohl anfühlte? Ihre seidige Haut sah umwerfend aus. Ganz vorsichtig berührte ich für einen Sekundenbruchteil ihren Geist, ließ sie aber sofort wieder los.


    „Junge Dame wären Sie so freundlich dass von meinem Kleingeld abzuzählen? Ich sehe hier leider kaum etwas“, bat ich sie freundlich – obwohl genau das Gegenteil der Fall war.


    Ich kramte das Kleingeld heraus und hielt es ihr in der Hand hin. Freundlich wie sie war, nahm sie sich das passende Geld und klaubte es aus meiner Hand. Ich unterdrückte ein wohliges Ächzen, während ihre Finger über meine Handfläche tanzten. In meinem Kopf waren die Finger von Mandelauge ganz woanders...


    Wunderbar, wie einfach man einen Menschen dazu bringen konnte einen zu berühren. Sie war einfach Zucker und hatte mich angegrabbelt.


    Nach der Bezahlung trat ich wieder hinaus ins Tageslicht. Die kleine Seitengasse war menschenleer. Der Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes war mit roten Kordeln abgeteilt, die in eine Sicherheitsschleuse mit Wachen mündeten.


    Ich legte gerade zu scheu meine eben erworbene Packung Leinentuch und meine Schlüssel in einen Korb und ging mit gesenktem Blick durch die Schleuse.


    „Das Ding tut Dir schon nichts Kleiner“, grinste der Gerichts-Beamte mich an und gab mir meine Sachen wieder. Ich nahm sie entgegen.


    Rasch ging ich auf die Traube von Leuten zu, die bereits vor den Aufzügen warteten. Aus meiner Akte wusste ich, dass Richterin Kartoffelnase nie den Aufzug, sondern die Treppe nahm um sich fit zu halten. In diesem Augenblick hallte eine scharfe Stimme durch den Saal.


    „Zur Anhörung für den Geschworenendienst bitte in den sechsten Stock, am Ende des Gangs rechts“.


    Ich ließ den Blick über die Menge schweifen, eine heterogene Gruppe von Leuten, die vor sich ins Leere starrten und sich wünschten, sie wären sonst wo – nur nicht hier.


    Aus Erfahrung wusste ich ganz genau, dass sind diese Art von Leute, mit denen man einen ganzen Tag lang zusammen sein konnte, ohne dass sich jemand an einen erinnerte. Wunderbar.


    Der Anhörungssaal war riesig und mit mindestens hundert Leuten gefüllt. Wir sollten jeder eine Karte ausfüllen und sie an eine Angestellte vorne im Saal weiterreichen.


    Diese würden dann die Namen für die Geschworenengruppe ziehen. Ich suchte mir einen Platz in den hintersten Reihen und füllte keine Karte aus. Mir ging es darum, nicht aufzufallen und die Uhr nicht aus den Augen zu lassen. Halb zwölf! Aus der Akte wusste ich, dass Janette fast immer um diese Zeit ihre Pause ausrief.


    Um drei Minuten nach elf leerte sich der Saal. Ich drückte mich dreißig Minuten auf dem Flur herum, bemüht, möglichst unauffällig zu wirken, was nicht schwer war in dieser Umgebung.


    Es gab zig Gerichtssäle hier oben. Kaum waren die Türen der Säle aufgegangen, drängten Geschworene, Anwälte, Gerichtsbeamte und und und zu den Aufzügen um ihre einstündige Mittagspause zu nutzen. Ich verschwand ins Treppenhaus.


    Rasch stieg ich zum Treppenabsatz des fünften Stock hinunter und wartete.
    Jetzt brauchte ich ein wenig Glück, nur ein klein wenig.


    Nach ein paar Minuten hörte ich über mir die Tür zum Treppenhaus aufgehen. Aus dem Schriftstück wusste ich, dass Janette gern zum Mittagessen in ein kleines Restaurant an der nordwestlichen Ecke des Gerichtsgebäudes ging.


    Sie bestellte immer gedünstetes Gemüse mit Vollkornreis und las beim Essen ihre Unterlagen durch. Wie schon gesagt, ich wusste auch, dass sie immer den Aufzug links liegen ließ und die Treppe nahm.


    Auch das weiß ich aus familiärer Erfahrung – Alltagsroutine wie diese – das Langweilige, das Normale, der übliche Trott eines Menschen ist es was einem Mörder in die Hände spielt. Man darf nie einzuschätzen sein, so sagt es mein Vater. Der muss es wissen, er ist immerhin schon stolze 45 Jahre.


    Ich hörte wie die Tür quietschend ins Schloss fiel und dann den weichen Tritt von Leinenschuhen auf den Betonstufen. Ich atmete einmal bewusst aus, und begab mich dann in Richtung sechster Stock.


    An dem kurzen Treppenstück zwischen dem fünften und sechsten Stock bogen wir gleichzeitig um die Ecke. Zwölf Stufen. Sie warf mir einen flüchtigen, unverbindlich-freundlichen Blick zu und wandte dann wieder die Augen ab, als habe sie keine Lust auf dem Weg zu ihrem Mittagsessen im Treppenhaus mit irgendeinem Laufburschen der sich scheinbar verlaufen hatte zu reden.


    Ich sagte nichts und schaute an ihr vorbei zum nächsten Treppenabsatz, mit freundlicher Miene, weichem Tritt – nichts, was sie hätte beunruhigen können. Bloß ein normaler Dienstboten-Bengel, der das Treppenhaus im Gerichtsgebäude hinaufstieg.


    Auf der dritten Stufe war sie auf meiner Höhe und ging mit einem deutlichen „Guten Tag“ an mir vorbei.


    In der nächsten halben Sekunde, sobald ich aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war, ließ ich das Leinentuch aus dem Karton gleiten und zog es auseinander, fuhr mit übermenschlicher Schnelligkeit herum, zog ihr von hinten das gespannte Leinentuch übers Gesicht und riss dabei ihren Kopf mit solcher Wucht nach hinten, dass sie das Gleichgewicht verlor.


    Ich musste ihren Fall, also ihr eigenes Gewicht gegen sie einsetzen, da sie viel schwerer war als ich. Sie war so überrascht und orientierungslos, dass ihre Füße ins Leere traten.


    In den nächsten paar Sekunden hatte ich ihr das Leinentuch fünfmal um die Rübe gewickelt, während ich sie immer noch rückwärts die Treppen hoch zerrte, um ihr jede Chance zu nehmen, wieder auf die Füße zu kommen.


    Bloß dass nicht!


    Während ich über ihr stand, konnte ich mit ansehen, wie ihre Augen sich nach hinten drehten, immer weiter, krampfhaft mein Gesicht suchend, verzweifelt bemüht zu verstehen was hier vor sich ging. Paps wäre so stolz auf mich, wenn er meine Erinnerungen lesen würde!


    Ein Teil meiner Gedanken tastete sie neugierig ab, damit ich ihm auch ihre Gefühle zeigen konnte. Sie hatte nicht mal Todesangst, sie empfand zuerst nur pures Unverständnis. Sie konnte nicht erkennen, wer ihr das antat.


    Jetzt bekam sie Panik. Sie fuchtelte mit den Armen, versuchte, auf meine Schultern einzuschlagen während sie eigentlich hätte versuchen sollen, sich das Leinentuch von Mund und Nase zu reißen.


    Doch ich konnte es ihr nicht verdenken, dass sie sich so wehrte, dass sie so verzweifelt darum rang, zu verstehen, warum sie in dem Treppenhaus des Gerichtsgebäudes, kaum fünfzehn Meter vom Gerichtssaal entfernt in dem sie seit über acht Jahren Recht sprach, von einer wildfremden Person erstickt wurde.


    Als ihr Widerstand schließlich erstarb und ihre Augen glasig wurden, verließ ich ruhigen Schrittes das Treppenhaus und steuerte die Aufzüge an.


    Im Flur war keine Menschenseele. Niemand war dort, der das Verschwinden eines Dienstboten hätten bemerken können…


    Ich zog die Lumpen aus und warf sie in die nächste Gasse. Darunter trug ich normale, bürgerliche, leichte Kleidung.


    Als ich in die nächste dunkle Gasse einbog, trat ein Pferd aus dem Schatten.


    `Dave?´, fragte ich rückversichernd mental.
    `Wer sonst?´, kam die belustigte Antwort.


    `Du grinst wie ein kleines Kind´, schmunzelte Dave mich an.
    `Ich kann nichts dafür, Verzeihung´, antwortete ich ihm glücklich.
    `Quatschkopf, steig auf Wolfi. Komm´, forderte er mich auf.


    Ich hockte mich sofort hinter Dave aufs Pferd und umklammerte ihn von hinten. Seinen belustigten Blick ignorierte ich einfach.


    `Festhalten´, befahl Dave.


    Das Wendemanöver war scharf genug, dass ich mich an Dave festkrallen musste. Als Rulrot lospreschte flogen Erdbrocken hinter ihm auf.


    Dave jagte aus der Gasse und durch die Dörfer entlang der Haupthandelsstraße die uns zurück nach Shohiro führen würde. Im perfekten Einklang mit seinem Pferd verlagerte er sein Körpergewicht von einer Seite zur anderen und überholte rumpelnde Fuhrwerke, Karren und Fußgänger als würden sie stehen.


    `Genial! Schneller! Reite schneller!´, feuerte ich ihn gut gelaunt an.
    `Wird gemacht´, antwortete er.


    Er trieb Rulrot zu einem gestreckten Galopp an. Baufällige Häuser huschten vorbei, für mich nur noch als Schatten wahrnehmbar. Daves Aufmerksamkeit galt nur noch der Straße und plötzlich auftauchenden Hindernissen.


    Karren waren lästig. Leute waren gefährlich, hauptsächlich Kinder, die unerwartet auf die Straße sprangen. Ich hörte bald auf zu zählen, wie oft wir mit wenigen Zentimetern Abstand an einer Person vorbeijagten, die vor Schreck und Entsetzen erstarrt stehen blieb und schrie. Ich musste mich doppelt so gut festhalten, weil ich jedes Mal losprusten musste vor Lachen.


    Je näher wir der Stadtgrenze kamen, desto weniger wurde der Verkehr. Geduckt hinter Dave spürte ich, wie der Fahrtwind rechts und links an uns vorbeirauschte. Wir donnerten sie mit Höchstgeschwindigkeit aus dem flachen Tal der Gefahr heraus zurück nach Shohiro hinein.


    Die gepflasterte Straße verschwamm zu einem grauen Band unter den Hufen Rulrots. Das Tier, Dave und ich waren eins - ich hätte stundenlang so weiterreiten können. Was gibt´s wundervolleres als schnelle Pferde, Geld und einen geilen Job?


    Im Hof hielt Rulrot an und Dave drehte sich zu mir um.


    "Und?", fragte er.
    "Auftrag ausgeführt", antwortete ich.
    "Ich bin stolz auf Dich Wolfi. Willkommen in der Familie", grinste Dave breit.
    "Werden alle nach ihrem ersten Job abgeholt?", fragte ich neugierig.


    "Nur die Kleinen, damit sie pünktlich Zuhause sind", lachte Dave und knuffte mich.