• Adieu und Abflug


    Er wusste wie Sex roch und er wusste dass er heute keinen gehabt hatte.
    Ihre Vereinbarung war gebrochen worden. Die Vereinbarung besagte, dass nichts ohne das Wissen des anderen geschah.


    Jemanden im Nachhinein zu informieren, war nicht das was er als Wissen wertete. Wobei er war nicht einmal informiert worden. Er hatte ihr gemeinsames Schlafzimmer betreten und seine Nase hatte ihn informiert. Er hatte seine Nase ins Bettzeug gedrückt und war angewidert und enttäuscht zurückgewichen.


    Auf die Frage „Wer?“ hatte er nichts weiter zur Antwort erhalten, als einen beschwörenden Blick und Schweigen. Ein weiterer Grund, der seinen Blutdruck in ungeahnte Höhen schnellen ließ.


    Er ballte die Fäuste, bis seine Fingergelenke knackten. Wobei Ihr gemeinsames Schlafzimmer? Der Raum war gar nicht ihr gemeinsames Schlafzimmer, er gehörte seiner besseren Hälfte, er gehörte allein Verrill.

    Schlagartig dämmerte ihm, warum sämtliche Männer in seiner Familie neben ihren Ehefrauen eine Geliebte hatten. Bis auf einige Ausnahmen, aber wenn er genau darüber nachdachte, hatten auch diese Ausnahmen Geliebte. Sein Erzeuger Ansgar war noch mit seiner Mutter verheiratet und lebte mit seiner neuen Freundin zusammen. Sein Onkel Dave war mit Varmikan verheiratet, aber eigentlich gehörte er zwei Männern. Es gab keine Ausnahme und er war auch keine mehr.


    Selbst sein Vater Brandur bildete da keine Ausnahme. Sie alle heirateten der Gabe, dem Stand und dem Geld entsprechend. Das Private suchten sie sich nach der Eheschließung.

    Er hatte sich niemanden gesucht, er wurde vor vollendete Tatsachen gestellt.
    So wie stets, so wie immer.
    Es änderte sich nie.

    Was Verrill ihm die ganze Zeit über verwehrt hatte, hatte sie freimütig einem anderen geschenkt. Wem, war eigentlich gleichgültig. Lin taxierte sie von oben bis unten, als könnte er auf ihrem Körper lesen, wer sie angefasst und genommen hatte.


    Es gab einige Kandidaten, die in Gregoire Verrills Beuteschema passten und die in ihrer Gunst standen. Einschließlich Melville de la Cantillion. Aber keiner der üblichen Verdächtigen war am Hof. Was nichts bedeuten musste, Verrill konnte sich genauso gut einen neuen Spielgefährten gesucht haben.


    Aber für Linhard kam eigentlich nur ein Schuldiger in Betracht – Ciel.

    Von körperlicher Treue hatte Verrill ein anderes Verständnis, das minderte allerdings nicht Linhards Schmerz und das Gefühl hintergangen worden zu sein. Wozu vertrauten sie sich sonst alles an und hielten fest zusammen, wenn dies mit einem einzigen Akt ausgehebelt werden konnte?


    Nun eigentlich interessierte ihn das auch nicht mehr. Das Warum zu ergründen war müßig, es machte den Betrug nicht ungeschehen. Aber weder konnte er Verrill noch Ciel bestrafen und eine Strafe machte es ebenso wenig ungeschehen, wie seine Wut und Enttäuschung.

    Aber ein Gedanke schlich sich wie ein nachtschwarzer Schatten in seine Gedanken und breitete dort seine ersten, zarten Wurzeln des Schreckens aus.
    Was wenn Ihre Zweisamkeit Früchte getragen hatte?

    Linhard spürte wie dieser Gedanke eine gut versiegelte Tür in seinem Verstand öffnete und ihm die Welt jenseits seiner eigenen Beteuerungen zeigte. Eine Welt schwärzer als der Abgrund, mit all ihren Facetten und Möglichkeiten sich solcher Probleme äußerst befriedigend anzunehmen.


    Der Pfad dahin war jedem Hohenfelde bekannt, er sang in ihrem Blut und sie fanden ihn zielsicher. Seine Anziehungskraft konnte seine Familie leiten, wie das Magnetfeld Asamuras Zugvögel an den richtigen Zielort lotste.


    Er spürte wie sich ein wahnsinniges Kichern in seinem Schädel ausbreitete und sich seinen Hals entlang nach unten kämpfte. Aber er hielt die Lippen fest verschlossen, denn ein einziges verächtliches, irres Lachen trennten ihn davon den schwarzen Pfad zu beschreiten.


    Es trennte ihn davon Verrill zu demonstrieren, wie weh sie ihm getan hatte mit all der Kunst, die einem Hohenfelde dafür zur Verfügung stand.

    Linhards dunklen Augen bohrten sich in die hellblauen von Verrill.

    Nur unter größter Anstrengung riss er den dunklen Schatten samt seiner Wurzeln aus seinen Gedanken und sperrte ihn dahin zurück, woher er gekommen war. Denn trotz allem liebte er Verrill und er wollte ihr nicht schaden.


    Eigentlich hatte er es sich zur Aufgabe gemacht sie zu beschützen. Und ihm wurde klar, dass er dies vermutlich nur auf eine Art gewährleisten konnte, er musste sie verlassen. Jedenfalls für eine gewisse Zeit um sicher zu gehen, dass dieses Abenteuer keine Früchte getragen hatte. Solange dies nicht feststand, musste er sich von ihr fernhalten. Was er im gegenteiligen Fall tun sollte, wusste er nicht.

    Er schaue ihr noch einmal ins Gesicht, drehte sich wortlos um und verließ das Gemach.


    ****


    Unterwegs zu den Stallungen zündete sich Lin eine Rauchstange an und inhalierte tief den bitteren Tabak, der ein klein wenig seine aufgewühlten Nerven beruhigte. Er würde es so halten wie sein Großvater Dunwin, er würde auf dem Papier verheiratet bleiben, seinen Pflichten nachkommen und sich eine neue Frau suchen. In Souvgane konnte er sogar diese Frau problemlos heiraten.


    Mit seiner Hochzeit hatte er den höchsten Titel angenommen, den jemals ein Hohenfelde erreicht hatte. Einen Titel der sogar unvergleichlich in der gesamten Sippe war, er war royal! Prince Linhard Xavier de Souvagne, Marquis von Hohenfelde. So etwas hatte bis dato niemand in seiner Sippe geschafft! Nicht einmal einer der Magier.


    Dieser Titel war ein Monument, ein Berg aus Privilegien und Pflichten, er kam fast einer Allmacht gleich. Aber je höher Berge waren, je eisiger waren sie auch. Daran bestand für ihn kein Zweifel mehr.

    Als er seine Rauchstange aufgeraucht hatte, schnipste er den Stummel einfach beiseite. Einige Gardisten und Diener schauten etwas irritiert, hielten sich mit ihrer Meinung aber zurück.


    Linhard machte entgegen seiner ersten Entscheidung einen Abstecher zum Hofmarschall. Er betrat die Amtsstube, in der es ehr nach einer Hähnchengrillstube roch. Gerüche waren heute nicht seine Freunde, stellte Linhard fest, er hatte im wahrsten Sinne des Wortes die Nase voll davon. Er bat Adrien seinen Stab, sowie Verrill schriftlich darüber zu informieren, dass er nach Hohenfelde abgereist sei. Sein Stab sollte ihm bitte folgen und jemand sollte sich zeitgleich seines Pferdes Noir annehmen und es mitbringen.

    Nach diesem Abstecher suchte Linhard den Stall von Aquillia auf. Lin sattelte sein Tier und führte es nach draußen. Dort redete er beruhigend auf das große Wesen ein und streichelte ihren Kopf. Er hatte heute Morgen erst einen großen Rundflug mit dem Drachenhuhn unternommen, aber Auqilla war jederzeit für einen Rundflug zu haben.


    Er konnte sie gut verstehen, auf ihrem Rücken fühlte er sich frei und von allen Sorgen losgelöst. Linhard schwang sich in den Sattel und Auquillia hob mit einem Sprung und einem mächtigen Flügelschlag ab. Das Drachenhuhn gewann schnell an Höhe. Linhard ließ das mächtige Tier einmal über dem Hof von Souvagne kreisen.

    „Adieu und Abflug“, flüsterte er leise, klopfte Aquillia auf den Hals und flog Richtung Hohenfelde davon.



    ****



    Aquilla flog mit ruhigen Flügelschlägen Richtung Hohenfelde. Linhard genoss den Flug, auch wenn der Wind ihm die Tränen in die Augen trieb. Seiner Meinung nach, war es der Wind und nichts anderes. Es war unsinnig nach Hohenfelde zu fliegen, falls ihn jemand suchte, war das die erste Adresse die man aufsuchen würde.


    Er ließ sein Drachenhuhn in einer großen Schleife wenden und steuerte Naridien an. Der Flug dauerte einige Stunden, Aquilla flog hoch, so dass die Luft wirklich eisig wurde und Linhards Atem in weißen Wolken von seinen Lippen gerissen wurde. Dann endlich kam das Gebirge von Daijan in Sicht.


    Linhard ließ Aquilla tiefer gehen und suchend über dem Gebirge kreisen. Als er das verborgene Tal von Wolfram entdeckte landete er mit seinem Drachenhuhn mitten im Tal. Lin blieb noch einen Moment auf Aquilla sitzen und schaute sich um.


    Hierhin hatte es Brandur, Dunwin und ihn verschlagen. Wolfram hatte ihnen Unterschlupf gewährt und es war eine der schönsten Zeiten seines Lebens gewesen. Jetzt lag das kleine Haus, wie das gesamte Tal verlassen da. Der Garten war bereits etwas verwildert, das Haus war dunkel.


    Linhard öffnete die Sicherheitsgurte und ließ sich von Aquilla rutschen. Er musste sich an seinem Drachenhuhn festklammern, denn er benötigte einen Moment, bis er wieder richtig stehen konnte. Mit leisem Ächzen rieb er sich die eingeschlafenen Beine und kraulte danach Aquilla, ehe er mit steifen Gelenken ins Haus stapfte.


    Leer, kalt, unbewohnt - so lag das Haus vor ihm, dass damals mehr Wärme ausgestrahlt hatte, als es das Herrenhaus je gekonnt hatte. Es war klein, geradezu beengt, aber irgendwie hatte hier jeder seine kleine Nische gefunden und hatte sich wohlgefühlt.


    Linhard zündete das Feuer im Kamin an und lüftete etwas durch. Müde rieb er sich über die Augen und machte es sich in Wolframs Schlafzimmer bequem. Lin zog sich bis auf die Unterwäsche aus und kroch in das kalte Bett von Wolfram. Morgen früh würde er Aquilla etwas aus dem Vorratsschuppen holen. Einige Tage wollte er hier in der Ruhe des verborgenen Tals verbringen um über Verrill und sich nachzudenken. Er vermisste Greg, aber mehr noch vermisste er seinen Paps Brandur und seinen Rat. Sein Magen knurrte, aber Linhard schob das Hungergefühl zur Seite. Müde wickelte er sich in seinen Reisemantel und deckte sich damit zu. Die Wärme des Kamins und das Prasseln des Feuers lullten ihn in einen friedlichen Schlaf.



    ****



    Lin wachte mitten in der Nacht auf. Irgendetwas stimmte nicht. Seine Schulter tat ihm weh, ein seltsames schmatzendes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Müde drehte er den Kopf Richtung Kamin und blickte in ein gelbes Gesicht, dass tief und fest in seine Schulter gebissen hatte und Blut aus ihm nuckelte.


    Kreischend sprang Linhard auf und schlug zeitgleich zu. Seine Faust traf mitten in das gelbe Gesicht und riss den Kopf seines Angreifers brutal in den Nacken. Kaum war Lin auf den Beinen, klappte er vor dem Bett zusammen. Gerade als er sich wieder aufrappeln wollte, war der gelbe Angreifer über ihm und riss ihn brutal zurück ins Bett.


    "Nai nai!", brüllte er wie besessen und hieb mit seinen spinnenartigen Fingern brutal auf Lin ein, um ihn gefügig zu machen. Linhard warf sich herum, kämpfte sich ein Stück frei und gerade als ihn der Gelbe wieder greifen wollte, knallte er ihm den Fuß mit brachialer Gewalt mitten ins Gesicht.


    Seine Schulter brannte wie eine Fackel des Abgrund und er spürte dass sein Hemd klatschnass war. Er musste bluten wie ein Schwein, aber er konnte kaum noch etwas sehen, alles war verschwommen. Lin krabbelte auf allen vieren Richtung Ausgang. Er stemmte sich an der Haustür hoch, als er hörte wie hinter ihm der gelbe Widersacher stöhnend auf die Beine kam und die Verfolgung aufnahm.


    "Nai!", brüllte der Gelbe wie wahnsinnig und grabschte Linhards Fußgelenk. Wie wild zerrte er an ihm, um ihn von der Tür wegzubekommen. Linhard kreischte seinerseits auf und trat wie ein Maulesel um sich. Einer der Tritte erwischte den gelben Kerl seitlich vor den Kopf und ließ ihn zur Seite fliegen.


    Linhard riss die Tür auf und stürzte nach draußen. Er stolperte mehr, als dass er rannte. Panisch schaute er sich nach Aquilla um. Auf allen vieren rannte er zum Vorratsschuppen und riss die Tür auf. Ein bestialischer Gestank schlug ihm entgegen, so als hätte er gerade die Tür zum Abgrund aufgerissen.


    Leichen.
    Dutzende von ausgesaugten und verwesenden Leichen.


    Linhard übergab sich geräuschvoll, wischte sich den Mund sauber und warf sich herum, nur um schnellstmöglich von diesem Vorratslager zu verschwinden. Er prallte gegen einen Körper. Keinen Augenblick später, verpasste ihm der Gelbe einen brutalen Schlag in den Magen, der ihn zusammenklappen ließ.


    "Nai!", knurrte sein Angreifer geifernd und hasserfüllt, dabei entblößte er zwei gewaltige Fangzähne.


    Linhard ignorierte seinen rebellierenden Magen und kroch so schnell er konnte rückwärts. Lin knallte mit dem Rücken gegen die Tür sah gerade noch, wie der Vampir eine Keule hochriss und mit einem urgewaltigen Schrei auf ihn losging.


    Der Vampir führte den Hieb niemals zu Ende.


    Es kam etwas in Sicht, dass sich Linhard zuerst gar nicht erklären konnten. Etwas Riesiges schob sich von oben über den gelben Vampir, eine blitzartige, schnappende Bewegung, ein gewaltiger Schnabel blitzte auf und der Vampir war nur noch ein kopfloser Torso der in sich zusammenbrach.


    Vor ihm stand Aquilla sein Drachenhuhn. Erneut schnappte sie zu, erwischte den Torso in der Seite und schleuderte ihn wild hin und her, dass man die Knochen des Körpers brechen hörte. Urplötzlich ließ sie ihn los und der kopflose Leichnam flog in der Nacht wie ein Geschoss davon.


    "Aquilla", stöhnte Linhard und kroch auf sein Drachenhuhn zu.


    Die große Urvogelhenne legte den Kopf schief und beäugte ihn mit einem Auge, ehe sie ihre großen Schwingen um ihn schloss und ihn huderte. Linhard rollte sich zwischen den wärmenden Schwingen zitternd zusammen. Etwas stimmte nicht, etwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm. Er rollte sich auf den Bauch und kotzte sich die Seele aus dem Leib.


    Dann fiel es ihm schlagartig ein. Er war von einem Vampir gebissen worden, er wusste nicht wie viel Blut er verloren hatte, aber es musste viel sein, so schwach und erbärmlich wie er sich fühlte. Wenn er jetzt einschlief war es vorbei, er würde als Blutsauger wieder aufwachen.


    Mit letzter Kraft zerrte er sich an Aquilla hoch und klammerte sich an ihr Geschirr. Mehr tot als lebendig lenkte er sein treues Drachenhuhn zum nächst gelegenen Tempel. Vor den Stufen rutschte er von Aquilla, auf der Schwelle brach er zusammen.


    Linhard wachte in einem kleinen Krankenzimmer auf, als die Morgensonne durch sein Fenster schien und ihn weckte. Eine uralte Heilerin stand vor ihm.


    "Ihre Infectio vampirius demortuus wurde geheilt junger Mann. Sie hatten großes Glück, unwahrscheinlich großes Glück. Ihr Greif oder was das für ein Geschöpf ist, hat vor dem Tempel randaliert, so dass wir Sie rechtzeitig gefunden haben. Soll ich irgendwen für Sie benachrichtigen lassen?", fragte die uralte Heilerin.


    "Marquis Brandur von Hohenfelde in Beaufort - Souvagne, meinen Vater bitte. Und Danke", flüsterte Linhard, ehe er müde die Augen schloss und lautlos Auqilla für seine Rettung dankte.