David und Goliath

  • Die Nacht brach ein. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages spiegelten sich noch im Hofteich, ehe die Sonne dann endgültig unter ging und die Gargoyles zum Leben erwachten.


    Überall am Gemäuer des Schlosses, wo die steinernen Statuen der Gargoyles gestanden hatten, brachen nun einzelne Stücke von den Statuen ab und fielen zu Boden. Zunächst lösten sich nur winzige Steinchen im Bereich des Gesichtes von der Statue ab. Doch mit Zunahme der Dunkelheit begannen sich auch die Glieder der Gargoyles zu regen. Sie blinzelten und das charakteristische Schwarz in ihren Augen wurde sichtbar.
    Überall im gesamten Schloss ertönte nun das geheimnisvolle Geräusch von Stein, das auseinander brach und im fernen Abgrund auf den Boden aufschlug. Die Gargoyles waren wach!


    Auch der kleine Dario zählte zum Volk der Gargoyles. Er war jung, gerade mal 15 Jahre alt und doch hatte er schon Vieles gesehen im Leben. Mehr als die Meisten in seinem Alter...vorallem traumatisch war der Tod seines besten Freundes gewesen. Sowas konnte niemand so Recht vertragen, aber schon gar nicht Dario, der solch ein treues und liebes Wesen war.


    Eine Träne kullerte die Wange herab, als Dario realisieren musste, dass eine weitere Nacht angebrochen war. Eine weitere Nacht ohne seinen einstigen Freund und Schützling Mathis. Dario atmete enttäuscht aus und schluchzte kurz auf. Er hatte insgeheim gehofft, dass er vielleicht diesen Tagesschlaf endlich sterben würde und nie mehr aufwachen würde. Doch leider war dies nicht passiert.


    Dario leckte sich einmal reflexartig über die Klauen, als plötzlich eine Stimme ertönte:
    "Dario, Schatz. Du musst was Essen," sagte die Mutter.
    "Mutter...ich...", antwortete der kleine Gargoyle zaghaft. Er sprang den 5m Hang zur ihr runter. Aber das ohne die Leichtigkeit und den Frohsinn, mit der er dies sonst tat.
    "Dario, was ist denn los. Du isst schon seit Nächten nichts mehr. Und ich hab dich die letzten Nächte kaum gesehen. Wo hast du dich denn getrieben? Warst du wieder mit deinem Freund unterwegs?", fragte Gabrielle besorgt.


    Als seine Mutter Gabrielle seinen verstorbenen Mathis erwähnte schrie der Kleine auf. Er hatte ihr bis jetzt noch nichts von Mathis Tod erzählt.


    "NEIN!", schrie er plötzlich erregt. Er wurde ganz rot im Gesicht, wie es immer war, wenn Dario emotional wurde.
    ""Ich...ich", Dario stammelte.
    "Verdammt Mutter! Mathis ist tot!"
    Gabrielle erschrak, als sie dies erfuhr. Sie nahm ihren Kleinen in den Arm, welcher darauf sofort in Tränen ausbrach. "Ich kann nicht mehr," weinte der kleine Gargoyle.
    "Aber wie konnte dies passieren?", fragte Gabrielle besorgt.
    Doch Dario antwortete nicht. Erst nach einem Happen zu essen, hatte er sich wieder beruhigt und so meldete er sich:
    "Mutter, ich muss bisschen raus. Kann ich?"
    Gabrielle sichtlich bemüht, nicht das Falsche zu tun, erwiderte mit trauriger Stimme:
    "In Ordnung. Aber pass auf dich auf und melde dich in ein paar Stunden wieder!"
    "Danke Mutter, du bist die Beste!", keuchte der Kleine und glitt mit diesen Worten in die Tiefen der Nacht.


    * * * * *
    - Ein paar Stunden später-


    Dario machte seine übliche Route und war gerade schon auf dem halben Weg zurück, als plötzlich etwas unheilvoll am Horizont leuchtete, was der kleine Gargoyle noch nie wirklich wahrgenommen hatte. In dem Gebäude brennt Licht!, stellte Dario fest.
    Er war neugierig und so glitt er etwas mehr in die Nähe des Gebäudes. Auf halber Strecke musste er aber einen Baum wieder ganz nach oben klettern, da er zuviel an Höhe verloren hatte. Als er schließlich nah genug dran war, schlich er sich langsam an das Gebäude heran. Er verhielt sich dabei so leise, dass ihn unmöglich jemand hören konnte.
    Dario setzte vorsichtig ein Fuß nach dem Anderen und hörte seltsame Laute. Das Wiehern der Pferde, das Scharen von Hufen und andere Pferdegeräusche, die Dario aber nicht zuordnen konnte, da er solche Laute zum ersten Mal in seinem Leben wahrnahm.


    Neugierig schlich er sich immer näher an das Gebäude heran, kletterte durch ein offenes Fenster hindurch und sah sich in Ruhe um.
    Ihn ließ nicht mehr locker, woher dieses seltsame Geräusch kam und er tapste immer näher zur Quelle, von wo das Geräusch stammte.


    Was ist das?, Dario kratzte sich am Kopf und stellte sich kurz in Sicherheit, in eine dunkle Ecke, um nachzudenken.
    So ein komisches Geräusch habe ich noch nie gehört! Ich will wissen, was das ist!, sagte seine Neugier in ihm.
    Aber was, wenn das ein böses Monster ist, was kleine Gargoyles frisst?, fragte sich der Kleine.
    Ich sollte besser abhauen. Das ist zu gefährlich!, sagte die vorsichtige Stimme der Vernunft in ihm. Er ging schon bereits ein paar Schritte zurück, als sich die Neugier wieder meldete.
    Wenn du jetzt nicht guckst, wirst du dich immer fragen, was das für ein Geräusch war... Mit diesem Gedanken ging er wieder ein paar Schritte vor zurück zu der Ecke, wo er gestanden hatte.
    Jetzt trau dich, Feigling!, sprach er sich selbst Mut zu und öffnete dann die vermoderte Stalltür, die laut knatterte, als der kleine Gargoyle sie einen Spalt weit öffnete, um hindurchzuschlüpfen.


    Als der Kleine das große vierfüßige Geschöpf sah, erschrak er. Er fing an zu fauchen an und sprang reflexartig an die nächstgelegene Wand. Das gewöhnliche Pferd wiederum war genauso erstaunt und wieherte noch lauter.
    "Hey!", rief Dario mit leicht verzweifelter Stimmlage.
    "Ruhig, sonst hört uns noch jemand!"

  • Ein harter Tag näherte sich dem Ende. Dem Centauren schmerzten die Knochen und er fühlte sich noch einmal zehn Jahre älter.
    Im Grunde genommen ging es ihm nicht schlecht, denn er hatte in seinem Leben bereits anstrengendere Arbeiten erledigen müssen. Den Pflug durch die braune Erde zu ziehen war um einiges angenehmer, als tagelang ganze Ladungen von Mehl- oder Kartoffelsäcken, Baumstämmen oder gar Steine für den Bau von Gebäuden und Mauern zu schleppen.
    Vor Allem der Aufenthalt in Städten viel ihm schwer. Er konnte nicht begreifen, wie man von hohen Gebäuden umgeben, leben wollte. In den Strassen und dunklen Gassen wurde die Sonne verschluckt und der Himmel war nur ein dünner Streifen hoch über seinem Haupt.
    Nichts im Vergleich zu den weiten Ebenen oder auch den Waldlichtungen, wie er sie kannte, wo sich das blaue Gewölbe über einem ausweitete bis zum Horizont.
    Auf dem Acker konnte er immerhin die weiche Erde unter seinen Hufen spüren, den Wind in seinem Fell fühlen und den Duft des Lebens und der Natur einatmen.


    Trotzdem war er erschöpft. Es war weniger eine körperliche Müdigkeit, welche ihn plagte. Es war sein Gemüt.
    Was ihn jedoch bereits seit einigen Tagen störte, war ein seltsames Ziehen in seiner Brust. Ein Drang, den er in seinem ganzen Wesen wahrnehmen konnte. Der ansonsten ruhige Centaure wurde von einer drückenden Unruhe befallen, welche ihn nicht mehr loslassen wollte.


    „Los, rein mit Dir!“, befahl ihm Abel der Knecht des Hofes mit drohendem Unterton. Kolbakur empfand gar nicht das Bedürfnis, Widerstand zu leisten. Doch er konnte den unangenehmen Geruch von Angst, der an dem Mann haftete, riechen. Kolbakur hatte seinen neusten Besitzern niemals Grund zu dieser Furcht gegeben, doch trotzdem behandelten sie ihn mit Misstrauen und Vorsicht. Manchmal benutzten sie auch einen Stock oder eine Peitsche, um ihn voran zu treiben. Im Grunde wussten sie wohl aber auch, dass der mehrfach schwerere und kräftigere Centaure sie um ein leichtes Zerquetschen könnte wie Fliegen. Deshalb schien es ihnen umso wichtiger, ihn auf ihre autoritäre Stellung hinzuweisen.


    Folgsam wie ein Schaf trottete Kolbakur voran und liess sich in den grössten der drei Verschläge im Stall führen. Um den Hals hatten sie ihm vor einigen Jahren wie einem Hund einen Eisenring schmieden lassen, an dem eine Kette hing. Damit wurde er an der Stallwand befestigt. Auf den Boden wurde ihm wie einem Tier Heu hingeworfen, in der Nähe stand ein Eimer mit schalem Wasser. Kolbakur musste den Kopf leicht einziehen, um nicht an der Decke anzustossen.


    „Hier“, der Knecht lachte gehässig auf und warf Kolbakur eine Karotte in den Verschlag, jedoch in solch einer Entfernung, dass er sie wegen der Kette nicht erreichen konnte. Kolbakur beobachtete ihn stumm aus traurigen Augen und fragte sich, weshalb die Menschen einen solchen Hass auf ihn empfinden mochten.
    Endlich verschwand Abel, jedoch nicht, ohne die Türen mit lautem Knallen hinter sich zuzuschlagen. Das Pferd in der Box neben dem Centauren wieherte unruhig, widmete sich dann jedoch zufrieden dem Heuhaufen. Auch vom Ochsen im dritten Verschlag hörte man nur das regelmässige Wiederkäuen.


    Mit einem Seufzen liess Kolbakur sich schwerfällig auf seine Vorderbeine nieder. Normalerweise hätte er sich von höher gelegenen Blättern, Knospen oder frischen Baumrinden ernährt, doch so musste er sich in diese unbequeme Lage zwängen, um an das verstreut liegende Heu ranzukommen.
    Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch die einzige Luke des Stalls, bevor die Dunkelheit die Welt in Besitz zu nehmen schien.


    Im selben Moment spürte der Centaure wieder das Zerren in der Brust, welches ihn nun schon öfters beschäftigte. Unruhig wollte er umher gehen, doch die Kette hielt ihn zurück. Schon lange hatte er nicht mehr das Bedürfnis verspürt, sich so zu bewegen. Doch nun wuchs der Druck in seinem Innern. Er hatte noch nie versucht, die Kette aus der Verankerung zu reissen, denn es widerstrebte ihm, etwas gegen den Willen seiner Besitzer zu unternehmen. Und damit würde er ihnen bestimmt keine Freude bereiten.
    Stattdessen begann er seinem Frust auf andere Weise Ausdruck zu verleihen und scharrte mit dem mächtigen Vorderhuf immer wieder über den Boden, so dass es weithin zu vernehmen war.


    Es war bereits finstere Nacht und Kolbakur sinnierte noch immer über den Grund für seine Unruhe nach, als sich für einen kurzen Moment ein dunkler Schatten gegen den Nachthimmel abhob, der als einziges durch die kleine Luke auf der anderen Seite des Stalles zu erkennen war.
    Dies entging dem Centauren, da er just im selben Augenblick die Ursache für sein chaotisches Verhalten erkannt hatte. Es war die Zeit der Herdenwanderungen!
    Die Zeit, wo sein Volk sich aufmachte, um neue Weideplätze zu erreichen. Und bald die Zeit der Fruchtbarkeit.
    Entnervt über sich selber seufzte Kolbakur. Er sollte sich besser wieder in den Griff bekommen, denn seine Heimat würde er vermutlich niemals wieder betreten.


    Plötzlich hörte er ein leises Knarren und horchte auf. Einen Moment war es still, nur das leise Schnarchen des Ochsen war zu vernehmen. Doch dann begann Freya erschrocken zu wiehern. Sie klang furchtsam und Kolbakur konnte ihre Angst fühlen.
    Verwirrt wandte er sich der Wand an seiner Seite zu, hinter welcher sich die kräftige Stute befand. „Hey! Ruhig, sonst hört uns doch jemand!“, erklangt da eine verzweifelte Stimme.


    Kolbakur horchte auf. Was tat denn ein Kind hier drin? Hatte sich etwa eines der Bauernkinder rein geschlichen, vielleicht, um eine Mutprobe zu bestehen? Oder auch einfach aus Neugier, um den Sklaven aus der Nähe zu betrachten?
    Freya scharrte nun aufgeschreckt mit den Hufen und auch der Ochse war wach geworden und stimmte muhend in die Aufregung mit ein.


    Der Centaure merkte auf; das Kind musste raus aus der Box, mit Freya war nicht zu spassen, wenn sie panisch wurde. Sie war ebenfalls ein stämmiges Tier, welches die Kraft besass, schwere Fuhren zu ziehen.
    „Komm sofort raus da! Aber keine ruckartigen Bewegungen, sonst könnte sie sich ängstigen! Und mach die Tür zu“, befahl Kolbakur, und obwohl er ansonsten die Ruhe selbst war, hatte sich doch eine leichte Nervosität in seine Stimme geschlichen.
    Er mochte Kinder gerne und wenn einem von ihnen in seiner unmittelbaren Nähe etwas zustossen würde, konnte er sich das nicht verzeihen.


    Dann begann er mit beruhigenden Tönen auf Freya einzureden, welche durch die ihr bekannten Klänge wieder Vertrauen fasste und mit gespitzten Ohren auf die Stimme aus der Box nebenan lauschte, während sie den angeblichen Todfeind nicht aus den Augen liess.
    In diesem Moment war Kolbakur froh, sich gut auf den Umgang mit seinen nahen Verwandten zu verstehen.

  • Darios Herz pochte. Was war das bloß für ein Geschöpf, was so seltsame Laute machte! Das Wiehern des Pferdes war ein gleichsam faszinierendes, wie erschreckendes Geräusch.


    Der kleine Gargoyle kletterte den Balken immer höher hoch. Das wilde Tier ließ er währenddessen aber nicht aus den Augen und er achtete nicht so ganz darauf, woran er sich mit seinen Klauen festhielt. Die fremde Stimme murmelte ihm irgendetwas zu, was Dario aber ausblendete, da er viel zu fixiert auf die Gefahr war. Und so bekam er gar nicht richtig mit, dass eine Person mit ihm sprach.


    Der Gargoyle brachte sich immer weiter in eine größere Entfernung zum Tier, bis der Balken plötzlich mitten im Stallgebäude einfach endete, und Dario im hohen Bogen vom Ende des Balken überrascht, runterkrachte und auf den harten Boden landete. Unglücklicherweise landete er ausgerechnet auf der Stelle, wo sich kein Heu befand. Vor Schmerzen schrie er kurz auf. Er hatte sich beim unglücklichen Aufprall wohl etwas geprellt! Klagend zog er sich mit seinen Klauen nach vorne.


    Doch erst jetzt bemerkte er die Gestalt, die sich nur wenige cm vor seinem Gesicht befand und ihm scheinbar helfen wollte.
    Ein Mensch, nein ein Tier. Ein Menschtier!


    Dario schrie erneut auf. Als darauf Adrenalin in seinen Blutkreislauf gepumpt wurde, konnte Dario, trotz der Schmerzen, unerwartet einen großen Sprung in die Ecke machen.
    "Was bist du! Bleib mir vom Leib!", sagte er und fing an zu weinen.
    "Ich hab mich bloß verirrt...ich dachte... ich wollte..."
    Der Kleine vergaß sich völlig.


    "Es tut mir Leid," schluchzte er. Wie ein kleines Kind vergrub er sich in seine Schultern und versteckte sich hinter seiner Hand, so als ob er dadurch verschwinden könnte.

  • Kolbakur war genauso aus der Fassung gebracht worden, wie der kleine Kerl, der sich wie ein Äffchen am Holzbalken hochzog. Da Kolbakur in seinem Leben weder einen Affen noch einen Gargoyle gesehen hatte, überraschte es ihn ungemein, wie geschickt das Kind klettern konnte. Mit Staunen verfolgte er, wie er immer weiter kletterte, weg von Freya, welche unruhig den Kopf verwarf und die Augen verdrehte, um den vermeintlichen Angreifer nicht aus dem Blick zu lassen.
    Dieser kraxelte jedoch unbeirrt weiter. „Pass auf“, wollte Kolbakur ihm zurufen, doch da war es bereits zu spät. Mit einem übereilten Ruck wollte sich der Centaure nach vorne werfen, um den Kleinen zu fangen, der plötzlich den Halt verlor. Obwohl der Haken in der Wand ächzte, reichte der Schwung nicht aus. Die Kette riss ihn unsanft zurück und das Eisen schnitt ihm scharf in den kräftigen Hals ein. Kolbakur stöhnte auf und wütend schlossen sich seine Hände um den Stahl. Einen Moment lang war er versucht, mit Gewalt das Ding loszuwerden, doch als das schmerzliche Klagen des Kindes an sein Ohr drang, drängte er seine Wut beiseite.


    „Alles in Ordnung Kind?“, wollte er es fragen, doch die Worte gingen auf halber Strecke irgendwo in seinem Hals verloren. Verwundert starrte der mächtige Centaure auf das kleine Geschöpf, das sich nun panisch in eine Ecke verdrückte und ihn mit genauso grossen Augen anstarrte.
    Kolbakur hatte noch nie ein solches Wesen gesehen. Eindeutig war es kein Mensch. Doch was war es dann? Es besass Flügel, wie ein Vogel oder eine Fledermaus. Und jetzt erkannte er auch, dass es nicht Finger waren, die ihm zu solchen Kletterkünsten verhalfen, sondern kräftige Klauen.


    „Was bist du! Bleib mir vom Leib!“, sagte der Kleine und fing plötzlich an zu weinen. Einen Moment war der Centaure völlig überfordert. Er hatte erwartet, dass das Wesen ihn womöglich angreifen würde oder sich aus dem Staub machen – dass es jedoch in Tränen ausbrach, damit hatte er nicht gerechnet.
    Da von ihm jedoch keine Gefahr auszugehen schien, wollte er es beruhigen. Die Stimme klang ausserdem trotz seiner Gestalt noch immer wie die Stimme eines Kindes und so bemühte sich der sanfte Riese, ruhig zu bleiben.
    „Ich hab mich bloss verirrt… ich dachte… ich wollte – es tut mir Leid.“ Wie um sich vor der Welt zu verbergen machte er sich noch kleiner und Kolbakur sah ihm an, dass er am liebsten im Boden versunken wäre.

    „Schschsch“
    , versuchte der Centaure etwas unbeholfen zu trösten. „Alles ist gut, hier passiert dir nichts. Ich bin zwar gross, aber ich fresse keine kleinen Kinder.“
    Als das seltsame Geschöpf jedoch nur einen noch grösseren Weinkrampf bekam, musste sich Kolbakur etwas anderes einfallen lassen. Er versuchte sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen und kam zum Schluss, dass er sich vermutlich auch vor sich selber gefürchtete hätte – nicht gerade ein förderlicher Gedanke.
    Doch dann kam ihm eine Idee. Ganz langsam, darum bemüht keine ruckartige Bewegung auszuführen, ging er in die Knie. Etwas unsanfter liess er auch sein Hinterteil auf dem Boden aufkommen, so dass er nun halb sitzend, halb liegend am Boden war. Sein dunkler Körper überragte den Kleinen noch immer um Einiges, doch er hoffte, auf dieser Höhe und in dieser Position nicht mehr gar so bedrohlich zu wirken.
    Dann begann er vorsichtig zu reden. Er war ja doch neugierig, wer sich da bei Nacht in den Stall hineingewagt hatte. „Keine Angst… ich bin Kolbakur, ein Centaure. Und siehst du, ich bin angekettet, ich könnte dir auch nichts tun, wenn ich es wollte“, zur Bekräftigung seiner Worte rüttelte er an der Kette, die in die Stille der Nacht hinein klirrte.


    „Hast du dir fest wehgetan?
    Es ist nicht schlimm, dass du hier bist. Bei dieser Dunkelheit hätte ich mich bestimmt auch verirrt. Am besten wartest du einfach den Morgen ab, dann wirst du den Heimweg vermutlich gleich erkennen!“
    , wollte er das Kind trösten.
    „Wie heisst du und woher kommst du denn Kleiner? Und warum bist du überhaupt mitten in der Nacht abgehauen? Hast du dich mit deinen Eltern gestritten?“


    Kolbakur wagte nicht zu fragen, was für ein Geschöpf das Kind sei, denn er hielt dies für unhöflich. Einem Kind war dies zu verzeihen, aber von einem alten Mann wie er bereits einer war, konnte man schon erwarten, ein wenig mehr Ahnung über die Welt zu besitzen.

  • Als der mächtige Mann sich zu Dario hinunterbeugte, erhaschte er die Aufmerksamkeit des Gargoylekindes, sodass Dario für einige Zeit aufhörte zu weinen. Kolbakurs vorsichtige und mitfühlende Worte bewirkten zudem, dass Dario Vertrauen fasste und schließlich ganz aufhörte zu weinen. Leicht schluchzend wischte er sich die Tränen vom Gesicht und hörte ihm zu.


    Als Kolbakur auf seine Kette verwies, schockierte dies Dario sehr. Mitleid kam in dem kleinen Dario auf. Obwohl er diesen fremden Mann nicht kannte und es gewiss dumm war so zu fühlen, machte er sich tausende, verschiedene Gedanken. Er wollte ihm helfen, wusste aber nicht, ob das eine gute Entscheidung wäre. In seinem Kopf hörte er die Stimme seiner Eltern, die zur Vorsicht ermahnten. Doch er konnte aufgrund seiner Neugierde nicht anders und traute sich schließlich zu fragen:


    "Wieso bist du angekettet? Hast du was Böses getan?"


    Fürsorglich wie Dario war, waren ihm seine eigene Sorgen nicht mehr so wichtig. Dank der hervorragenden Regenerationsfähigkeit der Gargoyles, spürte er auch die Schmerzen in seinem geprelltem Schienbein nicht mehr so stark. Jedoch konnte er, und das war ihm durchaus bewusst, den Heimweg nicht antreten und musste wohl zwecks des Tagesschlafes an diesem Ort verweilen müssen. In der nächsten Nacht wäre dann alles wieder verheilt. Noch nicht mal einen Kratzer würde man später noch erkennen.


    "Anfangs tat es weh, aber wir Gargoyles sind stark, " sprach Dario in der einfachen Ausdrucksweise eines Kindes. Für ihn war es absolut normal, dass die Schmerzen verursacht aufgrund einer frischen Verletzung innerhalb von wenigen Sekunden abklingen und so kam er gar nicht auf die Idee, auf Kolbakurs Gedanken weiter ein zugehen.


    "Ich habe mich nicht verirrt!", sagte er leicht gekränkt. Man erkannte an seinem aufgeweckten, und kecken Gesichtsausdruck, dass in dem Gargoyle, trotz seiner melancholischen Lebenslage, dennoch noch viel Leben steckte.
    "Ich hörte seltsame Geräusche und wollte hier rein. Sowas wie dich habe ich noch nie gesehen!", antwortete er, so als ob dies alles erklären würde.


    Er schien sich augenscheinlich wohl bei dem älteren Herrn zu fühlen. Seine angespannte Körperhaltung entspannte sich immer mehr. Auch weinte er nicht mehr. Denn Darios ganze Aufmerksamkeit galt nun diesem fremden Mann.
    "Du hast auf meine Frage nicht geantwortet. Das ist unhöflich!"
    "Ich sage dir erst, wie ich heiße, wenn du mir sagst, warum du angekettet bist!", meinte Dario mit kindischer Beherztheit.

  • Erleichtert registrierte Kolbakur, dass der Kleine aufhörte zu weinen. Stattdessen blickte er ihn aus grossen Augen an und der Centaure meinte Mitleid darin zu erkennen. Bemitleidete das Kind etwa ihn? Und aus welchem Grund?
    Immerhin hatte er ein Dach über dem Kopf, bekam regelmässig etwas zu Essen und wurde nur mässig mit dem Stock geschlagen. Er durfte sich nicht beklagen.
    Es gab Sklaven, die es schwerer hatten und mehr Leid ertragen mussten.
    Wenn er daran zurückdachte, wie er bei den Goblins mit Peitschenhieben angetrieben wurde… nun gut, damals war er noch jung und unerfahren gewesen. Und manchmal wohl etwas störrisch, somit hatte er sich die Strafen selbst zuzuschreiben.
    Einmal hatte er beobachtet, wie einem Sklaven zwei Finger abgetrennt wurden, da er des Diebstahls an einem Apfel bezichtigt worden war. Man hatte ihm bloss nicht die ganze Hand entfernt, weil er in diesem Falle nicht mehr alle Arbeiten hätte verrichten können und somit an Wert verloren hätte.
    Und wenn Kolbakur an die Geschichten aus den Bergwerken dachte… Unter den Sklaven erzählte man sich, dass Niemand dort lebendig wieder herauskomme. Ein Leben lang verbringe man in den Tiefen des Berges und würde bald vergessen wie es sich anfühlte, wenn die Sonnenstrahlen einem die Haut wärmten.


    Erst als er die kindliche Stimme vernahm, wurde er aus seinen düsteren Gedanken gerissen und schüttelte die Fantasien mit einem wippen seines Hauptes ab.
    Kolbakur musste sich zusammenreissen, um einen ernsten Gesichtsausdruck beizubehalten und nicht zu lächeln, als der kleine stur behauptete, sich nicht verirrt zu haben. Und als er ihm vorwarf, unhöflich zu sein, funkelten die dunklen Augen des Centauren belustigt. Seine Worte klangen jedoch entschuldigend, als er dem Kind mit ernster Miene beipflichtete.


    Ja, wieso war er angekettet. Kolbakur runzelte die Stirn und nahm sich Zeit, die Frage zu beantworten. Er wollte dem Kind keine Angst einjagen. Er war froh, dass es überhaupt mit ihm sprach, denn er freute sich überraschender Weise sehr über die verblüffende Gesellschaft. Er war zwar nicht alleine im Stall mit Freya und dem Ochsen, doch anregende Gespräche konnte er mit ihnen wohl kaum führen. Und auch seine Besitzer kommunizierten mit ihm lieber über Befehle anstatt sich in eine Unterhaltung verwickeln zu lassen.
    „Ich denke…“, die ernsten Falten in seinem Gesicht vertieften sich etwas, als er nachdenklich die folgenden Worte formte, „die Menschen fürchten sich vor mir.“


    Er überlegte, wie er dem Kleinen begreiflich machen sollte, dass es dazu jedoch überhaupt keinen Anlass gab. Am wenigsten für einen Knirps, denn Kinder galt es in den Augen des Centauren zu behüten.
    „Die Kette gibt ihnen das Gefühl mächtig zu sein. Und ich lasse sie in dem Glauben, dass das Eisen mir die Kraft raubt, ansonsten würden sie womöglich zu weit unangenehmeren Methoden greifen.“
    Für Kolbakur war es keine Option, den Eisenring aus der Wand zu reissen, und sich aus dem Staub zu machen, denn schliesslich hatten die Menschen ihn mit ehrlichem Geld erstanden und er war nun ihr Besitz, mit dem sie verfahren konnten, wie es ihnen beliebte.


    Deshalb fügte er in selbstverständlichem Tonfall hinzu: „Ich gehöre dem Gutsbesitzer wie das Pferd und der Ochse in den anderen beiden Boxen. Doch weil ich ein Mischwesen bin, haben sie Angst vor mir. Sie wissen mich nicht einzuordnen, ängstigen sich vor dem Unbekannten. Du bist doch auch erschrocken, als du mich erblickt hast. So ergeht es den meisten Zweibeinern, die noch nie einen Centauren gesehen haben.“
    Sein Blick wurde freundlicher und die Falten glätteten sich wieder merklich.
    "Aber glaube mir, ich bin kein gefrässiges Ungeheuer. Ich ernähre mich bloss von pflanzlicher Nahrung. Und ich respektiere die Menschen, denn sie sind eine junge Rasse, die noch viel zu lernen hat über den Kreislauf des Lebens.“
    Er seufzte tief.
    „Ich habe nichts Böses getan, mein Kleiner. Eine Zeit lang war ich sogar ein Freund der Fürstentochter. Das waren schöne Momente. Doch auch diese gehen vorüber; Kinder werden älter, ihr Interesse verschiebt sich auf wichtigere Dinge als einen alten Sklaven.“


    Kolbakur war froh, dass der Kleine wieder etwas aufgeweckter wirkte, nachdem er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte. Und auch die Sorge des Centauren bezüglich der Gesundheit des Kleinen, der eben noch von der Decke heruntergepoltert war, schien unbegründet zu sein.


    Als er ihm jedoch erklärte, dass sein Volk stark sei, horchte der ältere Mann auf. Ein Gargoyle?
    Irgendwie kam ihm der Begriff bekannt vor, vielleicht hatte er das Wort bereits einmal aufgeschnappt. Doch er vermochte damit nicht viel anzufangen.
    Mit Neugier liess er seinen Blick aufmerksam über die Gestalt schweifen. Nun schien es ihm schon offensichtlicher, dass das Kind kein Menschenwesen war. Seine Haut war nicht rosig und auch nicht in einem Braunton, wie seine eigene. Sie wirkte ausserdem rau. Und auch die Klauen fielen ihm dieses Mal sofort ins Auge, nicht zu vergessen die Flügel.
    Da der Gargoyle selbst seine Rasse benannt hatte, traute sich Kolbakur nun doch zu fragen: „Woher stammt dein Volk? Ich habe ebenfalls noch nie jemanden wie dich gesehen. Und ich bin beeindruckt von deinen Kletterkünsten. Seid ihr ein Bergvolk?“


    Kolbakur genoss es, den kleinen Wicht bei sich zu haben. Zufrieden zog er seine schweren Beine in eine bequemere Lage. Der Gedanke, dass er Morgen bereits wieder auf diese Abwechslung verzichten müsste, bekümmerte ihn. Dann schalt er sich jedoch gleich wieder ab seiner Verdrossenheit.
    „Wann willst du Morgen den wieder losgehen? Ich denke, es wäre besser, wenn du Abel nicht über den Weg laufen würdest. Ich weiss nicht, wie er es so mit Gargoyles hält…“

  • "Aber wieso das? Wieso kann so ein Stück Eisen jemanden helfen sich mächtig zu fühlen?", der Gargoyle begriff nicht ganz.
    Doch dann erinnerte er sich an ein Gespräch, dass er einst mit Mathis gehabt hatte, als er noch gelebt hatte.
    Dieser hatte ihm gesagt, dass sich die Menschen, aufgrund ihrer schwachen Natur, gerne starke Werkzeuge aus Eisen bauten, um sich stärker zu fühlen. Um so stark wie Gargoyles und andere Kreaturen zu werden. Mit einem Eisenschwert in der Hand, fühlt sich selbst der feigste Mann, direkt stärker.


    Der Centaure fuhr fort mit seiner Schilderung.
    Und als er ihm erklärte, dass sich die Menschen vor ihm fürchteten, weil er eine Kreatur war, die viele Menschen nicht kannten, begann der Gargoyle darüber nachzudenken. Wieder stellte Dario dazu eine Frage:
    "Also gibt es mehrere von deiner Sorte?"


    Kolbakur erklärte ihm, dass er ein Menschenfreund sei, genau wie das Volk der Gargoyle auch. Das ist ja verblüffend! , dachte sich der Kleine.
    Und dass er nichts Böses getan hatte. Er erklärte ihm, dass er sich ein Centaure nur von Pflanzen ernährte, wodurch auch die letzte Anspannung aus Darios Körper entwich und er keine Bedenken mehr hatte, dass Kolbakur irgendeine Gefahr darstellen könnte.


    In einer kurzen Pause, wo Kolbakur nicht sprach, kam Dario mit ihm dahingehend weiter ins Gespräch und Dario erklärte:


    "Wir Gargoyles sind schon seit Jahrhunderten mit dem Schicksal der Menschen verbunden. Meine Familie kennt kein Leben mehr ohne die Menschen," Dario lächelte leicht und errötete im Gesicht, als er sah, wie ihm Kolbakur geduldig zuhörte. Das brachte ihm etwas aus dem Konzept, sodass er ein wenig ins Stocken geriet: "Ich..., nein...," stammelte er. "Wir...ja!", er leckte sich nervös über die Lippen. "Wir wissen nichts mehr über unsere Herkunft. Seit wir denken, leben wir bei den Menschen. Wir sind die Beschützer der Menschen. Wir leben auf ihren steinernen Burgen und verfallen bei Tag zu Stein," erklärte er.


    Dario lächelte freundlich und sah dann an Kolbakurs Reaktion, dass sich dieser wohl Sorgen machte, dass er Probleme mit dem Menschen namens Abel bekommen könnte. Dario dachte noch nicht mal dran, dass mit dem Begriff "Morgen" nicht der Beginn der Nacht gemeint war, sondern der Beginn des Tages. Er ignorierte diese Aussage, aus seinem kindischen Verstand heraus und sagte: "Ach, dieser Abel ist kein Problem. Ich kenne viele Menschen. Sie mögen uns. Mein bester Freund war einst ein Mensch. Mein Schützlingggg...," sagte er und begann zu schluchzen. "Ich hätte alles für ihn getan."

  • „Also gibt es mehrere von deiner Sorte?“
    Kolbakurs Miene wurde nachdenklich.
    „Ja… ja, es gibt mehr Centauren auf Asamura. Doch ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Meine Eltern… sie haben mir erzählt, dass es in einem entfernten Winkel des Kontinents sogar noch wilde Centauren gibt. Sie leben nicht unter anderen Völkern, wie die Raktauren, die sich den Rakshanern angeschlossen haben. Die freie Natur ist ihr zu Hause.“


    Sein Blick wurde trüb, als er sich in eine andere Zeit versetzt fühlte. Damals war er kaum älter als der Gargoyle vor ihm gewesen. Seine Familie war eine Gruppe von Nomaden gewesen, welchen sich seine Eltern angeschlossen hatten. Sie waren viel gereist, hatten gehandelt. Er hatte viel gelacht und mit seinem Vater Wettrennen gemacht. Dann hatten alle in ihrer Arbeit innegehalten und beobachtet, wie die beiden mächtigen Kolosse dahin donnerten, so dass die Erde unter den tellergrossen Hufen vibrierte, Dreck und Steine hochgewirbelt wurden und der Staub sie in eine braune Wolke hüllte.
    Danach hatte seine Mutter die beiden Männer mit einem versteckten Lächeln getadelt, denn sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die völlig zerzausten und verknoteten Mähnen und Schweife ihrer beiden Liebsten wieder zu entwirren. Schliesslich wolle sie keine zwei verstrubbelten Fellponys in ihrer Familie haben, wie sie immer betonte, sondern stolze Raktauren.
    Kolbakur erinnerte sich an die zärtliche Geste, mit welcher sein Vater dann seiner Frau immer eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht geschoben hatte und ihr einen liebevollen Blick schenkte.
    Stolze Raktauren… und was war aus ihm geworden?


    Er seufzte schwer. Doch dann richtete er seinen Blick wieder auf den Kleinen und die düsteren Gedanken legten sich. Gerne hätte er das Kind zum Lachen gebracht. Es gab nichts Schöneres, als Kinderlachen!
    Tatsächlich röteten sich die Wangen des Gargoyles plötzlich und ein weiches Lächeln zog über sein Gesicht. „Mit dem Schicksal der Menschen verbunden?“
    Was mochte dies bedeuten? Waren die Gargoyles ebenfalls Sklaven der Menschen? Oder hatten sie ein Handelsbündnis geschlossen? Vielleicht zogen sie auch zusammen in den Krieg?


    Doch der Knirps war bereits weiter. Er schien etwas aus der Bahn geworfen, ob der Frage, woher die Gargoyles stammten. Kolbakur ächzte. Wie dumm von ihm. Ein kleines Kind interessierte sich vermutlich wenig für die Geschichte und Abstammung seines Volkes… er hätte es lieber fragen sollen, was es mit seinen Freunden so spielte.


    Die nächsten Worte verwirrten dafür jetzt den Centauren. Beschützer der Menschen, das konnte er nachvollziehen, denn aus eigener Erfahrung wusste er bereits, dass dieses Volk nicht das stärkste war und ohne Unterstützung wie ein Grashalm im Wind umknicken würde. Doch was meinte der kleine Gargoyle damit „und verfallen bei Tag zu Stein“?
    Ein Blick zum Fenster zeigte, dass in wenigen Stunden die Sonne aufgehen würde. Kolbakur hoffte sehr, dass er die Worte missverstanden und sie nicht wortwörtlich zu nehmen waren. Vielleicht ein Sinnbild? Doch wofür?


    Bevor er sich jedoch danach erkundigen konnte, erklärte ihm sein Gegenüber bereits, dass Menschen seine Freunde seien. Und dann geschah etwas, womit Kolbakur nicht gerechnet hatte – das Kind begann wieder zu schluchzen!
    Dicke Tränen kullerten über die gräulichen Wangen und hinterliessen glitzernde Spuren. Es zerriss dem älteren Centauren das Herz, den süssen Wonneproppen auf diese Weise zu sehen.


    Er streckte die Hand aus: „Oh, nicht weinen mein Kleiner. Es ist doch alles gut. Vielleicht können wir ja auch Freunde werden?“
    Bei der Wortwahl des Kindes ahnte er, dass eine Frage nach dem Verbleib des Menschenfreundes wohl einen noch grösseren Tränenschwall auslösen würde. So versuchte Kolbakur ihn auf andere Art abzulenken.
    „Du hast gesagt, dass du noch nie einen wie mich gesehen hast. Und auch ein Pferd wie Freya scheint dir noch nie begegnet zu sein. Komm doch her zu mir, wenn du magst, kannst du einmal mein Fell berühren. Es eignet sich wunderbar, um sich in kalten Wintern darin die Finger zu wärmen.“


    Er blickte den Gargoyle freundlich an und hoffte, dass eine kleine Geschichte über Pferde und Ritter ihn von seinen Sorgen ablenken würden.
    „Pferde wie Freya nutzen die Menschen für die Arbeit. Sie sind kräftig und können schwere Wagen oder den Pflug durch die Erde ziehen. Doch anderswo auf Asamura, dort wo der Krieg herrscht, werden Pferde von Rittern als Reittiere für den Kampf benutzt. Was Ritter sind, weisst du bestimmt, wenn du auf einer Burg lebst? Ausserdem gibt es manchmal auch Turniere, wo Ritter miteinander Wettkämpfe veranstalten. Sie wollen dann beweisen, wer von ihnen am besten kämpfen kann. Dann werden sowohl die Reiter als auch die Pferde geschmückt mit bunten Bändern. Die Zuschauer bejubeln sie und es gibt Ruhm und Ehre, wenn man im Wettkampf siegt.“

  • Dem sanften Riesen gelang es erneut Dario zu beruhigen.
    "Ich...ich...", stammelte Dario schüchtern, als Kolbakur ihm ein Freundschaftsangebot machte. Zwar war der Gargoyle neugierig und aufgeschlossen, doch auch sehr vorsichtig und nicht unbedingt so direkt zutraulich gegenüber neuen Leuten, weswegen er nichts weiter darauf erwiderte.


    Als Kolbakur Dario dazu ermutigte formte sich ein Lächeln auf der blauen Haut des Gargoyle. Er errötete leicht, als Dario feststellen musste, wie weich das Fell des Pferdemenschen war. "WUUUUAH!", freute sich Dario leicht euphorisch. Er ließ das Fell gar nicht mehr los und wünschte sich auch derartiges.


    "Ich will auch sowas!", jaulte der kleine Gargoyle.
    "Doch ich habe nur nackte, kalte Haut. Nicht mal fliegen kann ich richtig. Wir Gargoyles sind stark im Kampfe, aber schwach im Geiste. Ja, die Menschen halten uns für dumm. Ich glaube, ohne sie könnten wir nicht überleben," überlegte Dario laut.


    Kolbakurs Erzählung über Pferde und Ritter machte Dario neugierig.
    "Ruhm und Ehre".
    Dario fing an zu grübeln. Auch Mathis hatte einst so gedacht. Auch er hatte danach gestrebt ein großer Ritter zu werden. Schlachten wollte er kämpfen, und für die Almanen und für das heilige Kaisho Bündnis gegen große Feinde in den Krieg ziehen. Doch wohin hatte ihn diese Ehre gebracht? Diese Götter! Verflucht seien sie! Segira und Clawis! Sie sind Schuld am Tod meines Schützlings!, dachte sich der kleine Gargoyle.


    "Sag mir...", Dario suchte nach einem Namen für den Centauren, musste aber feststellen, dass er seinen Namen vergessen hatte und schaute beschämt auf den Boden. "...Freund," fügte er schnell hinzu.
    "Weißt du warum...?," fragte Dario, doch dann konnte er sich die Frage schon selbst beantworten.
    Seine Worte wurden etwas zusammenhangslos und hektisch, da Dario seine Sätze ungewollt im Geist vervollständigte.
    "Ja genau. Entschuldigung. Es wird bald Tag. Schau das Licht, ich werde bald zu Stein verfallen. Aber in der nächsten Tag werde ich wieder vollständig genesen sein. Wir Gargoyles sind zwar blöd, aber heilen sofort nach einem Tagesschlaf...ich muss jedoch", Dario wurde etwas nervös.
    "Kannst du meiner Mutter Bescheid sagen? Sie macht sich sonst Sorgen. ICh kann leider nicht mehr fort. Die Schmerzen sind weg, doch der Weg ist noch weit, ich schaffe es nicht mehr vor Sonnenaufgang. Ich...," Dario schaute erstaunt, als die ersten Sonnenstrahlen in die Stallung fielen.


    "Sie wohnt bei der Burg in..." erzählte er, als sich mitten im Satz seine Zellen verdichteten und seine Haut eine steinerne Form annahm, und der kleine Gargoyle sich leblos zu einer Statue verwandelte...

  • Kolbakur brummte zufrieden, als der kleine Gargoyle euphorisch durch sein Fell wuschelte. Die Klauen liessen die Berührungen einer angenehmen Massage gleich kommen, doch der Raktaure war sich sicher, dass sie auch gefährliche Waffen darstellen mochten.
    „Hmm, das Fell schützt vor der Kälte. Doch wenn ich im Sommer in der Hitze arbeiten muss, wünschte ich mir oft auch eine kühle Haut wie deine“, tröstete der Centaure seinen Besucher.
    „Und du kannst vielleicht nicht fliegen, aber ich habe gesehen, wie du kletterst! Ich komme nicht einmal einen Baum hinauf, geschweige denn kann ich kopfüber hängen.“


    Als der Gargoyle sein Volk als blöd bezeichnete, runzelte Kolbakur die Stirn.
    „Ich habe gelernt, dass es überall schlaue und doofe Wesen gibt.“
    Trotzdem überlegte der Centaure, ob an der Behauptung des Kleinen etwas dran sein konnte. Nun ja, man musste den Menschen schon lassen, dass sie ihre Schwächen zu verdeckten wussten. Für alles hatten sie eine Lösung. Fehlende Stärke machten sie mit kräftigen Sklaven oder Waffen wett, wenn sie bestimmte Güter nicht anbauen konnten, holten sie diese von anderen Völkern.
    Doch die Art und Weise gefiel Kolbakur nicht immer. Denn manchen Menschen reichte es nicht nur aus, Handel zu treiben, nein, sie raubten und führten Krieg, um an ihr Ziel zu gelangen.
    „Nun ja, ich sehe nichts Schlechtes dabei, ein Bündnis mit den Menschen einzugehen. Das beweist doch, dass ihr ganz schlaue Kerlchen seid, wenn ihr so das Überleben eures Volkes sichern könnt“, teilte Kolbakur seine Gedanken dem Gargoyle mit.


    Während er sprach bemerkte er, dass Dario immer unruhiger wurde. Seinen Worten fehlte der Zusammenhang und Kolbakur hatte Mühe, dem Kleinen zu folgen.
    „Ich werde wohl langsam alt“, dachte sich der Centaure und staunte ab den vielen Worten, die aus dem Kind hervorsprudelten.
    Erst als der Gargoyle Kolbakur darum bat, seiner Mutter Bescheid zu geben, bemerkte der Raktaure, dass wohl etwas nicht stimmte. Langsam drangen die Worte in seinen Geist ein.
    „Du wirst zu Stein?!“, das Entsetzten war dem Centauren anzusehen. Das konnte doch nicht wahr sein! War das Kind verflucht worden? War es eine ansteckende Krankheit?!


    „… ich schaffe es nicht mehr vor Sonnenaufgang. Ich… Sie wohnt bei der Burg in…“, dann brach die kindliche Stimme mitten im Satz ab und das Unglaubliche geschah.
    Kolbakur sprang erschrocken auf die Hufe, dass die Hütte zitterte und Staub von den Deckenbalken rieselte.
    „Was zum…?“
    Es war unheimlich still geworden in dem Stall. Von draussen erklang das Zwitschern der Vögel und dem alten Mann war bewusst, dass vermutlich bald Abel auftauchen würde, um ihn mit dem Stock zu züchtigen.
    „Er darf den Stein nicht sehen! Er würde sich fragen, wie er rein gekommen ist… Aber das weiss ich doch selber nicht… och jee, er würde bestimmt denken, dass ich ihn hereingeschleppt habe… vielleicht um ihm den Kopf einzuschlagen!“


    Unruhig trat Kolbakur von einem Huf auf den anderen und verwarf verzweifelt die Hände.
    „Der Stein muss raus aus meiner Box!“, entschied der Raktaure. Doch dafür müsste er sich dem Ding nähern, das vor kurzem noch ein süsser kleiner Junge gewesen war. So zwang er sich mit einem leichten Zittern Schritt für Schritt näher heran. Als sich jedoch nichts rührte, wurde er etwas mutiger. Mit einem der riesigen Vorderhufe stupste er die Statue an. Nix. Keine Bewegung. Nur ein dumpfes Geräusch.
    Kolbakur überlegte, dass er den Stein packen, und aus der Box werfen müsste. Seine Kette war zu kurz, als dass er ihn hätte vorsichtig abstellen können.
    Aus einem ihm unerfindlichen Grund schüttelte es den Centauren bei dem Gedanken, die Statue zu schmeissen.
    Seine Augen tasteten die Gestalt ab.
    Nachdenklich betrachtete er den steinernen Körper, der tatsächlich noch immer genau wie Dario aussah.
    „Hat der Kleine nicht zuvor bereits etwas erwähnt?“


    Kolbakur durchforstete seine Erinnerungen, doch das Alter hinterliess Spuren und er konnte die Worte des Kindes nicht mehr genau zusammensetzen. Wenn er jedoch genau überlegte, hatte der Kleine schon zuvor eine relativ raue und steinähnliche Haut gehabt. Und ein Menschenkind war es eindeutig nicht. Konnte es wirklich sein, dass ein Lebewesen sich zu Stein verwandelte?
    Nach einigem Hin und Her kam der Centaure zum Entschluss, dass es wohl so sein musste – auch wenn er noch nicht genau bestimmten konnte, ob es nun ein Fluch, eine Krankheit oder eine Laune der Götter war.
    Doch was nun?


    Im selben Augenblick wurde ihm die Entscheidung abgenommen, denn die Stalltür öffnete sich polternd und die gestiefelten Schritte von Abel erfüllten den Raum.
    „Auf die Beine ihr faulen stinkenden Viecher!“, dröhnte seine Stimme. Freya und der Ochse wurden nervös und unruhiges Schnauben ertönte.
    Abel hatte sich jedoch entschieden, zuerst mit dem Raktauren ein Hühnchen zu rupfen. So stapfte er mit einem fiesen Grinsen und seinem Stock in der Hand zu Kolbakurs Box herüber.
    „Alter Sack! Heut werd ich dir Beine machen. Bald muss der Hofherr Abgaben an die Burg liefern und bis dann muss das Feld beackert sein.“
    Er liess den Stock an die hölzerne Wand knallen, welche ihn und den Centauren voneinander trennten, doch Kolbakur zuckte nicht zusammen, denn er war sich diese Machspiele bereits gewohnt.


    Der Blick des Knechts glitt durch den Stall, schweifte über den mächtigen, schwarzen Körper und kam stockend an dem seltsam geformten Gegenstand am Boden zum Stehen.
    „Was bei allem Krötendreck ist das denn?“
    Kolbakur wollte sich vor die Statue stellen, doch Abel hatte sich bereits zu ihm in die Box gesellt und schlug mit dem Stock nach ihm.
    „Zurück mit dir Halbmensch!“


    Im Gegensatz zu Kolbakur wusste Abel sofort, worum es sich bei der Steinfigur handelte.
    „Na wie kommst denn du hierher“, ein gieriges Leuchten trat in seine Augen.
    „Was für ein Glückstag das doch für mich ist!“
    Der Centaure konnte nicht wissen, dass Abel sich gerade ausrechnete, wieviel er für den Gargoyle bei einem Schwarzhändler an Münzen einheimsen konnte, doch instinktiv spürte er, dass der Knecht keine guten Absichten hegte.


    Die letzten Worte des Kindes kamen dem schwarzen Riesen wieder in den Sinn. Er sollte seiner Mama Bescheid geben…
    Doch die Mutter würde ihn wohl kaum freudig empfangen, wenn sie wüsste, in welch mieser Gesellschaft Kolbakur den Kleinen zurückgelassen hatte.
    Während Abel davonstolperte, um dem Stalljungen den Auftrag zu erteilen, mit Kolbakur das Feld zu bestellen, während er mit Freya auf dem nahen Markt seinen Fund verhökern würde, reifte in dem Centauren ein Entschluss heran.
    Als Ludwig die Tür öffnete, um den Pferdemenschen zur Arbeit zu begleiten, passierte etwas, womit niemand gerechnet hatte.


    Plötzlich hielt Kolbakur den Stein im Arm und blickte düster auf den Jungen hinunter.
    „Geh mir bitte aus dem Weg“, warnte er den Knaben höflich vor. Spätestens als Kolbakur sich in Bewegung setzte, mit einem kräftigen Ruck seiner Hand die Kette von der Wand losriss und dazu ansetzte, aus der Tür zu laufen, sprang auch Ludwig zur Seite.
    Der Centaure hielt Dario schützend mit beiden Armen umschlossen, während die Eisenkette, die noch immer an seinem Halsreif baumelte unsanft gegen den kräftigen Körper schlug und laut rasselte.
    Anfangs ging der Centaure beinahe gemächlich, doch als er laute Schreie hörte und sah, wie Abel seinen Stock schwingend hinter ihm herrannte, trabte er los.


    Das schlechte Gewissen plagte ihn, doch versuchte er sich einzureden, dass er bloss den Kleinen heil zu seinen Eltern bringen wolle, um danach wieder als Sklave seinen Dienst auf dem Hof fortzusetzen. Er hatte kein Auge für die grünen Wiesen und Wälder, das blaue Himmelszelt und das Zwitschtern der Vögel. Er zermarterte sich stattdessen den Kopf darüber, ob er das Richtige getan hatte. Eindeutig ziemte es sich für einen Sklaven nicht, sich in die Angelegenheiten seiner Herrschaften einzumischen.
    Dass er niemals wieder zu Abel, Freya und dem Ochsen zurückkehren würde, hätte Kolbakur bestimmt erschreckt und konnte er nicht einmal ahnen. Doch nach einigen Stunden wusste er zumindest, dass sein Vorhaben gar nicht so einfach war – denn er hatte sich bereits in den Weiten des Fürstentums verlaufen.

  • Es wurde Abend und wieder dunkel. Wie durch Magie lichtete sich die Gargoyle Statue und einzelne Steinbrocken fielen von ihr ab. Man hörte ein tiefes, zufriedenes Brummen, welches von Dario ausging. Der Kleine hatte sich ausgeschlafen. Sämtliche Verletzungen der Nacht zuvor waren verschwunden. Er war wieder fit und wie neu geboren.


    Man sah, wie sich die Glieder der Gargoyles zu regen begannen. Einen Augenblick später löste sich auch das Stein von Darios Augen. Seine Augen blintzelten und und das charakteristische Schwarz in seinen Augen wurde sichtbar. Kurz konnte man etwas Bedrohliches in seinen Augen erkennen, etwas Geheimnisvolles und Gefährliches, was alle Gargoyles tief in sich drinnen hatten. Doch nach ein paar Augenblicken normalisierte sich Darios Pupille wieder und er sprach:


    "Hallo, jemand da? Wo bin ich?", gegenwärtig befand sich der Kleine ganz allein. Man hatte ihn unter einer alten Eiche untergestellt und schon fing Dario an zu rätseln, was passiert war. Seine letzte Erinnerung an der gestrigen Nacht war, dass er bei dem Centauren gewesen war, ehe er zu Stein verfallen war. Doch warum hatte sich der Centaure nicht an sein Wort gehalten? Wo war die Burg? Wo war er nun?
    Dario sorgte sich ziemlich und fing an zu zittern.
    Seltsame Klänge des Waldes ertönen. Für den Gargoyle beunruhigende Laute, da er nicht im Wald aufwuchs und diese ganzen Dinge nicht wirklich kannte.


    "Hallo? Freund?", Dario war verzweifelt. Er hatte ihn im Stich gelassen.
    Vor Verzweiflung und weil Dario nicht weiter wusste, fing er an zu weinen. Er schluchzte fast eine Stunde, doch Kolbakur kam nicht zurück. Erst jetzt fing Dario an zu handeln. Vielleicht war ihm was passiert?
    Der Kleine entschloss sich auf den höchsten Baum in der Nähe zu klettern und sich von dort aus Überblick über die Landschaft zu schaffen.


    Als er oben angekommen war reichte sein Blick bis tief in das Herzogtum hinein, aufgrund der hervorragenden gargoylischen Sehkraft. Doch das Gebiet, wo sich der Gargoyle befand war ihm völlig unbekannt.
    Mama, wird sich zu Tode ängstigen, wurde Dario schlagartig bewusst.
    Was war wohl Kolbakur zugestoßen? Freund geht es dir gut?, fragte er sich.

  • Nach langem Herumirren hatte Kolbakur sich entschieden, unter einer mächtigen Eiche auszuruhen. Behutsam hatte er die kleine Statue, in der so viel mehr steckte, ins weiche Gras gelegt.
    Die Kette um seinen Hals rasselte und schreckte zwei Krähen auf, als er sich neben dem Gargoyle niederliess. Nachdenklich betrachtete er die Landschaft, die ihn umgab. Weite Wiesen erstreckten sich um ihn herum und vereinzelte Baumgruppierungen waren die Vorboten ausufernder Wälder. Dazwischen schlängelte sich ein Flusslauf hindurch, der in den letzten sonnigen Stunden des Tages wie ein Versprechen glitzerte.
    Kolbakur staunte ab der Schönheit, die sich ihm bot.
    Wann hatte er zuletzt einen solchen Ausblick geniessen dürfen?
    Er nahm sich vor, das Bild in sich aufzunehmen, um es, zurück bei Abel, immer wieder aus seinen Erinnerungen hervorrufen zu können.


    Eine Zeit lang sass er einfach nur da und lauschte dem Singen der Vögel. Als er jedoch einen Adler hoch oben seine Kreise ziehen sah, überkam ihn eine tiefe Sehnsucht.
    Vorsichtig schielte er zu Dario hinüber, doch der Gargoyle hatte sich nicht gerührt.
    Nur ganz kurz… er würde gleich wieder da sein…
    Schwerfällig erhob sich der Centaure. Seine Hufe hinterliessen tellergrosse Abdrücke in der weichen Erde, als er sich in Bewegung setzte. Erst langsam, beinahe behäbig, dann zügiger, so dass der Boden zu vibrieren schien und schliesslich flog er in vollem Galopp über die Ebene hinweg.
    Anfangs fühlten sich seine Gliedmassen noch wie Fremdkörper an, die sich diese Freiheit nicht gewohnt waren. Keine vollbeladenen Karren, keinen Pflug musste er ziehen. Er kam sich plötzlich unheimlich leicht vor, und das obwohl er mehr als eine Tonne auf die Waage brachte. Nur das unablässige Klirren der Kette erinnerte an sein eigentliches Leben.


    Erst als seine Beine unter der ungewohnten Leistung zu brennen begannen und sein schwarzes Fell vom Schweiss glänzte, verfiel er unwillig in einen holprigen Trab. Am Fluss ging er erschöpft in die Knie, um mit seinen Händen Wasser zu schöpfen. Er war ja so durstig!
    Die letzten Sonnenstrahlen blinzelten ihm zu, als er sich wieder an Dario erinnerte.
    Oh nein! Ich habe den Kleinen glatt vergessen!
    Unheimliche Schuld wischte jedes gute Gefühl beiseite. Zum Glück waren die Spuren noch deutlich zu erkennen und so konnte er ihnen in zügigem Tempo zurückfolgen.


    Als er jedoch die alte Eiche erreichte… war der Gargoyle verschwunden. Erschrocken suchte er den Baum ab, denn er hatte ja bereits gesehen, wie gut der kleine Wicht klettern konnte. Doch ausser ein paar Steinkrumen am Boden, war nichts von dem Kind übriggeblieben.
    Als er sich umwandte, sah er in einiger Entfernung ein Feuer brennen. Unsicher blickte Kolbakur sich um, doch in der aufkommenden Dunkelheit konnte er den Kleinen nicht finden.
    Wie hatte er den Kleinen nur hierlassen können. So ganz alleine! Was hatte er sich bloss dabei gedacht. Er hatte bestimmt grosse Angst so alleine im Dunkeln!
    „Kleiner? Wo steckst du?“, rief der Centaure vorsichtig.


    Kolbakur trat unruhig von einem Huf auf den anderen, was so gar nicht seine Art war.
    Vielleicht hat er dort unten Schutz gesucht?
    Da er keine andere Idee hatte, wo sich das Kind aufhalten könnte, schritt er dem Lagerfeuer entgegen. Vielleicht konnte ihm dort jemand Auskunft erteilen.


    „Hast du etwas verloren?“, rief ihm da eine gefährlich klingende Stimme von hinten zu, bevor er auch nur den Schein des Lichts betreten konnte.
    Kolbakur blieb wie angewurzelt stehen.
    „Geh weiter, wir wollen unseren unerwarteten Gast doch gern genauer betrachten!“, raunte der Kerl. Der versklavte Centaure war es sich gewohnt, Befehle zu befolgen und trat folgsam in den Lichtkreis hinein.
    Grinsend blickten ihm die Männer aus ihren unrasierten Gesichtern entgegen. An ihren Seiten hingen lange Säbel und Dolche.


    „Also, was bringt einen Halbmenschen um diese Zeit dazu, alleine hier herumzuirren? Dies ist nicht die Route, wo deine Herde durchzieht.“
    Einer der grossgewachsenen Kerle spuckte neben sich auf den Boden, ein anderer kratzte sich beherzt am Hintern.
    „Na schaut, was hat der denn um den Hals?“, ein anderer deutete auf Kolbakurs Kette, die ihn als Sklaven auswies.
    „Bist wohl ein Entflohener, was?“, grunzte der Erste.
    „Ich suche einen Freund“, murmelte der alte Centaure.
    „Ah, einen Freund. Dann bist du hier genau richtig! Wir sind alles deine Freunde. Auch wir sind Geächtete, so wie du!“, der scheinbare Anführer näherte sich Kolbakur und streckte ihm schliesslich kameradschaftlich die Hand entgegen.
    „Sei willkommen bei uns, Halbmensch!“, der gutmütige Riese schüttelte unbeholfen die schmutzige Hand des Mannes, während er das hinterhältige Grinsen auf den Gesichtern der Bande einfach übersah.

  • Darios scharfer Blick ging flink aber dabei gleichezeitig sorgfältig von links nach rechts, während er im Mondlicht durch die Nacht gleitete.
    Der Kleine war zwar noch kein ausgewachsener Gargoyle und hatte noch nicht die wahre Kampfstärke und Körpergröße seines Volkes erreicht, doch seine Gleit- und Kletterfähigkeiten waren ausgezeichnet geschult.


    Vorsichtig durchstreifte er die Lüfte und versuchte dabei jeden Aufwind zu nutzen, der sich ihm bot, damit er länger in der Luft blieb. In der Ferne erblickte er einen Flusslauf nicht weit, dahinter ein endloses grünes Land silbern schimmernd im Mondlicht. Die bedrohlichen Bäume, die Vorboten des Waldes, beunruhigten den Kleinen eher.
    Er hatte viele schreckliche Geschichten von den Kreaturen des Waldes gehört. Riesige Spinnen, Monster mit drei Köpfen, gehörnte dämonische Fledermäuse. Doch es galt einen Freund zu helfen! Es gab keine Ausreden! Dario war sicher, dass Kolbakur in Schwierigkeiten war, also wagte er sich in den Wald und glitt durch die Bäume hindurch.


    Als er eine stämmige Kiefer erreichte, um sich auf der Spitze des Baumes auszuruhen, erblickte Dario zu seiner Verwunderung direkt unter ihm ein Lagerfeuer. Mit seinen guten Ohren konnte er zwar nicht wahrnehmen, was sie sagten, doch vom Stimmfall und der Tonhöhe konnte er identifizieren, dass sich die Personen unten ruhig unterhielten. Dario entschied von der Spitze des Baumes hinunterzuklettern, um die Lage beobachten und besser einschätzen zu können. Während er sich anfangs noch etwas ungeschickt anstellte, da der kleine Gargoyle sonst nie herunterklettern musste, entdeckte er schnell Spaß daran. Spielerisch sprang er von Baum zu Baum. Breitete immer wieder seine Flügel aus und japste glücklich dabei.


    Er vergaß sich völlig und dass er eigentlich vorgehabt hatte den Baum vorsichtig hinunterzuklettern, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Es machte ihm einfach zu viel Spaß! Er macht sich einfach keine Gedanken und machte aus dem Ganzen ein Spiel. Einmal rutschte er sogar aus, doch wie ein Akrobat konnte er sich mit einem Bein am Baum hochziehen und lachte glücklich dabei, als er es überlebte.


    Währenddessen wurden die Gestalten unten etwas aufgeregter und lauter. Doch Dario nahm das nicht wirklich wahr. Er war vollkommen in seinem Element, machte Flugkunststücke und fühlte sich lebendig.
    Gerade balancierte er an einem Ast in schwindelerregender Höhe, als plötzlich unten ein Schrei ertönte und Dario in seinem Spiel unterbrochen und zurück zur Realität befördert wurde. Gerade mal ein paar Meter von ihm entfernt erkannte er Kolbakur in der Menge und nicht unweit von ihm einen blutbefleckten Menschen, der reglos am Boden kauerte.
    Verwirrt sprang Dario zum nächsten Ast, welcher etwa noch immer 3 m Abstand zum Boden hatte und schrie zu Kolbakur aufgeregt:


    "Heh, was ist los? Wir müssen hier weg!"
    Dario hatte nicht wirklich Ahnung, warum er das sagte. Doch die Menschen schienen nicht freundlich gestimmt zu sein. Ihre grimmigen Fressen und ihre gezogenen Waffen sprachen Worte. "Los, los!," schrie der Gargoyle.
    "Lauf Richtung Osten, da ist eine Schneise. Ich habs von oben gesehen. Du kannst schnell durch!"


    Dario beförderte sich geschickt in Sicherheit, in dem er zum nächsten Baum sprang und von dort aus nach oben kletterte. Was in aller Welt war nur los?

  • Kolbakur war genauso überrascht worden von dem plötzlichen Tod des Mannes wie die anderen Kerle. Im nächsten Moment brach auch schon der Tumult los.
    „Ein Hinterhalt, der Halbmensch hat uns verraten!“
    Die Männer hatten ihre Waffen gezogen, wussten jedoch nicht, wo sie den nächsten Angriff zu vermuten hatten.
    Im nächsten Augenblick flogen Pfeile zwischen den Bäumen hervor und trafen einen weiteren Räuber am Bein.
    Kolbakur stand da wie angegossen, die Augen schreckgeweitet und die Hände zu Fäusten geballt.


    Als plötzlich einer der vermeintlichen Freunde mit einem Schwert begann vor ihm herumzufuchteln, stand die Welt für den Centauren Kopf. Er hatte doch gar nichts getan.
    Wollten sie ihn etwa verantwortlich machen für den Überfall?
    Denn so einer war es offensichtlich. Aus den Bäumen stürmten plötzlich Männer hervor mit Dolchen und Lanzen, um sich brüllend auf die Rotte zu werfen.
    „Wir müssen hier weg!“, hörte er da plötzlich eine bekannte Stimme rufen.
    „Lauf Richtung Osten, da ist eine Schneise.“


    Der Kleine war hier!
    Kolbakur kümmerte sich nicht weiter um den Bandenkrieg, rempelte einen Mann zur Seite, als er den genannten Weg einschlug.
    Während er los lief, hielt er Ausschau nach dem Gargoyle und meinte einen dunklen Schatten über sich in den Bäumen zu erkennen. Erleichtert lief er weiter und entfernte sich zunehmend von dem Schein des Feuers und dem blutigen Schauplatz.
    Bald umgab ihn wieder die Stille der Nacht und er blieb schwer atmend stehen.
    So viel galoppieren an einem einzigen Tag, dafür waren seine schweren Glieder nicht gemacht.


    „Ich bin froh, dass du mich gefunden hast“, brummelte er Dario zu, während er versuchte zur Ruhe zu kommen. Die schwarze Brust hob und senkte sich unter den kräftigen Atemzügen wie ein Blasebalg.
    „Tut mir Leid, dass ich nicht mehr da war. Ich hatte nur vor, kurz etwas zu laufen, und als ich dann zurück kam, warst du fort. Ich habe mich sehr gesorgt um dich, kleiner Freund!“
    Kolbakur hoffte, dass der Gargoyle ihm nicht allzu böse war. Er nahm sich fest vor, sein Versprechen zu erfüllen, um das Kind doch noch nach Hause zu bringen. Diese Welt war nichts für unschuldige Wesen.
    "Du hast sehr gute Augen! Ich hätte Dich nicht gesehen in der völligen Dunkelheit", lobte er Dario.
    "Erkennst du denn etwas wieder? Ich war noch nie in dieser Gegend hier"

  • Dario hang kopfüber an einem Ast, als Kolbakur in einem tosenden Galopp ankam. Ihm schien die ganze Aufregung Spaß gemacht zu haben, denn er grinste breit und freute sich. "Das war lustig!," sagte er, als Kolbakur mit ihm sprach.
    Er hatte schon ganz vergessen, dass Kolbakur ihn allein gelassen hatte. Ohnehin war er nicht nachtragend. "Weg? Asoooooo," Dario lächelte.
    Er schwang sich, wie ein Turner am Ast nach oben, und landete dann heldenhaft auf seinen Pranken. "Nicht schlimm. Ich kam zurecht! Siehst du?"


    Kaum waren sie in Sicherheit hatte Dario wieder ein Haufen Fragen.
    "Was waren das für Menschen? Waren das deine Freunde? Aber warum griffen sie dich an? Musst du nichts essen? Ich hab Hunger."
    Kolbakurs Kompliment, wegen seinen guten Augen nahm er zur Kenntnis. Stolz erhob sich seine Brust ein wenig, als Kolbakur ihn lobte.


    "Keine Ahnung, wo wir sind. Ich war hier noch nie! Aber lass uns einfach gucken. Ich hab Hunger. Vielleicht finden wir ein paar Menschen in der Nähe".
    Dario sprang herunter vom Ast und tapste neben Kolbakur, als sie sich in Bewegung setzten. Ein Gargoyle war vollkommen abhängig von der Versorgung durch Menschen. Das Jagen hatten die Gargoyles schon längst verlernt. Dass man Früchte, Beeren oder Pflanzen in der Wildnis essen konnte, war Dario auch nicht bekannt. Er wollte nur so schnell, wie möglich zu einem Menschen, damit er ihm Essen geben konnte.
    "Wir müssen bald einen Menschen finden...," sagte Dario in einem bestimmenden Tonfall.

  • Der dunkelhäutige Raktaure ging behäbig neben dem kleinen Gargoyle her, der artig vorantapste. Kolbakur war erleichtert, dass ihnen offensichtlich niemand gefolgt war und hatte sich in der Zwischenzeit beruhigt.
    Stattdessen spürte er nun umso mehr die Müdigkeit in seinen alten Gliedern und zwischendurch blieb er mit seinen tellergrossen Hufen an einer hervorstehenden Wurzel hängen oder stolperte wegen einer Mulde im Boden.
    „Nein, diese Menschen waren keine Freunde. Sie waren böse auf mich. Aber ich habe nicht verstanden, weshalb. Die Menschen sind nicht immer einfach zu begreifen“, beantwortete der Centaure Darios Frage.


    Inzwischen umgab sie die Dunkelheit wie ein Vorhang und der Ältere blieb erschöpft stehen.
    „Tatsächlich bin ich ebenfalls hungrig. Und vor Allem müde. Ausserdem kann ich kaum den Boden vor den Füssen erkennen. Meine Augen sind nicht so toll wie die Deinen. Wir sollten uns einen Moment schlafen legen“, meinte er schliesslich in der Logik eines Tagwesens und versuchte gleichzeitig einen geeigneten Platz dafür auszumachen.
    „Kannst Du einen Ort sehen, wo wir uns etwas ausruhen können? Meine Beine fühlen sich schwer wie Stein an – oh, Verzeihung, das war nicht als Beleidigung gedacht“, entschuldigte sich Kolbakur sogleich etwas konfus, als er sich daran erinnerte, dass der kleine Wicht vor nicht allzu langer Zeit noch zu einer Statue erstarrt war.
    Dario wirkte hingegen alles andere als müde, schwang sich zwischendurch an den Ästen in die Höhe und landete sogleich wieder behäbig neben seinem Begleiter, weshalb der Ältere sich doch noch zum Weitergehen aufraffte.


    „Was… ähm… magst Du denn essen, Kleiner?“, fragte der Raktaure plötzlich, da ihm bewusst wurde, dass das Kind womöglich nicht mit einigen saftigen Gräsern zufrieden zu stellen wäre.
    „Tagsüber könnte ich vielleicht einige Beeren finden. Doch dafür musst Du Dich etwas gedulden, momentan fühle ich mich blind wie ein Maulwurf.“
    Da der Gargoyle jedoch so erpicht darauf war, zu den Menschen zu gelangen, vermutete der Raktaure, dass er sie als seine Freunde betrachtete. Vielleicht war das gar nicht so schlecht und sie konnten von ihnen Nahrungsmittel bekommen und womöglich kannten sie auch den Weg zu Darios zu Hause.
    Daran, dass sie dem seltsamen Paar wohl kaum ihre Vorräte opfern würden oder den mächtigen Centauren mit dem eisernen Ring um den Hals, der ihn als Sklaven auswies, mit Misstrauen beäugen könnten, dachte er dabei nicht.


    Gleichzeitig erinnerte er sich an Abel und an die Peitschenhiebe, die er für sein Fortlaufen bekäme. Nun, er würde seine Bestrafung hinnehmen, das wäre es ihm wert, wenn dafür der Kleine wieder sicher bei seiner Familie verbliebe.
    „Ich hoffe, dass ich danach den Rückweg wieder finde“, murmelte Kolbakur leicht besorgt, schob den Gedanken jedoch wieder beiseite als er in der Entfernung das Heulen eines Wolfes hörte. Leicht beunruhigt trat er von einem Huf auf den anderen und versuchte die Dunkelheit mit seinen Augen zu durchdringen.
    „Ich bin nicht für Wälder gemacht“, brummte der Raktaure, als ihm ein tiefer Ast ins Gesicht schlug und er erschrocken einen Satz zurückmachte und sich mit den Armen zu verteidigen suchte.
    „Pause. Ich benötige eine Pause!“, seufzte er schliesslich und liess sich schwer atmend und ungelenk wo er stand zu Boden sinken.
    „Nur ein kurzes Schläfchen…“

  • Dario war froh gelaunt. Fast schon euphorisch. Brav tapste er neben Kolbakur, wobei ihm das schnell zu langweilig, weswegen er immer wieder nach vorne rannte, oder sich in den Wäldern versteckte, um Kolbakur zu erschrecken, oder ihn zu motivieren fangen mit ihm zu spielen.
    Der alte Centaure schien aber übermüdet zu sein, worauf Dario aber nicht reagierte. Er hatte seinen Spaß. Sprang nun von Baum zu Baum in schwindelerregenden Höhen, aber landete immer wieder sicher auf dem Boden.
    "Hast du gesehen wie weit ich gesprungen bin?," meinte er stolz.


    "Ich esse, das was die Menschen uns geben. Das ist immer was Anderes! Die Menschen sind nett. Beeren? Ja, das wäre nicht schlecht."


    "Du kannst doch noch nicht schlapp machen," sagte er zu Kolbakur, als dieser begann träge zu werden und sich auf den Boden niederließ. "Die Nacht hat doch gerade erst angefangen!"
    "Schau!"
    Dario riss die Augen weit auf und zog eine Grimasse.
    "Schläfst du schon?"
    Er klopfte auf seinem Kopf mit seinen harten Knochen, bestimmt tat das weh, obwohl Dario dies nicht beabscihtigt hatte. Ungeduldig haute er leicht auf seine Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
    "Guck mal, was ich kann", freute sich Dario. Er versuchte einen Handstand, brach aber dabei zusammen.
    "Ich schwör dir. Letztes Mal hats geklappt!"


    Dario schaute verärgert, als der alte Centaure nicht reagierte. Er saß etwa 10 Minuten brav an seiner Seite und wartete in der Hoffnung er würde gleich aufstehen. 10 Minuten Pause müssten doch reichen, dachte sich der Kleine. Dabei irrte er sich aber, denn Kolba schlief ein. Eine tiefe, flache Atmung und die geschlossenen Augen ließen darauf zurückschließen.


    Kritisch beäugte Dario ihn und begann wieder an Kolbas Fell zu spielen und es zu streicheln. Ihn faszinierte das sehr. Sowas derart Weiches hatte er noch nie gesehen. Es musste bestimmt cool sein, sowas immer bei sich zu haben! Ich würde mich immer selbst streicheln und gar keine Zeit mehr für andere Sachen haben, überlegte er.
    "Alles gut. Ich werde was zu essen besorgen, Freund!", sagte er. Es war eine relative kühle Sommernacht. Dario kam nicht wirklich auf die Idee ein Lager aufzuschlagen, ein Feuer zu entfachen oder einen sicheren Schlafplatz für Kolba zu suchen. Er ließ ihn einfach auf dem Waldweg liegen und tapste los. Auf dem Weg nach was zu essen.
    Lautloses Heranschleichen durch den Wald gehörte nicht gerade zu den Stärken des Volkes der Gargoyles. Ihre schweren Schritte konnten Tiere noch aus weiter Entfernung wahrnehmen. Aber dafür konnten die Gargoyles ja schnell auf Bäume klettern. Eine Stärke, die die Centauren nicht hatten. Im Grunde genommen waren Centauren noch weniger selbstständig als das Volk der Gargoyles. In freier Natur konnten sie unmöglich alleine überleben. Nur als Teil eines Rudels, oder eben unter Obhut der Menschen.


    Unterwegs fand er tatsächlich ein paar Beeren. Sofort aß er alle auf, ohne an Kolbakur zu denken. Zu groß war sein Hunger, denn Gargoyles brauchten viel Nahrung. Sie waren Allesfresser, konnten sogar Aas fressen, denn ihre Mägen konnten alles verdauen. Sogar Gras konnten die Mägen der Gargoyles verwerten. Drum plückte Dario allerhand Grünzeug.


    Erst jetzt nach so langer Zeit machte sich Dario wieder Sorgen. Was würde denn seine Mutter denken? Sie würde sich zu Tode ängstigen! Verdammt ich muss schnell nach Hause, sonst gibts Ärger! Während er durch die Gegend lief, malte er sich aus, wie das Gespräch zwischen ihm und seinen Eltern ausgehen würden. Und was er sagen würde. Er übte schon mal seine Worte. Im Geiste sah er ein kleines Drama auf sich zukommen.
    Als er plötzlich wieder realisierte, wo er war und die Orientierung verloren hatte. Links oder rechts? Wie oft war er links gegangen? Von wo kam er nochmal?
    Habe ich den Hügel schon mal gesehen?
    "Hallo?", fragte er auf der Hoffnung irgendwer würde antworten. Doch nichts passierte. Stattdessen fokussierte sich nun seine Wahrnehmung auf die Umgebung. Das Rascheln in den Bäumen, die seltsamen Tierlaute, Knacksen von Ästen, ein einfacher Uhu Laut ließ ihn sofort seine Abwehrhaltung einnehmen.
    "Zeig dich, du Monster!," rief Dario tapferer, als er erwartet hatte. Angespannt knurrte er, während er auf seinen Vieren stand und seine Krallen ausfuhr. "Vater hat mir genug vom Kämpfen gezeigt. Wir Gargoyles sind Kämpfer. Wir beschützen die Menschen!", sagte er stolz, aber auch etwas ängstlich in seiner Stimme. Als nichts passierte, richtete er sich wieder auf die Vorderbeine und schaute hektisch umher.
    Er hatte keine Ahnung, wo er war.


    Leise begann er zu schluchzen. In seiner Verzweiflung wurde er aber immer lauter und weinte minutenlang. Als er plötzlich ein Wolfsheulen hörte, reagierte er panisch. Das Essen warf er sofort auf den Boden, er kletterte auf einen Baum und sprang hastig von Baumkuppe zu Baumkuppe. Mit schlotternden Knieen bibberte er oben, während er nach einiger Zeit oben sitzend, plötzlich ein Licht aufflackern sah. Irgendein Bauer kam mit seinen Hunden und seinen Söhnen aus dem Haus und trat in seinen Hof, um sich vor den Wölfen zu verteidigen, die eine Schafsherde angefallen hatten.


    Menschen!, dachte sich Dario.
    Er machte sich sofort auf den Weg zu ihnen.

  • Kolbakur erwachte noch vor dem ersten Sonnenstrahl, denn als Sklave hatte man von ihm erwartet früh mit der Arbeit anzufangen und da wurde auch keine Rücksicht auf sein Alter genommen.
    Im Wald war es beinahe so dunkel wie in der Scheune, so dass der Raktaure einen Moment lang keinen Anhaltspunkt hatte, wo er sich befand. Doch die Erinnerungen kehrten rasch wieder, als der kühlen Boden abtastete, das leise Rascheln der Bäume vernahm und der vertraute Geruch von Stroh und Tierleibern durch neue Düfte abgelöst wurde.
    „Kleiner? Bist du hier irgendwo? Dario?“, fragte er schliesslich und seine Augen tasteten an den dunklen Schemen der Baumstämme und Felsbrocken entlang. Er kam jedoch schnell zum Schluss, dass der Gargoyle nicht anwesend war, denn das Stillsitzen gehörte nicht zu seinen Stärken. Bestimmt hätte er sich längst bewegt und sich somit zu erkennen gegeben.


    Der alte Raktaure seufzte. Er sollte sich wohl wieder auf die Suche begeben. Aber vielleicht wäre es besser, die ersten Sonnenstrahlen abzuwarten. Dann war die Chance grösser, dass er Dario nicht übersah und gleichzeitig konnte ihm der kleine Wicht nicht gleich wieder entwischen.
    Doch einfach rumsitzen konnte der ehemalige Sklave auch nicht. Da meldete sich jedoch auch schon sein Bauch mit einem mahnenden Knurren.
    Kolbakur nickte zufrieden. Er würde zuerst nach Essbarem suchen. Wenn es sein musste, würde er auch Knospen und junge Blätter verspeisen, denn sein Magen war sich rare Kost gewohnt. Obwohl Raktauren für gewöhnlich kaum Gräser und Blätter verspeisten, hatten Abel und sein Herr darauf keine Rücksicht genommen. Nun kam ihm dieser Umstand zu Gute.


    Eine Stunde später hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Der Wald wurde lichter, denn der Raktaure hatte sich auf seiner Suche nach Beeren immer weiter an den Waldrand begeben. Kolbakur erfreute sich an der Schönheit des Waldes. Ein leichter Nebel hing zwischen den Bäumen und tauchte sie in ein schummriges Licht. Die Vögel hatten zu singen begonnen und einmal erblickte er sogar ein Reh.
    Sen Bauch war nun fürs Erste ruhiggestellt und so wollte er jetzt nach Dario Ausschau halten.
    „Kleiner? Wo steckst du?“, immer wieder rief er seinen Namen.
    Er ging am Saum des Waldes entlang, wo er mit seiner Grösse besser zurechtkam als Mitten in dem Gewirr aus Ästen.
    Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und rieb sich die Augen. Doch die Erscheinung verschwand nicht einfach.


    Etwas von ihm entfernt, auf einem einsamen Findling, hockte eine Statue. Kolbakur erkannte seinen Fehler jedoch rasch, als die steinerne Figur ein paar kleinere Flügel abspreizte, sie kritisch betrachtete, missbilligend das Gesicht verzog und sie wieder eng an den Körper anlegte. Während der Raktaure sich dem Gargoyle näherte, testete dieser gerade verschiedenste Sitzpositionen aus.
    „Guten Tag!“, grüsste der mächtige Raktaure und blieb einige Meter vor dem Wesen stehen.
    Der Gargoyle, in seinem Tun unterbrochen, zuckte erschrocken zusammen. Schnell hatte er sich jedoch wieder gefasst und blickte Kolbakur majestätisch an.
    „Wer wagt es, sich Cologne zu nähern? Sprich Fremder!“


    Kolbakur betrachtete neugierig die Erscheinung. Dieser Gargoyle sah ganz anders aus als sein Schützling. Er hatte den Körper einer etwas dünn geratenen Raubkatze. Seine Füsse waren mit langen klauenähnlichen Krallen besetzt, die ihm das Klettern ermöglichen mussten. Den Löwenschweif hatte er sich um eines der sehnigen Vorderbeine gewickelt.
    Seinen Hals fand Kolbakur etwas lang bemessen, darauf thronte ein ziegenähnlicher Kopf.
    Zwei kleine Flügel, die im Umfang nicht viel grösser als das Haupt sein mochten, rundeten die zusammengewürfelte Gestalt ab.
    „Ich bin Kolbakur. Ich wollte dich nicht erschrecken. Das tut mir Leid. Mein Freund Dario ist verschwunden und nun suche ich nach ihm. Er ist nämlich auch ein Gargoyle wie du. Vielleicht hast du ihn ja gesehen? Er ähnelt einem Menschenkind. Bloss mit Flügeln… die sind etwas grösser als deine, wenn ich mich richtig erinnere.“
    „Pah, Cologne erschrickt sich nie. Ich bin schliesslich ein gefährlicher und mächtiger Gargoyle!“
    Er hörte dem Raktauren zu, als jedoch der Vergleich mit seinen Flügeln erfolgte, verzog sich seine Miene missmutig.
    „Meine Schwingen sind so gut wie die jedes anderen auch!“, beleidigt wandte er sich von Kolbakur ab, indem er ihm den Rücken zukehrte.
    „Ich kann dir nicht helfen, der Morgen naht und ich muss noch eine gute Sitzposition finden.“


    Irritiert starrte der Raktaure ihn an. Hatte er den Gargoyle etwa beleidigt?
    Während er darüber sinnierte, warum er so unhöflich abgefertigt wurde, bemerkte er, dass dies keineswegs der ursprüngliche Platz des Findlings sein konnte. Eine tiefe Furche in der Erde gefolgt von Klauenabdrücken zeigte den Pfad an, den der Stein offensichtlich hergerollt worden war.
    „Du musst mächtig stark sein, wenn du den Felsbrocken alleine hierhergeschafft hast“, meinte Kolbakur ehrlich beeindruckt.
    Sogleich zuckte der Ziegenkopf herum und seine Augen blitzten vor Stolz.
    „Ja, ist das so? Nun… da ich Löwe und Drache in mir vereine, muss es wohl so sein!“
    Kolbakur stutzte einen Moment bis er begriff, dass der lange Hals und das zugehörige Haupt mit den zwei Hörnchen, der langen Nase und den bartähnlichen Haaren an einen Drachen erinnern sollten.
    Er war besonnen genug, sich einen entsprechenden Kommentar zu verkneifen. Zu seinem Glück, denn der Gargoyle schien ihm wieder wohl gesonnen zu sein.
    „Ich denke, dass ich deinen kleinen Freund womöglich gesehen habe. Er schien verängstigt zu sein und hat mich einfach übersehen. Aber ich verzeihe es ihm, da er noch ein Kind ist. Er war unterwegs zu…“


    In diesem Moment traf ein Lichtstrahl den Leib des Gargoyles. Eine Sekunde lang war sein Blick voller Empörung als er realisierte, dass er noch nicht in der majestätischen Position verharrte, die ihm gebührte. Dann erlosch das Leuchten seiner Augen bereits und er erstarrte zu Stein.
    „Nein, sag mir wo er hin ist“, Kolbakur schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Das durfte doch nicht wahr sein…


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