Die Nacht des Blutes [Oneshot]

  • Die Nacht des Blutes
    Naridien.
    29.11.188 nach der Asche.


    Brandur war, als würde er etwas spüren. Als wäre da ein Unwetter, das heraufzog, dabei hatten die Priester nichts Entsprechendes vorausgesagt. Brandur spürte genau, dass da etwas war, seine Träume kündeten davon. Er fühlte sich unwohl und wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, als er mitten in der Nacht noch einmal von seinem Schlafgemach aufstand. Ohne einen Blick auf seine schlafende Frau zu werfen, zog er seine feinen Stoffpantoffeln über die Füße und trat auf den dunklen Flur des Herrenhauses. Es war still, niemand sonst war unterwegs, weder von den Mitgliedern seiner Familie noch von der Dienerschaft.
    Nathaniel, sein Leibdiener, bemerkte, dass er aufgestanden war und kam aus der Kammer, die gleich an das Schlafzimmer der Herrschaften grenzte. Ohne ihn anzusprechen half er Brandur in den Morgenmantel und folgte ihm schweigend mit der Öllampe auf seiner Wanderung. Wenn Brandur nachts durch die Gänge streifte, wollte er keine menschlichen Worte vernehmen und auch niemanden sehen, so dass sein Diener sich nach Möglichkeit außerhalb seines Blickfeldes hielt. Jeder der von Hohenfeldes hatte endlos viele Marotten und des Nachts herumzuirren war eine von Brandurs.
    Die Gänge des Herrenhauses waren ein endloses Labyrinth aus Dunkelheit, mit leeren Rüstungen aus verschiedenen Zeitepochen an den Wänden und nur sehr vereinzelt brennenden Lampen. Zwischen jeder Lichtinsel lag ein Fluss von Schwärze.
    Brandur folgte dem schmalen, blutroten Teppich, ohne das Ziel zu kennen, die Augen starr geradeaus gerichtet, ohne wirklich etwas zu sehen. Die Realität wurde überlagert von einer Traumwelt. Die Gänge wurden zu Waldwegen, die sich bald als schmale, himmelshohe Brücken durch die Wolken schwangen. Niemand außer ihm war hier, der Blick in alle Richtungen endlos und die warme Luft duftete nach Sommer.
    Das Haus veränderte sich um ihn herum, ohne dass er es bewusst wahrnahm, denn diese Erscheinungen waren ihm vertraut. Es verschob dumpf grollend wie ein im Schlaf knurrendes Untier seine Wände und man sagte, dass es lebte.
    Brandur ließ sich von ihm führen, von einem Gang zum nächsten, ließ es seine Schritte lenken, dieses sein zu Hause, sein Gefängnis und von dem uralten Geheimnis leiten, das niemand verstand.
    Wie ein Schlafwandler ließ er sich treiben, bis er auf einem der Balkone stand. Hier erwachte er. Er zwinkerte einige Male, um sich zu sammeln und zurück in die Realität zu gelangen. Etwas verwirrt schaute er sich um. Statt Sommer war Winter, statt Mittag war es Mitternacht. Er konnte sich an den Weg hier hier nicht mehr erinnern. Die zahllosen dünnen Narben auf seinem Kreuz brannten, zwiebelten und stachen. Er fasste in seinen Morgenmantel und unter das Nachthemd und betrachtete seine Fingerspitzen, um sich zu vergewissern, dass er kein Blut auf dem Rücken hatte, sondern dies nur die üblichen Erinnerungsschmerzen waren, die ihn in Nächten wie diesen heimsuchten und vor denen sein Verstand in andere Sphären floh.
    Der Vollmond schien viel zu hell, er blendete ihn regelrecht. Wie eine riesige leuchtende Scheibe hing er über dem verschneiten Anwesen. Unter ihm an der Mauer rauschte der Fluss, der Eisschollen führte. Die Kälte drang durch seine dünne Kleidung.
    Als Brandur sich vom Licht abwandte, um wieder in das Haus zu gehen, bewegte sich im Dunkel ein Schatten hinter der offenen Balkontür. Die Augen Nathaniels, der noch immer die Öllampe hielt, weiteten sich ungläubig, ehe sie starr wurden. Ein schlanker Degen schoss aus seiner Brust und verschwand ebenso rasch wieder darin. Der Diener fiel.
    Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, hatte Brandur ihm die Öllampe aus der Hand gerissen und schleuderte sie nach dem Angreifer. Augenblicklich war alle Müdigkeit und Verträumtheit fort, seine Sinne geschärft und sein Wille fokussiert. Als Adliger war er in der Kunst des Kämpfens von klein auf geschult worden.
    Der Angreifer wich dem Wurfgeschoss mit dem Oberkörper aus und grinste. Die Lampe zerschellte neben ihm an der Wand und das brennende Öl ergoss sich über sein grinsendes Gesicht. Kreischend und um sich schlagend ließ er den Degen fallen, den Brandur rasch an sich nahm. Mit zwei kurzen Tritten in die Luft befreite Brandur sich von seinen feinen Stoffpantoffeln, die wirbelnd davonflogen. Die Gefahr, dass er in ihnen stolperte, war zu groß. Aus der Ferne hörte er Schreie. Er verzichtete darauf, dem brennenden Mann den Todesstoß zu versetzen, denn das würde ihn wertvolle Augenblicke kosten, und rannte in den finsteren Gang.
    Einer seiner Brüder hatte den Krieg um die Erbfolge eröffnet, nur eine Nacht, bevor er es selbst getan hätte. Brandur rannte mit wehendem Morgenmantel durch das Labyrinth. Vor der nächsten Abbiegung schob eine Wand sich langsam von der Seite in den Gang. Er beschleunigte sein Rennen, um den schmaler werdenden Spalt noch zu erreichen, doch kurz bevor er ankam, schloss sich Stein auf Stein. Er prallte dagegen, stieß sich wieder ab und rannte den Weg zurück, den er gerade gekommen war, um eine andere Abzweigung zu finden. Nun fuhr am Ende des Ganges, dort, wo die nächste Kreuzung war, von unten eine Wand hinauf, ganz so, als ob die Bosheit ihres Vaters, vom Blut geweckt, zusammen mit dem Herrenhaus erwachte, um seine Söhne darin einzusperren, bis sie sich gegenseitig abgeschlachtet hätten.
    Mit einem Hechtsprung flog Brandur durch den schmalen Spalt, machte eine Rolle und kam wieder auf die Füße. Den Degen hielt er noch immer fest in der Hand. Die an der Wand stehenden Ritterrüstungen klapperten, das gesamte Haus erzitterte, Stein knirschte. Alles schien sich irgendwie zu bewegen und von oben rieselte es aus den Fugen. Die Schreie um Hilfe waren durch die zahllosen Wände gedämpft, doch Brandur erkannte sie. Es war das Kindermädchen seines ältesten Sohnes und das seiner Leibwachen, die sie zu schützen versuchten. Brandur hastete weiter, um zu ihnen zu gelangen, doch immer, wenn er einen Gang nehmen wollte, der ihn näher an seine Familie brachte, fuhr eine Wand heraus und versperrte ihm den Weg. Da war der nächste Abzweig, doch er war nicht leer. Darin polterten die Schritte einer rennenden Personengruppe.
    Brandur hielt an und presste sich mit dem Rücken flach neben einer Ritterrüstung an die Wand. Die Truppe bewaffneter Männer rannte an ihm vorbei, dem letzten stach Brandur von hinten den Degen ins Kreuz. Er kannte ihn, der Kerl gehörte zu Dunwin. Offenbar suchten sie in kleinen Gruppen das Labyrinth nach ihm ab und nach anderen, die womöglich dem Anschlag entkommen waren. Die Männer rannten weiter, im Lärm ihrer eigenen Schritte hatten sie das Aufschlagen des Körpers ihres Kameraden nicht gehört. Brandur sprang über ihn hinweg. Er war 48 Jahre alt und nicht mehr so schnell und wendig wie früher, doch er war gut trainiert und wusste mit einem Degen durchaus umzugehen.
    Er holte auf und mit wenigen Stichen hatte er drei weitere Männer erledigt. Nur noch einer blieb übrig. Der fuhr mit gezogenem Degen herum. Als Brandur nach ihm stach, parierte er, lenkte die Klinge um und der Stich traf ins Leere. Mehr als das, sein Gegner lenkte die Bewegung fließend in einen Gegenangriff um und Brandur konnte nur mit Mühe verhindern, selbst erstochen zu werden. Sein Gegner trieb ihn mit mehreren Hieben rückwärts und Brandur erkannte im matten Licht ein vertrautes Bewegungsmuster.
    »Archibald«, zischte er wütend.
    »Oh, guten Abend«, erwiderte sein Gegner und parierte eine weitere Attacke mit lockeren Bewegungen. Brandur holte zu stark aus. Kreischend fuhr sein Degen über die steinerne Wand, Funken stoben und erhellten für einen Augenblick das Gesicht seines Gegenübers, der seine spitz gefeilten Zähne in einem verzerrten Grinsen zeigte. Dann erloschen die Funken und das Lächeln. Archibald hieb mit doppelter Geschwindigkeit auf ihn ein. Brandur parierte mehrmals und erkannte dabei, dass er auf Dauer keine Chance hatte. Wenn er hierblieb, würde dieser Kampf in wenigen Augenblicken sein Ende besiegeln.
    Nach der letzten Parade sprintete er davon. Im Finsteren hatte er gegen diesen Gegner keine Chance. Doch hatte Brandur bemerkt, dass Archibald eine kurze Pause eingelegt hatte, als die Funken gestoben waren und sein Grinsen schien eher dazu gedacht gewesen zu sein, die schmerzverzerrte Grimasse zu verbergen, zu der sein Gesicht geworden war.
    Brandur musste irgendwie ins Licht kommen!
    Im Rennen strich er mit den Fingerspitzen an der Wand entlang, um sich in den dunklen Abschnitten zu orientieren. Er stieß mit der Hand an eine Rüstung, packte zu und warf sie hinter sich um.
    Das Poltern und Fluchen verriet ihm, dass Archibald darüber stürzte.
    »Ich krieg dich, Hexer«, brüllte der Schwertmeister.
    Anhand seines Gegners und der Betonung, dass er ein Hexenmeister war, erkannte Brandur nun eindeutig, wer hinter dem Angriff auf seine Familie steckte. Archibald war ebenso ein Purie wie Dunwin.
    Da war die Tür zum Balkon! Brandur beschleunigte seinen Sprint und rettete sich nach draußen. Schwer atmend stand er da, den grell leuchtenden Vollmond im Rücken. Sein Atem verursachte weiße Wolken. Er starrte mit kampfbereit erhobenem Degen auf die Tür. Er war nicht mehr allein. Das Mondlicht spiegelte sich einen Moment lang in Archibalds Augen, dann trat der Schwertmeister zurück in den Schatten, der seit jeher sein Metier war.
    »Ich kann warten«, knurrte Archibald. »Ich habe Zeit. Und du?«
    Der sonst so beherrschte Brandur blickte panisch in Richtung der kleinen, schießschartenartigen Fenster, die entlang des großen Kastenbaus verliefen. Die Schreie, die daraus drangen, veränderten sich. Dies waren nicht mehr die Stimmen von Erwachsenen.
    »Ich war gerade auf dem Weg zu deinen Kindern«, sprach Archibalds Stimme aus den Schatten. »Ich hoffe, sie lassen mir noch etwas von ihnen übrig. Dunwin hatte es mir eigentlich versprochen.«
    »Du krankes Schwein«, brüllte Brandur mit überschlagender Stimme. »Lass meine Kinder da raus! Es geht nur um uns drei, um Dunwin, Kunwolf und mich!«
    »Du weißt so gut wie ich, dass das nicht der Wahrheit entspricht. Es geht um die Erbfolge. Zwei von drei Linien werden heute Nacht ihr Ende finden. Und eine von ihnen ist die deine. Hör nur, wie sie schreien. Ist das jetzt dein Sohn oder deine Tochter? Sie klingen so gleich.«
    Nur mühsam konnte Brandur den Impuls, seinen Degen in die Schatten zu schleudern, unterdrücken. Der Schwertmeister würde ihn abwehren und die Waffe an sich nehmen. Brandur blickte hektisch in alle Richtungen, auch abwärts, an der mauerartigen Balkonbrüstung hinab. Steil und tief, von hier aus gab es keinen Weg hinab. Keine Möglichkeit, seine Familie über eine andere Tür zu erreichen und das Schlimmste vielleicht noch einmal abzuwenden.
    »Er versteckt sich auf dem Balkon«, sprach Archibald zu jemand anderem. Eine zweite Person trat aus dem Dunkel an ihm vorbei ins Vollmondlicht. Dunwins Schwert war bis zum Heft getränkt von Blut und er war in voller Kampfmontur. Er machte eine kleine, zuckende Bewegung aus dem Handgelenk und das Blut spritzte als langer Streifen auf den Stein. Der dünne Eisfilm auf dem Boden schmolz. Es war noch warm.
    »Du bist der Letzte, Brand. Deine Familie ist tot. Ein würdiger Abschluss, ein Schmankerl zum Schluss. Komm her und tritt deinem Ende entgegen. Tut mir leid, Archi. Ich konnte nicht auf deine Ankunft warten. Sicher ist sicher. Es darf kein Erben außerhalb von meiner Linie überleben.«
    Ein enttäuschtes Schnauben drang aus dem Dunkel. Brandur spürte, wie aller Lebenswille ihn bei diesen Worten verließ. Seine Degenspitze sank ein Stück hinab. Dunwin sprach noch immer mit Archibald.
    »Wenn wir hier fertig sind, statte doch zum Ausgleich einfach meinen Söhnen einen Besuch ab und erteile ihnen eine Lehrstunde«, schlug Dunwin vor, ohne dabei Brandur aus den Augen zu lassen. »Am Ende wird es nicht die Magie sein, die über Sieg oder Niederlage entscheidet, sondern das Schwert. Bring ihnen das bei. Sie sind genau so wertlos wie jede andere dieser Missgeburten. Ihre Magie macht sie nicht zu etwas Besserem. Lehre sie das, Archibald. Lehre sie, was Angst vor einem Purie ist.«
    Archibald verneigte sich und im nächsten Augenblick griff Dunwin seinen Bruder an. Ihre Klingen trafen sich vor dem Vollmond, wirbelten gemeinsam herum, trennten sich wieder, schlugen erneut aufeinander. Brandur parierte, ripostierte, attackierte, so gut er konnte. Zunächst sah es gar nicht schlecht aus für ihn. Dunwin musste ihm nach hinten ausweichen, hüpfte auf die Mauer des Balkons und tänzelte rückwärts. Brandur setzte nach und hieb nach seinen Füßen. Dunwin machte einen eleganten Satz darüber hinweg, sprang und landete auf dem Flachdach. Dann rannte er fort.
    Dieser Feigling!
    Brandur sprang folgte ihm über die Mauer auf den Kastenbau. Dunwin schien zu straucheln, fiel auf ein Knie und er holte ihn bald ein. Den Sippenmörder, denjenigen, der Archibald entfesslt hatte. Dunwin, die schlimmste Brut, die Alastair je hervorgebracht hatte! Brandur würde ihm ein Ende bereiten, jetzt und hier.
    »Wo ist Kunwof?« Brandurs Stimme war ganz ruhig, als er vor dem knienden Dunwin stand. Er war ihm gefolgt, um ihn zu töten und er würde es zu Ende bringen. Er kannte die Antwort, doch er wollte sie aus dem Mund dieses Scheusals hören. »Wo ist unser ältester Bruder?«
    Dunwin lachte, drückte das Bein durch und stand auf einmal wieder sicher auf beiden Füßen. Das Straucheln, die Flucht - nichts als eine weitere Finte. Er stellte sich vor ihn hin und sah ihm furchtlos und ohne die Spur von Reue in die Augen.
    »Tot, so wie du auch gleich!«, erwiderte Dunwin und trat Brandur noch bevor er den Satz beendet hatte in den ungeschützten Bauch.
    Brandur war zu langsam. Er bekam den Tritt ab, bevor er seine Bauchmuskulatur anspannen konnte. Der Fuß quetschte seine Eingeweide bis fast zur Wirbelsäule. Ein Schwall von Mageninhalt wurde in Brandurs Mund und Nase gedrückt, er erbrach sich, hustete und sah die Klinge auf seine Brust zurasen. Im letzten Augenblick drehte er sich zur Seite und riss den Arm nach oben. Der Degen fuhr unter seiner Achselhöhle hindurch, schnitt durch Morgenmantel und Nachthemd und zerteilte seine Muskeln bis auf die Knochen. Er spürte, wie die Klinge über seine Rippen fuhr.
    Sein Schwertarm war damit unbrauchbar. Rasch wechselte er die Waffe in die andere Hand, während er den Schwertarm angewinkelt gegen seine blutende Flanke presste.
    Dunwin brüllte vor Zorn. Wütend stach er nun nach der Kehle seines Bruders. Brandur versuchte, sich zu verteidigen. Doch mit dem linken Arm war er nicht halb so gut wie mit dem rechten und selbst mit seinem Schwertarm war er den Fechtkünsten seines Bruders nicht gewachsen. Dunwin hatte nie auf Magie zurückgreifen können, sondern sich stets auf seinen Körper verlassen müssen. Er war der beste Fechter ihrer Dynastie, ein hervorragender Krieger und weder seine Brüder noch sonstwer hatte ihm je in ihren zahlreichen Übungskämpfen ernsthaft zusetzen können, nicht einmal Archibald. Je länger der Kampf dauerte, umso mehr wurde Brandur bewusst, dass sein Tod unausweichlich war. Die schwere Verletzung und die Anstrengung forderten ihren Tribut.
    Doch er hatte noch einen letzten Trumpf. Wenn sein älterer Bruder tot war, konnte er ihn beschwören. Es würde sich zeigen, ob es wirklich das Schwert war, dem der Sieg gehörte.
    ›Kunwolf‹, rief er gedanklich und tastete im Nexus nach der vertrauten Präsenz. Er spürte ihn, völlig verstört. Ja, er war tot. Kunwolfs Geist hatte noch nicht einmal richtig begriffen, was geschehen war und wurde schon wieder zurück in die Welt der Lebenden gezerrt. ›Hilf mir, Bruder!‹, sprach Brandur eindringlich. ›Dunwin ist uns zuvor gekommen, er hat die Nacht des Blutes selbst eingeläutet. Unsere Familien sind tot, nur noch ich bin übrig und ich bin verletzt! Hilf mir, dieses Schwein mitzunehmen, ihn mit mir in den Tod zu reißen! Schinde mir noch ein paar Minuten heraus, bis er erschöpft genug ist, als dass ich ihm den finalen Stoß versetzen kann!‹
    ›Ich bin kein guter Schwertkämpfer‹, erwiderte Kunwulfs Geist zögerlich.
    ›So wenig wie ich, Bruder. Lass es uns gemeinsam versuchen, es ist unsere letzte Chance, diesen Wahnsinnigen in den Abgrund zu befördern! Lass uns unsere Familien rächen und dann gehen wir gemeinsam in die Große Dunkelheit ein.‹
    Brandur spürte, wie die vertraute Kälte des beschworenen Geistes sich um ihn legte wie ein Mantel aus Eis. Dann sank Kunwolf in ihn hinein und es war, als würde das Gehirn des Hexenmeisters gefrieren.
    Dunwin wich ein paar Schritte zurück, als er das blaue Leuchten sah, das von Brandur ausging. Das erste Mal in dieser Nacht spiegelte sich Angst in dem Gesicht des jüngsten der drei Brüder.
    »Es ist Kunwolf«, keuchte Dunwin. »Du hast Kunwolf gerufen!«
    Brandur schlug die Augen auf. Sie leuchteten grellblau in der Nacht.
    »Wir bringen dich um«, sprach der Hexer nun mit doppelter Stimme. Dann preschte er vorwärts.
    Ihre aufeinanderprallenden Degen klangen wie die Schläge eines Schmiedehammers. Der Kampf verlief so schnell, dass man ihm kaum mit bloßem Auge folgen konnte. Funken sprühten. Brandur spürte, dass sie nun in der selben Liga kämpften. Zwei mittelmäßige Fechter in einem gemeinsamen Körper standen gegen einen einzelnen sehr guten Mann. Es war wie ein Tanz des Todes, bei dem die Führung sich abwechselte. Mal jagte der Hexer seinen Gegner über das Dach, dann war es umgekehrt. Sie drehten sich, ihre Klingen blitzen im Mondlicht und ein Funkenregen ergoss sich über Brandurs Gesicht. Dunwins Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Brandur konnte mehrere Treffer landen, doch verhinderte Dunwins Rüstung, dass die Treffer tödlich verliefen. Sie verursachten bestenfalls einige oberflächliche Schnitte. Und irgendwann spürte Brandur, dass er endgültig ermüdete. Körper und Geist hatten sich bis zum Äußersten verausgabt.
    ›Kunwolf.‹
    ›Ja?‹
    ›Ich kann nicht mehr. Du musst diesen Kampf allein übernehmen.‹
    ›Was?! Allein habe ich keine Chance! Halt noch ein wenig durch! Auch er muss irgendwann müde werden. Ich helfe dir!‹
    ›Es ist vorbei. Ich bin am Ende, Bruder.‹
    ›Nein! Reiß dich zusammen, komm schon! Noch ein bisschen!‹
    Brandur spürte, wie Kunwolf all sein Können zusammennahm, um seinen erschöpften Körper zu führen. Brandur taumelte herum, wurde durch die Gegend gezogen wie eine Marionette. Einige Hiebe lang vermochte Kunwolf noch, Dunwin standzuhalten. Dann trat er mit Brandurs Körper fehl.
    Brandur rutschte dem nackten Fuß auf dem Eisfilm des Daches aus. Dunwin nutzte die Gelegenheit, verpasste ihm einen weiteren Tritt in den Bauch und Brandur stürzte. Doch er prallte nicht auf dem Dach auf.
    Er fiel weiter.
    Brandur riss den Mund auf zu einem stummen Schrei, als ihm bewusst wurde, dass er gerade rücklings vom Dach stürzte. Er sah seine Hände vor sich, die ins Nichts griffen, den wirbelnden Degen, den er losgelassen hatte, seine nackten, strampelnden Füße und seinen wehenden Morgenmantel, unter dem weiß das Nachthemd hervor flatterte. Und darüber, auf der Dachkante stehend, die dunkle Silhouette Dunwins.
    Brandur spürte von unten einen heftigen Schlag gegen seinen Rücken, eiskalt umschloss ihn das Wasser des Flusses. Der Hexenmeister verschwand in einem Wirbel von Luftblasen und ging darin unter. Der Fluss riss ihn mit sich, Brandur, den Bruder, Vater, Ehemann, Onkel, Geliebten, wirbelte ihn herum, schlug ihn gegen Steine und Baumstämme und zerrte ihn über das kiesige Bett, ehe er das Bewusstsein verlor.


    Als er erwachte, lag er auf einem steinigen Ufer. Es roch nach verfaultem Schlamm und nach Frost. Die Morgensonne war schon aufgegangen, doch sie hatte seine gefrorenen Ärmel nicht aufgetaut. Brandur stützte sich auf die Unterarme, seine eisüberzogenen Kleider knisterten. Vor Kälte waren seine Gliedmaßen steif und gefühllos wie Holz. Es dauerte lange, ehe er auf allen vieren stand und noch länger, ehe er, kreideweiß, aufrecht stand.
    Das Herrenhaus war von hier aus nicht zu sehen. Er musste weit fortgespült worden sein. Vermutlich feierte man den Sieg und wollte später nach seiner Leiche suchen. Kunwolfs Geist war fort und Brandur zu schwach, um ihn erneut zu beschwören. Er war vollständig allein. Ihm wurde bewusst, dass alle, die ihm je etwas bedeutet hatten, seit letzter Nacht tot waren. Bis auf Dunwin.
    Brandur begann am ganzen Körper zu schlottern. Sein Körper nahm den Kampf auf, obwohl seine Seele sich so starr und tot anfühlte wie seine Füße.
    Er blickte flussaufwärts, wo hinter den kahlen Bäumen, weit entfernt, irgendwo das Herrenhaus lag, in dem er geboren worden war und in dem er das Martyrium seiner Kindheit verbracht hatte. Den Ort, von dem er und seine Brüder so oft versucht hatten, zu fliehen, damals als Freunde, bis sie zu alt dafür waren und ihren Platz in der blutigen Geschichte der Familie von Hohenfelde einnahmen.
    Steifbeinig, jeden Schritt einzeln setzend und unter extremen Schmerzen stapfte Brandur barfuß durch das gefrorene Gras. In seinem Rücken war irgendetwas kaputt. Er konnte nur winzige Schritte machen und jede Erschütterung fuhr wie ein Blitz seine Wirbelsäule hinauf. Doch für Brandur hatte dies keine Bedeutung.
    Seine Augen waren glasig. Erneut war es ihm, als würde er dies alles träumen, als wäre er ein Schlafwandler, der durch einen Alptraum wandeln muss, ohne je erwachen zu können. Nie zuvor hatte er sich so tot gefühlt. Da war nichts mehr.
    Den Blick entrückt, die Wahrnehmung in weiter Ferne, bewegte er sich mechanisch fort von dem Ort, an dem Brandur von Hohenfelde gestorben war.