Ein Lächeln für Chirag [Oneshot]

  • Ein Lächeln für Chirag


    Das triste und graue Winterwetter war genau nach Chirag de Duponts Geschmack. Es hatte tagelang geregnet, nirgendwo lag Schnee. Das letzte Haus in der abgelegenen Miethüttensiedlung, in dem er für das Wochenende eingezogen war, lag umgeben von einer Wüstenei aus verschlammter Wiese und leerstehenden Weidegattern. Der einsame kahle Baum im verwahrlosten Garten knarrte düster vor dem mit dicken Vorhängen verdunkelten Fenster. In dieser Hütte konnte Chirag in Ruhe seinen tiefschwarzen Gedanken nachhängen, über den nicht vorhandenen Sinn des Lebens nachdenken und abwägen, ob das Ende aller Dinge gleichzusetzen war mit allumfassender Erlösung oder nur einen weiteren Aspekt der omnipräsenten Hoffnungslosigkeit darstellte, die man gemeinhin Leben nannte.


    Mit derlei Überlegungen im Kopf und einem Glas extrabitteren Schwarzweins in der Hand auf dem Sofa sitzend, schwelgte er gerade in tiefster Melancholie, als ein hartes Klopfen an der Tür ihn unterbrach. Er ignorierte es. Doch als es über einen unangenehm langen Zeitraum anhielt und eine nur allzu vertraute Stimme rief: „Ich weiß, dass du da drin bist!“ fühlte er sich schlussendlich doch gezwungen, sie zu öffnen, um möglichst bald wieder seine Ruhe zu haben. Sein Plan sah vor, sie einen Spalt breit zu öffnen, mit einem Auge hinauszulinsen und den Gast mit dem Hinweis auf seinen unpässlichen Zustand zum Abgrund zu jagen.


    Er hatte gerade die Klinke heruntergedrückt, als ihm die Tür aus der Hand geschlagen wurde, an die Wand knallte und Damir mit dem strahlendsten Lächeln vor ihm stand, braungebrannt und vor Vitalität und Lebensfreude nur so übersprudelnd.
    „Wusste ich`s doch, dass du es bist“, verkündete er und schob sich an Chirag vorbei in den einzigen Raum. „Wie der Zufall es will, habe ich die Hütte nebenan gemietet. Zufälle gibt`s, die gibt`s gar nicht! Toll, was? Hast du was zu trinken?“
    Chirag beobachtete mit trübem Blick, wie der Rakshaner zum Fenster ging, die Gardinen aufriss und es öffnete. Frische Luft und leiser Vogelgesang drangen von draußen herein, zusammen mit einem Sonnenstrahl, den die verräterische graue Wolkendecke soeben freigegeben hatte. „Die Luft riecht nach Frühling“, verkündete Damir. „Wir wollten eine Frühjahrswanderung unternehmen. Am besten, du begleitest uns, dann musst du hier nicht so allein in der Hütte hocken.“
    „Wer ist wir?“, fragte Chirag und ahnte Schlimmes. Er nahm sein Weinglas, umklammerte es schutzsuchend und setzte sich mitten auf das kleine Sofa, damit rechts und links von ihm zu wenig Platz war, als das sich noch jemand dazusetzen könnte.


    Damir tat es trotzdem.


    Er quetschte sich auf Chirags linke Seite, nahm die offene Weinflasche und trank einen Schluck. „Uhäää, das schmeckt wie vergammelter Seetang.“
    Chirag sparte sich die Frage, woher der Rakshaner diese Geschmacksrichtung kannte. Ihm fiel auf, dass er vergessen hatte, die Tür wieder zu schließen und erhielt prompt die Rechnung. Eine voluminöse Silhouette tauchte darin auf, klopfte an den Türrahmen und trat ein, ohne auf die Aufforderung zu warten.


    „Mann, du hattest Recht“, rief Holzi fröhlich. „Er ist es wirklich!“
    „Sag ich doch. Wer sonst sollte mit zugezogenen Vorhängen das Wochenende in einer einsamen Hütte verbringen?“
    Holzi quetschte seinen Hintern in den schmalen Spalt, der zwischen Chirag und der Armlehne noch frei war. Kaum hatte er sein massiges Gewicht vollständig auf dem Polster niedergelassen, sank das Sofa auf dieser Seite ein und die Sitzfläche geriet in Schieflage. Holzi rutschte gegen die Armlehne, Chirag rutschte gegen Holzi und Damir rutschte gegen Chirag, so dass dieser zwischen den beiden eingequetscht wurde.


    Es klopfte ein weiteres Mal.
    „Bleib bloß draußen, egal wer da ist“, rief Chirag. „Ich empfange keinen Besuch!“
    Ein rotbeschopfter Kopf schob sich rein. „Nicht? Mir war so, als hätte ich … ah, ihr seid hier!“ Jesper trat ein und Damir streckte ihm gut gelaunt die Weinflasche entgegen. Jesper kostete und schüttelte sich. „Uhäää, das schmeckt wie Ghulkotze. Was macht ihr drei hier eigentlich?“
    Noch bevor Chirag antworten konnte, erklärte Damir: „Holzi und ich haben uns eine Hütte in dieser Siedlung gemietet, weil wir eine Frühjahrswanderung unternehmen wollen. Chirag kommt auch mit.“
    „Fabelhaft“, rief Jesper. „Archi, Merna und ich sind zwei Hütten weiter. Wir wollten uns ein gemütliches Wochenende zu dritt machen, aber zu sechst ist es auch schön.“
    „Bewahre“, stöhnte Chirag gequält und schon kam Merna herein.
    Die muskulöse Naridierin gab Jesper einen Kuss und umarmte jeden, der sonst noch anwesend war, inklusive des unfreiwilligen Gastgebers, der sich stocksteif machte, um sein Missfallen nonverbal auszudrücken.
    „Schön, euch alle zu sehen“, fand Merna. „Wartet, ich hole Archi.“


    Wenig später kam sie wieder zur Tür herein, rückwärts diesmal, das eine Ende eines Sofas in der Hand. Sie ächzte und rangierte und stieß dabei an den Türrahmen, aus dem kleine Splitter herausbrachen, ehe sie und Archibald das Sofa in die kleine Hütte manövriert hatten. Sie stellten es dem anderen Sofa gegenüber und das neu hinzugekommene Trio machte es sich darauf gemütlich. Ein lebhaftes Gespräch begann und die Schwarzweinflasche wurde unter vielen Uhäääs herumgereicht.


    Chirag konnte nicht anders, er brach in Tränen aus. Fürsorglich legte Holzi ihm seinen unwahrscheinlich schweren Arm um die Schulter, was es auch nicht besser machte.
    „Wartet, ich weiß was“, rief Damir.
    Das Trio gegenüber zog zeitgleich den Kopf zwischen die Schultern und hielt sich die Ohren zu. Und sie sollten mit ihrer Befürchtung recht behalten.


    Damir brachte seine Knochenflöte zu Tage und begann rakshanische Volksmusik zu spielen. Angelockt von der markanten Kakophonie betraten zwei weitere Personen die kleine Hütte, die schon jetzt hoffnungslos überfüllt war.
    „Schatz, man hört dich noch drei Hütten weiter!“, beschwerte Alrun sich.
    Damir hörte auf zu spielen.
    „Ich hab Chirag ein Ständchen gespielt. Der Ärmste war todunglücklich zu dem Zeitpunkt, als wir hier eintrafen. Kein Wunder, er war ganz allein. Aber wir muntern ihn wieder auf.“
    „Oh, das ist süß von dir“, schmachtete Alrun, trat ein und setzte sich bei Damir auf den Schoß. Das Sofa sank nun zur anderen Seite ein, Chirag rutschte gegen Damir und Holzi rutschte gegen Chirag.
    „Er hat schon eine viel gesündere Gesichtsfarbe“, fand Jesper. „Vorhin war er blass, jetzt bekommt er langsam rote Wangen.“
    Chirag wäre vor aufgestauter Wut und Verzweiflung am liebsten geplatzt, doch leider verfügte er nicht über die entsprechenden anatomischen Anlagen dazu.


    Jetzt begannen Damir und Alrun auch noch zu knutschen. „Ich bekomme ein Baby“, schmachtete sie dem Rakshaner ins Ohr. Das gesamte Kollektiv brach in Freudengeschrei aus. Merna sprang auf.
    „Das muss ich gleich Sunja, Farhild, Luitgard und Brijesh erzählen. Sie wohnen vier Hütten weiter, stellt euch nur vor! Alrun bekommt ein Baby! Ich glaube es nicht!“
    Sie eilte hinaus und kam mit dem Viererpack wieder. Jeder von ihnen trug irgendetwas: Einen Stuhl, etwas zu Essen, etwas zu Trinken, Rauchstangen und weiteres Zubehör zum Feiern. Alrun und Damir wurden umarmt und man gratulierte ihnen aufs Herzlichste. Chirag, der direkt daneben saß, bekam all den emotionalen Schwulst ungefiltert ab und wurde bei den Umarmungen andauernd gestreift. Seine Mundwinkel sanken immer weiter hinab. Dieser Tag war der absolute Tiefpunkt seines Lebens. Fehlte nur noch, dass der Chef auftauchte.


    Hufgetrappel näherte sich. „Nein“, brüllte Chirag und sprang auf. „Jetzt ist Schluss!“
    Die Neigung des Sofasa änderte sich, Damir und Alrun rutschten johlend gegen Holzi. Chirag stürmte zur Tür und knallte sie schnell zu. Er schob den Riegel vor, drehte den Schlüssel mehrfach herum und stemmte sich rückwärts gegen das Holz. Sein Gesicht spiegelte grimmigen Triumph wieder.
    Draußen hörte man, wie jemand vom Pferd stieg. Zaumzeug klirrte. Chirag legte den Zeigefinger auf die Lippen und blickte eindringlich in die Runde. Alle verstummten. Er würde einfach so tun, als ob niemand zu Hause war und dann würde dieser weitere Gast irgedwann wieder verschwinden.


    „Was macht ihr denn hier?“, fragte Dunwin durch das offene Fenster.
    Chirag spürte, wie seine Knie weich wurden.
    „Wir machen eine Chirag-Aufmunterungs-Feier und danach eine ausgedehnte Frühlingswanderung, um das Erwachen der Natur zu begrüßen“, erklärte Damir aus seiner Schräglage.
    Archibald stand von dem anderen Sofa auf, reichte Dunwin die Hand und half ihm durchs Fenster. Der Chef der Truppe war – natürlich – nicht allein, Harro kletterte ihm hinterher.


    Chirag ließ sich an der Tür hinab sinken und blieb mit hängendem Kopf auf dem Fußboden sitzen. Er wünschte sich ein Gewitter, einen Blizzard, einen Wolkenbruch, irgendeine Naturkatastrophe, welche diese versammelte Fröhlichkeit einfach wegspülte.
    „Du siehst viel glücklicher aus als sonst, Chirag“, fand Dunwin. „Schön, wenn man solche Freunde hat. Harro und ich haben gerade einen Ausritt unternommen, weil für heute und die kommende Woche so schönes Wetter angekündigt wurde. Es soll richtig warm und sonnig werden und man sieht schon hier und da ein paar Schneeglöckchen. Aber, aber, kein Grund, vor Freude zu weinen. Damir, ein Lied!“


    Der Rakshaner setzte erneut die Flöte an die Lippen und spielte die weltberühmte Ode an die Heiterkeit. Die gesamte Truppe sang im Chor mit, bis auf Chirag, der aus Leibeskräften heulte und sich nichts sehnlicher wünschte, als ein einsames Wochenende in Ruhe und Melancholie, mit nichts anderem als seinem Schwarzwein zur Gesellschaft, der inzwischen leer war und zum Flaschendrehen herhalten musste.


    Harro drehte als erster. Die Flasche blieb auf Chirag gerichtet liegen, auf wen auch sonst.
    „Tat oder Wahrheit?“, fragte Harro. Beim Sprechen wackelte sein voluminöser Schnurrbart.
    „Das heißt: Tod oder Mord“, kreischte Chirag. „Mord!“
    Er wollte sich auf Harro stürzen, blieb jedoch an der Teppichkante hängen und schlug der Länge nach hin. Er fiel so, dass er sich die Augenbraue an der Kante des Flaschenbodens aufschlug. Er blieb liegen, wie er war. „Ich hasse mein Leben“, klagte er mit erstickter Stimme.
    Damir tätschelte ihm den Rücken. „Ich hasse dein Leben auch. Es ist einfach nur scheiße und du hast jeden Grund, depressiv zu sein. Darum sind wir ja hier, um diesen Status zu ändern. Eines Tages bringen wir dich schon noch zum Lächeln, du wirst sehen.“
    „Ja, am Tag seiner Beerdigung“, frotzelte Archibald. „Wir ziehen ihm einfach die Mundwinkel auseinander und er kann nichts dagegen tun.“
    „Spätestens dann“, stimmte Holzi ihm zu.
    Chirag hob den Kopf. Müde grinste er Archibald an. Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Und seine eigene Beerdigung war ein denkbar schönes Gesprächsthema. „Hast du einen Trauermarsch auf Lager, Damir?“
    „Nichts leichter als das.“


    Damir spielte das traurigste und zermürbendste Lied, das er kannte, so dass ihm selber die Tränen zu rinnen begannen. Harro schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Es wurde finster und muffig. Die Frauen begannen über ihre Zukunftsängste zu sprechen und Holzi heulte sich bei Brijesh darüber aus, wie sehr man ihn als Kind wegen seiner abstehenden Ohren immer gehänselt hatte. Dunwin fand, dass er zu dick geworden sei und Archibald stimmte ihm vollumfänglich zu. Jesper äußerte Besorgnis wegen ihrer nächsten Mission, von der er fürchtete, dass womöglich nicht alle wieder wohlbehalten nach Hause kehren würden.


    So war eine Feier erträglich. Zufrieden setzte sich Chirag zurück auf das Sofa, das dadurch in eine exakt waagerechte Position gelangte und lauschte den Klängen des kollektiven Elends.
    „Ich glaube, du kriegst Geheimratsecken, Holzi“, erklärte er, um die Stimmung noch weiter zu drücken. „Und Dunwin ist wirklich ziemlich aus der Form geraten. Das sieht überhaupt nicht mehr gut aus und er watschelt schon so komisch beim Laufen. Kein Wunder bei dieser miserablen Missionsplanung von Jesper, da würde ich auch Frustfressen machen, wir werden garantiert alle draufgehen, bis auf den letzten Mann und dann hat alles ein Ende“, erklärte er zufrieden und lehnte sich gemütlich in das Sofa zurück.
    Damir hörte auf zu spielen und blickte ihn von der Seite an, als hätte er einen Geist gesehen. „Leute, ich will euch keine Angst machen, aber Chirag lächelt.“
    „Tatsache“, bestätigte Archibald. „Er tut es wirklich. Dafür sehen alle anderen aus, als ob sie gleich losheulen.“
    Chirags Lächeln wurde noch breiter.