Die Thronerbin von Ehveros ist tot

  • Sie hatten gebetet, sie hatten die besten Ärzte herangeschafft, sie hatten gefleht. Am Ende war es doch umsonst gewesen. Der Winter legte ein weißes Leichentuch aus Schnee auf das Land. Der Hofmarschall von Burg Drakenstein informierte die Höflinge über die bestürzenden Neuigkeiten. Die Tochter und einzige Thronerbin des greisen Großherzogs war nach ihrer kurzen, schweren Krankheit friedlich entschlafen. Stille herrschte, als der Hofstaat sich draußen vor dem Balkon versammelte, während lautlos Schneeflocken auf die Anwesenden rieselten.


    Der Herold trat auf den Balkon.


    „Ihre Majestät, Großherzogin Ricarda von Ehveros, ist tot.
    Lang lebe seine Majestät Großherzog Felipe von Ehveros!“


    Kein Jubel, Stille. Fassungslosigkeit und tiefes Bestürzen. Niemand wagte, etwas zu sagen, denn der Machtantritt von Großherzog Felipe war nichts, was man feiern konnte. Es war das erste Mal in der Geschichte von Ehveros, vielleicht von ganz Almanien, dass ein Großherzogtum keinen Thronerben mehr hatte und dass erneut der Vater die Regierung antreten musste, der die Krone bereits weitergereicht hatte. Alle Fahnen wurden auf Halbmast gesetzt. Drakenstein versank im Schnee.


    Felipe saß in seine Gemächern, die Fenster waren verdunkelt, kein Licht entfacht. Mit leiser Stimme diktierte er seine Befehle. Noch nie in der Geschichte von Ehveros waren so viele Ärzte auf einmal auf dem Schafott geendet. Die Köpfe rollten im Akkord. Anschließend spießte man sie auf und stellte sie öffentlich zur Schau, während die blutbeschmierten, nackten Körper in der Knochengrube unter dem Schafott gefroren. Ein Trupp der Armee entfernte sich zu Pferd aus Drakenstein. Ungeachtet der Witterung waren sie zur Eile angehalten. Die Hufe der Pferde klapperten nicht, der Schnee dämpfte jeden Laut. Der Trupp ritt in die Berge. Der Befehl der Soldaten umfasste nur einen einzigen Satz. Das Kloster lag in andächtiger Stille, aus den Schornsteinen rauchte es. Die Gepanzerten sprangen vor Saint Helinox ab und zogen die Schwerter. Danach ging alles sehr schnell. Das Kloster, in das Felipe seine Tochter hatte bringen lassen, wurde leergeräumt bis auf die letzte Nonne. Als die Nacht hereinbrach, schaukelten ihre Körper in einer langen Reihe im Wind, umkreist von krächzenden Raben.


    Felipe blieb die ganze Nacht wach, um auf die Boten zu warten, die ihm die erfolgreichen Exekutionen bestätigten. Doch wie viele Menschen er auch büßen ließ für ihr Versagen, kein Tod machte den von Ricarda ungeschehen. Nichts revidierte das Versagen, das er selbst sich zuzuschreiben hatte. Kein Bote und keine Nachricht pendete ihm Trost. Felipes Linie war zu Ende, das stolze Geschlecht derer von Ehveros zusammen mit ihm gescheitert. Seine nächsten Verwandten waren zerstritten wie Wolfsrudel und es war zu erahnen, dass niemand dem anderen freiwillig die Regentschaft überlassen würde. Er war noch am Leben, doch die Wölfe würden seinen Thron umkreisen, sobald sie die Nachricht hörten, dass seine Tochter verschieden war. Er hatte zu viele Fehler begangen in seinem Leben, um sie jetzt noch korrigieren zu können.


    Ehveros, wie sie alle es kannten, war dem Untergang geweiht.