Prolog Tekuro - Skorpionbrut

  • In diesen Geschichten wird die Vergangenheit von Robere beleuchtet, bevor er den Namen Tekuro trug und was ihn zum Schwarzen Skorpion werden ließ.


    Kapitel 1 - Nestkälte


    Skorpione gebären ihre Jungen in einem Erdloch. Wenn sie zur Welt kommen, gleichen sie ihren Eltern anatomisch so sehr, dass sie Miniaturen von ihnen sein könnten. Vom Beginn ihres Lebens an sind sie mit Scheren, Stacheln und Panzer versehen. Nichts Niedliches ist an ihnen zu finden, sie betteln nicht nach Nahrung, weinen nicht und fordern keine Liebe. Stattdessen zehren von ihren Körperreserven, während sie geduldig auf die erste Häutung warten. Dann verlassen sie, noch winzig, ihre Mutter und leben auf sich allein gestellt. Mit jeder Häutung wird der Panzer härter, die Scheren kraftvoller und der Stich tödlicher. Vom Beginn seines Lebens an ist ein jeder Skorpion ein Jäger und mit allem ausgestattet, was er zum Beutemachen braucht. Vor allem anderen aber - Geduld. Und die Fähigkeit, die extremsten Umweltbedingungen durch pure Zähigkeit zu überstehen.
    Robere wurde im Jahr 167 nach der Asche in einer Umgebung geboren, die kaum freundlicher als das Erdloch eines Skorpiones war. Aufruhr herrschte damals in Souvagne, die Krone wurde bedroht von den Agenten der Autarkie. Die einstige Elitetruppe, gegründet um Recht und Ordnung zu sichern, war zur größten Bedrohung der inneren Sicherheit erwachsen. Es kam zu monatelangen Unruhen. Ein Staatsstreich durch die Agenten konnte gerade noch verhindert werden, indem man sie mit Gewalt niederschlug. Dies war das Ende der Agenten der Autarkie, die allesamt auf dem Schafott landeten, und das Ende der Unruhen im Land. Für Robere und viele andere jedoch kam die einkehrende Ruhe zu spät. In den unsicheren Monaten vor der Zerschlagung des Ordens hatte es in den unteren Bevölkerungsschichten viele Eltern gegeben, die ihre Kinder nicht länger bei sich behalten konnten und er war eines von ihnen. Ungeachtet der Witterung wurde er als Säugling in einer mit Stroh ausgelegten Kiste vor der Tür das Waisenhauses Saint Amaury abgestellt. Zumindest war das die Version, mit der man ihn und auch seinen besten Freund und Wahlbruder Boldiszàr abspeiste, der mit ihm dieses Schicksal teilte.
    Sie beide waren die einzigen Kinder des Heims, die man namenlos abgestellt hatte, ohne jeden noch so geringen Hinweis auf ihre Herkunft. Die Mönche, die das zu einem Tempel gehörende Waisenhaus leiteten, hatten sie anhand einer Liste benannt und jene Namen zugewiesen, die als Nächstes an der Reihe waren. Eine Nummer hätte es nach Roberes Empfinden ebenso getan. Er hatte seinen Namen stets gehasst. Schließlich hatte Boldiszàr die naridische Form ›Robby‹ vorgeschlagen, die er von Marktbesuchen her kannte und damit konnte er besser leben.
    Möglicherweise war das gemeinsame Schicksal, der blinde Fleck ihrer Herkunft, die Grundlage ihrer Verbundenheit. Robere und Boldiszàr nannten sich gegenseitig Brüder. Theoretisch war es möglich, dass sie tatsächlich Brüder waren. Der Gedanke, einen großen Bruder zu haben, gefiel Robere. Und auch Boldi fühlte sich in seiner Rolle als Vorbild und Anführer wohl. Die Rolle des Beschützers aber nahm nicht er wahr, sondern der drei Jahre jüngere und einen Kopf kleinere Robere. Nicht, weil Boldi unbedingt einen nötig gehabt hätte, jedoch war sein kleiner Bruder eindeutig der Rücksichtslosere und Brutalere von ihnen. Wenn er andere Kinder malträtierte, um Ihren Gehorsam zu erzwingen, dann im besten Gewissen, Boldiszàr damit etwas Gutes zu tun. Andere Wege, seine Zuneigung auszudrücken, kannte Robere nicht, so wurde er ein zuverlässiger Vollstrecker und Wächter. Anschließend stießen sie ihre Fäuste aneinander und Boldiszàr gab ihm, um den Sieg zu feiern, eine seiner selbstgedrehten Rauchstangen. Qualmend saßen sie in ihrem Versteck hinter dem Holzschuppen und fühlten sich sehr erwachsen.
    An seine Kindheit erinnerte Robere sich, abgesehen von der engen Freundschaft mit Boldi, nur wenig, obwohl er erst sechsunddreißig war und sein Gedächtnis tadellos funktionieren sollte. Es war, als ob sein Geist diese Zeit aus seiner Biografie streichen wollte, als sei er schon immer der Leibgardist gewesen, zweiter Mann von Unitè B, als sei er schon mit Rüstung und Bewaffnung zur Welt gekommen, wie die Skorpione es taten. Nein, mit dem Thema Kindheit wollte Robere möglichst wenig zu tun haben und er konnte Kinder auch nicht leiden.
    Entsprechend gab es nur sehr wenige Ereignisse aus dieser Zeit, an die er sich im Detail erinnerte. Eines davon war jener Tag, als Boldiszàr krank wurde. Nicht nur ein wenig, mit Schnupfen und Heiserkeit, sondern todkrank.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Kapitel 2 - Beißwerkzeuge (Teil 1)


    Neun Jahre war Robere alt und Boldiszàr fast zwölf.
    Wie es sich für Boldiszàr gehörte, der die Kinder des Waisenhauses anführte, war er aufgrund einer Verletzung krank geworden, die er sich im Kampf mit einem anderen Jungen zugezogen hatte. Bei solchen Auseinandersetzungen ging es für die Verhältnisse von Kindern sehr brutal zur Sache, denn es ging um nichts weniger als das Überleben in dem verarmten Waisenhaus, das sich hauptsächlich über Spenden finanzierte. Meist ging es dabei um Essen, aber insbesondere in der kalten Jahreszeit auch um Kleidung. Diesmal jedoch ging es um all dies zusammen - um den Platz an der Spitze der erbarmungslosen kindlichen Hackordnung.
    Antoine hieß der Rivale, der genau so alt und so stark wie Boldi war, aber keinen Robere hatte, der durch seine Brutalität die Kinder fügsam machte. Lange hatte Antoine auf eine passende Gelegenheit warten müssen. Schließlich war der Zeitpunkt gekommen. Robere war gerade zur Strafarbeit in der Küche abgestellt und Boldiszàr stand allein hinter dem Holzschuppen, um heimlich zu rauchen. Mit seinen elf Jahren war er in dem Alter, das Waisenhaus bald verlassen zu müssen. Antoine schlich näher. Zuvor mussten alte Rechnungen beglichen werden.
    Antoine hatte sich aus Holz ein Messer geschliffen. Das Besteck aus der Küche wurde akribisch kontrolliert und nach den Mahlzeiten von jedem einzeln eingesammelt, denn Eisenbesteck war teuer. Aber auch dieses Messer würde seinen Zweck erfüllen. Er kam von hinten, schlug mit der Faust an Boldiszàrs Kopf vorbei und riss dann die Klinge zurück in seine Richtung. Boldi war vollkommen überrumpelt und konnte den Kopf nicht rechtzeitig wegreißen. Das Messer traf ihn in den Mund und Antoine fetzte es seitlich weg. Ein Bogen aus rotem Blut spritzte gegen den Holzschuppen. Das Messer hatte Boldiszàrs Wange über die komplette Breite durchtrennt, vom Mundwinkel bis zu den Backenzähnen. Boldiszàr fuhr mit seinem aufgeschlitztem Gesicht herum und kämpfte um sein Leben. Es wurde eine heftige Prügelei, aber am Ende gelang es ihm, Antoine zu vertreiben. Stark blutend kehrte er ins Innere des Hauses zurück, aufrecht gehend und nicht weinend. Dieser Anblick, wie Boldiszàr sich ohne von der Verletzung beeindrucken zu lassen, durch die Tür schritt, prägte sich für immer in Roberes Gedächtnis ein. Er wurde von tiefem Respekt erfüllt. In seinen Augen war Boldiszàr genau so ein Skorpion wie er selbst, nur, dass sein Bruder nichts davon wusste. Kein Skorpion vergoss Tränen oder bat um Hilfe und so tat auch Boldi es nicht. Er wusch eigenhändig seine Wunde sauber und legte sich ins Bett, bis ein Mönch kam, um nach ihm zu sehen. Robere saß all die Zeit über bei ihm auf dem Fußende des Bettes, schweigend, wachend.
    Nun war das Waisenhaus wegen der Unruhen in den Jahren 167 und 168 überfüllt. Für die Kinder gab es nur die notdürftigste Versorgung. Ein Mönch, der in der Heilkunst bewandert war, erbarmte sich, die Wunde zu nähen. Das gestaltete sich als schwierig, denn wegen der vergleichsweise geringen Schärfe des Holzmessers war die Wange mehr zerfetzt worden als zerschnitten. Die vernähte Wunde sah kaum besser aus als der klaffende Spalt. Die Narbe entzündete sich und wollte nicht heilen. Kein Kräutersud, kein Tee und kein Gebet verschaffte Linderung.
    Bald lag Boldiszàr mit Fieber im Bett und vermochte nicht mehr, zu den Mahlzeiten im Speiseraum zu erscheinen. Er konnte aufgrund der Wunde nicht sprechen und als Robere ihm aufhelfen wollte, schüttelte er nur schwach den Kopf. Das machte Robere Angst. Und langsam begannen die Kinder, sich Antoine zuzuwenden.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Kapitel 2 - Beißwerkzeuge (Teil 2)


    Robere kam auf den Gedanken, sein eigenes Essen aus dem Speisesaal zum Bett seines Freundes zu tragen, damit dieser etwas zwischen die Zähne bekam. Wenn er von jeder Mahlzeit die Hälfte übrig ließ, würde es für sie beide genügen. Sie würden davon nicht satt werden und noch weiter abmagern, aber sie würden auch nicht verhungern. Zumindest nicht nach Roberes kindlicher Berechnung.
    Eine Hand hielt ihn fest, als er mit seinem halb leer gegessenen Teller aufstand und nicht zum Topf, sondern in Richtung der Tür ging. »Wo willst du hin? Gegessen wird im Speisesaal. Setz dich und iss auf oder schütte es zurück in den Topf, falls später noch jemand etwas davon essen möchte.«
    Es kam nur sehr selten vor, dass die Kinder Essen zurückgaben. Es wurde so gut wie immer aufgegessen und nur ausgekochte und leergesaugte Knochenreste landeten im Müll.
    Robere blickte zu dem schwarz gewandeten Mönch auf. »Wenn ich aufgegessen habe, kriege ich dann noch was zu Essen für Boldi?«
    »Wer so krank ist, sollte nichts essen«, erklärte der Gottesdiener aus dem Schatten seiner Kapuze heraus. »Es kommt nur Dreck in seine Wunde und das Verdauen ist für einen kranken Körper anstrengend. Wenn Boldiszàr wieder gesund werden soll, muss er ein paar Tage fasten. Sobald er wieder bei Kräften ist, so Ainuwar will, wird er die Treppe hinabsteigen, sich zu uns setzen und dann bekommt er sein Essen.«
    »Vorher nicht?«
    »Vorher nicht.«
    Zwei Tage ließ Robere sich von der Erklärung, dass Fasten gut sei, ruhig stellen. Boldiszàr wurde immer schwächer, anstatt dass es ihm besser ging. Er konnte bald kaum noch die Augen öffnen und schlief die meiste Zeit oder war vielleicht sogar ohnmächtig.
    Robere schmuggelte schließlich einen Mund voll Hafergrütze hinauf auf das Schlafzimmer. Boldiszàr nahm den Schluck Nahrung zu sich, aber war danach immer noch hungrig.
    Düster brütend saß Robere auf seinem Bett. Sein Bruder sah schlimm aus, die Wunde eiterte und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er wälzte den Kopf in Fieberträumen, das Haar klebte schweißnass an seinen Schläfen. In diesem Moment wurde Robere bewusst, dass man Boldiszàr aufgegeben hatte. Keiner der Mönche machte sich noch Hoffnung für seinen Bruder. Das Essen sollte den anderen Kindern zugutekommen und nicht dem Verlorenen. Die Logik war so nachvollziehbar wie kalt. Sie war nicht einmal grausam, diente sie doch dem Wohle aller und vielleicht war die Tat sogar gut gemeint. Doch das Wohl aller war etwas, dass Robere nicht interessierte. Ihn interessierte nur sein eigenes Wohl und das schloss Boldiszàr ein, der einen wesentlichen Beitrag dazu leistete. Er war zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt, um sich Gedanken um Leute zu machen, die ihm egal waren. Um ihn sorgte sich schließlich auch keiner - niemand außer sein Bruder. Und so wachte Robere seinerseits auch über Boldiszàr.
    »Die Mönche sagen, dass du nur im Speisesaal essen darfst«, erklärte Robere ihm, ohne zu wissen, ob er ihn hören konnte. »Und so lange du nicht auf eigenen Füßen dorthin gehst, bekommst du nichts. Aber ich hole dir trotzdem was. Versprochen. Aber bis dahin musst du noch durchhalten.«
    Robere machte sich auf den Weg zur Küche. Er schaute in den riesigen gusseisernen Topf, aus dem die Mönche die Hafergrütze ausgeschenkt hatten. Er war leer und sorgfältig abgewaschen, genau wie die Kelle und die Schüsseln der Kinder. Nirgends klebte ein Rest. Robere schaute in jeden Schrank und in jede Dose, doch nichts war hier oben zu finden, nicht einmal Zwiebeln oder getrocknete Kräuter. Es war wirklich ein besonders schlechtes Jahr. Er schlich in den Keller zur Speisekammer, von der er wusste, dass dort die Säcke mit Hafer aufbewahrt wurden, aus dem jeden Tag die Grütze gekocht wurde. Manchmal wurde sie mit Obst serviert, dann wieder mit Milch, Gemüse oder Fleisch. In den letzten Wochen hatte es den Haferschleim immer pur gegeben.
    Robere zog am Riegel. Die Speisekammer war abgeschlossen. Sie hatte auch keine Fenster. Er probierte eine Weile mit einem Draht herum. Wie sehr er sich auch mühte, es gelang ihm nicht, das Schloss zu knacken. Am Ende versuchte er, die Tür einzutreten, doch sie federte seinen Fuß zurück und bekam nicht einmal einen Riss. Er rammte mit der Schulter dagegen und wurde erneut von dem zähen Holz zurückgeworfen. Hilflos stand Robere vor der verschlossenen Tür und starte auf den unnützen Riegel.
    Wenn er Boldiszár retten wollte, musste er es anders versuchen, außerhalb des Waisenhauses. Hier gab es keine Hilfe. Die Mönche halfen einem Todgeweihten nicht und von den anderen Kindern war erst Recht kein Beistand zu erwarten. Entweder man überlebte, dann war es gut, oder man starb und machte Platz für andere, was vielleicht noch besser war in Anbetracht des Mangels. Niemanden kümmerte das Leben und Sterben eines ungewollten Kindes. Doch Robere würde Boldi nicht aufgeben.
    Robere begab sich noch einmal in den Schlafraum, wo sein sterbender Freund lag, während die anderen Kinder in Haus und Garten tobten.
    »Warte auf mich«, sagte Robere zu dem Schlafenden. »Kann sein, dass es ein bisschen dauert.«
    Boldiszàr reagierte nicht. Robere starrte ihn eine Weile an und pustete in seine Haare, doch er rührte sich nicht. Übelriechende Wundnässe lief seinen Kiefer herunter. Robere stopfte eine Socke darunter, damit das Kissen nicht noch schmutziger wurde. Ihm war nicht wohl dabei, ihn so wehrlos allein zu lassen. Er würde sich beeilen. Sicherheitshalber versteckte er alles von Boldiszàrs Habseligkeiten, was zum Klauen einlud, ehe er sich umkleidete.
    Er zog seine geflickte Jacke über und setzte die Kapuze auf den Kopf, die wie ein Lappen auf seinen Haaren lag, dann stahl er sich von dem Gelände des Waisenhauses davon. Auszureißen war nicht schwer, das taten die Kinder oft. Manche waren nicht wiedergekommen. Die Mönche erzählten, dass sie von Kinderfängern geholt worden seien. Ob das stimmte, wusste Robere nicht. Vielleicht war der Hunger auch zu groß geworden oder die Tristesse der schwarz gewandeten und wortkargen Ainuwar-Mönche. Ainuwar war ein kalter, finsterer Gott, ein Gott des Verstandes. Gefühle hatten bei seiner Anhängerschaft wenig Platz. So verwunderte es nicht, dass es auch in Roberes Herz kalt und dunkel geworden war und wie berechnend er seine Mitmenschen wahrnahm. Dennoch war er nicht völlig gefühllos. Boldiszárs Zustand machte ihm Angst. Doch anstatt weinend an dessen Bett zu sitzen, tat er das einzig Vernünftige - er handelte. Wenn die Mönche ihn je etwas gelehrt hatten, was er für sein späteres Leben brauchen konnte, dann das.
    Es nieselte. Nach langem Gehen durch den herbstlichen Regen fand Robere eine Apfelplantage. Sie war abgeerntet und das braune Laub lag in Haufen auf der nassen Wiese. Er suchte jeden Baum ab und fand noch zwei vergessene Äpfel. Die steckte er ein. Aber das würde nicht genügen, um Boldiszàr durchzubringen. Robere spazierte weiter zum Dorfzentrum, um zu schauen, ob er etwas aus den Gärten stehlen konnte, doch die Bewohner kannten die diebischen Waisenkinder und die Lästigkeit, die von ihnen ausging.
    Ein Mann, in dessen Garten er einen riesengroßen Kürbis entdeckt hatte, jagte ihn brüllend mit erhobener Faust davon. So schnell er konnte, rannte Robere, bis die wütende Stimme hinter ihm nicht mehr zu hören war. Dann ging er langsamer weiter. Wo sollte er noch suchen?
    Außerhalb des Dorfes setzte er sich auf eine Mauer, deren Stein dunkel war vom Nieselregen. Ihm fiel nichts mehr ein. Er, der keine Zeit hatte vergeuden wollen, um schnellstmöglich das Essen zurückbringen und seinen Bruder weiter vor Antoine bewachen zu können, saß hilflos im Herbst und sein Kopf war leer.
    Robere weinte nicht. Er hatte sehr zeitig gelernt, es sich abzugewöhnen. Stattdessen war er wütend. Wütend auf die Mönche, die nichts taten, außer ihrem finsteren Gott zu dienen, wütend auf den Mann im Dorf, der nicht aussah, als ob ihn der Verlust des Kürbisses in den Ruin gestürzt hätte, wütend auf die Arbeiter, welche die Apfelbäume so gründlich abgeerntet hatten und vor allem wütend auf sich selber, weil er dem einzigen Menschen, dem er etwas bedeutete, nicht helfen konnte.
    Da sah er etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Eine Katze, das Fell struppig vom Regen, durch den Herbstregen streunend wie Robere. Genau so schwarzhaarig, genau so suchend, genau so hungrig. Ein einsamer Jäger. Wenn zwei Jäger sich trafen, jagten sie entweder gemeinsam oder der eine fraß den anderen auf. Und in Robere erwachte in diesem Moment das Bewusstsein, dass er jagen musste.
    Der Kampf war kurz. Robere trug stolz seine Beute nach Hause. Die zerkratzten Hände fühlten sich an wie Trophäen, als er das Tier andächtig vor Boldiszàrs Bett niederlegte, als sei es eine Opfergabe für seinen Gott. Langsam drehte sein Bruder den Kopf in seine Richtung und öffnete die Augen.
    Ein Holzmesser besaß Robere nicht und eines aus Eisen noch weniger. Auf den Fersen sitzend öffnete er mit den blanken Zähnen den Pelz des erwürgten Tieres. Mit den Fingern zog er das entstandene Loch weiter auseinander. Er biss das erste Stück des roten, noch warmen Fleisches heraus und zerkaute es zu einem blutigen Matsch. Der frische Geschmack entfaltete sich in seinem Mund. Das war etwas ganz anderes als die zerkochten und blutleeren Fasern der Suppenhühner. Dieses Fleisch hier war voller Lebenskraft. Wenn Boldi hiervon nicht gesund wurde, dann von überhaupt nichts.
    Da Robere weder eine Schüssel noch Besteck hatte, fütterte er den geschwächten Boldiszàr von Mund zu Mund. Auf diese Weise ließen sie sich seine erste Beute gemeinsam schmecken. Es war eine Delikatesse für die hungrigen Kinder. Sie aßen alles, was genießbar war, nur den Darm, den zerrissenen Pelz und die ausgesaugten Knochen entsorgte Robere. Mehr blieb nicht übrig, der Rest wurde vollständig verzehrt. Es blieb nicht das letzte Tier, welches Robere in der folgenden Zeit mit bloßen Händen zur Strecke brachte.
    Ob es nun an Roberes Fürsorge lag, an dem frischen Fleisch, an der stärkenden Kraft des Blutes oder an Boldiszàrs natürlicher Widerstandskraft - sein Bruder wurde nach langen Wochen wieder gesund. Die Narbe verschloss sich vollständig und entstellte ihn fürs Leben. Sie machte ihn unverwechselbar und sein Gesicht war auf dieser Seite zum Teil gelähmt, aber er lebte und mit dem gesunden Mundwinkel konnte bald er wieder grinsen.
    Boldiszàr erreichte nicht lange darauf sein zwölftes Lebensjahr und wurde, noch nicht vollständig erholt von den Strapazen, als Arbeitskraft an eine Adelsfamilie abgegeben. Es war der schlimmste Tag von Roberes Dasein und er wurde in seiner traumatischen Schwere zeit seines Lebens von keinem anderen Ereignis übertroffen.
    Schweigend blickte Robere der Kutsche hinterher, die seinen Bruder fortbrachte in eine ungewisse Zukunft und an einen Ort, der für ein Waisenkind so unerreichbar fern war, als hätten sie Boldiszàr auf einen der beiden Monde verfrachtet. Lange stand der einsame Junge mitten auf der Straße und niemand scherte sich um ihn. Nicht die Mönche, nicht die vorbeigehenden Passanten, nicht die anderen Kinder.
    Irgendwann setzte er sich auf die flache Mauer und rauchte die Rauchstange auf, die sein Bruder ihm zum Abschied gegeben hatte. Es war sein letztes Geschenk gewesen, damit Robere noch etwas in der Hand hatte, wenn er gegangen war. Eine Medizin gegen das Alleinsein. Als sie aufgeraucht war, blieb nichts mehr von Boldiszàr bei ihm zurück. Nichts als ein Gefühl gähnender Leere, ein Loch in der Seele, das durch nichts auf der Welt zu stopfen war. Robere wünschte, es hätte einen Weg gegeben, Boldi für immer bei sich zu halten.
    Er wandte sich ab und ging jagen, um die Trauer zu vergessen und in eine möglichst nützliche Handlung umzuwandeln. In der folgenden Zeit verschwanden im Dorf derart viele Tiere, dass man von einem Wolf ausging und die Schafe von den Weiden zurück in die Ställe trieb. Den Hund, der sie hatte bewachen sollen, hatte man nach zwei Tagen nicht mehr gefunden. Robere fraß sich regelrecht durch das Dorf und nahm keine Rücksicht darauf, ob das Tier alt oder jung war, ob es gerade geworfen hatte oder neugeboren war. Was in seine Hände fiel, das tötete er, entweder mit den bloßen Händen oder mit einem improvisierten Hilfsmittel und aß sich daran satt, bis ihm der Bauch schmerzte. Manchmal spielte er vorher noch ein bisschen damit. Doch egal wie viel er auch aß - den Hunger, der sich hinter dieser Fressorgie wirklich verbarg, konnte er damit nicht stillen.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Unter der Schwarzen Wolke
    Souvagne, 179 nach der Asche. Waisenhaus Saint Aumery.


    An die Jahre, die nach Boldiszàrs Abreise folgten, hatte Robere nur bruchstückhafte Erinnerungen. Es war ein bewusstes Vergessen und nur wenig blieb in seinem Gedächtnis haften, dass er nicht abschütteln konnte. Unter dem Panzer des Jungen, der später der Schwarze Skorpion werden sollte, lag der Schmerz eines Kindes, das keinen einzigen Menschen in einer von Menschen überbordende Welt mehr sein eigen nennen konnte. In den ersten Tagen weinte Robere so viel, als ob er alle Tränen aufbrauchen müsste, bis sie irgendwann versiegten und fortan weinte er nicht mehr. Dass die Schmerzen, die er auch körperlich spürte, genau so von seinem körperlichen Wachstum herrührten, wusste er nicht. Seine Seele alterte sehr viel schneller, als sie sollte. Er hörte auf zu spielen und konzentrierte sich auf die Jagd und Verteidigung des wenigen, was ihm gehörte. Ein anderes Ziel hatte er nicht.
    Als das einzige Kind im Heim, welches in der Lage war, sich ausreichend Fleisch zu organisieren, war er bald größer und kräftiger als die übrigen, als sein Körper alles nachholte, was er bisher versäumt hatte. Aus dem mageren Kind wurde ein kräftiger Junge, der sich Respekt zu verschaffen wusste. Ein Mönch, der ihn fürs Rauchen maßregeln wollte und ihn am Arm griff, bekam seine Zähne derart im Unterarm zu spüren, dass Robere sich drei Milchzähne an ihm ausbiss. Sie hätten ihn nun in den Karzer sperren oder körperlich züchtigen können, doch stattdessen entschieden sie sich im nächsten Symposium dafür, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sich um das seelische Wohlergehen ihrer Schützlinge zu kümmern oder gar den Elternersatz zu mimen war nicht das, was die Diener des Ainuwar unter Nächstenliebe verstanden. Sie kümmerten sich darum, dass die Kinder, die niemand mehr wollte, nicht starben und damit taten sie mehr als die meisten anderen Menschen. Sie überließen den schwierigen Jungen nun noch mehr sich selbst, als sie es ohnehin schon taten.


    Eines Tages suchte Antoine Robere hinter dem Holzschuppen auf, wo er mit Boldiszàr geraucht hatte und wo nun allein saß und sich aus selbstgesammelten Zutaten Rauchstangen auf Vorrrat drehte. Jede Wolke, die er in die Luft stieß und die verwehte, war eine Botschaft an seinen Bruder. Wenn er rauchte, hatte er das Gefühl, ihm nah zu sein und er stellte sich vor, dass Boldiszàr ebenso rauchend in der Fremde saß und an ihn dachte. Und Antoine wagte es, den heiligen Moment ihrer Zwiesprache zu unterbrechen. Mit eisigem Blick empfing Robere den Jungen, der in respektvoller Entfernung stand und seine Mütze knetete. Antoine war fast so alt wie Boldiszàr und auch er gehörte nicht zu den Hänflingen, doch Robere fürchtete ihn nicht, auch wenn er nun allein gegen ihn stand.
    »Was?«, fragte er feindselig, steckte sich eine fertige Rauchstange in den Mund und zündete sie an.
    »Ich dachte, wir könnten vielleicht Freunde sein«, antwortete Antoine.
    Robere stieß ein Schnauben durch die Nase und lachte ihn aus. »Nach allem, was du getan hast? Du kennst meine Antwort.«
    »Es war dumm von mir. Ich wollte nicht, dass es so ausgeht. Ich wollte Boldi und dich verdreschen, damit unser Streit beendet wird. Ich dachte, wenn alles geklärt ist, dann vertragen wir uns. Ihr wart immer zu zweit, darum habe ich es mit dem Messer versucht. Als Ausgleich.«
    »Du bist ein Lügner und ein Feigling«, entgegnete Robere eisig.
    »Nein, ich wollte Boldi nicht dermaßen verletzen! Ich wusste nicht, dass es so ausgehen würde. Ich habe vorher noch nie jemanden mit dem Messer gestochen. Es war keine Absicht, ich wollte nur, dass es aufhört. Was muss ich tun, damit du mir glaubst?« Er sah ihn hoffnungsvoll an.
    Robere erwirderte den Blick ungerührt. »Spring kopfüber vom Dach.« Er zog an seiner Rauchstange.
    »Es würde uns beiden besser gehen, wenn wir Freunde wären«, versuchte Antoine es noch einmal. »Wir könnten uns gegenseitig helfen.«
    Rober zog verächtlich eine Braue nach oben. »Es gibt kein wir und kein uns. Du willst bloß was von meinem Fleisch abhaben. Ich hab es nur mit Boldi geteilt, der Rest ist für mich. Jag dir selber was.«
    »Wir wären wenigstens nicht allein, wenn wir uns zusammentun.«
    »Wenn ich Boldi wiederfinde, dann bin ich nicht mehr allein! Und jetzt verpiss dich.«
    Robere wusste, dass er seinen Bruder nie wiedersehen würde. Souvagne war groß und er hatte keine Anhaltspunkte, um seine Suche zu beginnen, selbst wenn er vom Heim fortlief und jedes Dorf und jede Stadt nach ihm absuchen würde. Er würde nur seinen Schlafplatz zu verlieren und im Winter erfrieren, etwas anderes würde er damit nicht erreichen. Robere betrachtete Antoine, während er den Rauch zwischen den Zähnen hervor langsam nach oben steigen ließ und fragte sich, wie sein Fleisch wohl schmeckte. Das Fleisch des Jungen, der fast Boldiszàr umgebracht hätte. Wie Ratte oder doch eher nach Schwein? Hungrig und zornig wie Robere war, stellte er sich vor, mit Antoine das anzustellen, was er sonst mit den Tieren tat.
    Antoine gab es auf, als Robere ihn nur anstarrte. Er setzte seine Mütze auf den Kopf und ging. Nur wenige Wochen später kam ein Ochsenkarren, der Antoine abholte. Und so seltsam es war, Robere empfand darüber keine Freude. Das Heim wurde ihm jeden Tag fremder und als der Zeitpunkt gekommen war, dass seine eigene Kutsche ihn abholen sollte, vermisste er nichts.


    Dieser Tag war heute und er begann hässlich und grau. Man gab Robere einen kleinen Stoffbeutel, in den alles hineinpasste, was er besaß. Mit diesem winzigen Stück seines Lebens wartete er an der Mauer. Hufe klapperten. Nicht das dumpfe Trampeln von Ochsenhufen, wie sie die Fuhrwerke einfacher Leute zogen, sondern das scharfe Klappern von beschlagenen Pferdehufen. Nobel war, was ihn erwartete und er hoffte, dass dies gutes Essen bedeutete. Die Kutsche, die zwischen den Häusern hervor kam, war schwarz lackiert und mit einem silbernen Wappen an der Tür versehen. Es zeigte eine schwarze Gewitterwolke, sonst nichts. Schlicht und düster. Robere schnaubte amüsiert. Das Wappen passte so gut. Die Kutsche machte einen hochwertigen Eindruck. Neben dem Kutscher saß ein Diener, der nun abstieg und die Tür öffnete. Gespannt wartete Robere, wer es war, der ihn abholen würde.
    Hinaus stieg ein älterer Edelmann. Der graue Wappenrock, den er über dem knielangen Kettenhemd trug, zeigte ebenfalls auf der Brust die schwarze Wolke. Er war vielleicht 60 Jahre alt, das Haar an den Seiten kurz bis auf die Kopfhaut und oben zur Seite gekämmt, wo es ihm bis hinab zur Wange reichte. Das Haar war längst ergraut, doch seine schwarzen Brauen und ein Teil seines Bartes verrieten, dass es einst rabenschwarz gewesen sein musste. Auch seine Augen waren dunkel. Der Diener half ihm nun in einen schwarzen Wollmantel mit Kapuze. Er blieb vorn offen, so dass man das Wappen auf seiner muskulösen Brust sah. An der Hüfte hing ein Waffengurt.
    Robere musterte seinen zukünftigen Herrn mit unverhohlener Neugier. Schwarzes Haar und dazu schwarze Augen, das gab es nicht so oft in Souvagne. War es möglich, dass seine Familie gekommen war, um ihn nach Hause zu holen? War er der Bastard einer Adelsfamilie?
    Der Diener ging in den Tempel, während der Edelmann, der das Heim offenbar nicht betreten wollte, draußen wartete und den dunklen Wolken nachsah. Sein Haar wurde vom Wind zerzaust, doch es schien ihm nichts auszumachen. Mehr noch, es wirkte, als würde er das schlechte Wetter genießen, was zu seinem Wappen passen würde. Er sah nach seine Tracht aus wie ein Chevalier, der niederste Adelsstand in Souvagne. Die Chevaliers galten als hervorragende Krieger und fast jede Chevaliersfamilie besaß ein eigenes Stück Land, das wusste Robere. Auch der Tempel gehörte einem Chevalier. Ob es dieser war?
    Robere wusste nicht, wie man Edelleute ansprach. Die meisten von ihnen redeten nicht mit dem gemeinen Volk, sondern ließen ihre Diener die Gespräche für sie führen. So wie es auch dieser hier tat, der seinen Diener ins Heim geschickt hatte. Robere ging trotzdem auf den Mann zu und sprach mit ihm, wie er manchmal mit den Mönchen hatte sprechen müssen. Jetzt oder nie.
    »Ich bin der Junge, denn Ihr abholen wollt«, sagte er ernst und sah dem Mann fest in seine dunklen Augen, damit er sah, wie ähnlich sie einander waren.
    »Das `abe ich mir schon gedacht, wenn du mit deinem Beutel ’ier draußen wartest.« Offenbar hatte der Mann einen Sprachfehler. Dennoch klang die Art, wie er die Worte wählte, gewählt. »Du musst Robere Moreau sein, den ich an diesem wunderschön grauen Tage ab'holen werde, an dem keine ’euchlerische Sonne das Leid der makel'aften Schöpfung ver'öhnt.«
    Robere nickte. »Der bin ich. Ihr könnt Robby zu mir sagen. Und wer seid Ihr?«
    Der Mann ließ Nachsicht walten bezüglich der unkorrekten Umgangsformen. »Mein Name ist Chevalier Calvin de Dupont. Ich bin das Ober’aupt der Familie Dupont. Du `ast großes Glück, Junge. Wir ’aben entschieden, dass du fortan bei uns in der Burg arbeiten darfst. Unter vielen Kindern fiel die Wahl nach Rücksprache mit der Leitung von Saint Aumery auf dich. Es gibt in unserer Gewitterfeste viel Platz und auch einige gleichaltrige Kinder, mit denen du in der Freizeit spielen kannst.«
    »Boldiszàr Boucher?«, fragte er hoffnungsvoll.
    Der Chevalier schüttelte den Kopf. »Du bist der Erste, den wir aus dem ’eim zu uns in die Burg ’olen. Wolltest du diesen Jungen gern wiedertreffen? Ein Ratschlag, der dir später vieles leichter machen wird: Wenn du in deinem Leben je ’offnungen ’egtest - lass sie fahren. Das Leben ist nichts als ein endloses Jammertal, es wird nicht besser als jetzt. Optimismus etwas für Priester und Idioten. Wenn man das erst einmal verinnerlicht ’at, ist es erträglich, den man kann nicht mehr enttäuscht werden.«
    Robere sah Calvin de Dupont schweigend an. So düster sich seine Worte anhörten, der Mann heuchelte nicht, sondern spielte mit offenen Karten. Robere versuchte zu ergründen, ob dies ein gutes Zeichen sei. Vielleicht waren sie beide ja wirklich verwandt, denn auch seine Weltsicht war finster. Der Mann würde ihm als Vater gefallen. Während die meisten alten Leute faulige Zähne hatten oder gar keine, war das Gebiss von Calvin vollständig und sauber. Seine Hände wirkten stark und gepflegt, nichts, vor dessen Berührung er sich ekeln musste. Ein Mann, der in Würde gealtert war. Robere würde gern spüren, wie Calvin väterlich durch sein Haar strich - etwas, was er von den Mönchen nie gewünscht hatte und diese hatten das auch zu keinem Zeitpunkt getan. Sie behüteten die Kinder, ohne sie zu lieben. Ab heute würde sein Leben ein anderes sein. Selbst wenn er Boldiszàr niemals wieder sehen mochte, hatte er ab heute vielleicht eine Familie. Er tat das, wovor Calvin ihn soeben noch gewarnt hatte - er schöpfte Hoffnung.
    Bruder Marius kam gemeinsam mit dem Diener des Chevaliers aus dem Heim.
    »Leb wohl, Robere«, sprach der Mönch unter seiner Kapuze hervor.
    Robere sah ihn ausdruckslos an. Für ihn sahen die Mönche alle gleich aus, bei den meisten hatte er sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich ihre Namen zu merken und für sie alle empfand er das Gleiche - nichts. Und so wandte er sich ab, ohne ein Wort des Abschieds zu sagen und stieg zu Calvin in die Kutsche. Drinnen war es windgeschützt und eine Öllampe diente zum Wärmen der Hände und Füße.
    „Warum habt Ihr mich ausgewählt, um bei Euch zu leben?“, fragte Robere, als die Kutsche sich in Bewegung setzte.
    „Man versicherte uns, du seist kräftig und für schwere Arbeit geeignet. Einen zusätzlichen Knecht können wir gut gebrauchen. Vor allem aber sagte man uns, dass man nicht wisse, was man mit dir anfangen solle, da man dich nirgendwo’in ohne schlechtes Gewissen vermitteln könne. Du seist ein Problemkind. Stark im Körper, schwach im Geist und schwer zu erzie’en. Nun, meine Familie nennt viele Söhne ihr Eigen und davon sind auch einige nicht einfach. Ich denke da’er, dass du gut bei uns aufge’oben sein wirst, Robby.“
    Und Calvin strich ihm mit den Fingern durch das Haar.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Die Gewitterfeste
    Souvagne, Jahre 179-182 nach der Asche. Lehen Dupont, Gewitterfeste.


    Wie die steinerne Krone des Landes ragte die Feste vom höchsten Tafelberg hinauf in den grauen Himmel. Schwere Wolken brachen sich an ihren Zinnen und entluden sich öfter als anderswo in Souvagne als Regen und Donner. Ein Sumpf bildete den natürlichen Burggraben am Fuße des Tafelberges, der nach oben zu einer Mauer erweitert worden war und nach unten steil in die Tiefe stürzte. Belagerungsgerät hätte es schwer in diesem Landstrich, doch wie Calvin es Robere erklärte, hatte niemand je versucht, die Festung zu erobern. Die Rakshaner hielten sich nicht auf mit Burgen, ihr Ziel waren Gehöfte und Dörfer, die sie mit wenig Aufwand in kürzester Zeit plündern konnten, um wieder zu verschwinden, bevor eine nennenswerte Verteidigung mobilisiert werden konnte. Khawa Steppensturm hieß der Mann, der den nördlichsten Landstrich von Souvagne mit seinen Hyänenreitern plagte, doch in der Gewitterfeste selbst musste man sich um die Rakshaner keine Sorgen machen.
    Robere gefiel sein neuer Wohnsitz, auch wenn er sich anfangs damit schwertat, sich in feste Tagesabläufe mit einem straffen Arbeitsplan einzufügen. Oft machte er unerlaubt Pausen, setzte sich rauchend auf die Mauer, mit baumelnden Füßen, unter denen in schwindelerregender Tiefe die knorrigen Kronen der Moorbirken, das helle Sumpfgras und das rote Moos einen bunten Flickenteppich bildeten. Der Qualm aus seinem Mund vermischte sich mit dem Grau der tiefhängenden Wolken. Von der Mauer der jahrhundertealten Felsenburg aus konnte er das gesamte Lehen überblicken und das machte immerhin zwei komplette Tagesritte in der Länge und noch einmal genau so viel in der Breite aus. Im Süden wölbten sich die fruchtbaren Hügellande des Lehens der Chevaliers de Brisay, im Norden verlor das Land sich am Horizont in der rakshanischen Steppe. Die Gewitterfeste war die nördlichste aller souvagnischen Burgen, die letzte Bastion zwischen Rakshanistan und almanischer Zivilisation. Die Festung war im Inneren viel größer, als Robere sie sich vorgestellt hatte. Sie wies den Charakter einer umfriedeten Kleinstadt auf, die dank eines über drei Generationen in den Felsen hineingebohrten Brunnens vollkommen autark wirtschaften konnte. Im Falle einer Belagerung konnte man hier für mindestens zwei Jahre überleben, ohne dass irgendwer einen Fuß vor das Fallgitter setzen musste. Wenn Robere an der Mauer entlangging, um die gesamte Anlage zu umrunden, benötigte er zwei Stunden, bis er wieder am Anfang angelangt war. Diesen Weg, der eigentlich für die wachhabenden Soldaten gedacht war, ging er oft, über das Land in die Ferne schauend. Da draußen lebte irgendwo, ein winziger Punkt in Souvagne, sein Bruder. Der Weg war von Bäumen gesäumt und es gab in regelmäßigen Abständen kleine Pavillons als Unterstände gegen den häufigen Regen und auch Bänke, alle mit dem Blick nach außen gerichtet, auf denen die Soldaten allerdings während ihrer Wachzeit nicht sitzen durften.
    Es gab in der Gewitterfeste eine eigene Bäckerei, einen Hufschmied, eine Schneiderei, eine Seilerei, eine Sattlerei, einen Steinmetz, eine Schreinerei und scheinbar jedes andere Handwerk, das es in Souvagne gab, zumindest kam es Robere so vor. Über tausend Menschen lebten unter den Bannern der schwarzen Wolke, die stolz und finster von allen Türmen flatterten. Das Schmieden übernahmen die Chevaliers oft eigenhändig. Als altes Geschlecht von Kunst- und Waffenschmieden hatten sie sogar die Insignien der souvagnischen Krone geschmiedet, das Reichsschwert, das Zepter, die Amtskette und die Krone. Jedes männliche Mitglied ihrer Familie hatte das Schmiedehandwerk zu lernen und sie erklärten Robere, dass die schwarze Wolke für den Rauch aus der Esse des Schmiedeofens stand. Sogar die Frauen lernten das Schmieden von feinen Schmuckstücken, etwas, das keineswegs üblich war in Souvagne, doch die Frauen der Duponts beteiligten sich mit der gleichen Begeisterung an dieser Arbeit wie ihre Männer, Väter und Brüder.
    Robere suchte sich nicht, wie andere Waisen und Ausgestoßene es tun, einen Ersatzvater. Er suchte sich auch ansonsten für nichts und niemanden einen Ersatz, sondern lebte als Einzelgänger, der hin und wieder dazu gebracht werden konnte, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, sich jedoch ausnahmslos zu jeder Mahlzeit einfand, seine Schüssel nahm und sie sogleich in Sicherheit brachte. Es gab keinen graubärtigen Mentor, welcher die Vaterrolle übernahm, keine gütige alte Frau mit ewigem Lächeln, welche die Mutter für den elternlosen Jungen spielt. Es gab niemanden, dessen Herz sich für dieses Kind erweichte, das so völlig anders war als die Gleichaltrigen. Robere spielte nicht, lachte nicht und blickte so ernst wie die Soldaten an der Mauer. Er hatte keine rosigen Pausbacken oder große blaue Augen, keine weichen Speckärmchen. Robere war sehnig, seine Haut voller Narben, Kratzer und Krusten in unterschiedlichen Heilungsstadien und seine dunklen Augen waren schmal. Ein solches Kind war nicht dazu geeignet, das Bedürfnis zärtlicher Fürsorge zu erwecken. Er spielte nicht und sprach nur wenig. Alles, was er bislang konnte, hatten ihm nicht die Menschen, sondern das Leben selbst beigebracht, ungefiltert mit aller Härte, ohne Rücksicht auf die Seele eines Kindes. Die einzige Person, der er je nahe gewesen war, war Boldiszàr gewesen und nachdem dieser von ihm gegangen war, nahm auch niemand anderes seinen Platz in Roberes Leben ein. Es war, als müsse er diesen Platz freihalten, sauberhalten von fremden Gefühlen, damit er nicht beschmutzt war, falls Boldiszàr je in Roberes Leben zurückkehren würde.
    Mit der Zeit konnte man Robere beibringen, feste Arbeitszeiten einzuhalten, indem man seine Mahlzeiten daran koppelte, ob er pünktlich erschien oder nicht, auch lernte er die Grundlagen der Körperpflege. Viel mehr war dem vernachlässigten Kind allerdings nicht beizubringen. Ganz offensichtlich hatte die Leitung des Waisenhauses recht gehabt mit ihrer Einschätzung, dass er schwach im Geiste sei. Die Knechte und Dienstburschen in der Gewitterfeste mieden ihn und er mied sie.
    Da seine Herren ihn als geistig zurückgeblieben einstuften, bekam Robere Arbeiten zugewiesen, die wenig Geisteskraft erforderten, aber umso mehr Muskelkraft. Er mistete Ställe aus, grub die Gemüsebeete um, schichte Misthaufen, spaltete Holz, stapelte die Klafter, schleppte Milchkannen und hievte Wassereimer aus dem Brunnen. Seinem Körper tat es gut, seine Muskeln wuchsen unter der täglichen Arbeit und dem reichhaltigen Essen. Ansonsten überließ man den Jungen weitestgehend sich selbst, womit sich für ihn kaum etwas änderte, davon abgesehen, dass er nun täglich seine Pflichten wahrnahm und sich jeden Morgen und jeden Abend wusch. Während die übrigen Knechte im Gesindehaus schliefen, baute Robere sich an verschiedenen Stellen auf dem Anwesen verborgene Schlafnester. Sein Lieblingsnest befand sich in der obersten Etage eines mehrstöckigen Heubodens, direkt unter dem Dachgiebel. Dorthin zog er sich nicht nur zurück, um zu schlafen, sondern auch, um seine Beutetiere zu verzehren. Meist waren es Hofkatzen, von denen es stets zu viele gab und deren Fehlen kaum jemand bemerkte. Im Winter war es dort oben allerdings zu kalt und er kroch in das Nest unter der Werkbank im Materiallager der Schmiede, das direkt auf der Rückseite des Ofens lag. Die Duponts akzeptierten diese Schlafgewohnheiten ebenso wie die Tatsache, dass Robere nicht in der Gesindeküche aß, sondern seine Schüssel nach Erhalt jedes Mal sofort in Sicherheit brachte und seine Mahlzeiten allein irgendwo verzehrte, so lange er nur die Schüsseln zurückbrachte und sie nicht irgendwo bunkerte.
    Robere war nicht der Einzige, der das Privileg genoss, für zurückgeblieben gehalten zu werden. Ein Sohn der Chevaliersfamilie namens Maxime bemühte sich als Einziger darum, sich mit ihm anzufreunden. Sie waren gleich alt und teilten eine Besonderheit: Maxime konnte nicht sprechen und Robere wollte es nicht. So hatte Robere das Gefühl, dass dieser Junge der Einzige war, der ihn tatsächlich verstand. Denn Maxime verstand seine Sprache des Schweigens.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Maxime


    Irgendetwas musste mit Maximes Stimmbändern sein, da er zu überhaupt keiner Lauterzeugung fähig war. Es betraf nicht nur seine Fähigkeit zu sprechen, sondern auch sein Lachen war vollkommen lautlos. Seine Verwandten redeten in einfachen Sätzen mit ihm, wobei sie jedes Wort betonten, um sicherzugehen, dass er sie auch wirklich verstand. Maxime schaute dabei aufmerksam, doch zu helfen schienen ihre Bemühungen nichts, er stellte sich vollkommen ungeschickt an und so war er befreit von den üblichen Pflichten der Adelsausbildung, die seine Geschwister und Cousins genossen. Der junge Chevalier hatte den ganzen Tag Freizeit, die er sich damit versüßte, den Leuten auf der Gewitterfeste Gesellschaft zu leisten, wo er es gerade am interessantesten fand. Meist waren das seine Brüder Melvin und Silvain oder die Enkel seines Großonkels Cedric und Cato, die älter waren als er. Am liebsten schaute er ihnen beim Reitunterricht und dem Fechten zu. Er interessierte sich jedoch auch für die Dinge, die seine Schwester Manju lernte, wozu nicht nur Hausarbeit, sondern auch musizieren gehörte. Maxime beteiligte sich nie an irgendetwas, aber er genoss es, dabei zu sein, zu beobachten und zuzuhören. Er leistete nicht nur den Mitgliedern seiner Familie Gesellschaft, sondern auch dem Gesinde. Mal war das der Hufschmied, oft die Soldaten beim Training. Aufgrund seines sanften Wesens freute man sich in der Regel über seine Gegenwart, die entspannend wirkte wie die einer gemütlichen Ofenkatze. Weich und offen waren seine Gesichtszüge und wie bei allen jungen Duponts schimmerte sein kurzes Haar schwarz wie Rabenschwingen.
    Dass Maxime des Sprechens nicht mächtig war, mochte der Grund sein, warum er alsbald auch die Nähe zu dem wortkargen und eigenbrötlerischen Robere suchte, nachdem er ihn einige Wochen aus der Ferne beobachtet hatte. Er steckte ihm seither immer mal wieder einen Keks zu, da er festgestellt hatte, dass Essen eines der wenigen Dinge war, mit denen man die ungeteilte Aufmerksamkeit dieses merkwürdigen Jungen auf sich ziehen konnte, der neuerdings in der Feste wohnte. Das sorgte dafür, dass Robere nach einer Weile von allein auf ihn zukam, wenn er ihn irgendwo entdeckte. Sehr zögerlich, anfangs nur wenige Schritte und dann stehenbleibend und abwartend, aber er wurde stets dafür belohnt. Robere nahm seinen Keks und verdrückte sich, um die Köstlichkeit ungestört zu verzehren.
    So lief das immer ab, doch eines Tages entschloss Maxime sich dazu, ihm zu folgen, als er seinen Keks in Sicherheit bringen wollte. Robere versuchte, ihn durch Rennen, Hakenschlagen und Klettern abzuschütteln, doch Maxime kannte die Burg sehr viel besser als er. Er wusste, wo jeder Weg mündete und welche Geheimwege auf die Dächer führten und welche in den Keller. Auch erwies der Chevalierssohn sich im Laufen und Klettern als nicht halb so ungeschickt, wie er sich stellte, wenn etwas nach Arbeit aussah. Immer wieder schnitt er ihm den Weg ab, er war ihm stets dicht auf den Fersen. Anfangs fühlte Robere sich gehetzt wie ein Stück Wild, er entspannte sich jedoch, als er merkte, dass Maxime keineswegs versuchte, ihm den Keks wieder abzunehmen, wenn er ihn stellte, sondern ihn nur erschreckte und dann mit lautlosem Lachen wieder laufen ließ. Robere schnaubte und knurrte, schlug einen Haken und wechselte die Richtung. Über Stock und Stein liefen sie, kletterten Fässer und Kisten hinauf, huschten über die Dächer und rutschten Regenrinnen hinab. So entwickelte sich das Ganze zu einer spielerischen Jagd durch das Burggelände, bei der sie sich immer wieder gegenseitig zu erschrecken versuchten, indem sie plötzlich hinter einer Ecke hervorbrachen, bis ihre Haare nass waren vor Schweiß und sie schwer atmend nebeneinander her gingen.
    Schließlich kletterte Robere hinauf in sein Nest, Maxime auf den Fersen, der sich dort oben umsah. Er wühlte in den mit reichlich Heu ausgestopften Bettbezügen und Decken und es rieselte Tierknochen unterschiedlicher Größe. Robere erstarrte einen Moment, doch sein Spielgefährte nahm es gelassen. Maxime schüttelte alles aus, bis keine Knochen mehr herausklimperten und baute das Nest wieder neu, so dass sie zu zweit gemütlich hineinpassten. Robere legte sich neben ihn und zerbrach den Keks in der Mitte. Gemeinsam aßen sie je eine Hälfte. Damit begann eine Freundschaft, die fast vollkommen ohne Worte auskam.
    Tagsüber musste Robere arbeiten, doch des Abends blieb noch genügend Freizeit. Sie erkundeten die Festungsanlage und das Moor am Fuße des Tafelbergs, kletterten in den leerstehenden Teilen der Burg herum und besuchten die Gefangenen in den Verliesen. Sie probierten die Rüstungen im Arsenal an, die ihnen teilweise schon passten, was sie sehr stolz machte und spielten mit den Waffen. Da Maxime einer der Burgherren war, konnte niemand etwas dagegen sagen, dass es sich dabei nicht um stumpfe Übungswaffen handelte, sondern um scharfe, die für den Einsatz verwendet wurden und teilweise auch schon Blut gesehen hatten, wie man an den Kerben ablesen konnte. Oft leisteten die beiden Jugendlichen den Soldaten Gesellschaft und schauten ihnen beim Training zu, das sie dann nachspielten und Maxime vergaß dabei, dass er eigentlich unfähig war. Sein Vater Benjamin de Dupont erwischte ihn, wie er sich ganz hervorragend mit einer Armbrust machte. Gut gelaunt lehnte der Chevalier plötzlich an der Wand des Mannschaftsquartiers, während die beiden auf Strohpuppen zielten, die von den Soldaten mit Turbanen in Form von Bettlaken ausgestattet worden waren.
    »Du scheinst einen guten Einfluss zu `aben, Robere«, lobte er und beobachtete die beiden eine Weile bei ihren Schießübungen. Auch der Soldat, der die beiden beaufsichtigte, erhielt ein Lob, ehe Benjamin sich wieder verdrückte, um die positive Entwicklung nicht zu stören.
    Der mit Sand ausgekleidete Trainingsplatz wurde von den Soldaten in ihrer Freizeit gern für grobe Ballspiele zweckentfremdet, an denen die beiden Jugendlichen sich ebenfalls begeistert beteiligten. Die groben Erwachsenenspiele gefielen Robere besser als die banalen Kinderspiele, in denen er nie irgendwelchen Nutzen gesehen hatte und um die Volljährigkeit herum lernte er erstmals im Leben, wie man wirklich spielte. Es hatte eine befreiende Wirkung, sich auf diese Weise zu messen und seinen Körper zu erproben, doch schlug es bei Robere schneller als bei allen anderen in Ernst um. Wenn er sich zu grob behandelt fühlte, hatte er auch keine Scheu, die erwachsenen Soldaten anzugreifen. Er wusste nicht, dass er es Maximes Gegenwart verdankte, dass diese Respektlosigkeit weitestgehend nachsichtig erduldet wurde, anstatt dass die Soldaten ihn in seine Schranken prügelten. So lernte Robere zwar zu spielen, aber er lernte auch, dass er niemandem Respekt zu zollen brauchte, der kein Burgherr war. Und er lernte, dass grobe Spiele vollkommen in Ordnung waren und er allein die Regeln bestimmte, wie sie ihm gefielen. Das machte ihn nicht unbedingt zu einem angenehmeren Zeitgenossen als vorher.
    Im Laufe der Jahre verlagerten sich ihre Interessen in eine erwachsenere Richtung. Es kam die Zeit, da Maxime abends nach ihrem gemeinsam verbrachten Feierabend nicht mehr zur Schlafenszeit in seine Gemächer zurückkehrte, sondern Robere in sein Versteck auf dem Heuboden begleitete und sich in der aufsteigenden Dunkelheit zu ihm legte, um mit ihm zu experimentieren. Es ging von Maxime aus, der zeitiger in entsprechenden Bahnen dachte und Robere spielte mit. Es war ein zärtliches Balgen, bei dem es darum ging, spielerisch Nähe herzustellen, mehr war es noch nicht. Für Robere war es das erste Mal, dass jemand ihn freundlich berührte und er wurde regelrecht süchtig danach. Obwohl er körperlich eindeutig überlegen war, ließ er sich nur zu gern besiegen und auf den Rücken drehen, damit Maxime sich auf ihn legte und ihn so festhielt, dass er vermeintlich nicht mehr aufstehen konnte. Er wollte Maxime am liebsten ständig spüren. Er suchte nun in einem Ausmaß seine Nähe, dass es Maxime unangenehm wurde, weil er regelrecht belagert wurde und Robere ihn verfolgte und ihm auflauerte, um ihn sehr nachhaltig zum spielen zu überreden, wenn Maxime nicht wollte. Das ging so weit, dass Robere eines Tages von dessen Brüdern verprügelt wurde, als diese es bemerkten. Das sorgte allerdings lediglich dafür, dass er vorsichtiger wurde.
    Eines warmen Sommerabends sah Robere Maxime allein am Wasserbecken sitzen, in dem Regen aufgefangen wurde, die Füße im kühlen Nass schaukelnd. Robere blieb in einiger Entfernung stehen und betrachtete ihn. Auf eine zweite Tracht Prügel von den Chevaliers hatte er keine Lust, doch er sehnte sich nach der Nähe von seinem Freund. Maxime blickte zunächst weg, da es ihm wohl doch etwas viel geworden war, aber als Robere nur stehen blieb, überlegte er es sich anders und klopfte lächelnd neben sich. Ganz vorsichtig, um Maxime nicht erneut zu vergraulen, kam Robere näher, am Ende kroch er auf allen vieren und schmiegte seinen Kopf wie ein Hund unter seinen Arm. Er wurde belohnt mit einer Streicheleinheit. Überhaupt hatte er vieles von seinem Verhalten von den Hunden abgeschaut, mit denen er häufiger zu tun hatte als mit den Menschen, deren Gegenwart er in der Regel mied, von Maxime abgesehen. So hatte er auch gelernt, bei Prügeleien in den Hals zu beißen, was die Soldaten nicht witzig gefunden hatten, die Zähne zu zeigen und zu knurren. Doch nun war er in einer sehr angenehmen Stimmung, die er nicht ganz zu deuten wusste. Er stellte fest, dass Maxime zum Planschen mit den Füßen die Hose ausgezogen hatte. Das intensive Gefühl, was ihn nun befiel, konnte Robere nicht deuten. Es war heftig, brachte sein Herz zum Rasen.
    Maxime schien es zu bemerken, er grinste und erhob sich, die Hose über den Arm gelegt und nahm Robere mit in einen selten begangenen Versorgungsgang der Burg. Schmal und dunkel war es hier. Bald drang ein seifiger Geruch in Roberes empfindliche Nase, zusammen mit dem Geplapper von Frauen, doch alles war gedämpft. Alle Geräusche und Gerüche drangen durch einen Lüftungsspalt in der Wand. Sie kletterten einen Stapel Kisten hinauf, der eine Treppe bildete, wo Maxime ihm ganz oben angelangt bedeutete, sich zu ihm zu setzen. Robere gehorchte. Er konnte die Wärme von Maximes nackten Schenkeln an seinen Beinen spüren. Von hier konnten sie durch den Lüftungsspalt in die Wäscherei sehen, wo zahlreiche Mägde sich um die Wäsche kümmerten. Warum er ihnen beim Schrubben und Walken zusehen sollte, erschloss sich Robere nicht, aber Maxime begann, mit sich selbst zu spielen, während er verträumt die Frauen und Mädchen beobachtete. Robere machte es sich bequem und folgte seinem Beispiel, nur, dass seine Aufmerksamkeit mehr seinem Freund galt als dem Geschehen in der Wäscherei. Das intensive Gefühl, was er die ganze Zeit schon spürte, verstärkte sich und ehe er sich versah, geschah etwas, das seinen Körper aufbäumte, so dass er fast von den Kisten gestürzt wäre, ehe es genau so plötzlich endete, wie es begonnen hatte. Keuchend und mit zitternden Händen schaute Robere, was soeben passiert war, während Maxime das Gleiche erlebte. Robere beobachtete ihn und zog seine Schlüsse. Sein Freund hatte das schon gekannt und ihm jetzt beigebracht. Gut, dass er seinen Maxi hatte. Robere fühlte sich sehr viel ruhiger und ausgeglichener als vorher. Maxime grinste nach vollbrachtem Werk glückselig und reichte ihm sein Stofftaschentuch, damit er sich abputzen konnte.
    Von diesem Tag an spielten sie anders miteinander. Ihre zärtlichen Balgereien mündeten nun stets darin, dass Maxime einen Fleck suchte, wo sie die Frauen gut beobachten konnten und sie sich gemeinsam Erleichterung verschafften. Das ging so lange gut, bis Maxime das Balgen irgendwann ausließ, Robere nur noch abholte und sogleich mit ihm ihren Beobachtungsposten aufsuchte. Das war der Punkt, wo Robere das Spiel nicht mehr so gut gefiel. Ihm fehlte das Balgen. Und ohne, dass er das Gefühl benennen konnte, ärgerte er sich darüber, dass Maxime lieber den Frauen zuschaute, als mit ihm zu spielen. Es machte ihn richtig wütend.
    Als Maxime ihn das nächste Mal vom Stall abholen wollte, packte Robere ihn und schleuderte ihn rücklings gegen die Wand. Er hielt ihn fest und starrte ihm in die Augen.
    »Wir spielen hier. Zu zweit«, befahl er. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, wo er sich entschloss, in Worten zu sprechen, um zu zeigen, wie ernst es ihm war. Er drängte Maxime in eine Ecke, so dass der nicht mehr fort konnte und öffnete seine Hose. Er umarmte Maxime, um das Balgen zu beginnen. Halbherzig wehrte Maxime sich und sie sanken ins Stroh.
    »Zieh die Hose runter«, befahl Robere mit glühenden Wangen.
    Maxime begann zu zittern. Robere beobachtete es mit einer Mischung aus Unverständnis und Wut. Weshalb hatte er Angst vor ihm? Er wollte nur spielen, genau so wie früher. Warum mochte Maxime das nicht mehr?
    Robere hörte auf, ihn festzuhalten und drehte den Kopf, damit Maxime ihn kraulte. Der kannte die Geste, aber stattdessen schob er ihn weg und versuchte, auf die Füße zu kommen. Robere packte ihn an der Kleidung und schleuderte ihn zurück ins Stroh. Maxime würde heute nicht fortgehen.
    Robere setzte sich auf seinen Bauch, sein Schritt glühte wie ein heißes Stück Eisen. Er umarmte seinen Freund der Länge nach, und als der sich unter ihm wand, kam Robere unter einem tiefen Stöhnen. Es war heftig, intensiver als je zuvor, als er ihn dabei unter sich spürte. Robere gebrauchte seine Stimme nicht oft, doch nun hörte er deutlich, wie tief sie inzwischen klang, als sein eigenes Knurren in seiner Brust vibrierte. Was für ein Donnergrollen, er fühlte sich erwachsen und so stark wie nie zuvor. Als seine Lust abebbte, stützte Robere seine Arme auf und blickte auf Maximes Gesicht hinab. Zärtlich leckte er ihm die Wange, ehe er die Hüfte hob und von ihm herunter stieg. Keuchend sank er neben ihm ins Stroh.
    »Ich spiel so gerne mit dir, Maxi«, flüsterte er. »Kraul mich.«
    Maxime nickte zitternd. Er beruhigte sich etwas, jetzt, wo Robere ihn nicht mehr fixierte und folgte der Aufforderung. Nach einer Weile jedoch stand er auf, klopfte das Stroh von der Kleidung, wischte sein Hemd mit einer Handvoll getrockneter Halme sauber und ging. Er ließ ihn einfach liegen.
    Abends in seinem Nest fragte Robere sich, was er falsch gemacht hatte. Sie hatten doch früher miteinander gebalgt? Die Nacht verbrachte er mit der panischen Angst, Maximes Freundschaft zu verlieren wegen irgendeinem Fehler, dessen Natur er nicht verstand. Warum war plötzlich falsch, was früher noch in Ordnung gewesen war? Die Angst manifestierte sich in einem unerträglichen Heißhunger, der dazu führte, dass er wieder aufstand und jagend durch die nächtliche Gewitterfeste strich. Am nächsten Morgen trat er seine Arbeit an, hörte die anderen Stallburschen über die toten Tiere sprechen. Es kümmerte ihn nicht, ob man auf ihn schloss und er dafür Schelte bekam oder Prügel. In all der Zeit, als er Brennholz spaltete und stapelte, fragte er sich, ob Maxime ihn nie wieder nach der Arbeit abholen würde. Doch als die Sonne unterging, war Maxime wieder da, ein versöhnliches Lächeln auf den Lippen.
    Und er war nicht allein.
    Mit einem Kloß im Hals trat Robere näher. Maxime hatte ein junge Magd angeschleppt. Argwöhnisch musterte Robere sie von Kopf bis Fuß. Sollte die heute mitspielen? Sie war kleiner als die beiden, mit großen Brüsten ausgestattet, die lose unter ihrem weißen Oberteil schwangen. Robere sah diese Frau und hasste sie.
    Maxime bemerkte es nicht. Er grinste ihm zu, knuffte ihn und gab den Weg vor. Er führte seine zwei Begleiter in einen Lämmerstall, der zur Zeit nicht benutzt wurde. Es gab hier nichts als sauberes Stroh. Zu Roberes Entsetzen begann Maxime, die Magd zu entkleiden und innig zu befühlen. So, wie er dabei vorging, hatte er das schon mal getan, allein, heimlich, ohne ihn. Er und die Magd kannten sich, kein Zweifel, so vertraut, wie sie miteinander umgingen. Robere spürte, wie etwas in ihm zu Stein wurde bei diesem Gedanken. Doch er würde mitspielen. Er wollte sehen, was Maxime alles getan hatte hinter seinem Rücken.Die Magd drückte sich Maxime entgegen, während er sie von den letzten Kleidungsstücken befreite. Er war einer der Herren, sie hatte zu gehorchen, doch sie sah nicht aus, als würde ihr das Unbehagen bereiten. Als sie nackt zwischen den beiden jungen Männern stand, drehte Maxime sie mit dem Gesicht zu Robere und stellte sich hinter sie. Robere sollte mitmachen.
    Die Magd lächelte ihm zu. »Wie heißt du?«, fragte sie Robere.
    »Scheißegal«, antwortete der. »Halt den Mund.«
    Von hinten umgriff Maxime mit beiden Händen ihre Brüste und knetete sie. Dann nahm er die Hand seines Freundes und legte sie auf die weiche Wölbung, damit er es ihm nachmachte. Langsam befühlte Robere die Magd, während die Wut in ihm brodelte. Doch das Gefühl fand nicht den Weg auf sein Gesicht. Er griff fester zu, vielleicht etwas zu fest, denn ihr Leib spannte sich. Grob knetete er sie weiter, mit beiden Händen nun, doch sie hielt still und nach einer Weile schien sie sogar Gefallen daran zu finden, wie fest er sie berührte. Stöhnend schmiegte sie sich an ihn und bettete ihr Gesicht an seinen Hals. Maxime trieb derweil hinter ihr irgendetwas. Die Magd legte ihre schmalen Hände auf Roberes kräftige Schultern und hielt sich an ihm fest, während Maxime sie rhythmisch mit der Hüfte zu stoßen begann. Sie stöhnte gegen Roberes Hals.
    Erst jetzt begriff Robere, was da geschah. So etwas hatte er schon bei den Hunden gesehen und bei den Rindern auf der Weide in der Nähe vom Waisenhaus. Und jetzt verstand er auch, was er mal bei zwei der Soldaten gesehen hatte. Sie hatten sich gepaart. Maxime paarte sich! Roberes Blick war eisig, während seine Männlichkeit in Flammen stand. Er wollte wissen, wie das ging, er wollte das auch machen können.
    Er entwand sich dem Griff der Magd und drückte sie gegen die Wand, so dass sie sich dort abstützte, ehe er sich neben seinen Freund stellte, um sehen zu können, wie Maxime das anstellte.
    Nach einer Weile hörte Maxime auf und bedeutete Robere, sich zu setzen, was dieser auch mit bebendem Herzen tat. Er zog sich die Hose aus, dann gab Maxime der Magd einen Fingerzeig. Sie stellte sich breitbeinig über Robere, ehe sie auf ihn niedersank. Er zuckte zusammen, Maxime hielt dabei seine Schulter. Robere verkrampfte, als er in ihrem Fleisch verschwand.
    »Du bist ziemlich süß«, sagte sie. »Aber warum so verklemmt? Du brauchst dich nicht zu schämen.« Dabei strich sie über den Flaum schwarzen Haares, der seinen Bauch und seine Brust seit einiger Zeit überzog.
    Er antwortete nicht.
    Die Magd begann sich auf ihm zu wiegen und ihr Leib massierte ihn da unten. Er spürte, wie es ihm kommen wollte, aber es erfüllte ihn nicht mit Vorfreude, sondern mit blanker Wut. Das Spiel gehörte ihm und Maxime! Wie konnte diese Frau sich erdreisten, das hier mit Robere zu machen, sie gehörte nicht dazu!
    Er wollte sie von sich werfen, doch Maxime kniete sich nun hinter sie und schob sich erneut in sie hinein. Jetzt waren sie beide in ihr drin, einer vorn, der andere hinten. Robere spürte Maximes Hoden kühl und weich an seinem Bein streifen. Maxime schenkte ihm einen aufmunternden Blick und streichelte seine Schulter. Das stimmte Robere wieder milde und er ließ sich in Rückenlage sinken, als er ihn sanft dahin schob. Die Magd folgte seiner Bewegung, legte ihre Brüste auf ihm ab und öffnete ihren Unterleib für ihren Herrn, der sie schnell und tief von hinten zu stoßen begann. Die Bewegungen bekam Robere unmittelbar zu spüren, er machte nun kräftig mit. Das Spiel begann ihm wieder zu gefallen, er grinste Maxime zu, der grinste zurück. Kurz darauf kam Robere. Er schob die Magd sofort im Anschluss von sich herunter, als wäre sie giftig, und kniete sich neben Maxime, der noch nicht fertig war. Robere beobachtete genau, wie sein Freund sich immer wieder in sie hinein schob, bis auch er so weit war. Maximes Körper krampfte, bis er wieder zur Ruhe kam, mit lautlosem Keuchen sank er auf ihr zusammen. Kichernd und küssend wand die Magd sich unter ihm.
    Sie küsste Maxime auf den Mund!
    Robere zog seinen Freund wieder in eine aufrechte Position und dann ganz fest an sich heran und drückte ihm seinerseits einen Kuss auf die Lippen. Maxime wirkte überrascht, dann lachte er sein lautloses Lachen, schüttelte den Kopf und befreite sich, um sich anzukleiden. Warum wich er aus? Weshalb durfte diese dahergelaufene Magd ihn küssen, aber nicht sein bester Freund? Robere versuchte es ein zweites Mal, aber er wurde erneut weggeschoben. Maxime wollte keinen Kuss von ihm. Robere spürte dermaßen Wut und Enttäuschung in sich aufsteigen, dass er sich schneller als die anderen beiden anzog und den Stall verließ. Etwas in ihm wollte töten. Nicht aus Hunger, sondern aus Hass.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Weißer Hirsch
    Souvagne, Jahr 182 nach der Asche. Lehen Dupont, Gewitterfeste.


    Nach Feierabend kam die Magd. Sie war allein. Robere hatte ihren Namen noch immer nicht erfahren und er interessierte ihn auch nicht. Langsam ging er ihr entgegen, ihr Gesicht musternd, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen. Die Augen waren das Tor zur Seele, sagte man. Und sie sollte nicht Gelegenheit erhalten, in die seine zu blicken. Die untergehende Sonne schien hinter ihrem Rücken und Robere zog einen langen Schatten hinter sich her, dessen Haupt vom noch tieferen Dunkel im Inneren der Scheune verschluckt wurde. Die junge Frau war eine Silhouette vor einem Tor aus gleißend orangerotem Licht, bar jeglicher Details, der Scherenschnitt eines Menschen.
    »Wo ist Maxi?«, verlangte Robere zu erfahren, schob sich an ihr vorbei ins Abendlicht und spähte auf den Hof, die Augen gegen die Helligkeit zusammengekniffen. Eine Henne kreuzte den Weg, zehn gelb und braun getigerten Küken trippelten hinterdrein. In der Ferne erklangen die Rufe der Soldaten beim Wachwechsel, ein Hund schlug an. Über Roberes Oberarm strich eine schlanke Hand, die ihn dazu brachte, sich umzuwenden.
    »Unser Herr hat mir bedeutet, dich heute allein abzuholen«, säuselte die Magd. Nun, da sie beide im Sonnenlicht standen, hatte sie wieder ein Gesicht, wirkte plastisch, als hätte sie eben vollständige Gestalt angenommen. »Ich hoffe, du bist nicht böse.«
    »Böse?« Er überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. »Bin ich nicht.«
    »Also?« Hoffnungsvoll strichen ihre Finger über seine muskulöse Brust. Das Orange der Sonne verfing sich in ihrem dunkelblonden Haar. Maxime und Robere waren von lichtloser Finsternis gekrönt. So wie Boldi, vor vielen Jahren. Robere dachte nach, spielte den Gedanken, zu zweit mit ihr Spaß zu haben, bis zum Ende durch, ehe er erneut den Kopf schüttelte. »Nicht ohne Maxi.«
    Enttäuschung überschattete ihr Antlitz. »Mal ehrlich«, fragte sie leise. »Unter uns. Bist du schwul?«
    Seine Hand schnellte nach vorn, umschloss ihre Kehle und schob sie zurück in die Finsternis. Im Inneren der Scheune schleuderte sie gegen die Bretterwand, drückte ihren Hals zu, bis sie nicht mehr atmen konnte. Er hatte keine Ahnung, was das Wort bedeutete, aber aus ihrem Mund hörte es sich an wie eine Beschimpfung. Er ging ganz nah an sie heran.
    »Ich bin nicht schwul, verstanden?«, zischte er in ihr Ohr. »Aber du bist gleich tot. Noch ein falsches Wort.« Er löste seine Hand langsam.
    Mit einem nach innen gezogenen Schrei holte die Magd Luft.
    »Wo ist Maxi?«, grollte Robere. »Ich frage dich kein drittes Mal.«
    »Ballspielen ... bei den ... Soldaten«, krächzte sie, während sie ihren Hals hielt, auf dem dunkelrote Abdrücke seiner Fingerspitzen prangten. »Aber er ...«
    »Still. Kein Wort über das hier«, sprach er nachdrücklich, wandte sich ab und verließ die Scheune.
    Er näherte sich dem Übungsplatz nicht auf direktem Wege, sondern nahm den Umweg durchs Arsenal, damit man ihn auf dem Platz nicht gleich sah. Die Magd hatte nicht gelogen. Da spielten sie, mit nackten, vom Schweiß glänzenden Oberkörpern, die Augen wegen der tiefstehenden Sonne zusammengekniffen. Eine Weile beobachtete Robere die Spieler. Maximes Körper war weißer als die braungebrannten Körper der Soldaten, die im Sommer oft mit freiem Oberkörper trainierten. Ein Adliger setzte seine Haut selten der Sonne aus, Blässe galt als vornehmes Zeichen des Standes. Maxime erinnerte Robere an einen weißen Hirsch inmitten eines Rudels von entfesselten Kettenhunden. Elegant wich er aus, sprang leichtfüßig von hier nach da, fast schon tänzerisch. Die Soldaten wirkten gegen ihn alt, grau, narbig und struppig. Maxime aber leuchtete weiß und unversehrt.
    Je länger Robere dem Spiel aus seinem Versteck um die Ecke heraus beiwohnte, umso weniger wollte er nur Zuschauer sein. Als würde er selbst nun Wolf werden, wurde er magisch angezogen von den flinken Bewegungen. Er konnte nicht länger tatenlos bleiben, sein Blut schrie danach, sich den Hirsch zu packen.
    Maxime machte gerade einen Hechtsprung und fing den Ball einer Gruppe von Soldaten vor der Nase weg. Kaum schlug er auf dem Sand auf, landete das Gewicht eines Körpers auf seinem Rücken. Starke Arme pressten ihn zu Boden. Robere knurrte die Soldaten zu allen Seiten weg, ganz Raubtier im Herzen, während er seine Beute gegen sie abschirmte. Maxime gehörte ihm, er hatte ihn gefangen, er war sein. Sie zögerten, auf die Reaktion ihres adligen Mitspielers wartend. Doch der kam gar nicht zum reagieren, weil ihm die Hose über das Gesäß gezogen wurde. Weiß war es außen, rosig im Zentrum.
    »Ich bin bei dir, Maxi«, flüsterte Robere, presste seinen harten Schritt zwischen Maximes Hinterbacken, sank nach vorn und küsste seinen nackten Hals. »Du hast lange mit ihnen gespielt, nun bin ich an der Reihe. Die Magd, die du mir geschickt hast, interessiert mich nicht. Du bist es, mein weißer Hirsch. Lass uns in mein Nest gehen. Wir können das auch zu zweit ... ich hab es gesehen, bei zwei Soldaten. Wir brauchen keine Frau, die zwischen uns liegt, keine Grenze, die uns trennt. Ich war zu lang allein, um noch Grenzen zu wollen. Lass uns spielen gehen, Maxi.«
    Maxime kämpfte sich unter ihm hervor, kam auf die Füße und zog die Hose hoch. Seine Wangen glühten pink. Der weiße Hirsch verwandelte sich vor Roberes Augen in einen weißen Wolf. Keine Jagdbeute, sondern ebenbürtiger Gegner. Sie starrten sich an. Die Soldaten traten unruhig von einem Fuß auf den anderen, als sie den Stimmungswechsel bemerkten und Robere sich langsam aus dem Sand erhob, den jungen Chevalier mit seinen Blicken regelrecht sezierend. Was er in ihm sah, die Soldaten wussten es scheinbar und sie ahnten, was es verhieß. Er roch ihre Anspannung, sah sie in jeder Bewegung. Maxime jedoch blieb ruhig trotz seines Zorns. Er machte eine scheuchende Handbewegung, dass Robere verschwinden solle. Beiläufig, als würde er einen streunenden Köter verjagen. Robere starrte die Hand an, als wäre er damit geschlagen worden. Er rührte sich nicht vom Fleck.
    Einer der Soldaten verpasste Robere einen kraftvollen Schubs mit der Hand, so dass er zur Seite stolperte und dann noch einen, so dass er ein Stück rennen musste, um nicht hinzufallen. »Du hast unseren Herrn verstanden. Zisch ab, Robby.«
    Robere drehte sich um und sprang ihm an die Gurgel. Seine Zähne verbissen sich im verschwitzten Hals des Mannes, er schmeckte Salz, knirschende Sandkörner zwischen seinen Zähnen und Blut. Die Kameraden des Soldaten brauchten nur wenige Sekunden, um Robere in Grund und Boden zu prügeln. Die Meute würde ihn zerfetzen. Er rollte sich ein, die Arme schützend über dem Nacken gekreuzt, als Fäuste und Füße hart wie ein Regen von Pflastersteinen auf ihn einschlugen. Starke Hände packten seine Kleidung von mehreren Seiten, irgendjemand griff ihm ins Haar, man schleifte ihn davon und er wurde ins Verlies geworfen, wo sich mit einem eisernen Klang die Gittertür hinter ihm schloss.
    Stille, Dunkelheit und Kälte. Es roch nach nassem Stein und Eisen.
    Robere kannte diese Räume, er hatte sie mit Maxime gemeinsam erkundet, wenn keine Insassen darin waren. Die Keller der Gewitterfeste waren tief und dunkel, das Ende des Kellerlabyrinths hatten sie nie gefunden. Die Zellen waren aus stabilem Mauerwerk, die Gitter nahezu frei von Rost. Aus diesem Verlies gab es keinen Ausweg. Robere rollte sich auf einem alten Strohhaufen in der Ecke ein und leckte seine Schürfwunden und Prellungen, so wie es Hunde taten. Er hoffte, Maxime würde nach einer Zeit nach ihm sehen kommen und die Tür öffnen, sobald er sich beruhigt hatte. Doch er kam nicht, niemand kam. Zwei Tage musste er in der Zelle ausharren, dann war über sein Schicksal entschieden worden.
    Schwere Stiefel näherten sich, eine Gruppe stieg die Kellertreppe hinab. Robere erhob sich. Zwei Soldaten, die das grau-schwarze Wappen der Duponts trugen, öffneten die Tür. Kein Maxime. Ein rothaariger Offizier mit einer langen Narbe quer über dem Auge, der eine andere Tracht trug, baute sich breitbeinig vor ihm auf. Sein Wappenrock war weiß, bestickt mit zwei liegenden roten Halbmonden übereinander.
    »Robere Moreau, trete nach vorn.«
    Robere ging einen zögerlichen Schritt. Er hatte deutlich zu spüren bekommen, wozu verärgerte Soldaten in der Lage waren. Ganz im Gegensatz zu dem, was er in seiner Unerfahrenheit früher geglaubt hatte, hatte er ausgebildeten Kriegern nichts entgegenzusetzen. Im Pulk erst recht nicht, vermutlich aber nicht einmal Mann gegen Mann, egal, wie stark er von der harten Arbeit war und wie erfolgreich beim Jagen. Die Soldaten hatten ihn unsanft zurück auf den Boden der Tatsachen geholt, doch damit war die Lektion noch nicht vorbei.
    »Ich bin Chevalier Ilan de Sonzier, Offizier der Strafkompanie«, stellte der Rothaarige sich vor. »Ich werde dich mitnehmen und du wirst Teil unserer Einheit. Dort wird man dich zu einem ordentlichen, pflicht- und ehrliebenden Soldaten erziehen. Betrachte es als deine letzte Bewährungsprobe. Fünfzehn Jahre hast du dafür Zeit. Wenn du dich bewährst und überlebst, wird man dich als rehabilitiert betrachten. Wenn du scheiterst, ist diese Kompanie deine Endstation und du wirst dort arbeiten, bis du fällst. Hast du das verstanden?«
    Ilan ließ eine Pause, in der er den Gefangenen streng ansah.
    »Was bedeutet reha ... rehabliert, Herr?«, fragte Robere leise.
    »Es bedeutet, dass du vor dem Gesetz nicht mehr als Krimineller giltst, wenn du durch den Dienst in der Armee beweist, dass du ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft bist. Rehabilitiert bedeutet, man wird dir deine vergangenen Taten vergeben. Du hast nach fünfzehn Jahren die Möglichkeit, dich auf Empfehlung deines Kommandanten erneut bei deinem Lehnsherren vorzustellen und ihn um zivile Arbeit und Unterkunft zu bitten. Viele bleiben aber auch und werden zu den regulären Streitkräften versetzt. Calvin de Dupont war ausgesprochen großzügig mit dir. In die Strafkompanie abkommandiert zu werden ist nicht selbstverständlich und zeigt, dass er glaubt, dass in dir mehr schlummert als der ehrlose Sittenstrolch, als der du heute vor mir stehst. Du erhältst eine zweite Chance. Nutze sie, denn eine dritte wird es nicht geben. Du beginnst am besten damit, indem du dich umziehst und mich, ohne Ärger zu machen, ins Feldlager begleitest.«
    Ilan de Sonzier gab einen Wink und von den vier Soldaten, die ihn begleitet hatten, reichte einer Robere Einheitskleidung, ein anderer stellte ihm Stiefel hin. Kurz darauf war der Gefangene umgezogen.
    An einer Kurve gelang es Robere, einen letzten Blick auf die Gewitterfeste zu erhaschen, die drei Jahre sein zu Hause gewesen war. Er hatte sie als Kind betreten und verließ sie als Mann. Fünfzehn Jahre ... das waren fünf mal so viel. Die Burg hüllte ihr Haupt in eine Krone aus tiefhängenden Herbstwolken, so dass die Dächer sich im Grau verloren. Irgendwo dort oben blieb Maxime zurück, der sein unbeschwertes Leben fortsetzte und ihn bald vergessen haben würde. Es ging dem jungen Chevalier gut, er hatte zahlreiche Brüder und Cousins, seinen Vater und etliche Onkel und Großonkel. Außerdem hatte er die Mägde, die ihm die einsamen Stunden versüßen konnten, wann immer ihm danach war. Robere jedoch hatte niemanden mehr.
    »Beweg deinen Arsch«, blaffte Ilan von hinten, obwohl Robere nicht fand, dass er langsamer geworden wäre. Er hatte nur geschaut. Er wandte den Kopf wieder nach vorn und starrte auf die Holzbohlen, die unter seinen neuen Stiefeln polterten. Es war ungewohnt, Schuhwerk mit so dicken Sohlen zu tragen und er hatte das Gefühl, dass ihm dadurch einer seiner Sinne fehlte. Das feine Ertasten des Untergrundes, das leichtfüßige Klettern und lautlose Schleichen wurden ersetzt durch stumpfsinniges Gepolter, bis jeder Schritt brannte.
    Zwei Tage währte der Marsch, dann erreichten sie ihr Ziel.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Im Feldlager der Strafkompanie
    182 nach der Asche, Souvagne, nördliche Grenzregion


    Von Bäumen war hier nichts mehr zu sehen, die Wälder waren von einer Dornstrauchsavanne abgelöst worden. Das Feldlager bestand aus einem aufgeschütteten Erdring, mit nach außen ragenden Pfählen gespickt, in dessen Innerem ein Raster von schmutzigen Zelten stand. Roberes erster Eindruck war der eines Freiluftgefängnisses. Der Wall sollte den Feind draußen halten, doch er hielt die souvagnischen Soldaten gleichsam im Inneren eingekerkert. Jeder hier ging einer Arbeit nach und das in sehr hohem Tempo. Auf der Gewitterfeste war während der Arbeit geplaudert wurden, hier aber hörte man nur das Schürfen von Spaten in der Erde, das Klopfen von Hämmern, das Klirren und Schlagen von Übungswaffen, das Bellen eines einzelnen Mannes, der Kommandos gab. Danach rhythmisches Stampfen, ein erneutes Kommando, synchrones Rufen der Truppe, Stille. Nun sprach der Mann, aber Robere konnte ihn nicht verstehen.
    Ilan de Sonzier führte seinen Schützling zu einer gezimmerten Baracke, in der verschiedenes Material gestapelt war. Robere bekam alles ausgehändigt, was zu seinem Marschgepäck gehörte: Tragestange, Schild samt Schildhülle und Gurt, Kettenpanzer, Eisenhut, Beinschienen und Armschienen, Mantelsack, Proviantnetz, Lederbeutel mit Kochgeschirr, dazu gehörten ein Eimer, ein Bronzetopf, eine Kasserolle, ein Löffel und ein Messer. Des Weiteren gab es eine Feldflasche, die auch am Gürtel getragen werden konnte. Dies war die letzte Wasserration, in den Wasserschlauch passte um einiges mehr hinein. An Waffen wurde ihm ein Kurzschwert, ein Dolch, ein Speer und eine Armbrust samt Munition ausgehändigt, auch ein breiter Waffengürtel gehörte dazu, der über dem Hemd getragen wurde, der die Hose hielt. An Kleidung erhielt er ein knielanges Leinenhemd mit Schnürung und ein zweites zur Reserve, einen offenen Wollmantel mit Kapuze, zwei paar Beinlinge, zwei paar Strümpfe. Hosen gab es keine, unter dem gemeinen Volk waren Beinlinge üblicher.
    »Wie du siehst, ist hier alles normiert«, erklärte Ilan. »Das unterscheidet die staatliche Armee von einer Milizarmee oder einer Söldnertruppe, wo jeder Kämpfer für das Stellen seiner eigenen Ausrüstung verantwortlich ist.«
    Damit war es jedoch noch nicht getan, denn auch das Schanzzeug gehörte zur Ausrüstung. So bekam Robere auch eine Pionieraxt, eine Ziehhacke, einen Schanzkorb, einen Spaten, diverse Säcke und Stricke sowie einen Schanzpfahl ausgehändigt.
    Wenn Robere das gesamte Gewicht schleppte, so wie jetzt, kam er auf ein Gewicht von fast 70 kg. Es fühlte sich an, als würde er Maxime huckepack tragen, wenn der sich obendrein steif und unbequem machte. Wie er das über längere Strecken schleppen sollte, war ihm ein Rätsel.
    »Das ist jetzt das Maximalgepäck«, erklärte Ilan ihm. »Es brachte uns den schönen Spitznamen ›Maultiere des Maximilien‹ ein. Die Soldaten haben ihn sich selbst gegeben. Im Einsatz trägst du das hier natürlich nicht alles. Das wiegt jetzt so viel, weil das Schanzzeug dabei ist, was du nur dann mit dir trägst, wenn das Lager den Standort wechselt. Das Normgepäck ohne Schanzzeug und ohne private Dinge wiegt um die fünfzig Kilo. Beim leichten Gepäck, wenn der Schild am Wagen hängt, trägst du um die fünfunddreißig Kilo. Den Hauptanteil an dem Gewicht machen dabei der Kettenpanzer und der Helm aus. Dass hohe Gewicht mag dir zunächst als Nachteil erscheinen, birgt aber in Wahrheit viele Vorteile. Da jeder Soldat der Strafkompanie seine Ausrüstung selbst trägt, benötigen wir so gut wie keine Wagen und somit auch kaum Maultiere. Das erspart uns nicht nur die Versorgung der Tiere, sondern macht uns auch sehr viel mobiler als andere Einheiten. Ratzfatz geht das bei uns, wenn wir von hier nach da müssen. Da jeder für seine eigene Ausrüstung komplett selbst verantwortlich ist, sind wir in kürzester Zeit bereit, das Lager abzubrechen, zu marschieren und es genau so schnell woanders wieder aufzubauen. Jeder Soldat trägt zudem einen Schanzpfahl mit sich. Die Möglichkeit, so schnell den Standort zu wechseln, ermöglicht unserer Einheit flexiblere Taktiken im Gefecht. Genau so wichtig ist aber der Fakt, dass dieses hohe Gewicht die Soldaten diszipliniert hält, da sie ihre Kräfte gut einteilen müssen. In einer Strafkompanie kann das nur von Vorteil sein. In einem Standlager sieht das freilich anders aus, dort schleppen sie weniger, das machen die Mulis und die Sklaven. Braucht dich aber für die nächsten fünfzehn Jahre nicht zu interessieren. So, wir schauen mal, ob dein künftiger Ausbilder jetzt für dich Zeit hat.«
    Damit führte er den im Schneckentempo gehenden Robere zum Drillplatz. Auf dem Rücken trug er den Schild, über der Schulter die Tragestange mit dem herumbaumelnden Gepäck, das ihn aufgrund seines Eigengewichts zum Straucheln brachte. Dass er den Speer neben der Tragestange auf der Schulter tragen sollte, machte diese nicht leichter zu handhaben. Das Holz dellte ihm die Schulter bis auf den Knochen ein. Die wunden Füße während des Marsches waren wahre Luxusprobleme gewesen gegen die Vorstellung, den gleichen Weg mit diesem Gepäck zurücklegen zu müssen, am besten noch durch unwegsame Wildnis.
    »Meqdarhan«, rief Ilan und der Besagte, der gerade den Abzug der Soldaten vom Drillplatz beaufsichtigte, wandte sich um. Als er den Offizier erkannte, nahm er Haltung an und riss die Hand an den Kopf.
    »Guten Tag, Chevalier de Sonzier«, grüßte er und riss die Hand wieder herunter
    »Ich habe hier den Rekruten Robere Moreau für dich. Viel Spaß.«
    Damit verschwand Ilan de Sonzier und ließ Robere mit dem wenig erfreut aussehenden Ausbilder allein.
    Meqdarhan war um die vierzig, groß und kräftig gebaut. Er trug das rotbraune Haar recht weit oben zu einem kleinen Zopf gebunden, der wie ein Rasierpinsel aussah und dazu einen gestutzten Vollbart. Haar und Bart wirkten gepflegt, wie bei jedem hier. In den Augenwinkeln und neben der Nase zeigten sich Falten, doch schienen es keine Lachfalten zu sein, bei dem Gesicht, was er nun zog. Meqdarhan ignorierte Robere vorerst und ließ ihn mit dem schweren Marschgepäck stehen, bis auch der letzte Soldat den Drillplatz in einer Form verlassen hatte, die ihm genehm war. Er schien an jedem etwas zu meckern zu haben, obwohl Robere fand, dass alles sehr professionell wirkte, was die Soldaten taten. Während er wartete, hatte er das Gefühl, dass seine Ausrüstung ihn mit ihrem Gewicht in den Erdboden presste.
    »Also«, begann Meqdarhan endlich, als er fertig war und sich wieder vor ihn stellte. »Weshalb bist du hier im Lager?«
    Robere blickte ihm fest in die Augen. »Ich bin ein Sittenstrolch.«
    »Ach.« Meqdarhan musterte ihn mit nicht zu deutender Miene. »Eine Magd? Die Geliebte deines Lehnsherren? Oder gar seine Tochter?«
    »Einen von den Lehnsherren selbst. Aber ich hab ihm gar nichts getan.«
    »Ein Feinschmecker«, sprach Meqdarhan mit deutlichem Hohn in der Stimme, ohne auf Roberes Rechtfertigungsversuch einzugehen. Dann trat er plötzlich zu. Robere fiel mit seinem Gepäck wie ein Stein zu Boden. Er versuchte, sich wieder aufzurappeln, was nicht so einfach war mit einem Kettenpanzer, der ihn wie Blei nach unten zog und einem sperrigen Schild auf dem Rücken.
    »Wofür war das jetzt?«, schnauzte Robere, als er wieder stand und kassierte gleich einen zweiten Tritt, noch schmerzhafter als der erste und genau so effektiv. Als er sich erneut aufgerappelt hatte, machte er noch ein zweites Mal den Fehler, zu fragen, was der Tritt solle, ehe er begriffen hatte, dass jede weitere Frage mit dem selben Ergebnis enden würde. Schweigend rappelte er sich zum dritten Mal wieder auf und wuchtete sein Gepäck über die Schulter. Kaum stand er wieder im Gleichgewicht, schickte ihn ein erneuter Tritt zu Boden. Diesmal fragte er nicht, sondern stand ohne ein Wort ein weiteres Mal auf. Langsam brannten ihm alle Muskeln.
    »Bedank dich bei mir für die Lektion«, befahl Meqdarhan.
    Einen Augenblick zu lange überlegte Robere, ob er trotzig schweigen sollte. Er landete zum fünften Mal unsanft im Dreck. Sich mit siebzig zusätzlichen Kilo aufzurichten, merkte er bereits nach diesen wenigen Wiederholungen wie Feuer in den Oberschenkeln und in den Armen, welche die beladene Gepäckstange hochhieven und über die Schulter wuchten mussten. Am liebsten würde er Meqdarhan die Stange über den Schädel ziehen. Mühsam stemmte er sich hoch und straffte den Rücken und die Schultern.
    »Danke für die Lektion«, murrte er leise.
    »Ich lege Wert auf Unterordnungsbereitschaft und Disziplin«, sprach Meqdarhan zu seiner Erleichterung. »Du wirst dich für jede Strafe bedanken, die ich dir erteile. Wenn du zusätzliche Arbeiten erledigen musst, wirst du dich bedanken. Wenn du den Donnerbalken mit der Zunge sauberlecken darfst, wirst du um einen zweiten Durchgang betteln. Wenn ich dir auftrage, meinen Nachttopf mit deiner Zahnbürste zu schrubben, wirst du vor Stolz weinen und mir berichten, wie glücklich du über diese Lektion bist. Hast du das verstanden?«
    »Ja, Herr«, bestätigte Robere, während er sich fragte, ob das nur Floskeln waren, um ihn einzuschüchtern oder ob der Kerl so etwas wirklich draufhatte. Wenn Letzteres der Fall war, erwarteten ihn fünfzehn Jahre im Abgrund.
    Meqdarhan grinste etwas. »Nah. Lass den Herrn stecken. Ich bin nicht von Stand und somit auch kein Offizier. Ich bin dein Ausbilder, nicht weniger, nicht mehr und wir sind per Du.«
    Nach dieser kurzen Erklärung, die Robere hoffen ließ, dass der Mann vielleicht doch noch etwas anderes tun würde, als ihn zu quälen, brachte dieser ihn endlich zu einem Zelt, wo er das Marschgepäck absetzen durfte.
    »Willkommen zu Hause. Dort kannst du dein Feldbett aufbauen. Das findest du da hinten zusammengepackt. Normalerweise sind die Rekruten unter sich und kommen erst später in ihre Stammeinheit. Aber wir sind bisschen wenige geworden, drum wurde das zusammengestrichen. Wir müssen ja nicht mehr Zelte als nötig aufbauen. Die Rekruten werden darum von Anfang an auf die Stammeinheiten verteilt und mitgeschliffen. Dies hier ist deine. Allerdings darfst du noch nicht mit auf die Einsätze. Das kommt erst nach der Grundausbildung.« Er grinste breit. »Es sei denn, das Lager wird überfallen. Dann krepieren die meisten von euch.«
    Robere behielt die Frage für sich, warum ausgerechnet ein Soldat, der Neulinge dermaßen hasste, für deren Ausbildung zuständig war. Die Lachfalten mussten von der ganzen Schadenfreude stammen.
    Er ließ sich von Meqdarhan erklären, wie er sich einzurichten hatte und erfuhr die Grundlagen, wie er wen zu grüßen hatte, zunächst in vereinfachter Form. Bei ihm blieb nur hängen, dass man Vorgesetzte nicht grüßte, wenn sie gerade aufs Klo gehen wollten und auch bei den Waschgelegenheiten sollte man sie in Ruhe lassen. Die allgemeinen Regeln im Lager wurden ihm ebenfalls mitgeteilt, wovon die wichtigste war, dass er es nicht verlassen zu hatte. Sobald er den Wall unaufgefordert durchquerte, galt es als Fahnenflucht und nach der einmaligen Aufforderung, umzukehren, bekam er einen Bolzen in den Rücken. Nach Abschluss der Grundausbildung würde er sich in der Freizeit, die pro Tag etwa eine Stunde ausmachte, nach freiem Ermessen außerhalb die Füße vertreten dürfen, wenn es keinen anderslautenden Befehl gab, aber auch dann durfte er sich nicht aus der Sichtweite des Lagers entfernen.
    Nach diesen Erläuterungen stapfte Meqdarhan mit ihm von einem Zelt zum anderen und erklärte ihm, was er darin finden würde und wer sein Ansprechpartner für welche Belange war. Diesmal zum Glück ohne Gepäck. Robere war erschöpft und ihm würden die ganzen Erklärungen bald noch zu den Ohren rausquellen, aber er war froh, dass Meqdarhan ihn, so lange er redete, offenbar nicht zu treten gedachte.
    »Genug für heute«, meinte der Ausbilder irgendwann. »Ab mit uns ins Zelt.«
    Zu Roberes Überraschung, aber nicht zu seiner Freude, begleitete Meqdarhan ihn, da der Ausbilder seinen Schlafplatz im selben Zelt hatte. Das hatte noch gefehlt. Während die Soldaten redeten und sich fertig für ihre Freistunde machten, versuchte Robere, ihnen alles nachzumachen, damit ihm kein Fehler unterlief, aber er kam bei dem raschen Tempo gar nicht hinterher. Dass anschließend nicht alle in einer Reihe zu den Waschschüsseln marschierten, sondern sich alles nach und nach verteilte, lag vermutlich daran, dass es dafür zu wenige Schüsseln gab.
    »Warum waschen wir uns nicht am Fluss?«, fragte Robere.
    »Weil der Fluss außerhalb des Lagers liegt und weil wir keine Wilden sind.«
    Mit dieser Erklärung musste er sich zufriedengeben. Er beneidete die Kameraden, die nach Abschluss der letzten vorgeschriebenen Tätigkeiten draußen gehen durften und ihr Handtuch und ihre Rationen mitnahmen. Sie würden nun im Fluss schwimmen und am Strand gemütlich ihr Abendbrot essen, während Robere hier eingepfercht war. Er fügte sich in sein Schicksal, aß nach dem Waschen allein sein Brot mit dem Käse und einen Apfel, trank abgekochtes Wasser, zog sich eines der beiden Hemden als Nachthemd an und kuschelte sich in sein Feldbett. Leise schnaufend schloss die Augen.
    »Kampfstiefel parallel stellen«, tönte Meqdarhans Stimme von hinten.
    »Mann«, fauchte Robere, setzte sich wütend auf und angelte seine Stiefel, um sie ordentlich zu platzieren.
    »Oh. Fühlst du dich schikaniert?«, fragte sein Ausbilder mit falscher Freundlichkeit.
    »Ja! Ich bin kaputt und will einfach schlafen. Lass mich endlich in Ruhe, ich bin den ersten scheiß Tag hier!«
    »Wenn wir heute nacht überfallen werden sollten, wirst du im Dunkeln vergebens deine Stiefel suchen, während deine Kameraden längst einsatzbereit sind, um das Lager zu verteidigen. Das muss alles jedes Mal, wenn du zu Bett gehst, exakt gleich liegen, so dass du in kürzester Zeit angezogen bist. Klamotten an, Schuhe an, Rüstung an, Waffen zur Hand. Wenn man dich aus dem Schlaf reißt, bist du noch gar nicht völlig da, aber das muss trotzdem funktionieren.«
    »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Rakshaner genau heute Nacht kommen?«
    Meqdarhan, ebenfalls schon im Nachthemd, schlenderte zu Roberes Bett. »Das kann man nie wissen. Hoppla!« Er riss den Fuß einmal quer durch Roberes Habseligkeiten, alles verteilte sich. Meqdarhan grinste. »Tut mir nicht leid, war Absicht. Und was sagt man da?«
    »Danke für die Lektion!«
    Gedanklich fügte er hinzu: ›Du Arschloch.‹ Robere biss sich vor Wut, die sich langsam in Verzweiflung wandelte, auf die Zunge, während er alles aufräumte. Er schaute bei seinem Nebenmann, damit auch wirklich alles richtig war, während Meqdarhan sich pfeifend in der Arschrille kratzte und zu seinem eigenen Schlafplatz zurückkehrte. Dort begann er, in seinem Beutel zu kramen.
    »Wieso bist du eigentlich nicht mit baden?«, fragte Robere, als er mit dem Aufräumen fertig war. Er saß wieder auf seinem Bett und musterte seinen Ausbilder mit hartem Blick.
    Der lag inzwischen auf dem Rücken, den Fuß über das aufgestellte Knie gelegt. Er sah von einem Papier auf, das er gerade betrachtete. »Wieso fragst du? Wäre es dir lieber, wenn du fortan jede Freistunde allein hier im Zelt wärst?«
    »Ja. Ich bin gern allein.«
    »Nun, diesen Luxus habe ich ebenso genossen, bevor ich dich aufgehalst bekam. Dreh dich weg, dann muss ich deine Visage nicht sehen und du meine nicht. Vor allem, laber mich nicht voll, wenn du keine sinnvolle Frage hast.«
    Damit hob Meqdarhan das Papier wieder vor sein Gesicht und der Blickkontakt wurde unterbrochen.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Meqdarhan
    186 nach der Asche, Souvagne, nördliche Grenzregion

    »Halt`s Maul, ich hab dich nicht gefragt!«
    Es setzte einen Hieb und einen Stoß. Der Kamerad, der Meqdarhan genervt hatte, bedankte sich für die Lektion, ehe er seinen Weg nunmehr kommentarlos fortsetzte. Robere war froh, dass er ohnehin nie gern gesprochen hatte. Hier schien jedes Wort falsch zu sein. Er beschloss, überhaupt nichts mehr zu sagen, außer »Guten Tag, Chevalier«, wenn Ilan de Sonzier anrückte, und bei seinem Ausbilder »Jawohl« und »Danke für die Lektion«. Inzwischen hatte er sich ganz gut eingelebt. Nur zu den anderen Soldaten fand er keinen Anschluss. Vielleicht war er zu jung mit seinen sechzehn Sommern und Wintern, aber er hatte auch das Gefühl, dass Meqdarhan ihn absichtlich isolierte. Er durfte nicht baden, er durfte die anderen nicht vor das Lager begleiten, er musste sich auch während seiner Freizeit im Zelt aufhalten oder in Meqdarhans Nähe, damit dieser ihn beschimpfen konnte, so wie heute, wo alle anderen aus seiner Einheit schon in den Feierabend entlassen wurden und er noch den Rechen schwingen durfte. Wahrscheinlich war das ein netter Zeitvertreib. Ruhe vor dem Mann fand Robere eigentlich nur in seinem Bett. Sobald er sich unter der Decke vergrub, sprach sein Ausbilder ihn nicht mehr an. Das zu wissen machte zumindest den Schlaf erholsam.
    Bis es so weit war und er sich mit seinem Abendbrot auf der Pritsche verstecken konnte, musste er noch den Sand des Drillplatzes glattstreichen. Heute war Meqdarhan besonders ätzend. Er spatzierte über die frisch geglättete Fläche, so dass Robere sie noch einmal rechen musste. Dabei hielt er einen seiner rekrutenfeindlichen Monologe. »Die Arbeit hier ist härter und gefährlicher als in den anderen Kompanien, Robby. Es war ruhig in den letzten Monaten, aber vergiss nicht, du dienst in unmittelbarem Feindkontakt. Die Hälfte von euch Maden stirbt innerhalb des ersten Jahres. Dein Jahr ist noch nicht rum. Die Wachposten draußen haben Spuren bemerkt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Hyänenknutscher mit dir die Steppe wischen.« Er wirkte fröhlich, als er das sagte.
    Robere hätte gern erwidert, dass er ihm doch einfach ins Gesicht sagen sollte, dass er sich seinen Tod wünschte. Er wollte es hören aus seinem Mund, um ihn noch mehr hassen zu können. Er wünschte sich, allein zu sein. In den endlosen Kellertiefen der Gewitterfeste, in ihrem kalten Herz aus Stein, ganz unten, wo ihn niemand fand. Und wie er beim Nachdenken langsamer wurde, packte Meqdarhan ihn und drückte seinen Kopf hinab in das Wasserbecken, das am Rande des Drillplatzes stand. Robere ließ den Rechen fallen und versuchte, sich nach oben zu stemmen. Seine Kraft genügte nicht, er bekam Wasser in die Nase, Luftblassen sprudelten, als er vor Schreck ausatmete. Keine Chance! Da riss sein Ausbilder ihn an den Haaren wieder hinauf und ließ ihn in den Sand fallen. Hustend kroch Robere auf allen vieren und kotzte Wasser. Am meisten ärgerte er sich darüber, dass dabei seine Augen tränten und er sie vor den Augen seines Ausbilders abwischen musste.
    »Ohhhh«, machte Meqdarhan in gespieltem Mitleid. »Soll ich die Mami rufen, damit sie dich an ihre Brust drückt?«
    »Arschlecken, ich habe keine Mutter, lass mich in Ruhe!«
    Er wurde gepackt und ein zweites Mal untergetaucht. Robere wehrte sich mit Händen und Füßen, er schlug um sich, bis das Wasserbecken umfiel. Sie beide stürzten und rollten übereinander. Robere befreite sich, trat seinen Ausbilder und traf seine Nieren. Das hatte gesessen! Er rannte in Richtung Ausgang, nass, voller Sand und mit verschmiertem Gesicht. Das Tor stand offen, er rannte weiter, hindurch.
    »Stehenbleiben«, rief es vom Turm.
    Robere rannte weiter, vor ihm die Wildnis, die Freiheit! Sie lag da, einladend, rufend. Er könnte wieder jagen, keine Menschen mehr in seiner Nähe. Kein Meqdarhan, keine Kameraden, nur er und die Beute!
    »Stehenbleiben oder ich schieße«, bellte die Stimme.
    Robere hörte, wie mehrere Armbrüste durchgeladen wurden. Ein paar Schritte lief er noch, dann wurde er langsamer und blieb er stehen. Vor ihm, das Leben. Die Jagd. Maxi! Und hinter ihm? Er drehte sich um und blickte den hölzernen Turm hinauf. Nicht sehr hoch war das Gebäude, doch die Sicht von da oben war aufgrund der flachen Landschaft trotzdem hervorragend. Mehrere Armbrüste waren auf ihn gerichtet. Einer der Bolzen würde treffen. Die Flucht war vorbei, noch ehe sie begonnen hatte. Robere schleppte sich zurück, während er das Gesicht mit dem Unterarm sauber wischte. So schnell gab er sich nicht geschlagen. Er entschied sich, etwas zu tun, was sonst nicht seine Art war - er würde petzen. Meqdarhan anschwärzen bei seinem Vorgesetzten. Noch schlechter als jetzt konnte sein Ausbilder ihn ja kaum behandeln und er war bei ihm ohnehin schon unten durch. Robere wusch sich das Gesicht bei den Waschschüsseln, klopfte sich so sauber, wie es ging und kämmte mit den Fingern sein Haar. Vor dem Chevalier wollte er ordentlich aussehen.
    Vor dem Zelt standen zwei Wachen.
    »Ich muss zu Ilan de Sonzier. Meqdarhan will mich umbringen.«
    Die beiden warfen sich einen Blick zu. »Moment«, sagte einer und verschwand im Zelt. Kurz darauf erschien er erneut und hielt dem Gast die Plane auf. »Kannst eintreten. Setz dich auf den Stuhl, nachdem du ihn begrüßt hast und fass nichts an.«
    Robere senkte den Kopf, damit seine Haare den Zelteingang nicht streiften und richtete sich im Inneren wieder auf. Die Sonne schimmerte durch die Plane und eine Art Fenster im Stoff war geöffnet, um Licht und frische Luft hineinzulassen. Ilan saß an einem Klapptisch und hatte seine Unterlagen bereits beiseitegelegt. Robere salutierte und als Ilan ihm den Stuhl wies, setzte er sich.
    »Dann erzähl mal«, sagte der Chevalier. »Wo drückt der Schuh?«
    »Meqdarhan hätte mich gerade fast ersäuft. Ich hab überall blaue Flecke, sogar welche, die lila sind, weil er mich dauernd tritt, schlägt und schubst.«
    De Sonzier sah ihn mit schwer zu deutender Miene an. »Blaue Flecke«, wiederholte er.
    »Ich kann sie Euch zeigen!«
    »Du humpelst nicht, kannst dich flüssig bewegen, wirkst nicht benommen und hast noch die Kraft, laut zu werden in meinem Zelt. Wenn Meqdarhan anfängt, mit einem scharfen Schwert auf dich einzuschlagen und nicht mit einer stumpfen Übungswaffe, darfst du noch einmal vorbeikommen. Meqdarhan bildet Soldaten aus, Moreau, keine Barden. Die Rakshaner werden dir mehr verpassen als nur ein paar blaue Flecke, wenn du nicht gut vorbereitet bist.«
    »Er bereitet mich nicht vor, er quält mich. Von früh bis spät muss ich ihn begleiten, damit er mich vollmeckern kann. Der Kerl hasst mich, er lässt seine ganze schlechte Laune an mir aus.«
    Ilan blickte Robere erstaunt an. »Er hat bei der Besprechung vor zwei Tagen gut von dir gesprochen. Er freut sich über deine Zähigkeit und hat deine Fortschritte gelobt.«
    »Er hat ... äh, was? Das kann ja gar nicht sein.«
    »Es heißt ›Wie bitte‹ und man zweifelt nicht das Wort eines Adligen an«, erklärte Ilan geduldig. »Besonders nicht, wenn man ihm gegenübersitzt.«
    »Aber ... das macht keinen Sinn. Er wollte mich gerade ersäufen!«
    »Du lebst, Moreau. Und liegst nicht im Lazarett.«
    »Weil ich mich beim zweiten Mal befreien konnte!«
    »Also hat er dich das erste Mal von selbst losgelassen und eine Übungseinheit später warst du gut genug, dich deiner Haut zu erwehren. Das Untertauchen von Rekruten im Fluss ist ein beliebter Spaß bei den Altgedienten. Und darauf hat er dich gut vorbereitet, wie du siehst. Du kennst nun die Situation, wirst nicht mehr aus Versehen Wasser einatmen und du weißt, wie du dich befreien kannst.«
    Robere starrte den Chevalier fassungslos an. Dann rieb er seine Haare und betrachtete den mit einem sandverstaubten Teppich ausgelegten Fußboden. »Aber ...«, Er suchte den Beweis, dass Meqdarhan ihm Böses wollte. »Ich darf ja gar nicht zum Fluss. Darum ist das doch sinnlos.«
    »Kannst du schwimmen?« Ilan sah ihn mit hochgezogenen Brauen an, die verrieten, dass er die Antwort kannte.
    Zerknirscht schüttelte Robere den Kopf.
    »Die Strömung ist je nachdem, wie viel Wasser der Fluss führt, reißend und auch für einen guten Schwimmer nicht zu unterschätzen. Er sorgt für deine Sicherheit. Und Wasserbecken zum Eintauchen stehen auch im Lager genügend herum. Notfalls tut es eine Waschschüssel, wenn sie jemand festhält.«
    »Aber er lässt mich ja nicht mal an den Strand zum Waschen oder Sonnen!«
    »Weil du als Sittenstrolch hier her gebracht wurdest. Meine Güte, denk doch mal nach, Moreau. Du hast mit deinen Verfehlungen ja regelrecht geprahlt und nun weiß es jeder. Die Soldaten haben ihre eigenen Vorstellungen davon, wie welches Verbrechen gestraft gehört. Dich außerhalb des Lagers baden zu lassen, wäre vergleichbar damit, dich in eine Hyänengrube zu schmeißen. Das Einzige, was man Meqdarhan vorwerfen könnte, wäre, dass er dich von diesen Gefahren schützt, ohne dir die Gefahren überhaupt aufzuzeigen. Schweigend räumt er sie für dich aus dem Weg und erduldet klaglos all deine Undankbarkeit und deine Abneigung.«
    »Aber das ergibt überhaupt keinen Sinn. Ich ... verstehe das nicht.«
    »Das war jetzt schon das vierte Aber. Dass du meine Fähigkeit, kausale Zusammenhänge zu erfassen, anzweifelst, überhöre ich dieses Mal. Bisher hat Meqdarhan noch keinen Rekrut umgebracht, Moreau. Vertraue ihm. Und nun geh wieder an die Arbeit.«
    Irritiert stapfte Robere nach draußen. Nach kurzer Bedenkzeit begab er sich zurück zu dem Platz, wo sie gekämpft haben. Er richtete das Wasserbecken wieder auf, füllte es neu und zog mit einem Rechen den Sand glatt. Der Platz sah genau so ordentlich aus, wie Meqdarhan es erwartete. Nach kurzem Zögern schrieb er mit dem Finger noch etwas hinein. Er konnte nicht wirklich schreiben, er war Analphabet, aber er hatte sich gemerkt, wie diese Worte bei einem herumblödelnden Kameraden ausgesehen hatten, der seine Briefe anstelle einer Grußformel damit unterzeichnete: DANGE VÜR DIE LECKSION!

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Unzensierte Version: Von Skorpionen und Skolopendern (ü18)


    Zensierte Version:


    Von Skorpionen und Skolopendern


    Es kam der Tag, an dem Robere mit seiner Kraft am Ende war. Vielleicht lag es an den dunklen Wolken, die das Sonnenlicht verschluckten und ihn an die Gewitterfeste erinnerten. Mitten am Tag war es stockfinster, in der Ferne rumpelte der Donner, doch es gab weder Regen noch Blitze. Nur gelegentliches Wetterleuchten am Horizont, wo der Feind lauerte. Kein Wind wehte, die Luft war drückend und der Schweiß hatte während einer Patrouille seine Kleidung durchgeweicht. Bei der nächsten Rast wanderte er allein hinaus in die Steppe, viel weiter, als er es gedurft hätte. Er trug nichts bei sich als seinen Spaten. Niemand war mehr zu hören noch zu sehen, der heiße Wind blies ihm ins Gesicht. In einer Senke begann er, sein eigenes Grab zu schaufeln.
    Als es etwa knietief war, legte er sich auf den Grund und rollte sich ein. Kühl war es hier unten. Bald würde der Wind Sand und Erde vom Rand hineinwehen und ihn zudecken. Es begann schon. Eine dünne Schicht überzog ihn wie ein Leichentuch. Die Augen hielt er geschlossen, um Boldiszàr und Maxime sehen zu können. Seine Zeit war vorbei.
    Nach etwa einer Stunde hörte er Schritte und ein Schatten fiel auf ihn. »Selbstmitleid ist die erste Stufe der Treppe, die hinab in den Abgrund führt«, erklärte Meqdarhan. »Steh auf. Tu etwas Sinnvolles mit dem Dunkel in deiner Seele. Wandle es in Kampfgeist um! Du bist doch kein Jammerlappen, Robby, du bist Soldat.« Er hockte sich an den Rand und blickte hinab.
    »Nichts bin ich«, sagte Robere. »die Welt braucht mich nicht. Ich bin völlig ... überflüssig. Keine Sau wird mich vermissen, wenn ich weg bin.«
    »Verstehe, Einsamkeit«, grübelte Meqdarhan. Dann nickte er. »Daher also der Hunger. Daher die Gier nach Nähe.« Er packte ihn an der Kleidung und zerrte ihn gewaltsam aus dem Loch.
    Robere half ihm nicht, er machte sich schlaff und blieb draußen einfach liegen, als wäre er bereits gestorben.
    »In meinen Augen bist du kein Krimineller, Robby«, fuhr Meqdarhan fort, »sondern nur eine arme Sau. Du bist nicht krank im Kopf, noch nicht. Beende die Jagd, bevor sie richtig begonnen hat. Du bist noch jung. Dein ganzes Leben liegt vor dir. Früher oder später wird dich der Pfahl erwarten, wenn du den eingeschlagenen Weg weitergehst. Suche dir einen Partner. Lebe richtig. Und heile in seinen Armen.«
    »Mich will keiner«, sagte Robere. Dann blickte er auf. »Oder du etwa?«
    Meqdarhan tat etwas sehr Ungewöhnliches - er lächelte. »Ich würde dir nicht gut tun.«
    »Doch.«
    »Robby, falls du es noch nicht mitbekommen hast: Ich bin aus dem selben Grund hier wie du. Ich bin ein Sittenstrolch, mit dem Unterschied, dass ich einen Schritt weiter gegangen bin als du. Ich verstehe, was in dir vorgeht. Zu jagen ist großartig, man fühlt sich stark, lebendig und die Beute ist so warm, man kann sie befühlen und über sie verfügen, wie es einem beliebt. Ich bin ein Raubtier und sie sind lebendes Fleisch, mehr nicht. Du möchtest nicht meine Beute sein.«
    »Ich mag Maxi«, sagte Robere leise. »Ich wollte ihm nichts tun, er war kein Fleisch. Ich wollte nur spielen.«
    »Ich sagte doch, dass es für dich noch nicht zu spät ist. Du hast ihn nicht bekommen, er bleibt unerreichbar. Entweder, du lässt nun los und suchst dir jemanden, der das Loch in deiner Seele füllt, oder die Dunkelheit wird dort herausbluten und deine Seele so hungrig werden lassen, dass es unkontrollierbar wird. Auch in dir schlummert ein Jäger, sonst wärst du nicht hier in der Strafkompanie. Für mich ist der Weg zurück versperrt. Zu viel ist geschehen, man kann mich nicht mehr guten Gewissens auf die Bevölkerung loslassen. Aber du stehst noch am Anfang.«
    »Warum willst du dir niemanden suchen, der deinen Hunger stillt?«
    »Wie denn?«, rief Meqdarhan. »Zum hundertsten Mal, ich komme hier nicht mehr fort! Ich werde hier den Rest meiner Zeit verbringen und irgendwann genau so einsam sterben, wie ich hierher kam. Hier den Mann fürs Leben zu finden, hieße, ihn mit mir zusammen auf ewig hier fest zu ketten. Darum, Robby, lautet meine Antwort: Nein, auch ich will dich nicht haben.«
    »Aber ich ... finde hier auch niemanden. Ich kann nicht heilen.«
    »Hier nicht. Aber in fünfzehn Jahren da draußen, wenn du so lange den Hunger unterdrücken kannst. Durchhalten, Robby. Kämpfen! Die Zeit wird schneller vorbei sein, als du glaubst. Nutze deine Chance, werde nicht wie ich.« Meqdarhan reichte ihm die Hand. Robere aber nahm sie nicht an. Stattdessen drückte er seinen Kopf in die Erde und bewegte sich nicht mehr. »Ist denn das zu fassen?«, rief Meqdarhan.
    »Mecki«, sagte Robere leise den Kosenamen, den er sich für ihn überlegt hatte, weil er seinen Vornamen nicht kannte. »Ich kann nicht mehr und will auch nicht mehr. Kapier das und lass mich. Es ist mein Leben, mein Versagen und mein Ende. Kümmer dich dieses eine Mal nur um deinen Kram.«
    »Du willst hier liegen und verhungern.«
    »Ich tue das, was jedes Raubtier tut, das nicht jagen darf und auch kein Futter hingestellt bekommt.«
    Meqdarhan legte sich bäuchlings neben ihn und schien nachzudenken. Robere spürte die Wärme seines Körpers an seiner Seite. »Du raffinierter kleiner Erpresser. Du erinnerst mich an etwas.«
    Robere hob endlich den Kopf, weil er sehen wollte, was sein Ausbilder tat. Meqdarhan strich mit den Händen durch den Sand. Er legte eine kleine Höhle frei, in der sich etwas duckte, dass an einen Krebs erinnerte. Zwei schwere Scheren, gespreizt und über den Körper gekrümmt, ein Dorn, der aussah, als ob das Wesen damit stechen konnte. »Ein Gleichnis, das dir vielleicht hilft. Du liegst hier genau so eingegraben wie dieser Skorpion. Diese Tiere verbergen sich in einem Erdloch, wenn die Zeiten hart sind. Ihr Panzer schützt sie vor den meisten Widrigkeiten. Sie überleben Bedingungen, die jeden anderen längst umbringen würden. Und auch du wirst durchhalten, egal, wie schlecht es dir geht. Sie waren die ersten Geschöpfe auf dieser Welt, sagt man, und sie werden die Letzten sein. Wenn der Abgrund nach dir greift und du den Wunsch verspürst, dich niederzulegen um zu sterben, dann stelle dir vor, dass du den Panzer dieses kleinen Wesens trägst, schwarz, glänzend und fest. Und halte durch. Mach deine Fäuste und deine Waffen zu deinen Scheren. Schule sie im Kampf.«
    »Und ich habe einen ... Stachel.«
    Robere dachte an die Magd, in deren Körper er ihn hineingetrieben hatte, gemeinsam mit Maxime. Und er dachte an die beiden Soldaten beim Arsenal, an die Kraft und Leidenschaft, mit der sie sich aneinander ausgetobt hatten. An Maxime, mit dem er das wilde Treiben gern nachgespielt hätte. Er senkte den Blick. »Wir sind uns so ähnlich. Lehre mich, wie du zu sein. Ein Jäger.«
    »Solchen Rat gebe ich nicht leichtfertig. Das Tier in dir zu wecken, heißt, ein Leben im Abseits zu führen. In einer zivilisierten Gesellschaft haben Raubtiere nichts zu suchen, weder Skorpione noch Skolopender. Das bin ich. Ein giftiger Hundertfüßler, der dem Skorpion gar nicht so unähnlich ist.«
    Die Hand von Meqdarhan legte sich auf seine Schulter und kneteten ihn sanft. Robere wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, es könnte aufhören. Und es hörte auf. Seine Arme schnellten nach vorn, krallten Meqdarhan gewaltsam an sich fest. Der spannte seine Muskeln an. Sie lagen einander gegenüber, keiner von beiden rührten sich.
    »Schau an. Ist dein Lebenswille wieder erwacht?«, fragte Meqdarhan.
    Robere schwieg. Die körperliche Nähe betäubte und verwirrte ihn. Er wollte mehr. »Ich möchte ... mit dir spielen«, sagte er leise.
    »Der Stachel juckt, was? Die Rekruten sind für mich tabu.«
    »Aber ich will es. So gern.«
    »Dann stech mich, Skorpion - wenn du es kannst. Wecke das Raubtier in dir, das leben will.«
    Er kniete sich auf alle viere, schlug seine Tunika hoch über den Rücken und präsentierte Robere den nackten Hintern. Rotbraunes Haar, darunter, aus den Haaren herausschauend, ein dicker Hodensack. Meqdarhan griff nach Roberes Hand und führte sie zwischen seine Hinterbacken. Robere wurde schwindlig, als er ihn dort anfassen durfte. Nervös tasteten seine Finger sich durch das dichte Haar, bis sie die gesuchte Stelle fanden.
    »Willst du das?«, raunte Meqdarhan.
    »Ich möchte das unbedingt«, schmachtete Robere.
    »Ach wirklich? Dann verdiene es dir.«
    Meqdarhan entzog sich den Fingern und fuhr herum. Ohne Vorwarnung griff er Robere an, der packte ihn an der Kleidung und wehrte sich. Sie stürzten zusammen in den Dreck. Während sie übereinander wälzten, versank Robere ganz in seiner eigenen Welt. Sein Denken erlosch. Er fühlte den kraftvollen Leib, der sich in seinen Armen wand, Meqdarhans Keuchen, seinen würzigen Geruch. Robere ließ sich von seinem Körper treiben. Seine Instinkte wiesen ihm den Weg, hinaus dem Abgrund, der ihn fast verschlungen hätte, in eine Welt aus heißem Genuss.


    »Danke für die Lektion.« Robere wischte sein Gesicht sauber.
    »Abmarsch«, kommandierte Meqdarhan unvermittelt.
    Robere war wie vor den Kopf geschlagen. Sollten sie jetzt einfach ins Lager zurückkehren, als wäre nichts gewesen? »Warte ... ich ... wie heißt du überhaupt? Also richtig?«
    »Meqdarhan und jetzt Abmarsch«, schnauzte sein Ausbilder. »Kein Wort mehr! Du kennst das Verbot. Wenn das hier herauskommt, bekommen wir beide Ärger. Der Skorpion ist ein so stummes Tier wie der Skolopender, er prahlt weder mit der Jagd noch mit Beutespielen. Und beide sind außerhalb der Paarung Einzelgänger.«
    »Ich werd ... nicht petzten«, versprach Robere. »Aber wir ...«
    »Maul halten. Und morgen schaufelst du dieses erbärmliche Erdloch zu, dass du dir gegraben has

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Noix de muscade

    Beauford, Palastgelände. Die Zeit, als Robere neu bei der Leibgarde war.


    »Zur Ausbildung bei der Leibgarde gehört auch der Reitunterricht«, erklärte Boldiszàr, als er Robere über den Stallhof führte. »Du hattest bei der Heimreise von der Front Angst vor den Pferden, das habe ich dir angesehen. Darum nehme ich mir heute die Zeit, dich ganz langsam an den Umgang mit ihnen zu gewöhnen.«

    Die Sonne war noch nicht aufgegangen und es war frisch. Es war noch vor Beginn ihrer Schicht, aber sie trugen dennoch den Wappenrock mit dem souvagnischen Schreiadler auf der Brust. Alles musste seine Richtigkeit haben und dies hier war keine Freizeit. Das Stallgebäude erhob sich vor ihnen. Robere musterte den Eingang, der zu den Boxen führte und der groß wie ein Scheunentor offen vor ihm gähnte. Im Inneren wieherte es, gefolgt von lautem Krachen. Einige Pferde traten gegen die Wände, ein Stallbursche brüllte.

    Robere schob sich im Gehen hinter Boldiszàr. »Sie sind groß und stampfen«, murrte er. »Ich will da nicht rein.«

    Sein neuer Coutlier aber zog ihn am Oberarm wieder neben sich. »Wir weichen nicht zurück, es sei denn, auf Befehl. Wir gehen nicht hinein, sondern an dem Gebäude vorbei zu den Koppeln. Diese Tiere sind Schlachtrösser, Freude am Treten ist ihre Aufgabe. Sie sind sehr groß und haben unwahrscheinlich viel Kraft. Ein Treffer eines Hufs kommt einem Todesurteil gleich.«

    »Jetzt bin ich aber beruhigt.«

    »Du musst den Duc auch zu Pferd begleiten können, Robby. Es ist reine Gewöhnungssache, die Angst zu einem gesunden Maß an Respekt zu drosseln. Darum sind wir hier. Komm hier durch. Ich habe die Stallknechte angewiesen, mein Pferd schon auf die Koppel zu bringen, damit du draußen genügend Raum hast, um es dir anzusehen. Er ist schon älter, sehr zuverlässig und gut ausgebildet. Es wird dir nichts tun.«

    Sie ließen den Gebäudekomplex des Stallhofs hinter sich. Bald erreichten sie die Koppel, wo in der Ferne zwei Wachen ihre Runde drehten. Der Morgennebel reichte ihnen bis zu den Knien, doch Robere beachtete sie nicht weiter. Im grauen Dunst stand ein sehr großes Tier, das äste.

    Boldiszàr öffnete das hölzerne Gatter. »Komm, Robby.«

    Er ging einfach hinein! Robere aber blieb am offenen Eingang stehen. Noch nie hatte er ein Pferd aus dieser Nähe gesehen, nicht einmal bei den Duponts, die ihre Grauschimmel liebten. Nebelpferde hatten sie diese struppigen und zähen Tiere genannt, die mit den Bedingungen im Moor bestens zurechtkamen. Dieses Exemplar aber sah völlig anders aus. Gepflegter, wohlproportionierter und sehr viel größer. Es glänzte schwarz mit weißem Fell an Mähne, Schweif und Füßen. Nun hob es den Kopf. Auf der Nase hatte es einen weißen Fleck, der zum Maul hin rosa wurde. Zaghaft machte Robere einen Schritt.

    »Das hier ist ein Souvagnisches Streitross«, erklärte Boldiszàr, der den mitgebrachten Zügel am Zaumzeug befestigte. »Sehr edle Tiere, die Besten des Landes. Sie sind allein der Krone und ihren Truppen vorbehalten und den wenigen, welche die Ehre haben, eines geschenkt zu bekommen. Sie sind praktisch unbezahlbar und die Zuchtgenehmigung liegt nur wenigen Gestüts vor.«

    Das riesige Tier dampfte in der morgendlichen Kälte. Die erstaunlich dicken Beine wirkten wie Baumstämme. Ein Hinterbein wurde versetzt, wobei es ein dumpfes Geräusch gab, ein Vorderhuf scharrte. Ein Recken des massiven Halses, die Ohren gespitzt. Roberes Blick und der des Tieres trafen sich. Groß war das Pferd, sehr groß. Das Fell, so schwarz wie sein eigenes Haar, glänzte stark, so als wäre der Körper lackiert. Mähne und Schweif waren gestutzt und bildeten eine weiße Bürste auf dem geschwungenen Nacken und eine kurze feste Flechte am Gesäß.

    Das Pferd blähte die Nüstern, als es Robere witterte. Sein Atem war wie der Rauch aus den Nüstern eines Drachen, während es schnaubte. Auch Roberes Nasenlöcher weiteten sich, als wäre dies ein Gruß, den nur sie beide verstanden, während jeder den Geruch des anderen einsog. Säuerlich, aber auch süßlich, versehen mit der würzigen Note von Schweiß. Beute und Jäger nahmen einander wahr. Gut roch es. Robere schloss die Augen nicht, er machte sie nur ein wenig schmaler, während er schnupperte. Das Tier stampfte und wieherte leise, es wirkte unruhig. Vielleicht erkannte es den Jäger, der von draußen in sein Gatter eingedrungen war. Robere kam noch näher. Langsam, den Blick nicht abwendend. Doch es wich nicht. Nein, es war wirklich gut ausgebildet. Die halbwilden Nebelpferde hatten sich allein durch Blicke treiben lassen.

    »Noix de muscade«, verkündete Boldiszàr. »Ich nenne ihn nur Muscade.« Er klopfte sein Pferd zur Begrüßung, während das Tier den muskulösen Hals wand, um nun an seinem Herrn zu riechen. Zur Begrüßung knabberte es an seiner Schulter und Boldiszàr ließ es gewähren. Weich sah die Schnauze aus. »Komm her, Robby«, ermunterte er seinen Schützling.

    Der kam noch ein paar Schritte näher. »Das ist ... groß«, stellte Robere das Offensichtliche fest.

    »Es ist ein Er, ein Hengst, kein Wallach. Sprich ihn nicht als ein Es an oder nur als irgendein anonymes Pferd. Er ist Muscade, nenne ihn bei seinem Namen. Diese Tiere sind unsere Kameraden, ihr Schicksal ist untrennbar mit dem unseren verbunden in Sieg und Leid, so wie unser Schicksal mit dem ihren verbunden ist.«

    Robere legte den Kopf etwas schräg, um seinen Wahlbruder zu mustern. »Das sind nicht deine Worte. Die hat jemand anderes dir gesagt. Stimmts? Damit du sie auch sagen kannst. Sie sollen gut klingen. Sind aber nicht deine.«

    Boldiszàr grunzte amüsiert, antwortete aber nicht darauf. »Komm endlich her«, sagte er stattdessen. »Ich binde ihn hier am Zaun an. Du kannst ihn ruhig berühren.«

    Robere ging sicher, dass Boldiszàr das getan hatte, ehe er langsam herantrat. Zögerlich streckte er die Hand in Richtung der Schulter aus. In dem Moment knurrte sein Magen und das Fell des Pferdes erzitterte unter seiner Berührung. Erschrocken riss er die Hand zurück. Boldiszàr aber reagierte gelassen. Er umfasste Roberes Hand, um sie erneut an den Körper des Hengstes zu führen. Langsam, aber bestimmt presste er Roberes flache Hand auf das Fell. Sehr warm und glatt. Fast heiß. Robere hielt ganz still. Er vertraute Boldiszàr, auch wenn die Situation ihm Angst machte. Spürte den Atem und den Herzschlag von Muscade.

    »Du kannst ihn ruhig streicheln«, ermunterte sein Wahlbruder ihn. Boldiszàr ließ seine Hand auf der von Robere liegen. Er sah ihm wohl an, dass er sie sonst sofort weggezogen hätte. »Versuche es. Du streichelst nicht oft Tiere, oder?«

    »Ich ... nein. Boldi. Keine Tiere. Und auch ... niemanden. Ich kann das nicht. Mich streichelt ja auch keiner.«

    Der Satz hätte wie ein Scherz klingen können, doch Roberes Miene und sein Tonfall verrieten den bitteren Ernst dieser Worte. Nein, Meqdarhan hatte sich nicht streicheln lassen, so gern er das getan hätte und auch sonst wünschte das niemand von ihm. Nicht freiwillig. Vielleicht war er eklig. Das einzige Wesen, dass seine Berührungen je genossen hatte, war Maxime gewesen, aber auch nur zu Anfang, ehe alles zerstört worden war. Viele Jahre war das her. Er war nicht mehr der Junge von damals und der Skorpion war nicht für Zärtlichkeit gemacht. Robere betrachtete seine Hand mit der Skorpiontätowierung, auf der die kurzfingrige Pranke von Boldiszàr ruhte.

    Boldiszàr führte die Hand, mit der Robere gemordet hatte. Sie Hand, die seine Waffe führte, sie wurde nun selbst geführt von einer anderen Waffenhand. Langsam und fest strichen sie gemeinsam über das glatte Fell. Robere spürte, dass ihm gut tat, was sie hier machten. Aber warum musste dazu ein Pferd anwesend sein? Was war dadurch anders und warum ging das nicht zu zweit? In dem Moment warf Muscade wiehernd den Kopf in den Nacken.

    Robere zuckte zusammen und wich zurück, wobei er Boldiszàr mit sich riss. »Schnell. Wir gehen weg. Er mag mich nicht«, raunte er und versuchte, seinen Wahlbruder noch weiter weg zu schieben, hinaus aus dem Gatter, hinaus in die Sicherheit hinter dem Zaun. »Er ist böse.«

    »Böse auf dich«, bestätigte Boldiszàr. »Du magst ihn nicht, oder?«

    Robere gab seine Bemühungen auf, seinen Wahlbruder noch weiter zu schieben. Das Pferd war angebunden und sie waren nun außer Reichweite. Robere stellte sich wieder normal hin und wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich habe nichts gegen Muscade. Er ist nur groß.«

    »Das ist nicht alles, was du empfindest. Muscade kann die Menschen gut lesen, besser als ich selbst, er ist mein Übersetzer. Und er sagt mir, dass da mehr ist in deinen Gedanken. Was also fühlst du?«

    »Ich denke ... wenn ich ihn sehe ... so viel Fleisch. Er sieht ... lecker aus.« Das war immer noch besser, als die andere Sache zur Sprache zu bringen und entsprach ebenfalls der Wahrheit. Sein Magen hatte sich, seit er geknurrt hatte, nicht mehr beruhigt. Robere zeigte auf die Falten zwischen Kieferknochen und Hals. »Das da. Das sieht weich aus. Da will ich reinbeißen. Das ist, was ich fühle. Und das spürt er. Er weiß, dass ich ihn essen will.«

    Boldiszàr rempelte ihn sacht mit der Schulter an. Eine vertrauliche Geste. »Ich verrate dir was, Robby. Mir geht es genau so. An dem Tag, an dem Muscade mir zugewiesen wurde, musste ich mir nach Dienstschluss auf dem Markt Pferdegulasch kaufen, weil ich solchen Appetit bekommen hatte. Es ist in Ordnung, so zu fühlen. Mach dir darum keine Gedanken. Wichtig ist nur, dass du diese Empfindung für dich behältst. Die meisten Kameraden mögen ihre Pferde. Wenn dich jemand auf deines anspricht, sobald du eines hast, dann rede in Güte und Respekt von dem Tier.«

    Robere schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Und es wäre auch gelogen. Ich sag einfach gar nichts.«

    »Doch, das kannst du und das wirst du. Du willst Teil der Leibgarde sein und ich werde alles dafür tun, dass du diesem Posten gerecht wirst. Dazu gehört nicht nur Kampftraining, sondern auch passendes Betragen. Du wirst dich nicht unbeliebt machen, Robby.«

    »Aber was du vorhin gesagt hast ... das ist zu lang für mich. Und zu klug. So viel kann ich mir nicht merken.«

    »Dann sage einfach: Mein Pferd ist mein Kamerad. Das genügt. Zeige dich empört, wenn jemand sich schlecht gegenüber Pferden verhält und iss deinen Pferdegulasch allein für dich. Das muss niemand wissen außer uns beiden. Es bringt nur Streit. Fortan bist du ein Pferdefreund.«

    »Aber wieso? Pferde haben viel Fleisch, das man essen kann. Das ist eben so. Jeder kann das sehen, wenn er eins anschaut. Warum sollte ich das Offensichtliche geheim halten? Es ist gutes Fleisch. Viel und lecker.«

    »Weil diese Leute allesamt nicht wissen, was Hunger ist und was wir durchgemacht haben. Sie brauchen es auch nicht zu wissen, es macht uns nur angreifbar. Tu einfach so, als wärst du einer von den Normalen. Wir zwei werden unter ihnen nicht auffallen, wir passen uns an. Und sie sehen die Tiere nun einmal nicht durch Jägeraugen. Sie ehren die Pferde und schlachten die Schweine. Sie streicheln den Hund und werfen Katzenkinder an die Wand. Dem exotischen Papagei bringen sie Tricks bei und füttern ihn mit Nüssen, das Huhn landet im Topf und sie rauben ihm die Brut. So läuft das, das musst du nicht verstehen. Ich verstehe es auch nicht.«

    Robere stutzte. »Aber ... wonach geht das? Was ist der Maßstab? Man kann alle essen! Sogar ...« Er verstummte rechtzeitig.

    »Der Maßstab ist, ob man ein Nutztier oder ein Haustier vor sich hat. Nutztiere isst man, Haustiere nicht. Wobei ...« Boldiszàr überlegte. »Falsch. Pferd und Hund sind ebenfalls Nutztiere und die isst kaum einer. Vielleicht richtet es sich danach, wie intelligent ein Tier ist.«

    Robere schüttelte den Kopf. »Das macht keinen Sinn. Schweine sind die schlauesten Tiere, die ich kenne und jeder schlachtet sie! Besonders Wildschweine sind gerissen. Ich kann sie nicht jagen. Sie lassen sich nicht betrügen und sind stark. Sie beißen einen tot. Und meine Fallen umgehen sie oder machen sie kaputt.«

    Boldiszàr kratzte sein Stoppelkinn. »Man kann Wildschweine zwar jagen, aber dazu braucht es sehr gut ausgebildete Hunde und einen Sauspieß. Allein ohne Hunde wird das nichts, dafür sind sie zu intelligent und zu wehrhaft. Wenn man genau darüber nachdenkt, macht die Unterteilung, welche Tiere man essen darf und welche nicht, überhaupt keinen Sinn. Das Wildschwein wäre doch ein Tier, das am Leben zu lassen angemessen wäre. Ihm gebührt Respekt, es zieht liebevoll seine Jungen groß und es ist kein Raubtier, das Menschenkinder frisst. Es zerwühlt höchstens mal den Acker oder plündert den Kompost. Trotzdem wird es gegessen. Du musst die Regeln wohl einfach auswendig lernen.«

    Robere musterte Boldiszàr von der Seite. »Wildschweine sind auch hübsch. Die sehen ein bisschen aus wie du.«

    Boldiszàr zog seinen gesunden Mundwinkel bei dem merkwürdigen Kompliment zu einem breiten Grinsen auseinander. Ob er es lustig fand oder sich darüber freute, konnte Robere nicht deuten. Vielleicht ein bisschen von beidem.

    Boldiszàr band den Zügel seines Hengstes los. »Lass uns eine Runde mit Muscade spazieren gehen, damit du dich an die Anwesenheit von Pferden gewöhnst. Irgendwann wird dein Magen schon aufhören, jedes Mal gleich zu knurren. Zumindest hoffe ich das. Bei mir gibt es heute Abend wieder Pferdegulasch.«

    Damit drückte er Robere den Zügel in die Hand.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien

  • Der Palaisin

    Jahr 192 nach der Asche, Souvagne, Beaufort, Palastgelände.


    Lange nach Ende der Schicht stand Robere allein in voller Rüstung hinter dem Hauptgebäude des Palasts. Die Sonne versank bereits hinter dem Waldpark und ließ die roten Ziegeldächer Beauforts glühen. Die schmalen dunklen Augen gegen die Abendsonne zusammengekniffen, verfolgte der frischgebackene Gardist mit feindseligen Blicken die Passanten, so als hätte er noch immer Wachdienst. Die Hellebarde hielt er fest in der Hand. Das ging so lange gut, bis ein untersetzter Gardist um die Ecke marschierte, kurz innehielt und sich dann vor ihm aufbaute.


    »Name, Einheit«, blaffte der Gardist, wobei er Robere seinen Raucheratem entgegen stieß.


    Über dem Kettenhemd lag der Wappenrock mit dem Schreiadler. An seinem Waffengurt hing ein Schwert. Eine Hellebarde suchte man an diesem Mann vergebens. Das verwirrte Robere. Er musste auf den Gardisten hinabsehen, der wohl Mitte dreißig sein mochte und ihn aus eisblauen Augen musterte. Das kurze dunkle Haar sah selbst gestutzt aus, einen Barbier besuchte dieser Gardist wohl eher selten, worauf auch sein Bartschatten schließen ließ.


    Robere wusste zwar nicht, wer der Kerl war, vermutete aber anhand seines Auftretens einen Offizier. So machte er korrekt Meldung. »Robere Moreau, zweiter Mann von Unitè B, Leibgarde des Duc de Souvagne.« Es war das erste Mal, dass er sich so vorstellen durfte.


    »Moreau, also ein Neuling! Sonst würde ich Ihren Namen kennen. Zu Ihrer Information, Moreau, Schichtwechsel war vor siebenundzwanzig Minuten!« Der Mann zeigte auf die große Uhr an der Palastwand, die Robere nicht lesen konnte. »Haben Sie das Trompetensignal nicht gehört?«


    »Doch, Monsieur.«


    Die Kiefermuskeln des Mannes spannten sich und an seinem muskulösen Hals traten die Adern hervor. »Nicht Monsieur! Ich bin Palaisin Bellamy Bourgeois!«


    Roberes Augen weiteten sich erschrocken. »Der Palaisin? Das wusste ich nicht! Es ist mein erster Tag hier.«


    »Und darum ignorieren sie den Schichwechsel?« Der andere blickte ungnädig. Noch immer stand er viel zu dicht vor Robere.


    »Ich weiß nicht, was ich nach dem Dienstende machen soll. Boldi ist weggegangen.« Nervös blickte Robere zu Seite.


    »Augen nach vorn«, donnerte der andere. »Und es heißt Coutilier Boldiszàr Boucher! Was ist das für ein Sauhaufen? Gehen Sie nach Schichtende wie jeder andere Gardist Ihre Ausrüstung ablegen, verschwinden Sie anschließend im Badehaus und würfeln Sie bis zur Schlafenszeit mit Ihren Kameraden!«


    Das war eine sehr detaillierte Anweisung. Aber der Mann verstand das Problem nicht. »Boldi ist weg«, wiederholte Robere. »Ich kann da nicht rein! Ich kenn die nicht.«


    »Nicht Boldi, zum Henker«, donnerte der Mann. »Welche Familie von Bastarden hat Sie ausgespien? Aus welchem Haus stammen Sie, wen hat Ihr Vater bestochen, damit Sie diesen verdammten Posten bekommen?! Ich reiße mir jeden Tag den Arsch auf, um aus der Leibgarde das Beste herauszuholen, und dann wird es mir von korrupten Taugenichtsen zunichtegemacht!« Der Mann tippte Robere hart auf die Brust. Seine Nasenspitze berührte fast Roberes Kinn. »Antworten Sie!«


    »Mein Haus? Also ich ... stamme ... aus dem Waisenhaus.« Robere hatte gelernt, nicht leiser zu werden, wenn ein Vorgesetzter ihn anschrie, selbst wenn er stammelte. »Saint Aumary«, fügte er fest hinzu.


    Der Mann wich einen Schritt zurück. Nun stand er in einer angenehmen Entfernung. »Saint Aumary«, wiederholte er. »In Dupont?«


    »Ja, Palaisin.«


    »Verstehe. Dann war es Boldiszàr, der sich für dich eingesetzt hat.«


    Robere fiel der plötzliche Wechsel vom Sie zum Du auf. Da er es verabscheute, als mehrere Personen angesprochen zu werden, war er dafür dankbar. »Ja, Palaisin. Wir haben zusammen dort gewohnt.«


    »Bellamy, wenn wir privat sprechen. Ich sagte doch, es ist Schichtende. Rauchst du?«


    »Ja, Pal... Bellamy.« Nervös leckte er seine Unterlippe. Es fiel ihm schwer, sich an ständige Änderungen anzupassen, selbst dann, wenn sie zum Guten waren.


    »Folge mir.«


    Er führte Robere zu einer weiß lackierten Bank im Palastgarten, die zwischen blühenden Rosenbüschen stand. Dort ließen sie sich nieder. Der Palaisin zog seine Tabaktasche hervor, drehte Robere eine Rauchstange und reichte sie ihm. Danach drehte er sich selbst eine. Er zündete beide an und nebeneinander sitzend rauchten sie. Robere ließ den weißen Qualm wie Nebel durch seine Nasenlöcher und zwischen den Zähnen hindurch sickern, um ihn möglichst intensiv zu riechen und zu schmecken. Bellamy hingegen pustete mit zurückgelegtem Kopf eine Rauchfontäne in den Abendhimmel.


    »Wie habt ihr euch nach dieser Zeit wiedergetroffen?«, hakte Bellamy nach.


    »An der Nordfront. Ich war ... ich war ...« Er konnte diesen Mann nicht belügen. Boldiszàr kannte die Wahrheit und würde sie dem Befehlshaber der Leibgarde nicht vorenthalten. »Wir wurden als Kinder getrennt. Mit Zwölf muss man das Waisenhaus verlassen und beim Lehnsherrn arbeiten. Wohin Boldi verschwunden ist, wurde mir nicht gesagt. Sie haben ihn einfach mit einer Kutsche abgeholt! Ich war jünger und blieb. Zurück.«


    »Aber wo habt ihr euch wiedergetroffen?« Bellamy ließ sich nicht ablenken.


    Robere schnaufte. »An der Nordfront. Boldi ... also mein Coutilier hat Prince Ciel de Souvagne eskortiert. Der die Arbeiten am Wall leitete.«


    »Du warst demnach bei der Armee, die den Nordwall hochzog?«


    »Nein«, gab Robere unwillig zu. »Ich war bei der Strafkompanie. Die zur Verstärkung kam.« Er senkte den Blick. Er wusste, dass die Leibgarde des Duc aus Männern bestand, die aus den besten Familien stammten. Nur er war die unrühmliche Ausnahme. Wobei ... Boldiszàr war das auch. Und was war mit Bellamy Bourgeois? Sein Nachname ließ auf keines der bekannten Adelshäuser schließen.


    Der Palaisin setzte sich bequemer hin. »Bleib entspannt. Wenn du deine Zeit in der Strafkompanie gedient hast, bist nun ein redlicher Mann. Aber weshalb warst du dort?«


    Jetzt wurde es Robere richtig ungemütlich. »Ich. Ich hab.« Robere nahm einen tiefen Zug von der Rauchstange, um seine Nervosität auszuräuchern. Manchmal half das. Boldiszàr hatte erzählt, dass irgendetwas im Pfeifenkraut wäre, das die Nerven beruhigte. Doch heute blieb seine Angst. »Ich hab«, versuchte Robere es verzweifelt, doch konnte den Satz nicht beenden. »Ich kann nicht gut reden, Monsieur. Palaisin. Bellamy!« Er massierte sich mit dem Handballen den schweißnassen Haaransatz und sah weg.


    »Ich habe Zeit«, erwiderte Bellamy gedehnt und sog genüsslich an seiner Rauchstange.


    »Ich bin rehabliert«, rief Robere. »Frontdienst gegen Absolution. So hat es Chevalier de Sonzier gesagt! Ich bin kein Verbrecher mehr vor dem Gesetz! Ich kann diese Arbeit hier als Gardist. So gut wie jeder andere. Ich bin fähig mit der Waffe. Und ich bin. Treu!« Sein Herz raste bei der Vorstellung, wegen seiner unrühmlichen Vergangenheit wieder aus der Leibgarde geworfen zu werden, erneut vor dem Nichts zu stehen und Boldiszàr zu verlieren. »Ich bin ein guter Soldat, Bellamy! Das haben alle gesagt!«


    »Und nichts anderes habe ich behauptet.« Bellamy schien seinen Spaß an Roberes Verzweiflung zu haben. Er tätschelte ihm jovial den Oberschenkel. »Ich warte immer noch auf deine Antwort. Noch eine Rauchstange?«


    »Ja.« Robere strich die Glut an seiner Stiefelsohle ab und schnippte den Stummel in die Wiese.


    »Aufheben. Dort ist der Mülleimer.«


    Robere stand auf und warf den Stummel an seinen korrekten Bestimmungsort.


    »Also?« Bellamy sog und die Glut spiegelte sich in seinen eisblauen Augen. Robere beobachtete, wie seine dunklen Bartstoppeln sich auf der Oberlippe aufstellten. Etwa die Hälfte davon glitzerte silbern, so wie das Haar an seinen Schläfen.


    »Ich hab.« Robere schaute noch immer auf die arbeitende Mundmuskulatur seines Gegenübers. Er atmete tief durch und sah zur untergehenden Sonne. »Spieltrieb.«


    Bellamy drehte eine neue Rauchstange, während er seine eigene, die noch zur Hälfte vorhanden war, auf die Armlehne der Bank legte. Er entzündete die neue Rauchstange, bevor er sie Robere reichte. »Verstehe«, sagte er gedehnt. »Darum hast du Angst, allein zu den Gardisten in die Gemächer zu gehen.«


    Robere nickte, ohne Bellamy anzusehen.


    »Haben sie dich in der Strafkompanie so büßen lassen, wie du vorher mit anderen gespielt hast?«


    »Nein. Ich hatte dort einen ... Beschützer. Meinen Commandant Meqdarhan. Der auch wegen Spieltrieb dort war. Glaube ich jedenfalls, zumindest hat er welchen. Das weiß ich. Er war ... gut zu mir. Hat aufgepasst, damit sie mich nicht ärgern. Warum, weiß ich nicht.«


    »Weil er ein guter Mann ist, der all seine Schäfchen hütet«, erklärte Bellamy. »In der Strafkompanie hat jeder Mann Dreck am Stecken und seine Aufgabe ist es, aus Verbrechern wertvolle Mitglieder der Gesellschaft zu machen. Das ist eure letzte Chance und das weiß er. Dass er dich schützte, zeigt, dass er seine Aufgabe ernst nimmt und niemanden verurteilt. Denn das Urteil wurde längst gesprochen.«


    Robere war überrascht, dass Bellamy so respektvoll von dem Ausbilder einer Strafkompanie sprach und dass der Palaisin keinen Anstoß daran nahm, dass Robere überhaupt bei der Strafkompanie gedient hatte.

    »Aber Meqdarhan ist nicht hier«, beharrte Robere. »Wenn die Kameraden von Unitè B merken, warum ich bei der Strafkompanie war. Quälen sie mich! Niemand wird Gardist, weil er freundlich ist. Ich bin so allein, Bellamy. Ich kann ohne Boldi nicht zu den anderen in die Quartiere. Ich will das nicht.«


    »Dann wirst du dir Freunde suchen müssen. Und noch weiß niemand von deinem sogenannten Spieltrieb, nicht wahr? Du bist nicht verpflichtet, irgendjemandem zu deinem früheren Leben Auskunft zu erteilen. Von deinen Vorgesetzten abgesehen, versteht sich.«


    »Und wenn ich keine Freunde finde? Ich bin nicht gut in so was. Ich bin. Wie ich bin.« Dass er Probleme damit hatte, zu sprechen und sich gut zu verkaufen, war ja nicht zu überhören. Auch, dass seine nahezu fehlende Mimik die Leute irritierte, war ihm bereits gesagt worden.


    »An ein mögliches Scheitern solltest du gar nicht erst denken, Robere. Du hast es aus dem Waisenhaus über die Strafkompanie bis hinauf zur Leibgarde des Duc geschafft. Das kann nicht jeder von sich behaupten.«

    Bellamy stand auf, drückte den Rest seiner Rauchstange am Rand des Mülleimers aus und warf ihn hinein.


    Robere überlegte kurz. »Ein Lob«, schlussfolgerte er. »Du hast mich gelobt!«


    Ehe der Palaisin etwas erwidern konnte, näherten sich Schritte und beide drehten sich nach ihnen um.

    Da nahte Boldiszár. Er salutierte. »Palaisin.«


    Der erwiderte den Gruß freundlich und fügte danach hinzu: »Steh bequem. Wir sprechen gerade privat.«


    »Ah, schau an, das ging schnell.« Boldiszàr blickte zwischen den beiden hin und her. »Ich hatte nach Robere gesucht.«


    Der grinste glücklich. »Der Palaisin da hat mir zwei Rauchstangen geschenkt. Ich konnte nicht ablehnen. Darum musste ich mit ihm draußen bleiben.«


    »So, hat er das?« Boldiszàr schmunzelte mit dem gesunden Mundwinkel. Jetzt, wo er und Bellamy nebeneinanderstanden, war die Ähnlichkeit verblüffend. Zwei kompakte Kraftpakete, schwarzhaarig und blauäugig und beide schlecht rasiert. Sie hätten Brüder sein können. Vielleicht waren sie das sogar? Bellamy hatte freundlich reagiert, als Robere von seinem Waisenhaus berichtet hatte. Aber Robere wagte nicht zu fragen, woher Bellamy stammte.


    Der grinste Boldiszàr jetzt mit gelben Zähnen an. »Das ist doch jener Robby, von dem du früher erzählt hattest, oder nicht? Der aus Saint Aumary?«


    Boldiszàr nickte. »Klar ist er das. Es gibt nur einen Robby - meinen Wahlbruder, meinen Lebensretter und meinen bester Freund.«


    Robere bekam rote Ohren, sah schnell weg und grinste verschämt, freute sich aber riesig über das Lob in Gegenwart des Palaisins. Gleich zwei Lobe hintereinander! Oder hieß es Lobs?


    »Na also«, rief Bellamy. »Dann gebietet es doch der Anstand, ein paar persönliche Worte zur Begrüßung von Robby zu wechseln, nicht wahr?« Bellamy klopfte Boldiszàrs Schulter. Leiser sagte er: »Stell ihm einen Mentor zur Seite, bis er seinen Platz in Unitè B gefunden hat.«


    Dann stapfte Bellamy ohne einen Abschied davon.

    "Not all those who wander are lost."
    J.R.R. Tolkien