Kapitel 07 - Das Verhör des Vendelin von Wigberg

  • Timothée Mauchelin
    Die Einladung zu Duc Maximilien kam Timothèe ungelegen. Er bereitete gerade seine Abreise nach Obenza vor und war mitten beim Packen, als der Eilbote ihm den Brief zustellte. Timothèe unterbrach seine Arbeit, wusch sich an der Waschschüssel und zog frische Kleider an, ehe er sich zu Fuß auf den Weg machte. Es war nicht weit von seinem Haus bis zum Palast. Er hätte auch eine Kutsche bestellen können, aber der Winter ließ heute schon den Frühling durchscheinen. 12°C zeigte das Thermometer und die Sonne lockte die ersten Frühinsekten hervor. An solch einem Tag genoss er den Spaziergang, der ihn zu Duc Maximilien brachte. Im schattigen Flur des Palasts war es kühler als draußen. Auf weichen, lautlosen Sohlen ging er zum Thronsaal, wo er die Gardisten bat, für ihn zu klopfen.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    Einer der beiden Gardisten unmittelbar an der Tür klopfte. Einen Augenblick später wurde von drinnen die Tür geöffnet und Timo wurde von einem weiteren Gardisten per Handzeichen hineingebeten. Nach dem er den Thronsaal betreten hatte, bezogen von innen zwei der Gardisten direkt vor der Tür Stellung und verschlossen diese. Ein aufforderndes Nicken Richtung Thron wies Timo den Weg. Maximilien musterte mit blasser nicht deutbarer, ernster Miene Timo.


    Timothée Mauchelin
    Man hörte seine Schritte überhaupt nicht, als er über den Teppich ging. Um die Mode klappernder Absätze hatte er seit jeher einen Bogen gemacht. Timothèe näherte sich bis auf die korrekte Entfernung und verneigte sich. »Majestät, Ihr habt mich rufen lassen?«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    Der Blick des Duc bohrte sich in den von Timothee´s. Er schaute ihn nicht einfach nur an, er schien ihn förmlich mit dem Blick zu sezieren. Hier stand er nun, der vermeintliche Hochverräter. War er ein Berzan oder Mercer? Angeklagt für andere Personen? War der derjenige, auf den die Finger deuteten um von sich selbst abzulenken? Oder war er ein Corentin? Einer jeder Hochverräter, der überall seine Finger mit im Spiel hatte und so die Fäden zog. Wobei möglicherweise war er ebenso jemand, der sogar für das Fädenziehen weitere Marionetten hatte. Es würde sich erweisen. Auf die eine oder andere Art mussten sie an die Wahrheit gelangen, sonst waren sie möglicherweise dem Untergang geweiht. Timo konnte man nicht auslesen, aber man konnte ihm ebenso ein Wahrheitsserum verabreichen oder ihn foltern. Die Möglichkeit bestand bei jedem. Zudem konnten einige seiner Familie ausgelesen werden. Sprach er nicht selbst, musste man ihn zum sprechen bringen. »Das ist korrekt, wir haben Euch rufen lassen. Aber vielleicht habt Ihr selbst das Bedürfnis uns etwas mitzuteilen. Wir hatten letztens Euch betreffend aufschlussreichen Besuch, Euer Sohn war hier und wir haben uns angeregt über das eine oder andere Familienleben unterhalten«, sagte Max.


    Timothée Mauchelin
    »Oh, Euch ist also aufgefallen, dass mein Junge bei der Leibgarde dient.« Timothèe lächelte ein wenig. »Ich habe ihn leider selbst lange nicht privat gesehen. Ja, wir hatten in der Vergangenheit einige Differenzen, was ich bedauere. Ich nehme also an, dass er Euch um Schlichtung gebeten hat?«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »An einer Schlichtung war ihm durchaus gelegen. Wobei wir davon ausgehen, dass sich Moritz ein friedvolles Leben wünscht. Ist sein Leben durch all die Aufträge und Ränke nicht schon kompliziert genug? Eine Scheinidentiät, in einer Scheinwelt, die wiederum eine Scheinwelt ist. Letztendlich ist er daran zerbrochen, jedenfalls fast. Wie lautet Euer realer Name?«, fragte der Duc rundheraus.


    Timothée Mauchelin
    Timothèe hob nun den Blick, so weit, wie gerade noch angemessen war und betrachtete im obersten Rand seines Blickfelds die Mimik des Ducs. Je höher der Adel umso schwieriger war eine Deutung. Das einzige, was Timothèe lesen konnte, war, dass Maximiliens Gesicht noch steinerner war als sonst. Die Abstände, in denen er blinzelte, waren erhöht zu sonst und der Atem ein wenig beschleunigt. Dergleichen bemerkte man jedoch nur, wenn man professionell darauf geschult worden war. Und die Information besagte lediglich, dass Maximilien gerade unter einer Form von innerem Stress stand. »Mein realer Name ist Velasco Macault. Ein Leben unter einem ewigen Deckmantel ist das Schicksal eines jeden von unserer Zunft. Nicht jeder ist dafür geschaffen, dem standzuhalten. Bat er um einen Wechsel seines Arbeitsplatzes oder gar den Austritt aus unserem Orden?«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Euer Name ist nicht Velasco Macault, Euer Name ist von Wigberg, Euer Sohn heißt Moritz von Wigberg. Demzufolge gehört Ihr einer uralten Sippe von Meuchelmördern, Spionen und Halsabschneidern an. Solange Ihr offen mit diesem Erbe umgeht, ist daran nichts auszusetzen. Die Frage ist jedoch, weshalb Ihr den Orden des stählernen Lotos als Euren Deckmantel benutzt. Die Logik gebietet es, davon auszugehen, dass Ihr alles über Souvagne in Erfahrung bringen wollt. Und da wäre diese Form von Orden ideal, ebenso wie das Militär. Ein Hohenfelde bei Hofe, ein Wigberg samt seinem Orden, also was bezweckt Ihr? Das Ihr uns nicht wohlgesonnen seid, ist selbstverständlich. Ansonsten hättet Ihr Euch nicht vor uns verbergen müssen. Direkt vor unserer Nase, in der Höhle des Löwen, dreist aber effektiv. Aber wie Ihr seht, nicht effektiv genug. Wir haben Euch einbestellt um Schadensbegrenzung zu betreiben, für uns und für Euch. Also wir fragen erneut, wer seid Ihr«, sagte Max bedrohlich ruhig.


    Timothée Mauchelin
    Timothèe verspürte den Drang, Moritz grün und blau zu schlagen. Dieser dumme, dumme Narr. »Habt Ihr meinen Sohn gefoltert, damit er dies von sich gibt? Lebt er überhaupt noch? Gut, Ihr habt also die unterste aller Masken von ihm gerissen. Darob anzunehmen, dass wir Euch schaden wollten, nur weil Ihr diesen Namen bisher nicht kanntet, ist eine zu affektive Schlussfolgerung und entsprechend nicht korrekt. Er wie ich haben Euch all die Jahre so treu wie effizient gedient. Dass die Hohenfeldes Naridien ebenso verlassen würden wie unser Zweig war nicht abzusehen. Aber dass uns daran gelegen ist, gegenüber ihnen hier anonym zu bleiben, ist vielleicht nachvollziehbar wenn man sich mit der Historie dieser Familie beschäftigt. Ich nehme an, dass Ihr das getan habt, bevor Ihr Linhard Verrill versprochen habt.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Natürlich das ist eine Pflicht die uns als Vater gut zu Gesicht stand. Aber Ihr übt Euch in unnötiger Bescheidenheit. Weshalb solltet Ihr Euch vor Eurer eigenen Sippe versteckt halten? Laut unseren Informationen arbeitet Eure Sippe, eben jene Familien Hohenfelde, Wigberg und Eibenberg Hand in Hand. Jene Familien gingen den Bund zur Sippe ein und dieses Bündnis wird heute noch zelebriert, indem sich die Sippenmitglieder mit den Kürzeln ihrer Gründerväter begrüßen. Dun-Haru-Mar, so wird sich in dieser Sippe begrüßt. Ist Euch dies etwa entfallen? Wären die Wigbergs und die Hohenfelde getrennte Leute, dann könnten wir Euer Versteckspiel nachvollziehen. Niemand wünscht sich einen rachsüchtigen Familienzweig auf den eigenen Fersen, vor allem wenn es sich um Assassinen handelt. Aber Euch ist niemand auf den Fersen. Euer Verwandter Wolfram von Wigberg lebt hier ebenso unbescholten, wie andere Hohenfeldes und Eibenberg. Also verkauft uns diese Scharade nicht, als Dienst an der Krone. Ferner habt Ihr immer noch nicht Euren vollständigen Namen genannt. Ihr solltet damit beginnen die Wahrheit zu sprechen Timothee´, sagte Max schlicht.


    Timothée Mauchelin
    »Mein Name ist Vendelin von Wigberg«, sprach Timothèe. Man hörte ihm nicht an, wie schwer es ihm fiel, diesen Namen über die Lippen zu bringen. Für ihn war es ein Gefühl, als würde er hier mitten im Thronsaal die Hosen samt Unterhosen herunterlassen müssen. »Dass unsere Familien bisweilen kooperieren, bedeutet nicht, dass nicht gelegentlich der eine oder andere durch die Hand eines Verwandten fällt. Wir sind die Absicherung, der doppelte Boden der Freiherren von Wigberg. Und ich wäre Euch sehr verbunden gewesen, hättet Ihr dies mit mir unter vier Augen besprochen und nicht vor derart vielen. Dass Wolfram hier offen einherwandelt, ist seine eigene Schuld, doch ich werde ihn sicher nicht daran hindern.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Die Leibgarde genießt unser vollstes Vertrauen, Ihr hingegen nicht. Macht Euch doch nicht lächerlich Vendelin. Wir hätten Euch unter vier Augen ansprechen sollen? Für wen haltet Ihr Euch? Es wäre Eure Pflicht gewesen uns über Eure wahre Natur in Kenntnis zu setzen. Verdreht hier nicht die Tatsachen. Ihr seid also der Bastardzweig, falls die Hauptlinie ausstirbt. Interessante Sichtweise, allerdings fehlt in Eurem Puzzle ein großes Stück. Das Eure Familie einen stillen Zweig schuf, um zur Not abgesichert zu sein und nicht auszusterben, können wir nachvollziehen. Dass Ihr Euch verbergt, um nicht bei einer Blutfehde getilgt zu werden, verstehen wir ebenso. Nun füllt die Lücke und reicht uns die Puzzlestücke. Weshalb verbergt Ihr Euch in Souvagne? Und weshalb habt Ihr diesen Orden gegründet? Möchtet Ihr Euch eventuell auf dem souvagnischen Thron verstecken?«, hakte Max nach mit einer Stimme wie geschliffener Stahl.


    Timothée Mauchelin
    Vendelin setzte ein amüsiertes Gesicht auf. Dabei schüttelte er den Kopf. »Nein, Majestät. Ich habe diesen Orden nicht gegründet, Ihr überschätzt meinen Einfluss. Den Orden des Stählernen Lotos verdankt Souvagne Eurem werten Herrn Vater. Ein Thron ist kein gutes Versteck. Es liegt nicht in der Natur meiner Familie, sich auf dem Präsentierteller anzubieten. Es geht und ging uns sehr gut unter Eurer Regentschaft. Warum sich selbst die Bürde der Krone auferlegen?«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Aus dem gleichen Grund, weshalb es jeder mit Machthunger versucht und weshalb Regenten sie selbst festhalten, Macht. Nun Ihr wolltet uns also nicht schaden, Ihr habt Euch im Orden nur vor Euren Verwandten versteckt und Euren Namen habt Ihr zum Schutze Eurer Familie verschwiegen. Haben wir dies so zu verstehen? Das können wir kaum glauben«, sagte Max.


    Timothée Mauchelin
    »Machthunger um der Macht selbst willen ist eher das Metier der von Hohenfeldes«, sprach Vendelin freundlich. »Die offenen Kämpfe mit dem Degen, in welchen sie sich gegenseitig ebenso abschlachten wie andere, überlassen wir gern ihnen. Ein Wigberg sucht die Macht, um sich und seine Blutlinie abzusichern - um andere vorzuschicken, damit deren Söhne bluten, während die eigenen in Sicherheit leben. Wir machen uns nicht gern die Hände schmutzig, sondern bleiben lieber in der zweiten Reihe. Wir sind die Marionettenspieler unserer Sippe. Übertrieben gesprochen: Warum sollten wir uns offen mit anderen Nationen herumstreiten, mit Feinden der Krone, den ewigen Nörglern, den Intrigen bei Hofe und der ständigen Furcht vor einem Attentat, wenn Ihr all das doch für uns erledigen könnt?« Er lächelte. »Ihr regiert, während wir unser unkompliziertes, sicheres Leben in Eurem Schatten genießen. Und wir schützen Euch natürlich, damit es so bleibt. Nun, wo Ihr wisst, woran Ihr an mir seid, wie verbleiben wir? Ich würde zudem gern erfahren, was mit meinem Jungen geschehen ist.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Wir verbleiben so, dass wir Eure Ausage überprüfen lassen werden. So wie Ihr es beschreibt, könnten wir froh und dankbar sein, dass Ihr Euch bei uns versteckt habt. Seltsamerweise hat dies einen äußerst üblen Nachgeschmack. Wisst Ihr, auch Corentin diente der Krone, auf seine verdrehte Art und Weise. Nur starben dabei mein Vater und mein Bruder. Wir haben keinerlei Bedarf daran, dass ich die Geschichte wiederholt. Gleichgültig für wen aus unserer hoheitlichen Familie. Und wir haben auch nicht vor uns für Euch als Marionette zu betätigen. Euer Sohn ist sicher verwahrt in einer geschlossenen Tempeleinrichtung, sein Geisteszustand war nicht stabil«, antwortete der Duc.


    Timothée Mauchelin
    »Nein, das war Moritz ganz sicher nicht, denn ansonsten hätte er geschwiegen.« Vendelin musterte den Duc. »Darf er Besuch empfangen? Corentin la Caille ist meiner Familie natürlich ein Begriff, ja.« Danach schwieg Vendelin und wartete.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Nein Euer Sohn darf keinen Besuch von Bekannten empfangen. Er soll sich ganz auf sich selbst besinnen, mit drei Persönlichkeiten ist dies wahrlich schwer genug. Ihr weckt unsere Neugier, weshalb ist Euch ein Hochverräter ein Begriff? Und redet Euch nicht mit Eurer Arbeit im Orden heraus. Die meisten werden ihn nur als Quennel oder Quennel Perreault gekannt haben. Ihr wisst worum es hier letztendlich geht oder?«, fragte Max und lehnte sich im Thron zurück.


    Timothée Mauchelin
    »Sicher, es geht um das Leben meines Sohnes und das meine. Natürlich wirke ich nach außen ruhig, was würde es bringen, nun auf Knien unter Tränen vor Eurem Thron herumzurutschen, außer Eure Nerven zu strapazieren?« Timothèe merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte, einzuräumen, Quennel unter dessen bürgerlichen Namen zu kennen. Es verkomplizierte die Dinge. Doch nun zurückzurudern brachte nichts. »Mein Vater war einer der Ersten des Ordens. Wenzel von Wigberg, im Orden bekannt unter dem Namen Soel Macault. Er arbeitete eng mit Corentin aka Quennel zusammen.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Das Leben Eures Sohnes ist nicht in Gefahr. Jemanden der schon am Boden liegt zu zertreten ist keine Kunst. Zudem würden wir Euren Sohn zum Tode verurteilen, sterben zwei Personen mit ihm und zwar Pascal und Patrice. Es sind unschuldige Seelen, keine von beiden hat den Tod verdient. Und auch Moritz hat es nicht verdient zu sterben. Tränen würden Euch nicht helfen, vor allem nicht, wenn diese nur ein Schauspiel sind. Theatertränen sahen wir zu oft im Thronsaal, öfter noch als im Theater selbst. Was Euch gut zu Gesicht stehen würde ist die Wahrheit. Wie Ihr Euch sicher denken könnt, hat eine Person wie die unsere nichts für Lügen, Heuchelein oder anderes korrumpierendes Verhalten uns gegenüber übrig. Wir haben zu lange über unsere Schulter schauen müssen, aber wir haben dennoch nie vergessen, dass ein Dolch auch von vorne kommen kann. Das Ihr zugebt, Corentin zu kennen ist ein guter Anfang. Euer Vater kannte ihn, nungut. Unter welchen Bedingungen, wir hören«, sagte Max etwas umgänglicher.


    Timothée Mauchelin
    »Euer Vater gründete den Orden des Stählernen Lotos auf Anraten seiner Frau, der von Euch wegen Hochverrats hingerichteten Duchesse Francoise Esme de Souvagne. Damals jedoch war sie noch keine Hochverräterin. Sie hatte zwei Geliebte, sicher, aber an ihren Händen klebte zu dieser Zeit noch kein Blut. Die Agenten der Autarkie ermittelten dennoch gegen sie. Allen voran Mercer Desnoyer in seinem grenzenlosen, fast schon fanatischen Ehrgeiz. Er hatte sich in den Fall verbissen wie ein Terrier und nichts konnte ihn davon abbringen, nicht einmal mehrere eindeutige Warnungen. Tatsächlich versuchte Parcival zunächst, ihn durch das Legen falscher Fährten und später durch anonyme Drohungen loszuwerden. Doch so gut Parcival als Himmelsauge war, Mercers Entschlossenheit hatte er nichts entgegenzusetzen. Das Himmelsauge Corentin wurde daher bei den Agenten eingeschleust, um herauszufinden, was sie wirklich wussten. Doch Corentin war nicht der Einzige. Sowohl Parcival als auch Corentin waren die Geliebten der Duchesse. Die Duchesse ihrerseits traute keinem von beiden wirklich über den Weg. Sie verdächtigte sie, sie absichtlich hinzuhalten, denn anders war es für sie nicht zu erklären, warum sie Mercer nicht loswurden und auch nicht an seine Pläne herankamen. Für sie sah das nach Sabotage aus. Und an dem Punkt kam mein Vater ins Spiel. Wenzel war ein Antimagier, so wie auch Moritz einer ist. Für die Himmelsaugen war er daher das geeignete Gegengewicht. Keiner ihrer beiden Geliebten hatte Zugriff auf seine Gedanken. Wenzel hatte jedoch noch eine weitere Stärke, die Corentin völlig fehlte und verhinderte, dass er in die Pläne eingeweiht wurde - die Fähigkeit, in die Herzen der Menschen zu blicken und sie für sich zu gewinnen, ganz ohne Magie. Empathie nennt man diese Kraft. Und damit gelang ihm, was Corentin nie gelungen war, er kam über Berzan Bovier, der ein sehr schwieriger Mensch war und Corentin hatte auflaufen lassen wie ein Eisberg, an die Pläne von Mercer Desnoyer heran. Als einer der ganz wenigen, selbst unter den Agenten der Autarkie, wusste mein Vater somit von dem durch Mercer und Berzan geplanten Putschversuch. Und er informierte Duchesse Francoise Esme de Souvagne. Wenzel von Wigberg war es, der den Untergang der Agenten besiegelte.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    Maximilien hörte Vendelin aufmerksam zu. Aus jener Zeit zu hören, stimmte ihn immer neugierig und melancholisch zugleich. »Handelte Wenzel für die Duchesse oder für die Himmelsaugen? Wusste er um den Verrat der Duchesse? Oder hielt er die Agenten für Verräter? War er ein Geliebter der Duchesse, so wie Parcival und Corentin oder wie stand er zu dem Trio? Bildete es ein Quartett? Die Söhne von Berzan und Mercer sind nicht minder bissfest, das scheint in der Familie zu liegen. Allerdings schützt Boldiszar so vehement unser Leben, wobei dies sein Vater ebenfalls versucht hatte. Weshalb der Putsch?«, fragte Max.


    Timothée Mauchelin
    »Ich war noch ein Kind, als mein Vater starb und kenne daher nur oberflächliche Informationen. Dies ist keine Ausrede. Er starb 168 gemeinsam mit jenen, die er ans Messer geliefert hatte. Ich war damals 12 Jahre, noch nicht einmal volljährig. Ordensoberhaupt war zu dieser Zeit Janou Langeron. Es ist daher anzunehmen, dass Wenzel schlichtweg für Janou arbeitete. Die Frage wäre also eher: Für wen arbeitete der Orden des Stählernen Lotos? Ins Leben gerufen wurde er dereinst auf Geheiß Eurer Mutter. Theoretisch diente der Orden dem Duc. Praktisch tut er das, seit ich ihn leite.« Vendelin verneigte sich mit einer eleganten Handbewegung. Dann fuhr er fort. »Der geplante Putsch war letztlich die Reaktion eines in die Ecke getriebenen Angstbeißers. Mercer war nicht minder fanatisch als sein Sohn, denkt an die geplante Abgrundfahrt der Choucas, kollektiver Massenselbstmord, um möglichst viele Farisin mit sich zu reißen. Kaum anders wird es in Mercers Verstand ausgesehen haben nach all den Drohungen. Nur, dass er vielleicht ein wenig raffinierter vorging als sein Sohn, aber er hatte auch nicht eine derart zerstörerische Kindheit durchlebt. Ohne die Arbeit von Corentin und Wenzel wären die Agenten erfolgreich gewesen. Dann säße nun Mercer auf Eurem Thron.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Das wäre eine der Möglichkeiten, ebenso könnte unser Bruder auf dem Thron Souvagnes sitzen. Aber Bernard Pomeroy de Souvagne ist ebenso tot wie Mercer Desnoyer. Was die Verbissenheit und den Fanatismus von Mercer und Delancy angeht, vermuten wir beide stehen sich in nichts nach. Gleich wer wir sind, niemand kann seine Wurzel verleugnen. Wir sind alle Kinder unserer Eltern, hier gibt es keine Wahl. Dies ist Ainuwars Entscheidung, ebenso haben wir keine Wahl, welche Gaben wir von unseren Eltern mitbekommen. Aber wie wir diese Gaben anwenden, darüber gebieten wir. Unser Halbbruder handelt nicht wie Corentin und unsere Person handelt gewiss nicht wie die alte Duchesse. Angst vermag zu vielem zu verleiten, Verzweifelung ebenso. Ihr gebt freimütig zu, das der Orden von einer Hochverräterin gegründet wurde, dass dieser gedient wurde, dass sie sich mit weiteren Hochverrätern verbündete und das Euer Vorfahre diesen zuarbeitete. Nennt uns einen Grund nicht einfach aufzustehen und diesen Kopfschmerz zu beenden, indem wir eine Grundreinigung befehlen«, sagte Max und seine Stimme klang für einen Moment uralt und müde.


    Timothée Mauchelin
    Nun erstmals sah man Vendelin an, dass er nervös war. Er konnte nicht verhindern, dass ihm alle Farbe aus dem Gesicht wich. »Sind 34 Jahre treuer Dienst kein ausreichender Grund?«, fragte er leise und langsam. »Gewiss, ich habe meine Abstammung verschwiegen. Aber ist das ein ausreichender Grund, jemanden dem Henker zu überantworten? Ich bin nicht mein Vater, Majestät, so wenig wie Ihr Eure Mutter seid. Das habt Ihr doch selbst gerade festgestellt. Wir sind nicht unsere Eltern.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Das unsere Person nicht leichtfertig über das Leben ihrer Untertanen entscheidet seht Ihr daran, dass wir Konversation betreiben und alle im Orden des stählernen Lotos noch wohlauf sind und atmen. Bereits am gestrigen Tage als uns diese obskure Information erreichte, hätten wir mit aller Härte handeln können. Die Macht dazu haben wir, dies steht außer Frage. Aber genau aus diesem Grund muss mit aller Sorgfalt abgewogen werden, wer den Tod verdient und wer das Leben. Zwei weise junge Männer erinnerten uns gestern daran, dass jeder in diesem Orden nicht nur ein stählerner Lotos ist, sondern auch Souvagner. Wärt Ihr des Hochverrates schuldig, muss es nicht einer Eurer Ordensbrüder sein, Ihr hättet sie genauso wie uns täuschen können. Und würden diese Souvagner dann nicht den Schutz der Krone verdienen und sich zu Recht nach diesem sehnen? Aber so gütig und milde wir auch stets für unser Volk zu handeln gedenken, es ist uns nicht immer möglich. Bei Gefahr im Verzug, haben wir zu handeln, notfalls mit aller Härte des Gesetzes. Wir sind das Gesetz, wir sind Souvagne. Und wo andere dann gerne ein Auge zudrücken, werden wir ein drittes öffnen. Zu Eurem Einwurf, wir erkennen 34 Jahre treuen Dienst an. Wir sehen auch, dass bis jetzt nachweislich Euer einziger Fehler, das Verschweigen Eurer Abstammung war. Bietet uns einen Lösungsvorschlag an um Eure Loyalität zu beweisen«, sagte Maximilien entgegenkommend.


    Timothée Mauchelin
    »Einen Beweis?« Vendelin überlegte lange. Natürlich hatte er einige Asse im Ärmel. Die Frage war, welches er ausspielen sollte. »Wissen ist eine Währung, die so machtvoll ist wie rollender Taler. Ich werde Euch Wissen offenbaren, das mich selbst belastet. Im Rahmen der Ermittlungsarbeiten gegen den Ring der Kinderschänder in Souvagne profitierte der Orden des Stählernen Lotos von den Verwüstungen in den nordwestlichen Lehen. Da auch Heime der Verwüstung anheim fielen, gab es Kinder, die wir verwenden konnten, ohne das selbst die Krone es hätte nachvollziehen können, was mit diesen Kindern geschah. Unter anderem fiel Waisenhaus Saint Aumery den Flammen zum Opfer. Die Kinder von dort dienten uns als Ware und Köder.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Das ist kein Beweis Vendelin, dass ist erbärmlich. Nun Wissen ist Macht. Wir dachten ehr an ein Aufklärung. Wir verfügen auch ein klein wenig über diese Währung Lotos. Der Schlüssel zur Aufklärung oder dem Aufhalten der Agenten war ein Lotos unter dem Decknamen Pascal! Er unterwanderte die Agenten der Autarkie. Er belieferte die Himmelsaugen mit allen Informationen, die sie benötigten, damit sie die Agenten aufhalten und ausschlaten konnten. Jener Pascal ermittelte die Truppenzusammensetzung, die Bewaffnung, die bevorzugte Taktik, persönliche Stärken und Schwächen der einzelnen Mitglieder, ausführliche Persönlichkeitsprofile, Einsatzgebiete, Aufträge, Erfolgsquoten. Nicht alles davon leitete er weiter, nur das, was ausreichte, um den Himmelsaugen zum Sieg zu verhelfen. Es war eine der umfangreichsten Ermittlungsarbeiten aller Zeiten und eine der besten, es war eine Meisterleistung. Und es ist Pascal trotz seiner entscheidenden Position in dieser Angelegenheit gelungen, sich aus der offiziellen Geschichtsschreibung herauszuhalten, was gut zu ihm passt. Entscheidend ist, dass Pascal letztendlich der Sargnagel der Agenten der Autarkie war. Aus Sicht des Stählernen Lotos eine Meisterleistung. So gut, wie Pascal recherchiert hat, muss er gewusst haben, dass die Agenten unschuldig waren. Die Frage ist, warum er das Wissen nicht an den Duc weitertrug? Dafür gibt es mehrere mögliche Antworten. Hass auf die Agenten? Unwahrscheinlich, er war zu gut, um sich derart von seinen Emotionen steuern zu lassen. Eine Gegenleistung durch jene, die den Sturz der Agenten in Auftrag gab, ist sehr viel wahrscheinlicher - wir sind wieder bei der Duchesse. Und hier kommt die große Frage - auf welcher Seite stand eigentlich der Orden des Stählernen Lotos tatsächlich? Pascal Dein Vater leitete nicht alle Informationen weiter. Weshalb nicht? Wozu hielt er Informationen zurück? Diente er dem Duc oder der Duchesse? Oder diente er sich letztendlich selbst? Benne uns doch bitte die Dritte Macht«, bat Maximilien freundlich, während seine Augen blitzten.


    Timothée Mauchelin
    »Der sogenannte Pascal war natürlich mein Vater. Im Orden war er als Soel bekannt, aber natürlich durfte er unter diesem Namen nicht ermitteln. Dafür diente seine Identität Pascal Rouvallet. Was meinen Vater im Einzelnen bewog, weiß ich nicht, ich war erst zwölf!« Timothèe fühlte sich nun sichtlich unwohl. Man bemerkte es daran, dass seine Augen in Richtung Tür zuckten. Als er es bemerkte, schloss er sie kurz und als er sie wieder öffnete, blickte er wieder nach vorn. »Die dritte Macht ist niemand anderes als die Familie Wigberg. Wir sind die dritte Macht. Denkbar ist ... dass die Agenten herausgefunden hatten, wer Soel Macault wirklich ist. Meine Mutter wusste es und sie hat ihren Mann gern damit versucht zu erpressen, dass sie dieses Wissen weiterträgt. Möglich ist, dass sie es getan hat. So dass die Agenten letztlich auch starben, um den Deckmantel der Wigbergs zu schützen.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Demzufolge haben Berzan und Mercer unbewusst in ein Wespennest gestochen. Einen Verrat aufgedeckt der Duchesse und Eure Familiengeheimnisse zeitgleich mit gelüftet. Die beiden lüfteten etwas zu viel, so dass sie selbst an die Luft gesetzt wurden. Man sollte ihnen posthum einen Orden für Fleiß verleihen. Mit 12 Jahren seid Ihr zwar nicht erwachsen gewesen aber auch kein unwissendes Kleinkind. An die Anekdote über Eure erpresserische Mutter erinnert Ihr Euch doch auch, aber nicht an Euren Vater. Ist das nicht... suspekt?«, fragte Max lauernd.


    Timothée Mauchelin
    »Mein Vater war ein vorsichtiger Mann, natürlich weihte er mich nicht in all seine Gedanken ein. Aber den Beziehungskrach bekam ich leider mit, er war ja auch laut genug«, murrte Vendelin.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »In Ordnung, reden wir doch einmal über ein brandheißes Eisen, dem Brand dem Janou Langeron als Oberhaupt des stählernen Lotos zum Opfer fiel. Er starb eines unnatürlichen Todes, und zwar starb er durch einen Großbrand im Hauptquartier des Ordens. Janou wurde Oberhaupt des stählernen Lotos als Ihr 12 Jahre alt wart, noch nicht volljährig um selbst den Orden zu führen. Könnte es sein, dass Ihr Feuer und Flamme auf den Posten wart, als Ihr das Erwachsenen Alter erreicht hattet?«, hakte Max nach.


    Timothée Mauchelin
    »Bei dem Brand war ich nicht 12, sondern 35 Jahre alt. Er ereignete sich im Jahr 192 nach der Asche. Und Quell dieser Flammen war nicht ich, sondern ein anderer Lotos, der leider für seine Pyromanie bekannt ist, aber darüber hinaus gute Arbeit macht. Was wollt Ihr mir ankreiden?«, fragte Vendelin.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Lieber Vendelin, das sind sehr unflätige Worte von Dir. Wie kommst Du darauf, dass wir so etwas nötig hätten? Oder das wir zu so einer Boshaftigkeit im Stande wären? Hast Du uns eben nicht noch aus dem Brustton vollster Überzeugung gestanden kleine souvagnische Kinder als Menschenhandelsware missbraucht zu haben? Diese an Menschenfresser weitergereicht zu haben? Was glaubst Du lieber Vendelin haben jene Menschenfresser mit den Kindern gemacht? Wir wären nicht erbost, wären es unwerte Kreaturen wie Orks oder Naridier gewesen. Aber dies waren Souvagner Ven. Kinder denen schon alles genommen wurde, die nichts besaßen außer die Hoffnung, dass es eines Tages nach dem Heim etwas bergauf geht. Für all jene die nicht für sich selbst kämpfen können stehen unsere Streitmächte ein. Die Garde, das Heer, die Marine, neuerdings auch die Luftwaffe, die Büttel, die Orden - all jene sind für das Volk dar um es zu behüten und zu verteidigen. Wir sind der Duc von Souvagne und nicht von sonst einem Land. Es interessiert uns nicht, was Ihr anderen antut, solange Ihr Eure Aufgabe Eurem Volke gegenüber wahrt. Aber Vendelin, genau das hast Du nicht getan. Und von einem Menschenfresser zu einem Brandstifter ist es nicht weit, wenn man möglicherweise Geschmack auf Grillfleisch bekommt«, warf Max ein.


    Timothée Mauchelin
    »Stellen wir uns ein hypothetisches Szenario vor. Der ursprüngliche Befehl des Jahres 168 lautete - Stand Null. Die Agenten der Autarkie sind samt allen Verwandten mit Stumpf und Stiel auszulöschen. Und nur aufgrund der persönlichen Schwäche eines einzelnen Himmelsauges, welches den letzten Wunsch der Todgeweihten, ihre Kinder zu verschonen, ernst nahm, konnte dieser Befehl nicht umgesetzt werden. Wessen Wort aber wiegt schwerer, dass von Parcival oder das der Krone? Nehmen wir an, ich hätte den Auftrag gehabt, den ursprünglichen Befehl der Bereinigung bis zum Ende zu führen. Das, was die Himmelsaugen nicht vermochten - die Brut der Agenten mitsamt ihren Eltern zu beseitigen - was, wenn dies mein Befehl war?«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Existierte dieser Befehl die Kinder auch in den Heimen zu töten? Es kann nur eine Person jenen Befehl ausgesprochen haben, die alte Duchesse. Das unser Vater den Befehl erteilt hätte, wagen wir zu bezweifeln. Und zwei Jahre später wird er dazu nicht mehr in der Lage gewesen sein, Duc Alain Etienne de Souvagne starb mit seinem ältesten Sohn am 19.10.170. Also ist das eine Hypothese oder ein Fakt? Uns ist bei diesem Thema nicht nach Scherzen oder Rätselraten zu Mute. Wäre dies Euer Befehl gewesen, hättet Ihr Folge leisten müssen um Eure Frage fairerweise zu beantworten«, gab Max zurück.


    Timothée Mauchelin
    »Der Befehl stammte von der geistigen Mutter unseres Ordens, Duchesse Francoise Esme de Souvagne. Unserer Mäzenin und unserer schützenden Hand. Und der Orden des Stählernen Lotos diente ihr treu bis zu ihrem Tod.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    Der Duc schaute Vendelin lange und sehr ernst an. »Das glauben wir Euch Vendelin von Wigberg, so kannte man die alte Duchesse. Und nicht umsonst hat uns unser damaliger Leibdiener völlig von dieser Frau abgeschirmt. Sie war eine Schande für die Krone und eine Schande für das Adelsgeschlecht der Cheverettes. Die Gründung des Ordens mit den offenkundigen Zielen, wäre sogar lobenswert. Wäre dies alles nicht auf einer Lüge aufgebaut. Lügen und Morden um weitere Lügen und weiteres Morden zu vertuschen. Habt Ihr die Kinder je gesehen? Habt Ihr die Väter und Mütter je gesehen? Wieviele Kinder habt Ihr geholt die Agentenkinder waren im Auftage der Duchesse? Wir widerrufen diesen Befehl mit sofortiger Wirkung. Nicht das noch jemand auf die Idee kommt, ihn dennoch umzusetzen, obwohl wir die Agentenkinder rehabilitierten«, sagte Max tonlos.

  • Timothée Mauchelin
    »Ich kannte Mercer und Berzan über meinen Vater. Ich hatte nichts weiter mit ihnen zu tun, aber ich wusste, wie sie aussahen und wer sie waren, ganz im Gegensatz zu allen anderen, die nicht den Agenten der Autarkie angehörten. Sie führten ja ein doppeltes Leben, genau wie wir, nur, dass selbst ihre eigene Familie nicht wusste, wer sie in Wirklichkeit waren. Die anderen Agenten kannte ich nicht, wir mussten uns ganz auf die Unterlagen verlassen, die uns Wenzel und Corentin hinterließen. Es war eine langfristige und bisweilen zermürbende Arbeit, da die Kinder nach dem Tod ihrer Eltern anonym in die Heime gebracht wurden. Welchen Beruf ich zunächst nach außen hin annahm, könnt Ihr Euch vorstellen, ich wurde Mönch. Eine unwahrscheinlich langweilige Persona, sogar für einen bescheidenen Menschen wie mich, der mit so wenig zufrieden sein kann und das auch noch in meinen jungen Jahren. Das brachte sehr viel aufgestauten Frust mit sich. Jedes identifizierte Kind brachte mich meiner Erlösung von dieser Persona näher. Zehn Jahre lang musste ich den Mönch mimen, ehe auch das letzte womöglich noch verborgene Kind sein Heim verlassen hatte und der Auftrag fortan von anderer Stelle aus fortgesetzt werden musste - in der Schreibstube der Stadtverwaltung, Melderegister. Jeder Waisen, der von seinem Geburtsjahr und der Herkunft her ein Agentenkind sein könnte, wurde von mir einzeln überprüft. In der Zeit nahm ich gleichzeitig die Ermittlungen bezüglich des Ringes der Kinderschänder auf. Meine Kontakte zu den Heimen kamen mir dabei sehr entgegen. Im Laufe der Jahre habe ich 84 Kinder der Agenten getötet oder töten lassen. Das können jedoch nicht alle gewesen sein, wenn man die Familiendokumente der Agenten als Ausgangsbasis nimmt. Die Agenten der Autarkie waren weniger kinderreich als der Durchschnittssouvagner, da die meisten von ihnen unverheiratet waren, dennoch sind sie zusammen auf 136 registrierte Kinder gekommen, die nicht anerkannten Kinder nicht mitgezählt.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    Maximilien hörte Vendelin aufmerksam zu und fragte sich, welchen Groll seine Mutter noch auf die Welt gehabt haben musste, das sie selbst noch nach dem Tod der vermeintlichen Feinde immer noch weiter töten ließ. Deren Partner und Kinder, vermutlich noch deren Freunde, jeder dem mal einem Agenten begegnet war und zwei freundliche Worte wechselte. Man konnte die Frau dafür hassen, aber man konnte auch die knallharte Disziplin und das Durchhaltevermögen erkennen. Vermutlich störte sie, dass Berzan und Mercer genauso verbissen gehandelt hatten wie sie. Und die Angst vor der Aufdeckung bewog sie zu solchen Taten. Das entschuldigte nichts, es zeigte nur dass sie selbst um ihre Schandtaten wusste. »Ihr habt 84 Kinder getötet, die nicht einmal davon wussten, was ihre Verfehlung gewesen war. Die einzige Verfehlung war, das ein Elternteil ein Agent gewesen war. Und zu diesem Zeitpunkt hatten sie nicht einmal mehr die Erinnerung an ihre Eltern. Wir können Euch, sollte der Befehl Fakt sein, nicht einmal einen Vorwurf machen. Befehle werden befolgt und nicht hinterfragt. Was wäre mit den Kindern geschehen, die Ihr nicht erwischt habt? Wir sprechen von der Zukunft. Hättet Ihr zum Beispiel einen Gardisten einen Unfall erleiden lassen, nur weil ein Elternteil ein Agent war? Was war mit den Kindern die adoptiert wurden? Oder jenen die in andere Familien oder bei Meistern unterkamen?«, fragte Max tonlos.


    Timothée Mauchelin
    »Sie hätten ohne Unterschied sterben müssen«, erklärte Vendelin.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Dann können jene die überlebt haben von Glück sagen. Von sehr großem Glück sogar. Ihr wisst von weiteren Agentenkindern und wer entkam?«, fragte Max.


    Timothée Mauchelin
    »Ja«, antwortete Vendelin. »Ich weiß von den Söhnen der beiden Rädelsführer.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Erzählt mir warum die beiden entkamen und erzählt mir, wen Ihr noch als Agentenkinder kennt. Uns selbst sind nicht alle bekannt. Ihr seid darüber hoffentlich informiert, dass sie rehabilitiert wurden und als Wiedergutmachung in den Stand des Nennadels erhoben wurden? Gleich um welches Agentenkind es sich handelt?«, hakte Max nach.


    Timothée Mauchelin
    »Von denen, die ich identifizieren konnte, leben nur noch Delancy, Boldiszàr, Bellamy und ein Walraven Alafaux, dessen Fährte ich verloren habe, als er im Krieg war. Ich war sehr konsequent, Majestät. Von jenen, die ich fand, lebt ansonsten niemand mehr. Mit Datum der der Rehabilitierung habe ich jedoch meine Ermittlungsarbeiten eingestellt. Meinen aktuellen Auftrag habt Ihr mir selbst erteilt und ich war, als Ihr mich rieft, gerade dabei, mich auf die Abreise vorzubereiten.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    Max nickte zufrieden mit der Aussage, ob es Kabir alias Fran wirklich geschafft hatte völlig von der Bildfläche zu verschwinden entzog sich Maximiliens Kenntnis. Aber er hoffte es, so seltsam es klang. Fran war eine ruhige, freundliche und ausgeglichene Person. Jemand der genau wie alle anderen Agentenkinder zu viel Leid gesehen hatte. Nur er hatte aufgrund seines Körpers noch mehr Leid erfahren, als manch anderer. Bei Ciel hatte er Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit gefunden. Max fragte sich, was Vendelin getan hätte, hätte der Befehl noch Bestand. Hätte er Ciels Ehemann auf einen Befehl hin getötet, der erstens veraltet und zweitens von einer Frau erteilt wurde? Selbstverständlich war die Duchesse durchaus in der Lage einen Befehl zu erteilen. Seine Mutter damals wie heute Natalie. Aber sein Wort stand über deren Wort. Er war das Gesetz, sie waren Frauen und ihren Männern Untertan wenn man so wollte sogar Eigentum. Was also hätte Vendelin getan? Die Frage interessierte Max brennend, aber er stellte sie nicht. Neugier war in einigen Bereich angebracht, in anderen war Schweigen das Beste was man für einen Betroffenen tun konnte. Fran war nicht nur betroffen, er erwartete Ciel Kind. Ein Kind der Krone, nichts war wichtiger als das. Zudem liebten Ciel und Fran sich und das war Max ebenso wichtig. Nein mit der Stillung seiner Neugier würde er nichts erreichen, er würde eine durchaus liebe und gute Person unnötig in Gefahr bringen. Er schwieg. »Wie gedenkt Ihr bei diesem Auftrag vorzugehen, sobald Eure Aussagen überprüft wurden?«, fragte Max.


    Timothée Mauchelin
    »Ich werde von Dornburg an einen seiner Rückzugsorte begleiten und versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen. Für seine jüngere Tochter suchte er einen guten Beißer, um sie decken zu lassen. Er hat ihn in Tekuro Chud gefunden. Zunächst möchte ich herausfinden, ob ich nicht auf gleichem Wege an die ältere Tochter gelangen kann. Bevor man Genaueres plant, muss man wissen, welche Möglichkeiten offen stehen. Es ist daher nur eine Option von vielen. Wie gewohnt werde ich alle Ermittlungsergebnisse sorgfältig protokollieren.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Bis zu unserer abschließenden Überprüfung verbleibt Ihr in Gewahrsam Vendelin von Wigberg. Der Beschuldigte ist mit sofortiger Wirkung zu inhaftieren. Sobald die Sachlage eindeutig geklärt wurde, erhaltet Ihr Euer Urteil. Hoffen wir für Euch, dass Eure Aussagen vollständig und wahrheitsgemäß waren«, entschied der Duc.


    Timothée Mauchelin
    »In Gewahrsam? Wie lange soll die Überprüfung denn dauern? Ich habe eine Verabredung mit Archibald von Dornburg. Ihn ausfindig zu machen, ist schwierig, da er keinen festen Wohnsitz hat. Auch ist es sehr schwer, sein Vertrauen zu gewinnen. Ich werde ihn verlieren, während seine Tochter munter weiter speist!«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »So lange wie die Überprüfung dauern wird. Hochverrat oder die Aufklärung was die Dornburgs angeht, wir glauben die Prioriäten sind dort eindeutig zu setzen«, erinnerte der Duc.


    Timothée Mauchelin
    »Und wie gedenkt Ihr in Erfahrung zu bringen, ob ich ein Hochverräter bin? Mein ganzes Leben habe ich diesem Orden im Dienste der Krone verschrieben!«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Das haben wir Euch bereits erläutert Vendelin von Wigberg, es wäre durchaus erfrischend Ihr würdet Eurem Großherzog Euer Gehör schenken. Wir werden Eure Verwandten dazu auslesen lassen. Reicht diese Information oder sollen wir sie Euch vortanzen?«, fragte der Duc streng.


    Timothée Mauchelin
    »Meine Verwandten wissen nichts von mir, mit Ausnahme meines Sohnes«, erinnerte Vendelin.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Das behautet Ihr Vendelin und somit ist es vorrangig nur Hörensagen. Wird diese Auskunft bestätigt von verschiedenen Personen, können wir es als Fakt werten. Ist es wirklich nötig, dass wir Euch über Ermittlungsarbeit aufklären? Seid Ihr hierfür nicht der Fachmann? Wir verstehen durchaus, dass es Euch Unbill verursacht inhaftiert zu werden. Aber Vendelin es oblag Euch all die Jahre zu schweigen oder Euch zu offenbaren. Ihr habt das Schweigen gewählt, nun wählt ein anderer für Euch die Stille der Haft. Jede Tat hat eine Konsequenz Vendelin. Macht was Ihr wollt, aber wisset was Ihr tut. Beides oblag Euch, Ihr hättet vor der Welt schweigen können Vendelin aber sind Eure über 3 Jahrzehnte Dienst für die Krone nicht ebenso Grund genug unserer Person zu vertrauen und Euch zu offenbaren? Hätte dies nicht ein ganz anderes Licht auf Eure Person und nun jene eingetretene Umstände geworfen?«, fragte der Duc.


    Timothée Mauchelin
    »Niemand fragte, also erhielt niemand Antwort. Nicht einmal eine gelogene.« Er wartete darauf, dass die Gardisten ihn abführten.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Niemand fragte? Also informiert Ihr uns nur darüber, was wir Euch fragen und nicht über Euer vollumfängliches Wissen? Hielt es ein anderer Verwandter nicht ebenso, so dass die Agenten fielen? Er enthielt scheinbar auch Wissen vor, das er bei seiner Ermittlung aufgrund seiner Befähigung erlangt haben musste. Aber da ihn niemand fragte ob die Agenten schuldig oder unschuldig sind, erhielt auch niemand eine Antwort. Ist dem so?«, hakte Max nach.


    Timothée Mauchelin
    »Richtig. Das Einzige, was man von meinem Vater wissen wollte, waren die Details zu dem geplanten Putsch. Er war mit dem Auftrag entsandt worden, belastendes Material zu sammeln und nicht, zu überprüfen, inwieweit diese in Relation zu den Umständen zu setzen sind. Dass der von den Agenten geplante Putsch am Ende jedoch nur Notwehr war, ein Vorausgreifen der ohnehin geplanten Reinigung, hat niemanden interessiert. Und vielleicht gab es auch jemanden, der den Agenten diesen Floh ins Ohr gesetzt hat ... sie gewarnt hat, damit sie so handeln, wie gewünscht.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    Max starrte Vendelin an. »Ihr macht also nur Dienst nach Vorschrift. Und das was wir nicht wissen, können wir nicht erfragen. Und wir werden es auch nie wissen, da wir diese Fragen nicht stellen können. Ist das richtig?«, fragte Max.


    Timothée Mauchelin
    »So habe ich es bislang gehalten, ja. Es stand im Einklang mit dem, was die Duchesse von mir erwartete. Und habt Ihr nicht genug andere Sorgen? Nun ist Ihre Hoheit nicht mehr. Wir können neue Bedingungen vereinbaren, in denen Ihr festlegt, über welche Dinge Ihr auch ohne Nachfrage oder Bedrohungslage unterrichtet zu werden wünscht«, bot Vendelin an.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Ihr verkennt die Lage, welche Dinge wir für relevant halten oder nicht, entscheiden wir und nicht Ihr. Ihr habt uns vollumfänglich über Eure Arbeit und deren Ergebnisse zu informieren. Wir sind nicht der Bittsteller Eurer Ergebnisse von Wigberg. Oder erachtet Ihr Euch etwa als weiser und weitsichtiger als unsere Person? Oder als unseres Beraterstabes was die Nationale Sicherheit anbelangt? Ab wann hättet Ihr uns über einen Fall einer vermeintlichen Bedrohungslage informiert? Auf dem Schlachtfeld, wenn uns eingefallen wäre danach zu fragen? Ihr verhöhnt uns, nun gut auch darauf kennen wir eine Antwort. Man schicke nach Domi«, befahl der Duc.


    Timothée Mauchelin
    »Majestät, ich kann es nur verkennen, wenn ich es nicht weiß!« Sprach Vendelin nun aufgebracht. »Die Duchesse war mit meiner Arbeit stets zufrieden, Ihr habt Euch für den Orden des Stählernen Lotos bis dahin kaum oder gar nicht interessiert. Wenn Ihr das wünscht, stehe ich hier täglich vor Eurem Thron und trage Euch meine aktuellen Berichte, Protokolle, Rechercheergebnisse und Statistiken vor.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Mäßigt Euren Ton! Oh Ihr wusstet es nicht? Hättet Ihr vielleicht fragen sollen was? DOMI!«, befahl Max streng.


    Dominique Dubois
    »Zu Euren Diensten, Majestät«, brummte der Scharfrichter. »Eine Züchtigung oder darf ich ihn gleich mitnehmen?«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    Max atmete einmal durch und blinzelte in Zeitlupe. »Einen Moment Geduld«, antwortete der Duc und schaute sich Vendelin genau an. Selten das er auf dem Thron streng oder gar vor Wut sarkastisch wurde, aber dieser von Wigberg hatte es wirklich geschafft. »Nun Vendelin von Wigberg, Ihr habt es darauf angelegt uns zu verärgern, es ist Euch gelungen. Als Zeichen unseres Respekts zeigen wir Euch wie sehr Ihr uns verärgert habt, mir Eurem bewusst provokanten Verhalten. Domi die treue Seele dieses Hauses wird es Euch genau erklären. Seid Ihr Rechts- oder Linkshänder?«, fragte Max leise.


    Timothée Mauchelin
    »Es spielt keine Rolle für mich, ich kann beide Hände gleichermaßen gut benutzen«, antwortete Vendelin und beobachtete den Henker argwönisch, der sein Werkzeugköfferchen öffnete und mit einem so verzückten Blick hineinsah, als würde er in die Wiege eines neugeborenen Kindes schauen.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Das freut uns zu hören. Domi schlagt ihm die rechte Hand ab«, befahl Max.


    Timothée Mauchelin
    »Darf ich wenigstens erfahren, wofür?«, keuchte Timothèe und wich zurück, während der Henker ein kaum hörbares Jauchzen ausstieß und das größte Werkzeug in die Fäuste nahm, welches nicht im Koffer lag, sondern auf seinem Rücken hing - das Richtbeil.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Schön dass Ihr fragt Vendelin, fühlt sich recht seltsam an, wenn man Informationen um die Ohren geschlagen bekommt und dann nachfragen muss nicht wahr? Wie fühlt Ihr Euch gerade, lasst uns an Eurer Verzückung teilhaben«, sagte Max und hob die Hand um Domi Einhalt zu gebieten. »Ihr seid mit Euren Provokationen etwas zu weit gegangen, Ihr habt etwas von Eurer eigenen Medizin erhalten. Ihr seht so aus, als schmecke sie Euch nicht. Warum verabreicht Ihr sie anderen und dann noch uns? Einer Person die Euch bis dato wohlgesonnen war? Ihr vergesst wer hier wem dient, wem Eure Loyalität zu gelten hat. Aus welchem Grund sollten wir Euch noch wohlwollend betrachten, wenn Ihr eine Audienz als Farce seht, in der es um die Sicherheit unseres Landes geht?«, sagte Max streng.


    Timothée Mauchelin
    Timothèe schüttelte den Kopf. »Majestät, ich drücke mich vielleicht ungeschickt aus. Ich schwieg, weil die Treue des Stählernen Lotos Eurer Mutter galt. Doch nun stehen die Dinge anders. Bitte, Majestät, lasst uns vernünftig miteinander über alles reden.« Timothèe hob beschwichtigend die Hände. »Ich werde Euch alle Unterlagen bringen lassen, in die Ihr Einsicht wünscht und Euch jede Frage beantworten.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    Max lehnte sich zurück und schaute Vendelin erneut an, diesmal in Ruhe. Er beorderte Domi mit einem Fingerzeig zu sich neben dem Thron. Eine Ehre, die nur sehr wenigen jemals zu Teil wurde und meist nur nahen Verwandten und den Leibdienern vorbehalten war. »Gut beruhigen wir uns beide. Versucht es auf meine Art zu sehen, versetzt Euch in meine Lage und ich in die Eure. Erklärt Euch in Ruhe und von vorne. Ihr habt geschwiegen weil...? Wir hören sachlich und neutral zu«, sagte Max umgänglich.


    Timothée Mauchelin
    Mit vor Rührung glitzernden Augen stellte sich die lebende Schrankwand von einem Henker neben den Thron. Timothèe sah ihn bewusst nicht an, um sich nicht noch weiter beunruhigen zu lassen. »Ich schwieg, da die Treue des Ordens Eurer Mutter galt. Ein Geben und Nehmen. Wir ermittelten für sie und deckten Ihre kleinen oder großen Geheimnisse. Sie deckte uns. Während Parcival ihr aus Liebe diente und Corentin aus Selbstsucht, dienten wir Ihr für unsere Familie. Sie schützte uns, wir schützten sie und verhalfen ihr zu allen Informationen, die Ihr Herz begehrte. Und wenn es Euch diese Information etwas bedeutet, nicht nur Berzan hat am Ende bereut. Es hat seinen Grund, warum Boldiszàr, Bellamy und Delancy noch leben - und warum Moritz über sie wacht. Kein Versagen, sondern eine alte Blutschuld. Man kann vergossenes Blut nicht mehr von seinen Händen abwaschen. Aber man kann helfen, die Folgen zu mindern.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Weise Worte Vendelin und eine Erläuterung mit der wir zufrieden sind. Das hättet Ihr uns genauso sagen können und auch müssen. Spätestens dann, als unsere Mutter starb. Das sie sterben musste daran bestand kein Zweifel. Euer Orden mag aus einem guten, schlechten oder selbstsüchtigen Grund von unserer Mutter gegründet worden sein. Aber dies ist mit ihrem Tod bedeutungslos geworden, wenn Ihr uns ebenso dient und die Treue schwört. Benennt uns den Grund weshalb Ihr bereut habt. Berzan hat seine Taten bereut? Inwiefern hat er dies? Und wie steht es um Mercer? Wir werden seine Söhne deshalb nicht anders beurteilen, einer von ihnen ist ein stets zuverlässiger und treuer Leibgardist. Der andere war unser Palaisin viele Jahre lang und der dritte im Bunde ist ein sehr durchsetzungsfähiger Kapitän unserer Marine. Dennoch hat jeder sein Päckchen zu tragen und wir möchten wissen wie es um ihre Väter stand. Was wisst Ihr zudem über ihre Mütter?«, fragte Max und schenkte Domi ein freundliches Lächeln. Ebenfalls eine Seltenheit im Thronsaal, aber wenn es sich jemand jemals derart verdient hatte, dann dieser Mann.


    Timothée Mauchelin
    »Mein Vater war es, den etwas reute. Im Laufe der Jahre, in denen er gegen die Agenten der Autarkie ermittelt hat, ist etwas geschehen, dass einem Profi nicht passieren darf - er hat Mercer und Berzan in sein Herz geschlossen. Aus diesem Grund nahm er sich kurz vor dem entscheidenden Tag eine Auszeit, um wieder innerlich auf Distanz zu kommen. Und dann brachte er seinen Auftrag zu Ende. Es war ein Gewaltakt nicht nur gegen seine vermeintlichen Freunde, die er verriet, sondern auch gegen sich selbst. Umso höher ist es ihm anzurechnen, dass er konsequent seine Pflicht erfüllte. Doch nahm er mich, bevor er an diesem Tag auf Arbeit ging, beiseite. Er kümmerte sich sehr liebevoll um mich, da er wusste, wie gefährlich dieser finale Part seines Auftrags war. Er hatte für mich etwas Besonderes zu Essen gekauft: Gebackene Ente, in Honig überbacken und gefüllt mit Aprikosen. Das aß er nicht mit seiner Frau, das aß er mit mir. Er gab sich heiter, er war ein guter Schauspieler. Allein, wie viel Zeit er sich nahm, verriet alles. Wir spielten danach Schach und ich durfte mein erstes Bier trinken und meine erste Rauchstange rauchen in seinem Beisein. Seine letzten Worte möchte ich für mich behalten. Aber bevor diese letzten Worte fielen, bat er mich, falls ihm etwas geschehen sollte, über die Kinder von Berzan und Mercer zu wachen. Dabei überreichte er mir einen Koffer mit allerlei Dokumenten, die nicht einmal die Duchesse kannte. Ich war zu jung, um selbst dafür zu sorgen, dass sie die Reinigung überlebten, aber später erfüllte ich ihm seinen Wunsch. Um Euch ein schönes Detail zu nennen: Der Deckname meines Vaters, Soel, bedeutet Sonne und Leben.« Timothèe machte eine kurze Pause, in der er sich wieder sammelte. Über seinen gefallenen Vater zu sprechen, fiel ihm nicht leicht. »Berzan bereute, als er erkannte, dass die Schlacht verloren war. Dass egal, was sie noch versuchen würden, ihr Tod und der ihrer Familien unausweichlich war. Mercer bereute nie, zu keinem Zeitpunkt. Es lag nicht in seiner Natur. Und wenn er es doch tat, dann hat er es nicht gezeigt, doch ich glaube nicht daran. Über die Frauen der beiden könnte ich einiges erzählen. Aber warum möchtet Ihr das wissen? Ich tue es, keine Frage«, fügte er schnell hinzu.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Wir danken Euch für diese sehr private Einsicht. Jene Details werfen ein anderes Bild auf Euch und Euren Vater. Reue kann man nicht immer einer Person ansehen Vendelin. Euer Vater handelte als Lotos, obwohl er diese Männer als Freunde schätze. Berzan bereute, Mercer vielleicht ebenso auf seine Art. Möglicherweise nicht seine Taten, vielleicht aber den Verlust von Frau und Kind. Denn bedenkt eines, wer so verbissen kämpft und sogar bis zum letzten Atemzug an seinen Prinzipien und Zielen festhält, hat dafür einen guten Grund. Ob wir ihn nun verstehen oder nicht, oder gutheißen können - Gefühl ist da. Niemand ist durch und durch schlecht. Was natürlich nichts entschuldigt, aber einiges vielleicht verständlicher macht. Vielleicht sah er die einzige Chance darin alles auf eine Karte zu setzen, für seinen Freund Berzan, für ihre Ehefrauen, für ihre Kinder für ihre Ordensbrüder. Ansonsten hätten sie versucht zu verhandeln. Sein Sohn ist genauso unnachgiebig, aber nicht so stur. Er erkennt Fehler, er begeht sie dann leider nur bewusst, da er das Ziel nicht aufgeben wollte. Bis zu einem gewissen Grad, ab da tat er es doch. Allerdings nicht für sich, sondern für Boldiszar. Um genau zu sein um seinen Ehemann nicht zu schaden. Für sich selbst hätte er gerne von dem Ziel abgelassen, wagte aber nicht seinen Schwur zu brechen obwohl dieser ihm nur schadete. Mich würden die Mütter für Bellamy interessieren. Ihn plagt am meisten der Verlust der Mütter und aus diesem Grund würde ich gerne etwas über sie erfahren. Er genau wie sein Bruder Boldi kommen nach Berzan. Sie wissen wann eine Schlacht vorbei ist und man sich mit den Gegebenheiten abfinden muss. Boldiszar weiß dies noch besser als Bellamy. Was immer den Mann erdet, er ist es scheinbar von Natur aus. Wie waren die Mütter?«.


    Timothée Mauchelin
    »Die Mütter«, wiederholte Vendelin und rieb sich seine kalt gewordenen Hände. »Holt Bellamy doch her«, schlug er dann vor.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Eine sehr gute Idee, Fabien - Bellamy«, befahl Max. Der Leibdiener des Duc machte sich sofort auf den Weg und kam einige Minuten später mit dem ehemaligen Palaisin zurück.


    Bellamy Bourgeois
    Bellamy durfte zur Ausnahme den gleichen Gang nehmen wie der Duc und Fabien, musste so einmal den Thron umrunden und ging vor dem Großherzog auf die Knie. »Ihr habt nach mir schicken lassen, Eure Majestät«, sagte er ergeben und hoffte mit Ciel war alles in Ordnung.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Unser Gast hat Informationen über Eure Mutter, wie auch der Mutter von Silvano. Wir haben Euch rufen lassen, damit Ihr an der Information teilhaben könnt«, sagte Max und deutete Vendelin an, fortzufahren. Bellamy nickte dankbar und schaute den Gast neugierig an.


    Timothée Mauchelin
    »Machen Sie es sich bitte bequem, Bellamy.« Der Gedanke dahinter war vor allem, dass dem ehemaligen Palaisin vielleicht die Beine versagten, wenn er so an seiner Mutter gehangen hatte. »Ich möchte nun ein paar Worte über Mariette Bovier und Genevre Desnoyer verlieren, bevor ich in Sicherheitsverwahrung genommen werde. Mein Vater war ein Kollege und Freund eurer Familien - oder vielmehr gab er sich als ein solcher aus. Ein Teil von ihm war es vermutlich wirklich, aber um ihn soll es jetzt nicht gehen. Viele Stimmen sprechen in den heutigen Tagen von den Agenten der Autarkie, nur wenige über die Frauen und Kinder, die auch zu ihnen gehörten. Das Vierergespann der beiden Eheleute war sehr, ich nenne es einmal vorsichtig, dynamisch. Da prallten sehr unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinander. Mercer, der Denker, scharf wie ein Bluthund, der allerdings dazu neigte, sich in viel zu komplexen Gedankenkonstrukten zu verrennen. Seine Frau, Genevre, bekannt für ihren vorzüglichen Modegeschmack, sehr intelligent. Sie passten sehr gut zueinander, fast zu gut, möchte man meinen, denn anstatt einander zu ergänzen, hatten sie beide die selben Schwächen und verstärkten diese gegenseitig. Der seelische Gegenpol zu Mercer war Berzan. Unerschütterlich, bodenständig, aber ein Menschenhasser vor dem Herrn. Er ließ sich leicht provozieren und agierte mitunter bösartig. Während Mercer seine Gedanken immer weiter verzweigte, tendierte Berzan zum Gegenteil, zum Tunnelblick. Gemeinsam aber waren sie ein hervorragendes Team. Was Mariette anbelangt, so hatte sie es mit Berzan nicht leicht. Sie war eine herzensgute Frau, die sich nichts anderes wünschte, als ihre Lieben glücklich zu machen. Doch wie sollte sie einen schroffen Eisberg wie Berzan glücklich stimmen? Es war ihr schlichtweg unmöglich, nicht, weil sie etwas Falsches tat, sondern darum, weil er es ihr unmöglich machte. Berzans Leben war nicht das ihre, er versperrte ihr jeden Zugang in sein Herz. Er schlug sie nie, aber er war auch weit davon entfernt, ein guter Ehemann zu sein. Umso mehr blühte Mariette in ihrer Rolle als Mutter auf. Und diese Rolle erfüllte sie mit Bravour. Sie war als Mensch vollkommen selbstlos. Konnte sie andere glücklich machen, dann war sie das auch. Und die Liebe, die Berzan so beiläufig ausschlug, die erhielten nun ihre zwei Söhne. In den letzten Jahren ihres Lebens wurde Berzan etwas ruhiger. Es war die Zeit, als mein Vater sich für einige Zeit verabschiedete. Er war der Kleister gewesen, der die komplizierte Gesellschaft der vier zusammengehalten hatte, er schlichtete, half wo er konnte, sogar in Mariettes Haushalt, und spielte den Seelentröster. Doch sein plötzliches Fehlen gab Mariette und Berzan Gelegenheit, noch einmal über alles nachzudenken - so dass sie sich ein Stück annähern konnten.«
    Danach schwieg Vendelin und blickte Bellamy aufmerksam an, dann den Duc.

    Bellamy Bourgeois
    »Das habt Ihr sehr schön und einfühlsam erklärt. Mein Vater hat meine Mutter vielleicht bewusst auf Abstand gehalten, er konnte ihr ja nichts sagen. Und je näher sie ihm kam, je schlimmer wäre eines Tages der Verlust. Dabei hatte sie ihn jeden Tag ein kleines bisschen verloren, war das nicht schlimmer? Ich weiß nicht wieso, aber in dem kurzen Moment der Erinnerung von ihr und uns beiden Brüdern, da fühlte ich einfach ihre Liebe wie einen warmen Mantel. Und ich wusste so sollte es sein. Er weiß nicht, worauf er verzichtet hat, er hat nicht die geringste Ahnung. Was immer ihn umtrieb, so zu denken. Ob Schutz oder Eigennutz, der Gedanke war völlig falsch und meine Mutter hatte das nicht verdient. Er hätte sie lieben und ehren sollen und kommt der Tag der Trennung, dann ist er eben da. Jedem von uns steht der Tag eines bevor. Aber deshalb nicht zu lieben, ist der größte Fehler den man machen kann. Was ist schlimmer, geliebt zu haben und man verlor die Person oder niemals geliebt zu haben? Letzteres. Ich danke Euch aus tiefster Seele für die Informationen über meine Mutter. Und auch für die anderen Informationen. Ich erinnere mich an einen Ausflug wo wir alle zusammen als Familie gefeiert haben, es war friedlich, es war lustig, es war schön und es war nah. Wobei da waren die beiden Männer auch als Duo gemeinsam zusammen. Möglicherweise brauchten sie einander um sich auch da zu ergänzen. Wahlzwillinge oder so etwas, die optisch nicht unterschiedlicher hätten sein können. Danke«, sagte Belly ergriffen.

  • Timothée Mauchelin
    »Die Liebe, die du fühltest, war real. Nichts anderes geht aus den Unterlagen über sie hervor. Sie war die Mutter, die sich jeder wünscht, aber nur wenige ihr Eigen nennen dürfen. Die gemeinsamen Familienausflüge der Boviers und Desnoyers fanden zumeist in den letzten Jahren statt, nach Boldiszàrs Geburt. Erinnert Ihr Euch an einen Mann, der Mercer und Berzan begleitete? Fragt, wenn Ihr etwas Bestimmtes über Mariette wissen möchtet. Alles kann ich nicht beantworten, aber einiges.«


    Bellamy Bourgeois
    »Also wir sind gemeinsam zurück in unsere Erinnerungen gereist, wir haben unsere Erinnerungen gezeigt bekommen. Dort waren wir einen Tag lang am Strand. Meine Eltern, Boldi und ich waren zu Besuch bei den Desnoyers. Boldi und Vano waren noch klein und haben zusammen Sandburgen gebaut die ich zerstört habe. Sie haben versucht sie zu verteidigen. Unsere Eltern haben weiter oben im Garten des Hauses gesessen. Es war nah am Meer gebaut aber nicht zu nah. Man konnte die Dünen entlang herunter schauen und blickte auf den Strand und das Wasser. Man konnte auch die Dünen herunterrutschen, was ziemlich viel Spaß machte. Ich erinnere mich daran, das Vano - nun eigentlich heißt er ja Delancy Boldi eine Feuerqualle ins Gesicht warf und Boldi weinte. Die Väter kamen an und Mercer, der Paps von Vano, beruhigte meinen kleinen Bruder und gab ihm sogar heimlich von seinem Bier einen Schluck. Boldi posaunte das natürlich promt aus, da er stolz drauf war, schon Bier zu trinken. Als es Abend wurde und die Nacht aufzog, sind wir alle ins Haus gegangen. Boldi und ich haben Vano Strohhalme gemopst. Und als wir gefahren sind, waren wir richtig stolz darauf. Ich weiß nicht, ob er es wirklich nicht merkte, oder uns die Strohhalme gönnte. Das war auch gleich. An was ich mich erinnerte war die Stimmung. Alle hatten gute Laune, überall um einen herum nur fröhliche Gesichter. Jeder war entspannt, die beiden Kleinen haben gespielt und ich kam mir fast wie einer der Erwachsenen vor, der ich natürlich nicht war. Mama sah an dem Abend total gelöst und glücklich aus. Irgendwann schliefen die Kleinen schon. Ich kann gar nicht wiedergeben worüber sie sich alles unterhalten haben. Wein, Brot, Wurst, Käse und gute Gespräche. Ich habe nicht viel gesagt, meist nur total übermüdet gegrinst. Aber ich saß dabei und ich fühlte mich rundum wohl. Mama strahlte, die Mama von Vano war ebenfalls eine ganz liebe und herzliche die mir öfter Schinkenwürfel auf den Teller legte. Ich erinnere mich an den Blick von meinem Paps... so als würde ich Boldi in die Augen gucken. Vielleicht denkt Boldi ja auch das Gleiche bei mir, wenn er sich daran zurückerinnert. Oder er hat sich von dem Abend und der Erinnerung etwas ganz anderes gemerkt. Bei mir kam danach noch ein Stückchen zurück, so als hätte man von alten Möbeln die Tücher gezogen. Aber das was mir am meisten bedeutete, wäre für andere wohl das Banalste der Welt. Wie die Leute aussahen, wie ihre Lache klang. Mein Paps eine Kante von einem Mann, allein von der Optik stark wie ein Bulle und an dem Abend war er am grinsen und hatte rote Wangen vom Wein. Vanos Paps war groß, fast zwei Meter? Vielleicht sogar zwei Meter? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, das er schlank war, fast feminin und eine lange blonde Mähne hatte auf die vermutlich manche Frau neidisch gewesen wäre. Mein Paps und sein Kumpel waren schon ein schräges Duo optisch. Aber das sie sich so gut ergänzt haben, erklärt auch ihre Freundschaft. Bei meiner Mutter erinnere ich mich einfach gerne an ihr lächelndes Gesicht und das Gefühl von Wärme, Geborgenheit und Liebe. Das da was war, dass spürte ich. Aber diese Erinnerung ist mir besonders wichtig, sie ist extrem wertvoll, weil ich dort aufeinmal das Gesicht zu dem Gefühl hatte. Mehr noch ich habe es nicht nur gesehen, ich habe es mit dem Herzen wiedererkannt. Ich glaube ab der Auflösung der Blockade hätte ich sie unter Tausenden wiedererkannt. Solche Dinge möchte ich wissen. Nichts was die Agenten von Beruf taten, von mir aus auch das nebenbei, aber ich möchte wissen, wer die Leute wirklich waren, die an dem Abend so ausgelassen lachten und scherzten und schon einen in der Krone hatten«, erklärte Belly.


    Timothée Mauchelin
    »Schwierig«, grübelte Timothèe. »Denn jene Dinge, die Euch am wichtigsten sind, sind nur rudimentär protokolliert worden, da aus beruflicher Sicht nicht von Belang. Berzan und Mercer angelten gern und den Fisch gab es gegrillt zum Abendbrot. Die Männer angelten und tranken etwas, die Frauen bereiteten das Essen vor. Und mitten darin spielten die drei Jungs. Berzan war ein Feinschmecker, der gutes und frisches Essen liebte, Mariette hingegen eine hervorragende Köchin. Sein Lieblingsessen war Languste auf Orange mit Holunderblütenessig. Anstatt vornehm in kleinen Portionen zu speisen, aß er solche Delikatessen wie normale Hauptmahlzeiten und holte sich gern eine zweite Portion als sogenannten Nachtisch. Den Großteil Eures Hauses nahmen die Küche und die beiden Speisekammern ein, während Schlaf- und Wohnbereich recht beengt waren. Berzan war entsprechend schwer gebaut, so wie auch Ihr und Euer Bruder, aber nicht übergewichtig. Euer Haus und das der Desnoyers waren nur zehn Minuten zu Fuß voneinander entfernt und beide lagen in Strandnähe. Da lag es nahe, den Feierabend gemeinsam draußen zu verbringen.« Timothèe grub tief in seinem Gedächtnis. »Die ersten Jahre verbrachten Mercer und Berzan abends zu zweit. Sie heirateten erst sehr spät und genossen ihr Junggesellendasein. Berzan war 41, als er das erste Mal Vater wurde. Die Umstellung zum Leben als Ehemann und Familienoberhaupt ist ihm nicht leicht gefallen und oft flüchtete er regelrecht vor seiner Familie, bei aller Liebe, die er empfand, und versteckte sich bei Mercer. Der jedoch hatte seine eigene Familie zu versorgen. Es gab einige Probleme deswegen und vielleicht war auch ein wenig Eifersucht im Spiel.«


    Bellamy Bourgeois
    »Sie spielt immer etwas mit in Beziehungen hinein. Ich hatte gerade erst frisch erfahren das Boldi mein Bruder ist und fast zeitgleich erfuhr ich, dass er heiratet. Boldiszar hat mich nie vor die Tür gesetzt, im Gegenteil, er hat mir versichert, gleich wo er sich aufhält, es wäre immer ein Platz an seiner für mich da. Nun aber das sind so Sätze die manche einfach belanglos daher sagen. Du kannst Dich jederzeit melden... macht man es dann, fehlt der Nachsatz ...nur heute ist es schlecht. Aber Boldi war nicht so, er meinte was er sagte, so war er schon immer, auch bei so einer Aussage. Möglicherweise dort erst Recht. Aber auch ich dachte einige Zeit, kaum hast Du Deinen Bruder gefunden, verlierst Du ihn auch schon an Silvano. Ich habe ihn nie verloren und Vano gehört zu uns mit dazu. Er ist ein angeheirateter Bruder. Aber das Gefühl oder besser gesagt die Angst war da. Ich verliere ihn. Bei einer Freundschaft ist das sicher ganz genauso, man hat Angst wenn sich der beste Kumpel verliebt, dass es das war. Das man ab dato getrennte Wege geht. Für die erste Zeit wird es auch so kommen, denn natürlich ist ein Verliebter erstmal mit seiner Flamme zusammen. Völlig verständlich und legitim, er darf nur die alten Freunde nicht vergessen. Denn manche Liebe ist kein Waldbrand, sondern ein winziges Strohfeuer. Und wenn er dafür die Freunde verließ, werden sich die Freunde daran erinnern und vielleicht keine mehr sein. Nun bei Boldi war wie gesagt die Angst unbegründet und seine Liebe ist weder Strohfeuer, noch Waldbrand, sondern ehr Flächenbrand mit Hang zum Inferno. Aber nichts was ich ihm mehr von Herzen gewünscht hätte, als eine eigene Familie. Mir selbst auch, aber das ist ein anderes Thema. Was man sich wünscht, bekommt man noch lange nicht. Waren die beiden also Berzan und Mercer nur Freunde oder waren sie mehr? Es klingt fast so als hätte unser Vater auch zweimal heiraten können. Nun was seinen Feinschmeckergeschmack angeht, den hat er nicht an uns vererbt. Oder er schlummert aufgrund unserer Herkunft tief in unseren Geschmackknospen. Aber was die Menge angeht, da kommen wir eindeutig nach ihm und Boldi ganz besonders«, grinste Bell.


    Timothée Mauchelin
    »Wenn man den Unterlagen glaubt, wussten sie wohl selbst nicht, was sie wirklich waren. Oder sie ließen es bewusst offen, wer weiß das schon aus der Ferne einzuschätzen. Überliefert ist, dass beide dem gleichen Geschlecht nicht abgeneigt waren. Überliefert ist weiterhin, dass sie einen Großteil ihres Lebens miteinander verbrachten, nicht nur ihr Berufsleben, sondern auch ihre Freizeit. Es ist nur natürlich, dass es zu Problemen kam, als Mercer heiratete. Die Hochzeit von Berzan kurz darauf war vielleicht eine Trotzreaktion, was seine innere Distanz zu Mariette erklären könnte.«


    Bellamy Bourgeois
    »Oder er wollte gleichziehen, da es einfacher ist wenn zwei Pärchen befreundet sind, als wenn einer das dritte Rad am Wagen ist. Da fühlt man sich mehr als flüssig, nämlich überflüssig. Wo ich die Beschwörung von den beiden gesehen hatte wirkten sie extrem vertraut, aber wenn man so nah tagtäglich nebeneinander und miteinander arbeitet ergibt sich das auch. Zudem hatten sie einen Beruf, wo man das Leben auch teilweise in die Hand des Kollegen legt. Aber von der Optik würde ich mal frei nach Boldi schätzen, dass Berzan Mercer für sich beansprucht hat. Sprich dass dieser Mann in Gedanken seiner war, ob er das jemals ausgesprochen oder besiegelt hat, ist gleichgültig. Im Umkehrschluss wird es ähnlich gewesen sein, ein Gefühl der absoluten Zugehörigkeit. Sonst wäre es nicht so eng und rund gewesen. Entweder waren sie Brüder im Geiste oder Gefährten oder sogar beides. Für mich ist nur wichtig zu wissen, dass sie nicht nur ein Leben aus Kampf und Feierabend oder Pausen hatten. Sprich das ihr Leben nicht ein endlos langer Tag war. Aufstehen, Malochen, zwischendurch essen, Feierabend - schlafen und dann wieder das gleiche von vorne, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr und das den Rest aller Tage. Die Woche zieht vorbei wie ein Wimpernschlag und auf einmal ist man 50 Jahre und fragt sich wo die Zeit geblieben ist, eben war man doch noch 20 Jahre und hatte so viele Träume. Nun die sind irgendwo wie der Rest von einem auf dem Weg verloren gegangen. Aber sie hatten sich, sie hatten eine Familie, sie hatten ein Zuhause, sie hatten ein Leben und Boldi hat das auch. Und das freut mich für Berzan und meine Ma. Auch wenn sie vielleicht nicht die Liebe und Anerkennung bekommen hat, die sie in meinen Augen verdient hat, aber ich hoffe wir haben sie ihr gegeben auf unsere Art«.


    Timothée Mauchelin
    »Ich denke schon. Wenn eine Mutter sich so innig um ihre Kinder kümmert wie Mariette, wenn die Kinder glücklich zu machen, ihr größter Sinn ist, dann kommt zwangsläufig etwas zurück, zumindest in diesem Alter. Bei Erwachsenen sieht es wieder anders aus, reicht man ihnen den kleinen Finger, reißen sie einem den Arm aus und versuchen, noch möglichst viel vom Körper dazu zu bekommen.« Timothèe blickte müde in Richtung des Throns, dann wieder zu Bellamy. »Wenn Ihr das Bedürfnis verspürt, mir für diese Einblicke zu danken, bitte haben Sie ein Auge auf Patrice.«


    Bellamy Bourgeois
    »Ich werde auf Patrice aufpassen, dass verspreche ich Ihnen. Noch einige Frage, woher stammte meine Mutter ursprünglich? Ihr sagtet, mein Vater hätte sie quasi plötzlich wie aus dem Hut gezogen und schon war sie da? Woher kannten sie sich? Wie haben sie sich kennengelernt? Hatte meine Mutter Geschwister, oder war sie allein? Es kommt auf die Person an, manche handeln selbstlos, weil ihnen die geliebte Person wichtiger ist. Andere tja... nennen wir es mal, werden erwachsen. So würde das jemand beschreiben den wir um zehn Ecken kennen. Ab dato ist man nicht mehr der Selbe. Das was einen ausmachte, wurde einem ausgetrieben. Bei einigen stirbt das innere Kind, die anderen können es sich ein Leben lang bewahren. Aber wenn ich so an meine Mutter zurückdenke, dann hatte sie trotz aller Heiterkeit und mancher Freude, auch immer einen etwas traurigen Blick. Tief in ihrer Seele hatte sie etwas Melancholisches. Ich dachte es wäre die Angst und der Verlust, als ich die Erinnerung sah wie man versucht hat Boldi und mich zu holen und sie dabei gefallen ist. Aber nein, den Blick hatte sie sogar manchmal bei dieser kleinen wundervollen Feier. Was würde ich dafür geben, einmal mit ihr erneut so feiern zu dürfen. Oder auch allein, wenn er es schon nicht tat, eben die eigene Mutter auf ein schönes Essen ausführen, dass sie weiß wie es ist. Dass sie sich geschätzt und geliebt fühlt«.


    Timothée Mauchelin
    »Die Melancholie war real. Es muss schmerzen, vom eigenen Mann so auf Abstand gehalten zu werden, wenn man eine so sensible und emotionale Person ist, wie Mariette es war. Er riss sie aus ihrer Familie, holte sie fort zu sich und überließ sie dort sich selbst. Berzan lernte Mariette in einem Restaurant kennen, wo sie als Köchin arbeitete. Nicht als Küchenhilfe, sondern tatsächlich als Köchin. Nach einem ihm besonders gut mundenden Menü bat er darum, den Koch zu sehen. Und so traf er seine Entscheidung. Mariette hatte eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Das Restaurant war ein Familienunternehmen. Heute ist eine Seilerei darin. Ja, es gibt auch vieles, was ich gern nachholen würde. Aber das Rad des Schicksals dreht sich unaufhörlich und nicht jeder kann lange genug Schritt halten. Manch einer kommt unter die Räder, andere bleiben einfach liegen. Der Weg führt nur vorwärts, niemals zurück und so bleibt uns nichts anderes, als das Beste daraus zu machen.«


    Bellamy Bourgeois
    »Tja da frage ich mich zwangsläufig, liebte er meine Ma oder liebte er ihre Kochkünste? Was hat er an ihr wirklich geliebt? Vielleicht tue ich ihm damit auch Unrecht und wie ich schon sagte, er sah es als Schutz, sie nicht völlig an sich heranzulassen. Was wirklich gewesen ist - ob Mercer sein Ehemann in seinen Gedanken war, ob meine Mutter gefühlt seine Ehefrau war oder vielleicht sogar beide für etwas anders was er an ihnen liebte, ich kann es nicht beantworten. Möglicherweise hätte er es mir selbst nicht beantworten können. Er war eventuell ebenso einsam und fürchtete die stillen Stunden, während er andere draußen scherzen und lachen hörte, während er nach Mercers Hochzeit dazu verdammt war, alleine in seiner Kemmenate zu sitzen und die Stunden bis zum Dienst zu zählen. Wer kennt das nicht? Man gönnt es seinem Kameraden und freut sich für ihn, dass er jemanden gefunden hat. Die Freude kommt von Herzen. Aber zeitgleich ist man auch traurig, weil man einen Verlust spürt. Meinem Vater ging es da vielleicht wie mir, der ewige Zuschauer, was die weltlichen, normalen Dinge anbelangt. Man sieht Leute kommen werden und vergehen sozusagen. Sie beginnen ihren Dienst, treten in das Leben von einem, man freundet sich an. Sie lernen jemanden kennen, verlieben sich, heiraten, gründen eine Familie, schaffen sich vielleicht ein Häuschen an, dann kommt irgendwann das erste Kind, dass zweite oder dritte, vielleicht sogar eine zweite Frau oder ein weiterer Partner - und man selbst? Man selbst bleibt immer der der man ist. Der Zuschauer, wenn auch im ersten Rang. Man erlebt hautnah alles mit, nur nicht aus der Ich-Perspektive. Man sammelt tausende Erfahrungen, hört tausende Probleme, tausende Meinungen, allerdings nur von anderen, denn ich erlebe es nur durch sie. Ich selbst erlebe es nicht. Ich war und bin immer nur Zuschauer gewesen. Und das gleiche empfand ich bei Boldi, ich schaue wieder einmal zu, ich gönne es ihm und trotzdem war da der Stich der Trauer, dass mir so etwas versagt bleibt. Dachte so mein Vater? Ganz sicher dachte so meine Mutter. Sie hatte zwar geheiratet und hatte Kinder, aber was hatte sie sonst? Sie hatte dann nicht einmal mehr ihren Beruf, der sie erfüllt hat. Wenn ein Gast sagte, dass es besonders gut schmeckte, wenn sie sah, dass die Leute alles aufessen und vielleicht noch eine Portion ordern. Das ist Glück, jemand schätzt Dein Können. Aber Zuhause zu kochen, wer sagt dort denn Danke? Wer sagt das schmeckte hervorragend? Die meisten nehmen sowas als selbstverständlich hin. Die kleinen Nettigkeiten des Alltags, ein Brot, ein Essen, einen gebrühten Tee. Wer misst dem Wert bei? Kaum jemand. Aber es sind alles nonverbale Botschaften für Du bist mir wichtig, ich liebe Dich. Die Menschen wissen so etwas erst dann zu schätzen, wenn sie es verloren haben. Oder jene, die es sich wünschen und wissen aufgrund ihrer Natur, wird es das nie für sie geben. Denn was rührt uns denn tief im Inneren, dass wir solche Leute verstohlen beobachten, Neid empfinden oder Schmerz? Tief in uns wissen wir alle, so sollte es sein. Aber um so etwas anzuerkennen und diese Freundlichkeiten zu achten, benötigt man die Stärke völlig schwach dazustehen und einem anderen zu sagen und vor allem zu zeigen, ohne Dich geht gar nichts. Dazu fehlt den meisten der Mumm. Jeder zeigt gerne wie hart und taff er ist, wie gut er alleine klar kommt. Diese Leute sollten die Finger von Beziehungen lassen. Andere wollen vielleicht gar nicht hart und taff sein, müssen es aber, da sie sonst untergehen. Wie würde Vano sagen? Jedes Schiff braucht einen sicheren Hafen. Allerdings sagt er auch, im Hafen ist jedes Schiff sicher, aber dafür sind Schiffe nicht gemacht. Ich denke beides stimmt. Ich habe genug Paare gesehen um zu verstehen was gute Paare verbindet, es ist nicht dass, was die anderen meinen oder wenn ich schon den dussligen Satz höre - WAS? Die haben sich getrennt? Die waren doch so ein schönes Paar! Die sahen vielleicht optisch gut zusammen aus, verbunden hat die beiden aber seelisch nichts. Und mache sehen vielleicht aus, dass man sich fragt, was will der Bursche mit dem alten Opa? Aber wenn er den Opa liebt und der Opa ihn? Dann wird es halten. Meine Mutter hätte so jemanden heiraten sollen, jemanden mit Eier in der Hose, jemanden der sich traut vor allem zuzugeben, dass er auch mal ein Schwächling ist. Aber vielleicht hatte sie das ja, denn weder Ihr noch ich waren im Schlafzimmer jemals Mäuschen um das in Erfahrung zu bringen. Wer war der Kitt? Wie trat die Person in Erscheinung, die die Agenten letztendlich verraten hat? Ihr sagtet es war Euer Vater und er tat es auch als Freund. Warum schonte er dann nicht wenigstens die Frauen und Kinder?«, fragte Bellamy.


    Timothée Mauchelin
    »Der Kitt«, sagte Timothèe langsam, »nannte sich Pascal Rouvallet. Und er war jener, der die Einsamkeit linderte, sowohl bei Berzan als auch bei Mariette. Das, was sie beide an ihrem Ehepartner vermissten - das gab er ihnen. Aufmerksamkeit, Zuwendung, jedem das, was er brauchte. Er half Mariette beim Kochen und in der Küche und schenkte ihr die Zärtlichkeit, zu der Berzan ihr gegenüber nicht Willens war. Berzan schenkte er das ewige Lächeln, das er selbst seiner Frau ausgetrieben hatte, den Frohsinn und er schenkte ihm noch sehr viel mehr. Und ich denke, er gab Berzan damit auch das, was dieser sich von Mercer gewünscht hätte, was sie beide aber aus irgendeinem Grunde niemals in Angriff nahmen - eine Partnerschaft. Und was diesen Blick dafür anbelangt, was einem Menschen fehlt und die Fähigkeit ihm genau das zu geben, kommt mein Junge ganz nach seinem Großvater. Nur war der nicht so dumm, sich verprügeln zu lassen. Er hat seine Grenzen behauptet, auf seine ganz eigene charmante Art und Weise - indem er Berzan vorenthielt, was er sich so sehr wünschte, wenn dieser in eine Richtung handelte, die meinem Vater nicht schmeckte. Nach und nach wurde Berzan auf diese Weise formbar. Damit, sich von meinem Vater um den Finger wickeln zu lassen, besiegelte er den Untergang der Agenten der Autarkie. Eine tragische wie traurige Geschichte und sie erklärt, warum Berzan am Ende aus tiefstem Herzen bereut hat.«


    Bellamy Bourgeois
    »Die Frage ist dann, was bereute er wirklich? Euren Vater in sein Herz gelassen zu haben? Oder sein Herz nicht für seine Frau und oder seinen Freund geöffnet zu haben? Vielleicht bereute er auch, dass er sie alle drei nicht retten konnte, wäre er bei dem einen nur strenger und bei den anderen beiden sanfter gewesen. So wäre es mir an seiner Stelle ergangen. Er mag mit seinem Verhalten zwar Personen formbar machen, aber das ist ein sehr gefährliches Spiel. Ob man nun Zuneigung schenkt und damit jemanden an die Kette legt, oder es mit Brutalität versucht, beides ist eine Form von Gewalt. Die erstere ist nur nicht gleich erkennbar. Aber sie hat einen gewaltigen Nachteil, man kettet sich selbst damit an. Möchte man jemanden nur gefügig machen und lenken, dann sollte man verhindern ihn an sich zu ketten. Denn an einer Leine kann man von beiden Seiten aus ziehen und das wird Euer Vater auch gespürt haben. Auch das wird er bereut haben, er wird sie gemocht haben, allen voran meinen Vater. Vielleicht sogar mehr noch meine Mutter und er war da um zu beschützen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er gegen meine Mutter jemals ein gewalttätiger Mensch war. So ist weder Boldi noch ich, Feinde haben sich zu hüten, aber wen wir behüten - der lebt sicher. Mein Wort drauf«.


    Timothée Mauchelin
    »Es ist zu vermuten, dass Berzan alles bereute. Denn alles griff ineinander, die schon erwähnten Mühlräder des Schicksals. Das eine bedingte das andere. Ihr habt es ganz richtig erkannt, meinem Vater war nicht egal, was er da tat. Er war zielstrebig und darin auch kaltblütig, aber nicht kaltherzig. Dass die Frauen nicht verschont wurden, lag an dem Befehl, alles auf Stand null zu setzen. Es ist vielmehr ein Wunder, dass es noch lebende Kinder gibt und hier und da vielleicht auch schon Enkel. Berzan war nicht gewalttätig seiner Frau gegenüber, da habt Ihr vollkommen recht. Materiell betrachtet ging es ihr hervorragend. Doch war Mariette eine Frau, die lieber in bitterster Armut gelebt hätte, wenn nur die Familie glücklich ist. Das war sie jedoch nur, wenn mein Vater dabei war - der erwähnte Kitt. Er füllte die Lücken, die Berzan und Mariette in ihrem Leben hatten und er füllte sie gut.«


    Bellamy Bourgeois
    »Dann gehörte er und somit auch Ihr zu unserer Familie, ob Ihr wollt oder nicht. Und Patrice ebenfalls, er ist damit sowas wie mein Halbbruder. Habt Ihr darüber mal nachgedacht? Hat er je darüber nachgedacht, sich ihnen anzuschließen? Oder wenigstens mit meiner Mutter zu fliehen? Hat er das, wisst Ihr das?«


    Timothée Mauchelin
    »Nachgedacht hat er über alles. Doch er hatte seine Gründe, den eingeschlagenen Weg durchzuziehen, bis zum bitteren Ende.« Er blickte Bellamy tief in die Augen. »Ja, ich gehöre zur Familie.« Einen Moment lang wünschte er sich, Geistmagie zu beherrschen. Doch er würde mit Bellamy noch anderweitig unter vier Augen sprechen können, falls er je wieder auf freien Fuß kam. Wenn nicht ... musste Moritz seinen Kopf anstrengen. Auch sein Sohn wusste momentan nur so viel, wie er wissen musste.


    Bellamy Bourgeois
    »Verratet mir bitte, wie er zu Boldi und mir gestanden hat, wie hat er uns gesehen? Als seine Mitkinder? Als die Kinder seines Mannes, die Kinder seiner Freunde? Wie sah er uns? Nun es mag einen Grund für seine Entscheidung gegeben haben, ich habe auch so manchen Befehl befolgt, den ich auch lieber nicht hinterfragt habe. Erstens stand mir das nicht zu, so ehrlich muss man sein und so ehrlich wird auch Pascal gewesen sein. Auftrag ist Auftrag. Und bei manchen Dingen möchte man es aus Selbstschutz gar nicht genauer wissen. Man tut, was getan werden muss. Aber gleich welcher Befehl fallen würde, einen würde ich nie umsetzen - Boldi und seine Familie anzugehen. Er ist alles was ich habe, alles was wirkliche Familie ist. Ich würde versuchen ihn zu beschützen. Gut, er kann vermutlich besser auf sich selbst aufpassen, als so manch anderer. Und seine ruhige, stoische, manchmal fast lethargisch wirkende Art kann sehr täuschen. Eben noch die Ruhe in Person, kann er binnen Sekunden den Abgrund losbrechen lassen und dann Gnade Ainuwar der Person, die das verschuldet hat. Aber es wird keine Gnade geben. Das begreift vermutlich nicht einmal Vano oder Davet. Sie beide gehören ihm und er würde jeden zerfetzen, der sie ihm zu nehmen versucht. Also denkt erst gar nicht in so eine Richtung, Boldi ist nicht allein, er hat mich und noch viele andere die ihm zur Seite stehen. Er ist ein guter Mann und er wird langsam rund um die Hüfte. Das Familienleben tut ihm gut, er hat Kuschelspeck angesetzt. Wir ziehen ihn damit zwar auf, aber ich beneide ihn darum. Und seine Kerle stehen drauf. Er sollte nur nicht zuviel Mama werden, denn das kann nach hinten losgehen. Nichtsdestotrotz ist er mein Bester und ich kann nur hoffen, das mich mein Gefährte mit ähnlichen Augen sieht wie Boldi seinen Mann. Das hoffe ich, aber wissen kann man so etwas nicht. Andere sehen da mehr als man selbst. Aber um auf unsere Mutter zurückzukommen, ich denke sie hätte sich für Boldi ebenso gefreut. Endlich angekommen und wäre sie noch da, wäre sie vermutlich ständig bei ihnen oder würde mit Leala quatschen und Kochen. Und wir würden in der Küche herumhängen und drum betteln die Töpfe auszulecken. Andere wünschen sich Reichtümer, ich wünsche mir sowas«.


    Timothée Mauchelin
    »Mein Vater hat Für und Wider stets gegeneinander abgewägt. Er war niemals blind. Und dass er sich trotz allem, was für ein Leben inmitten der Familie Bovier gesprochen hatte, dagegen entschied, zeigt, dass es etwas gab, das er für noch wichtiger erachtete. Aber ich denke, seine Majestät wird sich langweilen bei all diesen Familieninterna, die für den Fall an sich keine Rolle spielen. Wenn Ihr wünscht und es gestattet ist, besucht mich doch im Verlies. Mir wird es die Zeit vertreiben bis zu meiner Hinrichtung und Euch wird es nicht zum Schaden sein. Bedenkt bitte eines. Wenn mein Vater oder ich gewollt hätten, dass Ihr oder Boldiszàr sterbt, dann hättet Ihr das Mannesalter nicht erreicht. Es gibt also keinen Grund, an Patrice zu zweifeln.«


    Bellamy Bourgeois
    »Ich zweifele nicht an Patrice oder an Eurer Aussage und wieso solltet Ihr hingerichtet werden?«, fragte Bellamy verwirrt.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Vendelin von Wigberg liebt den dramatischen Auftritt und Abgang, wie wir bereits feststellen mussten. Niemand hat bis dato über seine Hinrichtung entschieden. Weder wir noch ein anderer Adliger. Und bis zum Ende der Ermittlung wird dies auch so bleiben. Es sei denn es ist sein ureigener, persönlicher und bedauerlicher Wunsch. Es steht die Überprüfung der Richtigkeit seiner Angaben und Äußerungen im Raum. Sind sie korrekt, so darf er selbstverständlich weiter leben und war stets ein treuer Untertan. Sollte er gelogen haben, dann hat er sich des Hochverrates schuldig gemacht. Verrat und selbstredend ebenso Hochverrat kennen nur eine Sanktion - Block«, erklärte Maximilien gelassen. »Ferner langweilen wir uns nicht, wenn jemand etwas für ihn persönlich Wichtiges, gar Bedeutsames erfährt. Wäre dem so, hätten wir nicht nach der vermeintlichen Belanglosigkeit gefragt Vendelin. Und wir hätten ganz sicher nicht nach Bellamy schicken lassen«, erinnerte Max freundlich.


    Timothée Mauchelin
    »Mitnichten wünsche ich meinen Tod. Dafür habe ich zu hart gearbeitet. Alle Angaben sind korrekt, Majestät. Wenn es gestattet ist, bitte ich darum, nun in meine Zelle verbracht zu werden. Mich hat all das sehr erschöpft.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Das freut uns zu hören. Sollte es wie Ihr sagt der Wahrheit entsprechen, seid Ihr bald wieder ein freier Mann. Ein Mann der uns einige Unterlagen schuldet und einige weitere Erläuterungen, aber dies dann in einer angenehmeren Runde. Eine letzte Frage unsererseits bevor Ihr in Gewahrsam verbracht werdet. Habt Ihr von der Existenz unseres Halbbruders gewusst? Wusstet Ihr, dass die alte Duchesse ein Kind mit Corentin hatte?«, fragte Max.


    Timothée Mauchelin
    »Mein Vater war ein enger Vertrauter ihrer Hoheit. Ja, er wusste von Davet und entsprechend wusste auch ich von seiner Existenz.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Was hatte die Duchesse mit ihm vor? Trachtete sie ihm genauso nach dem Leben wie uns? Wir wissen davon, wie Corentin mit seinem Sohn umging. Wisst Ihr um seine Beweggründe?«


    Timothée Mauchelin
    Timothèe gönnte sich ein Lächeln. »Davet war der doppelte Boden ihrer Hoheit. Falls etwas geschieht. Darum verstanden sie und mein Vater einander. Eine Hand wusch die andere. Corentin hingegen war niemand, der Nebenbuhler schätzte, besonders, wenn sie so fähig sind, wie mein Vater es war. Die beiden respektierten einander und bisweilen verbrachten sie auch mehr Zeit miteinander, als sie unbedingt müssten, aber sie waren wohl keine Freunde. Dafür war Corentin ein zu missgünstiger Mensch. Im Weg stand dem auch, dass beide keine Personen waren, die sich gern von anderen in die Karten schauen ließen und sahen, dass der andere durchaus dazu fähig wäre. Daher wusste mein Vater weniger über ihn, als es hätte sein können. Vermutetet werden kann, dass Davet leiden musste, weil er in Corentins Augen nie gut genug war, das heißt, niemals so perfekt, wie er selbst es gern gewesen wäre. Und nein, Eure Mutter hatte Davet nie nach dem Leben getrachtet. Warum sie ihn dennoch in diesem gefährlichen Umfeld beließ, entzieht sich meiner Kenntnis.«


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Das ist etwas, was wir leider ebensowenig wissen. Sie könnte gedacht haben, ein schlechtes Versteck ist besser als gar keines. Allerdings hätten wir selbst unser Kind nicht in so einer Obhut belassen können. Nun wir würden schließlich auch nicht die Ermordung eines unserer Kinder in Erwägung ziehen, wie es unsere Mutter skrupellos tat. Dafür haben wir keine Hemmungen jene zu erschlagen, die die unseren bedrohen. Wir danken Euch für Eure Informationen. Wir gehen davon aus, dass wir in den nächsten Tagen über das Ergebnis Euch und Eure Aussagen betreffend verfügen werden«.


    Timothée Mauchelin
    »Kein Vater und keine Mutter bei klarem Verstand würde das eigene Kind unter solchen Umständen aufwachsen lassen, es sei denn, die Not würde es erzwingen. Ihr seid ein Vater, der weiß, was es heißt, seine Kinder zu lieben. Bitte erinnert Euch daran, wenn Ihr über das meine urteilt.« Er machte sich bereit dafür, abgeführt zu werden und blickte noch ein letztes Mal in Richtung Fenster.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Nun dann spreche ich zu Euch von Vater zu Vater Vendelin, Euer Sohn wurde bereits abgeurteilt. Sein Urteil besagt, dass er einer geschlossenen Heileinrichtung in einem Tempel zugeführt wurde. Ihn mag eine harte wie auch schwere Zeit bevorstehen, aber der Grund hierfür ist, ich möchte ihm helfen. Ich werde weder Pascal, Patrice noch Moritz vor die Hunde gehen lassen. Das hat keiner der drei verdient, ob es nun tatsächlich separate Seelen oder Facetten einer Seele sind. Eure Sorge ist berechtigt, da Euer Sohn sehr krank ist. Eure Angst ist unbegründet, von mir geht für Euren Sohn keine Gefahr aus, sondern Schutz und Schirm. Ihr solltet selbst überlegen, ob Ihr nicht Eurem Sohn etwas sagen wollt, etwas sehr wichtiges, sobald dies möglich ist Vendelin. Er wartet bereits zu lange darauf, denkt darüber einmal nach, während Ihr auf Euer eigenes Urteil wartet«, sagte Maximilien, ehe er wieder das Amt des Duc bekleidete. »Abführen und inhaftieren«, befahl er, musterte Vendelin aber mitfühlend.


    Timothée Mauchelin
    »Moritz weiß, dass sein Vater ihn liebt, falls Ihr das meint, Majestät. Das heißt leider nicht, dass ich ihm alle Freiheiten lassen kann, die er sich wünscht. Eingesperrt zu sein, wird ihn nicht genesen lassen. Niemand genest in einem Gefängnis, gleich, welchen Namen man ihm gibt.« Er verneigte sich, während die Gardisten näher traten.


    Maximilien Rivenet de Souvagne
    »Ein Versuch ist es wert Vendelin und so manchem wurde dort bereits sehr gut geholfen. Manchen hilft dort schon, dass sie einmal von ihrem normalen Alltag abgeschnitten sind, sich auf sich selbst oder auf etwas anderes konzentrieren können. Freiwillig gibt kaum jemand die gewohnten Bahnen auf. Den Trott ist jeder irgendwie gewöhnt und er hat durch die Gewöhnung auch etwas gemütliches. Wer sich wirklich ändern will, dazu zählt auch die Änderung hin zur Genesung, muss einen Schritt über den eigenen Tellerrand wagen. Aber niemand verlangt von Moritz, dass er den Schritt allein geht. Er wird dabei gestützt, unterstützt und zur Not auch festgehalten. Er ist in keinem Gefängnis, auch wenn Ihr dies so seht. Wertet neutral und lasst ihm seine Zeit. Bezogen auf das was Ihr über die Liebe sagt, da geben wir Euch Recht, niemand weiß dies so gut wie wir selbst Vendelin. Der Besuch von Bellamy bei Euch ist gestattet, Ihr dürft Euch verabschieden«, sagte Max und gab den Gardisten ein Handzeichen. Vendelin wurde in die Acht gelegt und mit jeweils einem Gardisten am Arm und einigen zur Begleitung führt man ihn in das Gewahrsam des Palastes.