Die Wildblume und die Seelilie

  • Die Wildblume und die Seelilie



    Basile blickte aus dem Fenster der vornehmen Kutsche, die sich langsam in den engen Gassen von Mancini durch das Gewühl der Passanten zum Hafen hinunter schob.


    Das mediterrane Leben in dem Küstenorten pulsierte um diese Jahreszeit vor Leben.
    Der Kutscher knallte mit der Peitsche und fluchte, aber das störte die Passanten kein bisschen.


    Als dieser mit der Peitsche nach einem besonders langsamen Kerle schlug, wäre es beinahe zu einer Schlägerei gekommen. Basile zog den Kopf zurück in die Kutsche.


    `Die brennende Sonne macht die Menschen aufbrausend´, grübelte der Palaisin.


    Die Kutsche hielt, die Tür wurde geöffnet und Basile stieg aus. Er sprang auf den Landungsplatz in die warme, tiefstehende Herbstsonne und schaute sich neugierig um.


    Entlang des Hafenbeckens herrschte lebhafte Betriebsamkeit. Die an der Kaimauer vertäuten Schiffe wurden beladen oder gelöscht. Waren wurden mit Karren oder von stöhnenden Trägern zwischen den Lagerhäusern und Schiffen hin- und hertransportiert und eine lange Reihe Ochsenkarren zog mit hoch aufgetürmten Warenbergen in Richtung der Hauptstraße davon.


    Im Schatten der Seitengassen ging es viel gemächlicher zu. Dort betrieben einige kleine Tavernen ihr Geschäft, und viele durstige Gäste hatte sich dort niedergelassen.


    Basile sah sich suchend um.


    Es hieß einer der berüchtigtsten Piraten wäre in Mancini an Land gegangen. Einst Kapitän einer gesunkenen Handelsbrigg, schlug er sich nun seit Jahren als Pirat durch und machte anderen Seeleuten das Leben schwer. Heute würde Basile damit Schluss machen.


    Der Name des Pirat war Laurent Louis Desnoyer, genannt der Sturmrufer.
    Er würde seinen Sturm bekommen grinste Basile.



    ****

  • Mancini, Hafenviertel - Erntemond im Jahre 121 n.d.A.


    Ein heißer Erntemond machte im Jahre 121 Souvagne zu schaffen. Das Land und seine Leute stöhnten unter der anhaltenden Hitze. Ernteausfälle waren zu verzeichnen und so setzte Duc Varden Honore de Souvagne alles daran, dass die Azursee, wie auch die Wälder die Ausfälle mit ihren Gaben auffangen würden.


    Basile Bouvier, Palaisin und erstes Schwert von Duc Varden Honore de Souvagne, war seinerseits auf der Jagd. Die optische Beschreibung seiner Beute war vage, mehr als das der Mann fast zwei Meter hoch und strohblond war, stand ihm nicht zur Verfügung.


    Basile vermutete einen grimmigen, zähen und durchtrainierten Kerl, einen alten Muschelrücken, mit wettergegerbtem Gesicht.


    Weitaus wichtiger war jedoch, dass man Sturmrufer nachsagte, mit dem Degen genauso schnell zu sein wie mit seiner spitzen Zunge. Basile hatte nicht vor sich von einem der beiden aufspießen zu lassen.


    Die Sonne versank endlich hinter dem Horizont. In dem Moment sah er ihn.
    Sturmrufer trat aus einer Taverne und die schwindende Sonne wurde von seinen langen Haaren eingefangen.


    Sonnenstrahlen perlten von seinen Haaren, goldenen Tränen gleich die zurück ins Meer kullerten.


    Basile spürte einen Augenblick später, dass er den Atem angehalten hatte. Womit er auch immer gerechnet hatte, damit nicht.


    Seine stahlblauen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, den Bruchteil einer Sekunde später rannte er los. Seine Beute stockte, verharrte und floh. Allerdings rannte der verdammte Kerl nicht die Straße entlang hinab, so das Basile ihn nur zu Fall bringen und einsacken musste. Oh nein!


    Sturmrufer sprang und war mit einem Satz oben im Rosengitter der Taverne. Ein Sprung der einem Panther zur Ehre gereicht hätte, dachte Basile zerknirscht. Der Pirat schwang eines seiner langen Beine über die Brüstung des Balkons und verschwand im Inneren des Gebäudes, aus dem er gerade herausgetreten war.


    Basile fluchte und stürmte von unten die Taverne, in der Hoffnung seinen Kontrahenten auf der Treppe abzufangen oder in eines der Zimmer abdrängen zu können. Der Palaisin zog sich unten in eine dunkle Ecke zurück, während seine Beute vorsichtig die Treppe hinabstieg. Er schien der Situation nicht zu trauen - zu Recht.


    Einige Sekunden später zuckte Sturmrufer zusammen und brach in die Knie. Allerdings war der Kerl nur einen winzigen Augenblick desorientiert, dann suchte er binnen Augenblicken die Umgebung nach dem unsichtbaren Feind ab.


    Der Blassrohrschuss hatte gesessen. Bald würde aus dem Sturm ein lauer Wind, bevor er einschlief.


    Basile wartete jedoch nicht so lange, sondern ging zum Angriff über. Mit einem schnellen Sprint und einem Satz war er bei ihm und landete genau vor dem Piratenkapitän.


    Schneller als er es ihm zugetraut hätte, richtete sich Sturmrufer wieder auf. Scheinbar konnte er ein Bein nicht belasten. Trotzdem schlug er mit einer Hand nach Basiles Kehle um mit der anderen zeitgleiche seine Waffe herauszureißen. Der Palaisin ließ sich fallen und entging so haarscharf dem Hieb, parallel trat er dem Pirat die Waffe aus der Hand, die im hohen Bogen davon segelte.


    Sturmrufer verschwendete keinen Blick indem er der verlorenen Waffe nachblickte. Er war scheinbar äußerst gut geschult und im Bilde der Situation. Hier in der Hafengegend würde die Waffe nicht mal auf dem Boden aufschlagen, da hatte sie schon einen neuen Besitzer.


    Der Pirat zog sich einige Schritte zurück und taxierte Basile. Im selben Moment griff ihn der Palaisin an. Trat nach dessen Gesicht, so dass der Bursche die Hände nach oben riss.


    Erneut ließ sich Basile fallen und trat dem Kerl mit voller Wucht in den Schritt. Sturmrufer konnte gerade noch den Körper zur Seite reißen und kassierte einen harten Tritt vor die Hüfte. Entgegen der erhofften Reaktion, hopste der Pirat so nur einige Schritte nach hinten und wartete lauernd ab.


    Schneller als man es einem Menschen zutrauen würde war er mit einem Sprung bei Basile und schlang ihm den Arm um den Hals und drückte zu. Mit der anderen Hand versuchte er ihm die Augen auszudrücken.


    So gut wie Sturmrufer dachte war er nicht und seine Größe wurde hier zum Nachteil. Der Palaisin befreite mit einer gekonnten Abwehrbewegung seinen Hals und warf Sturmrufer hart über die Schulter.


    Keine Sekunde später war Basile hinter dem Burschen und donnerte ihm den Ellenbogen vor den Hinterkopf. Mit wütendem Fauchen fuhr Sturmrufer zu Basile herum und grabschte nach ihm.


    Der Palaisin wich mit einigen gekonnten Sprüngen aus, um dann ganz entgegen der Logik auf den Pirat zuzuspringen. Er hakte seinen Arm in des Piraten so als wollten sie Ringelrei tanzen und schleuderte ihn mit Schwung von sich weg.


    Mit der seltsam-schrägen Aktion hatte Sturmrufer nicht gerechnet und krachte gegen die nächste Wand.


    Er wischte sich mit einer Hand über das Gesicht und taxierte Basile der wie ein Raubtier langsam auf ihn zu geschlichen kam.


    Sein Gegner war gut, musste sich Sturmrufer eingestehen. Wütend stemmte er sich an der Wand hoch, egal wie gut der Kerl war, er war besser. Er war Kapitän eines Piratenschiffes, verdammt noch mal, Beinverletzung hin oder her. Er hatte schon ganz andere Gegner besiegt.


    In dem Moment griff Basile erneut an und trat mit aller Gewalt zu. Sturmrufer kassierte den Tritt ohne mit der Wimper zu zucken und empfing Basile seinerseits mit einem Tritt, der diesem die Luft aus der Lunge schlug.


    Es war eine verfluchte Finte, denn in diesem Augenblick schlug ihm der Angreifer eine Spritze ins Bein und drückte ab.
    Sturmrufer wurde es heiß und kalt und erneut ging er in die Knie. Das zweite Mal am Tag, stellte er wütend fest. Er versuchte die Benommenheit abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Er konnte sich noch einige Sekunden auf den Knien halten, ehe er auf alle Viere brach und sein Blick sich immer mehr trübte.


    Was ihm dieser schwarzhaarige Abgrundzwerg da gespritzt hatte wusste Sturmrufer nicht. Er klatschte auf den Bauch, als seine Beine komplett den Dienst versagten. Angst stieg in ihm auf.


    Ein Gefühl dass er seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Unter größter Willensanstrengung tastete er mit der Hand zitternd nach seiner Waffe, die allerdings nicht mehr da war.


    „Merde“, knurrte er hemmungslos zitternd.


    Jemand trat ihm mit Wucht in die Seite und drehte ihn damit um, so dass er Richtung rußschwarzer Decke blickte. Ein Gesicht schob sich in sein Sichtfeld, dass seines Angreifers.


    „In Tamjidistan gibt es Käfige, in denen der Wind gefangen gehalten wird Sturmrufer. So ein Käfig wird Dein neues Zuhause, bis zu Deinem Prozess und Deiner Hinrichtung. Jeder Sturm findet seinen Bezwinger", grinste Basile.


    Laurent setzte an etwas zu sagen, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Er starrte in diese seltsamen viel zu hellblauen Augen und spürte wie ihm Tränen die Wangen herabliefen. Dann wurde es schwarz.



    ****

  • Sturmrufers Geständnis


    Laurent erwachte mit einem pulsierenden Schädel. Seine Hände waren auf seinem Rücken gesichert und vermutlich war er irgendwo festgekettet. Seine Sicherung bestand nicht einfach aus einem bloßen Seil, sondern kaltem Stahl, einer Acht. Der Kerl der ihn gestellt hatte, war nicht irgendwer, wenn er über so eine Ausrüstung verfügte.


    "Na wieder wach?", fragte die Reibeisenstimme seines Widersachers.
    "Mehr oder weniger", gab Sturmrufer zurück.


    "Gut, ich habe keine Lust Dich Bohnenstange nach Beaufort zu schleppen, Du wirst laufen", erklärte Basile und musterte den schlanken Mann, den er in der Taverne zur Ausnüchterung der Drogen aufs Bett geworfen hatte.
    "Lass uns verhandeln", bat Sturmrufer.


    "Falsche Adresse Blondie. Deine Verhandlung bekommst Du in Beaufort. Du bist Pirat Sturmrufer und Du kamst an Dein Schiff, indem Du einen anderen Kapitän überfallen und ihm eiskalt die Kehle durchgeschnitten hast. Danach hast Du dafür gesorgt, dass Du den Titel auch behältst. Und mit diesem Titel fährst Du zum Abgrund", sagte Basile.


    Der Palaisin wollte hart und unerbittlich klingen, aber irgendwie wollte es ihm bei Sturmrufer nicht gelingen.


    "Du kennst nur die Hälfte! Ich meldete genau jenem Kapitän was ich auf einer meiner Reisen gehört hatte. Rakshaner wollten unser Dorf überfallen, ich teilte es genau jenem Kapitän mit, damit er unser Dorf beschützt.


    Aber er schickte mich weg, nannte mich paranoid. Sie hätten andere Sorgen, von Seiten der Handelsallianz würde Krieg aufziehen. Ich wurde von der Reederei wieder auf Fahrt geschickt.


    Die Rakshaner überfielen mein Dorf und töteten meine Familie! Verstehst Du das? Sie töteten meine Frau und meine Kinder. Daraufhin schwor ich Rache und stellte das Schwein! Ja ich schnitt ihm eigenhändig die Kehle durch, aber so macht man das mit Verrätern", antwortete Laurent tonlos.


    Basile musterte Sturmrufer wortlos. Der Pirat wirkte trotz seines Rufes irgendwie unschuldig, vielleicht machte es auch die Optik. Ellenlange Beine, lange blonde Haare, der Bursche hatte etwas von einer Frau und wiederum doch nicht. Irgendetwas in Basile wollte Sturmrufer beschützen, er verstand sich selbst nicht.


    Und jetzt das, er konnte diese Information nicht einfach ungehört im Raum verklingen lassen. Was wenn diese Aussage den Tatsachen entsprach?


    Der Palaisin stand auf, trat an das Bett und hockte sich davor. Er schaute Sturmrufer in die Augen. Lange, ernst, fast unerbittlich, aber er sah keine Lüge, er sah Angst und er sah Sorge. Kein Mann vergoss grundlos lautlos Tränen. Der Blick des Palaisin wurde weicher.


    "Rede, Du bekommst Deine Chance", sagte Basile ruhig.
    Sturmrufer schien überrascht und nickte dankbar.


    "Als Kapitän eines Handelsschiffes war ich einst auf allen fünf Meeren unterwegs, aber als mein Vater auf See verschollen ging, hatte ich mich bei der Marine eingeschrieben. Ohne Stand hast Du kein Anrecht in der Marine auf das Amt des Kapitäns, ich schrieb mich als Segelmeister ein.


    Erfahrene Männer mit solchem Wissen wie unserem nimmt man gerne in der Marine auf. Es ist hinlänglich bekannt, dass einige Kommandanten zwar über hohe Titel aber über flaches Fachwissen verfügen. Sie verdanken Ihr Kapitänsamt nur Ihrem Adelstitel.


    Zu meinen Fähigkeiten in der Navigation hatte mein Kapitän und die Mannschaft stets vollstes Vertrauen. Denn ich arbeitete nicht nur Hand in Hand mit dem Kapitän, ich war ebenso einer der Matrosen. Ich hatte mich vom Matrosen, zum Steuermann und schließlich zum Kapitän eines Handelsschiffes hochgearbeitet.


    Genau wie die Muschelrücken hatte ich mir die Hände schmutzig gemacht, ich weiß was Teerhände und Füße sind, ich kenne aufgerissene Hände von steifgefrorenen Segeln und ich weiß wie es sich anfühlt, wenn das Salz einem die Haut verbrennt und sich der Magen wie ein Abgrund anfühlt, der nach Nahrung schreit, aber die Küchenfeuer des Schiffes kalt sind. Von den Gästen im Zwieback ganz zu schweigen. Das einzige was einen dann über die Schicht bringt, ist Schnaps. Aus diesem Grund streicht auch kein Kapitän mit Anstand in den Knochen seinen Männern die Schnapsration.


    Meinen Vater habe ich nicht gefunden, die See gab ihn nicht wieder her.


    Gut zwei Jahre diente ich auf der Albatros unter Kapitän Chevalier Nicolas de Bourdette. Dann kehrte ich der Marine den Rücken zu und nahm meinen alten Beruf wieder auf.


    Ich war Kapitän der Handelsbrigg Merle, die Amsel. Ein gutes, treues Mädchen, die genauso fleißig ihre Arbeit verrichtete wie meine Frau an Land. Louna war der Name meiner Frau, geborene Guibresse. Flavie war unsere älteste Tochter, gefolgt von unserer Capucine, danach folgte unsere Aurelie und unser Jüngster ist Mercer.


    Auf einer meiner Fahrten über die Azursee kamen mir nach einer Anlandung Pläne zur Ohren. Pläne über Überfalle auf einzelne Dörfer. Die Rakshaner hatten erneut Raubzüge vor und ich warnte bei meiner Rückkehr sofort die Marine. Deshalb patroulieren sie auf der Azursee. Wen anderes als Bourdette sollte ich informieren? Es kam so, wie ich es Dir bereits sagte. Er glaubte mir kein Wort, hielt mich für paranoid und meinte, ich hätte von solchen Dingen keine Ahnung. Er tat nichts und ich dummerweise auch nicht. Ich verzog mich wie ein geprügelter Hund, denn er war ein Chevalier nicht wahr? Musste er es nicht besser wissen?


    Einen Scheiß wusste er.


    Die Rakshaner griffen genau dann an, als ich wieder mit der Merle auf der Azursee unterwegs war. Sie töteten meine Frau und meine Kinder. Meine Töchter starben, wie sie gestorben sind, darüber verliere ich kein Wort. Menschen können Ungeheuer sein. Aber das wahre Monster, das war Bourdette.


    War es nicht seine Pflicht als Chevalier das Dorf zu beschützen? War es nicht seine Pflicht, solche Meldungen weiterzugeben? Er hatte Souvagne zu beschützen, gleich für wie unglaubwürdig er diese Warnung hielt, er hätte ihr nachgehen müssen.


    Aber seiner Pflicht kam er nicht nach und ich war zu feige, mich an einen anderen Chevalier zu wenden. Bis zu dem Tag, wo meine Frau und meine Töchter umkamen. Ich schwor Rache und das ich Bourdette zur Strecke bringen würde.


    Und genau das habe ich getan, ich habe ihn zweimal gestellt. Beim ersten Mal versenkte er mein Schiff, beim zweiten Mal hatte er weniger Glück, ich kaperte die Albatros und er bekam dass, war er verdient hat. Ich schnitt diesem Verräter die Kehle durch. Ein leichter Tod im Vergleich zu dem meiner Frau und meiner Töchter", erzählte Sturmrufer mit bebender Stimme.


    "Mercer hat überlebt? Wie alt ist Dein Sohn?", fragte Basile.


    "Ja Mercer hat überlebt, seine Schwestern haben ihn in einer alten stinkenden Fischkiste versteckt. Die wollte keiner der Ungeheuer anrühren. Er ist zwei Jahre alt", antwortete Sturmrufer.
    "Mein eigener Sohn ist ebenfalls zwei Jahre alt, Berzan heißt der Kurze", schmunzelte Basile.


    "Lass mich gehen, ich komme nicht zurück, versprochen", bat Sturmrufer.
    "Besserer Vorschlag, Du bleibst und ich kläre die Sache. Solltest Du mich nicht angelogen haben, stehe ich Dir bei. Du solltest nur bereit sein, Deinen jetzigen Beruf an den Nagel zu hängen. Nicht alle Soldaten sind wie Bourdette Sturmrufer", erklärte Basile.



    ****

  • Ein letztes Ächzchen



    "....Über Laurents Kopf donnerte es splitternd. Treffer! Der Großmast erbebte und kippte, dabei riss er die Wanten und Stagen mit sich. Die Segel stürzten krachend auf das Deck, zum größten Teil in das Meer. Der Klüverbaum und der Fockmast folgten eine Salve des Feindes später.


    An Deck der Merle herrschte pures Chaos, Männer brüllten vor Schmerzen, überall lagen Tote und Schwerverletzte.


    „Alle Mann an Deck! Steuerbordskorpione besetzen! Matrosen packt die Äxte und hakt ab was über Bord hängt, kappt das Zeug!", befahl Laurent.


    Suchend schaute er sich um. Die Rudergänger waren unverletzt, meldeten aber, dass sie kein Ruder mehr im Schiff hätten. Der Wind war eingeschlafen. Laurent hätte in diesem Augenblick gut auf diese Misere verzichten können.


    Wieder donnerte von der Albatros aus eine Breitseite herüber und schickte einen Hagel an Geschosse aus gigantischen Pfeilen und Brandgeschossen auf die Merle.


    Die meisten Speere schossen über die schwer angeschlagene Brigg hinweg, aber einige schlugen hart in den Rumpf ein. Ein Handelsschiff war anders gebaut als ein Kriegsschiff der Marine, kostengünstiger vor allen Dingen und so konnte es nicht annähernd so viele Treffer einstecken, wie ein Marineschiff.


    Die Merle erzitterte regelrecht unter den Treffern, die Antwort die sie mit ihren eigenen Geschützen gab, wirkte dagegen fast kläglich.


    "Verfluchter Mistkerl", zischte Laurent, gemeint war der Kapitän der Albatros.


    Wo war nur sein erster Offizier? Suchend schaut er sich um. Fast am Bug entdeckte er Nicolas Vissard, oder das, was von ihm übrig war.


    Ein Geschoss hatte ihm den halben Oberkörper weggerissen und eine riesige Blutlache bildete sich auf dem Deck. Bestürzte Matrosen schleppten verwundete Maaten unter Deck zum Schiffsarzt, während gleichzeitig Matrosen an Deck stürmten um ihre gefallenen Kameraden an den wenigen Geschützen zu ersetzen.


    Laurent wollte gerade einen Befehl brüllen, da übertönte ihn das erneute Donnern der gegnerischen Skorpione. Erneut zischten die Speere über sie hinweg und durchschlugen das Gaffelsegel. Die nächste Salve folgte einen Wimperschlag später und hämmerte seine todbringende Fracht in die Planken der Merle.


    An Bord herrschte mittlerweile vollkommenes Chaos. Sie waren Seeleute, keine Seesoldaten, musste Laurent mit Bestürzung feststellen. Der Unterschied war gravierend und tödlich. Ein Dutzend Matrosen hatte sich versammelt und blickte schockiert auf die gefallenen Maaten. Es waren die ersten Toten, die sie dermaßen zerfetzt und zerschossen zu Gesicht bekamen.


    Ihre eigenen Waffen schwiegen. Verdammt wieso schwiegen sie?


    "Feuer frei, sobald Ziel aufgefasst! Träumt nicht, sonst ist das hier unser Ende, kapiert?“
    „Aye, aye!“, antworteten sie eilten von dannen.


    Sein dritter Offizier stand wie aus dem Deck geschossen plötzlich vor Laurent.


    "Lou, das geht nicht gut aus. Überleg Dir was, wir sind am Arsch", flüsterte Philippe Ermesseur leise.
    „Du bist der beste Schütze von uns, schnapp Dir eine der Armbrüste und blass das Arschloch von seinem Achterdeck. Jage Bourdette einen Bolzen ins Hirn! Meinetwegen durchsieb ihn", befahl Laurent hasserfüllt.
    “Aye!“, bestätigte Ermesseur und rannte davon.


    Obwohl die Merle durch die im Wasser treibenden Wrackteile behindert und stark angeschlagen war, fanden ihre Geschosse diesmal das Ziel.


    Aber der Gegner antwortete umgehend und auf Deck wurden Männer wie Spielzeuge von den Füßen gerissen. Abgetrennte Gliedmaßen und andere nicht weiter identifizierbare Körperteile flogen umher und verwandelten das Deck der Merle in eine blutige Rutschpartie. Andere versuchten sich armlange gezackte Holzsplitter aus den Körpern zu ziehen. Sie waren des Todes. Meist gelang es den Heilern kaum, alles Splitter zu entfernen und die Unglücklichen starben später an den Qualen des folgenden Wundbrandes.


    Wieder eine Salve.


    Hinter ihm ein Aufschrei und das Achterdeck war leergeräumt, zurück blieb nichts weiter als blutiger Matsch, der einmal seine Maaten gewesen war. Laurent schluckte und musste seine Übelkeit niederkämpfen.


    Die ganze Szene wurde surreal, halb betäubt sah Laurent die Szenerie wie durch ein umgedrehtes Fernglas. Es war weit weg, von sich geschoben, jenseits seines Begreifens angekommen.


    „Ich muss das beenden", stöhnte Laurent und schaute sich erneut um.
    "Flagge streichen!", befahl er mit bebender Stimme.

    Aber als er nach oben schaute, war da keine Flagge mehr. Ihre Flaggen waren wie alles andere weggeschossen worden. Laurent presste die Lippen aufeinander und starrte entgeistert nach oben, ins Nichts wo eigentlich die Maste aufragen sollten.


    Urplötzlich war es vorbei.
    Kein Brüllen der Skorpione, keine Erschütterungen und Einschläge im Rumpf, keine Geschosse an Deck. Für einen winzigen Moment befürchtete Laurent taub geworden zu sein, denn nicht einmal mehr das Stöhnen der Verletzten war zu hören.


    Mit schweren Schritten schleppte sich Laurent zurück zum Steuerrad.
    Seine Finger umschlossen in einer trotzigen Geste das Holz.


    Ein Stöhnen erklang, es war das Ächzen des Schiffes, als sich auf die Seite rollte.
    Die Merle sank, sie starb und riss die meisten Maaten mit in den nassen Tod....



    ....in dem Moment wo die Merle starb, wurde Sturmrufer geboren", erklärte Laurent dem Palaisin.



    ****

  • Was man sich vertraut macht



    Basile ritt gemeinsam mit Laurent den schmalen Feldweg hinunter, der zu seinem Haus führte. Was ihn dazu bewogen hatte, Sturmrufer mitzunehmen war ihm nicht ganz klar. Eine Mischung aus Mitleid und etwas, dass er nicht benennen konnte... möglicherweise lieber nicht benennen wollte.


    Der Palaisin schaute sich auf seinem Pferd um, Laurent ritt ein Stück hinter ihm und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Basiles Gesicht blieb ausdruckslos, aber wer ihn kannte sah an den minimalen Fältchen die sich um seinen Augen bildeten, dass er sich ein Grinsen verkniff.


    Basile drehte sich um und schaute wieder auf den Weg, der vor ihnen lag als Laurent zu ihm aufschloss. Die Sonne schien bereits etwas gnädiger zum späten Abend, als das kleine Haus von Basile linker Hand in Sicht kam.


    Es war ein beiges Haus, mit einem kleinen blauen Anbau, eingerahmt von alten knorrigen Bäumen, Weinfässern und Sonnenblumen. Überall im Hof stand etwas herum, von einer Schubkarre bis hin zu Brettern und Gartengeräten, aber so alt das Haus auch war, es hatte seine eigene Schönheit. Gemütlichkeit strahlte es aus und hieß einen mit seinem leicht baufälligen Charme willkommen.


    Bild, Basiles Haus
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    Basile ritt auf den kleinen Hof und tätschelte dabei die Eingangssäule, wie er es immer tat. Einen Augenblick später stürmte eine Frau mit einem kleinen Jungen auf dem Arm hinaus und begrüßte ihren Mann stürmisch. Laurent stieg ab und wartete geduldig.


    Basile strich seinem kleinen Sohn liebevoll über den Kopf und wandte sich an seinen Gast.


    "Ema Laurent - Laurent - Emarentiana kurz Ema meine Frau. Und der kleine Mann hier ist Berzan", sagte Basile voller Stolz.


    "Willkommen in unserem Heim", sagte Ema freundlich und reichte Laurent die Hand. Dabei musste sie ein ganzes Stück nach oben schauen um ihm ins Gesicht blicken zu können.
    "Grüße und Dankeschön", erwiderte Laurent höflich.
    "Ema, Laurent wird eine Weile bei uns wohnen, seinen kleinen Jungen müssen wir noch nachholen", erklärte Basile mit liebenswürdigem Brummen.


    Basile sollte Recht behalten, die Weile hielt den Rest ihres Lebens an.



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  • Winter 121 n.d.A.


    Es war ein extremes Jahr, so heiß und lang wie der Sommer gewesen war, so kalt und eisig war der Winter. Die Fensterläden des kleinen beigen Hauses in Mancini waren fest verschlossen und abgedichtet worden. Draußen heulte der seit Tagen andauernde Schneesturm und rüttelte an den Fensterläden, Türen und ließ die alten Baume draußen knarzen.


    So kalt wie es draußen war, so warm und heimelig war es in dem kleinen Haus. Alle Bewohner des Hauses weilten in der Küche, die sich im blauen Anbau des Hauses befand.


    Berzan und Mercer standen auf Zehenspitzen vor dem Fenster und versuchten durch die Spalte zu schauen. Bei jeder neuen Schneewehe die vorbeischoss hörte man die beiden erstaunt rufen. Die Knirpse schienen ihren Spaß daran zu haben.


    Basile hockte auf der Ofenbank des Kachelofens und genoss ein warmes Gewürzbier. Laurent saß an seiner Seite und säuberte die Linsen, während Ema am Herd stand und kochte. Die drei Hühner die die Familie besaß, verbrachten den Winter sicherheitshalber in der Küche. Sie schwirrten die ganze Zeit zwischen Laurents Beinen umher, in der Hoffnung auf ein paar Linsen zum aufpicken. Die alte graue Hauskatze hingegen hatte es sich auf Basiles Schoß gemütlich gemacht und schlief dort fest eingerollt. Der Hofhund, ein frecher Spitz, saß aufmerksam neben dem Herd, falls dort etwas für ihn abfiel.


    Basile schaute glücklich über seine kleine Familie. Vor einem Jahr hatte er Laurent noch nicht gekannt und nun war der ehemalige Pirat ein fester Bestandteil seiner Familie, ebenso der kleine Mercer der als Berzans Bruder aufwuchs.


    Basile hatte letztendlich den Sturm eingefangen und gebändigt. Den Preis den der Sturm zu zahlen hatte war sein Schiff die Albatros, der Lohn dafür war ein neues gemeinsames Familienleben.



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  • Eine andere Stufe


    Basile stellte sich hinter Laurent und legte ihm die Hände auf die Schultern. Ganz sanft ließe er sie dort liegen und massierte ihm die Schultern. Laurent neigte den Kopf nach vorne und Basile vergrub seine Nase in der blonden Mähne von Desnoyer.


    Eine Weile verharrte er so, massierend und schnuppernd, dann schob er die Haarflut zur Seite und küsste ihn auf den Hals. Erst zaghaft, dann fordernd.


    Laurent genoss es mit geschlossenen Augen wie Basile feststellte. Sie lebten schon eine ganze Weile zusammen, es war Zeit ihre Beziehung auf eine andere Stufe zu heben. Basile hob Laurent vom Stuhl und trug ihn ins Schlafzimmer. Es dauerte nicht lange, da hörte Ema wie Basile Laurent in die Familie aufnahm.



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