Brandur versteifte sich, als sein Großneffe sich müde an seinen Rücken lehnte. Er brauchte einige Augenblicke, um diesen Umstand zu verarbeiten und war froh, dass Linhard sein Gesicht nicht sehen konnte, denn das verzog sich im ersten Moment reflexartig zu einem Ausdruck tiefen Widerwillens. Dieses Gefühl richtete sich jedoch nicht gegen Linhard, sondern gegen die Vertraulichkeit, die mit seiner Nähe einherging. Der Tod schwebte wie ein Fallbeil stets über ihnen allen. Auch Dunwin war von seinen eigenen Söhnen gerichtet worden.
Gleichzeitig glich die Suche nach Nähe einer Bitte, auf ihn achtzugeben, die ihn tief im Innersten berührte. Brandur war als Vater stets woanders beschäftigt gewesen, hatte andere ihm von der Entwicklung seiner Kinder berichten lassen, anstatt sich selbst davon zu überzeugen, wie es ihnen ging. Kindermädchen, Erzieher, Lehrer ... Ihr eigener Vater war ebenfalls irgendwo da gewesen und doch war er es nicht. Wäre er damals unerwartet verstorben, hätte der Umstand seinen Kindern wohl kaum mehr als ein Schulterzucken abgerungen, da sich nichts in ihrem Leben geändert hätte. Er hatte nie zu einem Monster werden wollen, wie Alastair es gewesen war und so hatte er Abstand gewahrt. Seine gelegentlich aufbrandende Wut hatte stattdessen die Dienerschaft zu spüren bekommen und seine Kinder meistens nur eine Maske aus Eis. War das besser? Er wusste es nicht.
"Du brauchst diese sogenannte Gabe nicht, Linhard. Sie macht einen nicht besser oder schlechter. Sie eröffnet andere Möglichkeiten, gewiss, doch man kann auch ohne sie zurechtkommen Nicht wahr, Dunwin?
Was die Rakshaner angeht, so war ihr Verhalten sehr unterschiedlich, von verblüffend freundlich bis hin zu blindem Hass auf mich als Naridier war das ganze Spektrum vertreten und ein kleinerer Trupp hat mich tatsächlich in der Nachtburg belagert, bis es ihnen zu langweilig wurde. Geld verdient man an ihnen kaum, da sie selten welches besitzen, aber sie organisieren einem die nützlichsten Dinge, um sie gegen das Gewünschte zu tauschen.
Naridien als Nation hat mich nie interessiert. Ich habe daher wenig Bedenken, dem Chaos oder anderen Fraktionen meine Dienste anzubieten."
Es war, wie Duwnin sagte - nun hatte er die Chance, es anders zu machen. Und genau das hatte Brandur vor. Ganz gleich, ob Linhard darum bat, dass er auf ihn achtgab, er würde es tun. Er hatte nur noch diesen einen Versuch, er war zu alt, es würde keine leiblichen Kinder von ihm mehr geben. Der alte Mann spürte, wie etwas in ihm erwachte, dass er in den wenigen Momenten gespürt hatte, da er seine neu geborenen Kinder im Arm hielt, um sie zu betrachten, ehe er sie beim Aufkommen dieses Gefühls rasch der Amme in den Arm gedrückt hatte und in seine Arbeit geflüchtet war, um seine Gedanken und Gefühle wieder in vertraute Bahnen zu lenken.
Jetzt konnte er nicht flüchten.
Er versuchte, mit rationalen Argumenten dagegenzuhalten. Linhard war nicht sein Sohn und er selbst nicht sein Vater. Er war nur sein Großonkel zweiten Grades, irgendein entfernter Verwandter, die Ähnlichkeit Linhards zu Gerwolf nur ein Zufall, dem Umstand geschuldet, dass sie sich wegen der generationenlangen Inzucht sowieso alle extrem ähnlich sahen. Genau so gut könnte Anwolf oder Ansgar hinter ihm sitzen oder sonst irgendein x-beliebiger Verwandter. Doch trotz aller Vernunft war da eine Ecke in seinem Hirn, die sich weigerte, diesen Umstand anzuerkennen und die Gefühle enstsprechend anzupassen. Vielleicht sollte er Linhard scharf zurechtweisen, es zu unterlassen, sich an seinen Großonkel anzulehnen, damit das aufhörte. Brandur war mit sich selbst überfordert. Er blieb entgegen aller Vernunft aufrecht sitzen und sagte nichts, außer:
"Wir sind gleich da, Linhard."
Er sprach die Lüge in der ihm eigenen reservierten Art und Weise aus und sein Gesicht war so ausdruckslos wie zuvor. Der Flug würde noch mehrere Stunden dauern. Auch ihm selbst schmerzte alles, was nur irgendwie schmerzen konnte von dem unbequemen Sitz auf Dunwins knochigem Rücken. Aber er war Schmerzen gewohnt und konnte sie gut ignorieren.
"Versuche, bis dahin ein wenig zu schlafen."