Gezeichnet [Ciel & Alexandre]

  • Gezeichnet
    Eine Erinnerung an Ciels Jugend.


    Der nackte Mann schlief. Die Spitze der Tuschefeder glitt leise kratzend seine Schenkel entlang, verliehen ihnen Plastizität. Lange Beine mit stabilen Knochen, ihr Fleisch weich, kaum Muskeln. Ein Streicheln um seine Konturen, ehe der Rhythmus sich änderte. Die Spitze tippte nun flink und leicht, ein Schneefall zarter, gekrümmter Striche, die sich zur Mittellinie des Körpers hin verdichteten. Er war nicht rasiert, obwohl er von Stand war. Man pflegte nicht gern, was man nicht liebte - Alexandre verabscheute, was aus ihm gemacht worden war. Nicht so sein Schüler.
    Ciel hob den Blick über den Skizzenblock, hinauf zu seinem Schlafgemach. Dort lag sein Modell mit geschlossenen Augen, ein Bein aufgestellt. Moosgrüner Stoff formte seine Liegestatt, weinrote Kissen, geschickt arrangiert, bildeten Farbtupfer. Alexandres Bauch hob und senkte sich ruhig. Friedlich wirkte der sonst so launische Marquis. Die Narben verliehen ihm etwas Edles, er hatte etwas von einem Märtyrer, der den Weg des Schmerzes gegangen war, um als neuer, vollkommener Mensch zu den Sterblichen rückzukehren. Niemand war in Ciels Augen so vollkommen wie der Gezeichnete in seinem Gemach. Gezeichnet von Pein, gezeichnet von Tusche. Die Kunst der Schmerzen und die Kunst des Zeichners, für beides hatte Alexandre Modell gestanden. Beides mal unfreiwillig, Kunstwerk wider willen, nicht geneigt, die Anbetungswürdigkeit seiner Person zuzulassen. Verehrung genießend, gewiss, doch niemandem zeigte er, was ihn wirklich zu einem besseren, reineren Menschen machte. Keiner wusste um den wahren Wert der überstandenen Pein, die er vor den Blicken unter weiten Roben verbarg.
    Ciel betrachtete wieder sein Werk, die Tuschefeder verharrte in der Luft. Sein Blick folgte den schwarzen Strichen. Die Tiefen seiner Hautfalten mussten noch stärker abgedunkelt werden, doch er würde es bei diesem Stadium belassen. Nicht jede Zeichnung musste ein Meisterwerk werden und er konnte sein Modell nicht ewig schlafen lassen. So war es in Ordnung. Er stellte die Feder in das Wasserglas und verschloss das Tuschefässchen. Sorgfältig reinigte er hernach die Hände, bevor er sich dem Hochverehrten widmete.
    Auf leisen Sohlen, um den Schlafenden nicht in seiner Ruhe zu stören, trat Ciel an das Kopfende heran. Alexandre war in höchsten Ehren gebettet worden, in das Schlafgemach des Prince, wo er auf Samt und Seide ruhte, dezent parfumiert, ein Duft von Zeder, Limette und rakshanischer Minze. Ein vielschichtiger Duft, passend zu seinem Träger und durch die Zitrusnote angenehm frisch. Ciels eigener Leibdiener hatte dafür gesorgt, dass es dem Gast seines Herrn an nichts mangelte. Ciels Fingerspitzen strichen über Alexandres kurzes, dunkelblondes Haar und hinab zum ovalen Gesicht. Im Kinn ein leichtes Grübchen, dem sein Daumen folgte. Er kannte jedes Detail.
    Einen Moment legte er die Lippen auf seinen Mund, um anschließend erneut in der Betrachtung zu versinken. Er wünschte, dass Alexandres Augen sich öffnen würden und die Lippen sich zu einem Lächeln auseinander zogen. Doch die Dosis war ausreichend hoch, das zu vereiteln. Wäre sie es nicht, würde der Bluthexer nicht mit einem Lächeln erwachen, sondern mit tiefer Bestürzung, gefolgt von Wut für diese unerhörte Bloßstellung. Als Kompliment würde er es nicht werten. Niemand wachte gern unbekleidet in solch einer Pose auf, wenn er sich nicht daran erinnerte, wie er in diesem Raum gelangt war. Noch weniger jemand, dessen Körper derart gezeichnet war, dass er niemanden in liebender Zweisamkeit in die Arme schließen wollte und sogar die Dienste eines eigenen Leibdieners verweigerte. Alexandre war blind für die eigene Herrlichkeit. Nackt sollte er gehen alle Tage, damit die Menschen in Ehrfurcht auf die Knie sanken, das Haupt geneigt vor so viel Leid und so viel Schönheit.
    Ciels Finger strichen Alexandres weiche Brust hinab mit dem dunkelblonden Flaum, der wegen der Narben lückenhaft wuchs. Wo man Brustwarzen erwartete, zeigten sich kraterförmige Vertiefungen. Seine Finger folgten der Mittellinie seines Bauches, umspielten den intakten Nabel und fuhren kurz hinein, ehe sie noch tiefer glitten. Dann, am flaumbedeckten Hügel angelangt, zur Seite. Beide Hände griffen um die Hüften. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie es wäre. Dann löste er den Griff wieder und strich die Beine hinab. Warm und weich. Alexandres Schenkel zuckten und mit ihnen der Stumpf, der von seiner Männlichkeit geblieben war. Das Schamhaar verdeckte die Narbe der fehlenden Hoden. Ganz flach war er da. Unreine Gedanken würden niemals in schändliche Taten münden. Alexandre blieb rein.
    Ciels Finger fühlten, wo die Narbe entlang verlief, mit aller Liebe und Hingabe, die er für diesen Mann empfand. Wäre er nur wach. Denn Ciel war leider weit entfernt von der Vollkommenheit, die Alexandre sein Eigen nannte. All Ciels höfische Gebaren, die vornehme Sprache, die distanzierte Höflichkeit und dann abends, allein im Bett, wurde er übermannt von der gleichen Primitivität und Barbarei wie der Niederste aller Niederen. Sogar seinen treuen Leibdiener hatte er benutzt wie ein lebendes Kuschelkissen und Nathan hatte es klaglos ertragen. Ciel fühlte sich schmutzig, unwert, voller Scham für die Wünsche, die er hegte. Sollte nicht der Wille die Herrschaft über das Fleisch innehaben? Andersherum mündete es in den Abgrund, den er an der Nordgrenze erlebt hatte, als Menschen zu Tieren geworden waren. Was Ciel begehrte, war nichts weniger als die Absolute Kontrolle über jeden Winkel seiner Gedankenwelt. Wäre er wie Alexandre, dann wäre es anders. Doch leider war der Wunsch, den Geliebten zu berühren, in der vollen Blüte seiner Manneskraft stehend übermächtig.
    Alexandre stöhnte leise im Schlaf, als Ciel auch den letzten Bereich seines Körpers erkundete, den er noch nie mit den Fingern berührt hatte. Ihn zu entweihen, wagte Ciel nicht, aber ihn ganz und gar zu erforschen, außen wie innen, dem Wunsch konnte er sich nicht entziehen. Er tat es, bis der Atem des Marquis stoßweise ging und dann zogen Alexandres Bauchmuskeln sich plötzlich zusammen, gleichzeitig auch der Muskel, der Ciels Finger umschloss. Ein schweres Aufstöhnen und transparente Flüssigkeit tröpfelte auf seinen Bauch, mehrmals, bis Alexandre seufzend ausatmete und dann wieder dalag wie zuvor. Mit rotem Kopf sah der Prince von seinem edlen Unterleib auf. Hatte er das etwa verursacht? Ein Nachzucken, Alexandres Augen öffneten sich. Er sah seinen Bauch hinab und sein Blick stoppte an Ciel, der dort vor lauter Scham errötet zwischen seinen Schenkeln hervorschaute. Das Gesicht des Marquis zeigte Verwirrung.
    »Guten Abend«, sagte Ciel in Ermangelung einer sinnvollen Äußerung.
    Alexandre ließ den Kopf wieder sinken. Resignation oder Entspannung, das war nicht zu sagen. Einen Moment blickte er noch an die Decke, wo gemalter Efeu rankte, dann schlossen sich seine Lider. Ciel wusch schuldbewusst Alexandres Schamhaar und zog ihn hernach mühsam wieder an. Der Mann war groß und wog fast neunzig Kilo, doch schlussendlich war es geschafft. In seiner weichen Freizeitrobe konnte er bequem ruhen. Wenn Ciel Glück hatte, würde er sich nicht an das Erwachen erinnern. Hatte er Pech, erwartete ihn entweder eine niederschmetternde Predigt oder, noch schlimmer, eiskalte Ignoranz. Beides kannte er vom Marquis zur Genüge. Das Lächeln, was er sich von ihm wünschte, würde er in diesem Leben wohl nicht zu sehen bekommen. Nur auf dem Papier zeigte Alexandre das freundliche Antlitz und ein Lächeln, als wäre er gänzlich im Reinen mit sich und seiner transformierten Natur. Ciel legte sich neben ihn. Lange betrachtete er Alexandres schlafendes Gesicht im Schein der Abendsonne, ehe auch ihm die Augen zufielen.