Kapitel 2 - Begegnung in der Grube

  • Prolog Aisoru Shikori: Aisorus Aufbruch in die Welt [Einführung]

    Prolog Kakko Korikara: Der Eiskuckuck - Das Tagebuch des Kakko Korikara

    Begegnung in der Grube

    Das Paket lag weich und noch warm in Kakkos Händen. Das gewachste Tuch, in das der Inhalt eingeschlagen war, verhinderte, dass es tropfte. Exakt 1,5 kg, schlachtfrisch. Vor weniger als einer Stunde hatte der Inhalt noch gelebt. Aber wo blieb der Adressat? Kakko schlenderte über das feuchte Hafenpflaster, während er sich umschaute. Der Hafen war eine der wenigen Regionen von Obenza, wo man die Sonne sah. Sobald man die schmalen Gassenlabyrinthe betrat, verschwand man im ewigen Schatten. Kakko kam selten heraus und genoss nun das Licht der schwachen Sonne. Die zahllosen Bettler, die an den turmhohen Hauswänden lungerten, ließen ihn in Ruhe, da man ihm ansah, dass es bei ihm nichts zu holen gab. Gestern hatte es stark geregnet, so dass der Fäkaliengeruch sich in Grenzen hielt. Am Hafen stank es zwar nach Tang und Fisch, dennoch war die Luft hier draußen eine Wohltat verglichen mit der Grube. Er trat unter eine Laterne, damit ihn niemand von hinten schubsen konnte und ließ den Blick über das Hafengelände schweifen. Wo blieb der Kerl nur? Kakko sollte nicht mehr Zeit als nötig mit seinem Paket hier draußen verweilen. Er schob es unter den Pullover auf seinen Bauch, damit es warm blieb und hielt von außen die Hände darauf gedrückt.


    Wer den 24-jährigen sah, würde wenig Interessantes an ihm sehen, er war ein Grubenkriecher unter zehntausend. Einen halben Kopf kleiner als der Durchschnitt, schlank, verschlissene Kleidung, die er in drei Lagen trug, damit die großen Löcher weitestegehend von einer anderen Stofflage überdeckt wurden und der Winter ihn nicht hinwegraffte. Frost gab es nur selten in Obenza, doch auch 10 Grad genügten, einen hungrigen und geschwächten Menschen umzubringen, wenn er auf der Straße einschlief. Eine Wollmütze verdeckte sein fingerlanges schwarzes Haar, das er nur sporadisch mit einem Messer stutzte, da er keine Schere besaß. Darüber trug er die Kapuze des Pullovers, den er unter der sackförmigen Wolljacke trug. Ein Schal schützte Mund und Nase vor der Kälte und vor allzu neugierigen Blicken, so dass man nur seine schmalen, schwarzen Augen sah über denen sich grimmige Brauen wölbten wie Felsvorsprünge. Schuhe hatte er keine, er lief in feuchten Fußlappen.


    Sein Blick fiel auf einen Landsmann, der offenbar gerade frisch aus Arashima eingetroffen war, seiner Kleidung nach zu urteilen. Er wirkte verloren, so wie er sich auf dem Hafengelände umschaute. Vielleicht wartete er ebenfalls auf jemanden oder suchte etwas. Auf jeden Fall war er fremd. Wohlhabend sah er aus, wenn man ihn aus den Augen eines Grubenkriechers betrachtete. Wenn Kakko ihm einen Gefallen erwies, ließ er vielleicht etwas springen. So löste er sich von der Laterne und ging zu ihm.


    "Tag", schnarrte er. Seine Stimme klang heiser und ungesund. "Suchst du was, oder was schaust du so?"

  • Aisoru schrak leicht zusammen, als er so unerwartet angesprochen wurde, aber das kam ihm eigentlich gerade recht - so blieb es ihm erspart, seinerseits den ersten Schritt zu tun. Er schlug die Kapuze zurück und grüßte den Fremden mit einer angedeuteten kleinen Verbeugung.

    Eindeutig ein Landsmann, wie man an den Gesichtszügen erkennen konnte, aber er sah seltsam aus - irgendwie ... Aisoru suchte gedanklich nach den richtigen Worten ... verkrümmt, schief. Das Alter völlig unbestimmbar. Außerdem mit einem unguten, muffigen Geruch, als hätte er jahrelang in einem feuchten Kellerloch gelebt. Aber so seltsam der Fremde auch wirkte, es gab überhaupt keinem Grund, ihm nicht zu trauen.

    "Ich suche in der Tat etwas", sagte Aisoru, während er sich bemühte, seine Stimme nicht zu zittrig klingen zu lassen. "Und zwar Medizin, seltene, um genau zu sein." Genauer werden wollte er noch nicht. Besser, er vermied das Thema mit seinem Vater, so weit es ging. "Man hat mir gesagt, hier in der Stadt gäbe es alles ... ist das wahr? Und ... eine Bleibe für die Nacht wäre auch nicht schlecht ... ein Gasthof oder etwas in der Art ... wenn es nicht zu viele Umstände macht."

    Sein Gestammel war ihm unangenehm, aber er war es einfach nicht gewöhnt, mit Fremden zu sprechen.

  • "Medizin."


    Kakko sagte das so bedeutungsvoll, als hätte er den Namen des Ältesten ausgesprochen. Er nickte langsam, während er den anderen Arashi und vor allem dessen hochwertige Kleidung musterte.


    "Da kann ich dir weiterhelfen. Zufällig verfüge ich über die entsprechenden Kontakte. Für eine kleine Vermittlungsgebühr nenne ich dir eine Adresse und das Losungswort, für eine große führe ich dich hin und sorge persönlich dafür, dass alles klar geht. Auch eine Bleibe ist in Obenza nicht schwer zu finden mit dem nötigen Kleingeld. Was darf es denn sein? Hier gibt es alles, wortwörtlich alles, wenn man nur weiß, wo und wenn die Finanzen stimmen. Also? Wonach sehnt sich dein Herz?"


    Niemand von Rang und Namen begab sich ohne ein finsteres und geheimes Gelüst hinab in die Grube. Das Päckchen wog unter der Wolljacke schwer in seinen Händen. Kakkos Blick wurde noch durchdringender, so als hätte er vor, dem Landsmann durch die Augen geradewegs ins Hirn zu schauen.

  • Aisoru hatte keine Ahnung, was der Fremde unter einer "kleinen" oder "großen" Vermittlungsgebühr verstand, aber er gab ihm einfach einige Münzen aus seinem Geldbeutel, in der Hoffnung, dass das für eine Führung reichte. Denn das war genau das, was er brauchte. Schnell ans Ziel kommen und dafür auch schnell wieder raus aus der Stadt. Eine bloße Adresse würde er alleine niemals finden, das wusste er jetzt schon, wenn er in die finsteren Schluchten hineinblickte. Teilweise war es da so dunkel, dass man weder Abzweigungen noch das Ende der Straßen erkennen konnte. Perfekt, um sich hoffnungslos zu verlaufen. Außerdem fragte er sich, wozu man für Medizin ein Losungswort brauchte - von so etwas hatte er noch nie gehört, aber das musste nichts heißen, es gab schließlich vieles, das er nicht wusste, deshalb erschien ihm das Ganze auch nicht verdächtig, und das, was er suchte, war nun einmal sehr selten.

    Dann war da natürlich noch die Frage nach einer Bleibe, und er erklärte, was er sich vorstellte:

    "Ein schöner, sauberer Gasthof wäre mir recht. Es muss nichts Luxuriöses sein, aber etwas, wo man in Ruhe schlafen kann und gutes Essen bekommt. Geld ist nicht das Problem."

    Das Starren seines Gegenübers wurde ihm langsam etwas unangenehm. Am liebsten hätte er gefragt, ob irgendetwas nicht in Ordnung war. Hielt der Fremde ihn womöglich für einen Betrüger oder Dieb? Aisoru hob reflexhaft die Hände, um zu zeigen, dass er nichts im Schilde führte. "Keine Bange", sagte er, "ich will dich wirklich nicht unnötig lange aufhalten. Sobald ich habe, was ich suche, gehe ich zurück nach Hause."

  • Kakko ließ die Münzen einige Momente auf der Handfläche liegen, um sie zu zählen. Seine Finger schlossen sich um den kleinen Schatz. Zufrieden öffnete er mit der gleichen Hand den Hakenverschluss seiner Wolljacke, um die Münzen in der Innentasche zu verstauen, während die andere Hand immer noch das Paket auf seinen Bauch presste.


    "Ein Gasthof ist nicht das Problem, ein sauberer schon." Kakko dachte nach. Dann nickte er. "Ich denke, ich kann etwas für dich tun. Kümmern wir uns zunächst um deine Medikamente. Folge mir."


    Er brachte seine Kleidung in Ordnung und wandte sich um. In dem Moment prallte er gegen eine breite Brust. Reflexartig presste Kakko die Hand noch fester auf das Fleisch. Ein Jäger, der die Beute verlor, war eine Schande. Es gab kaum eine größere Schmach für ihn und damit auch für seinen Mentor. Er blickte auf. Die Brust gehörte zu einem älteren, aber sehr trainierten und gut im Futter stehenden Mann, der die Kleidung eines naridischen Soldaten trug, nur ohne die Rüstung darüber.


    "Wolltest du es dir gerade heimlich schmecken lassen?", knurrte der Kerl mit Blick auf das Paket, das er offenbar wittern konnte. Was sein Fleisch anging, war dieser Mann noch kompromissloser als die meisten anderen.


    Rasch schüttelte Kakko den Kopf. "Nein, Skolopender. Ich wollte nur jemandem den Weg zeigen."

    Kakko hatte den Mann bei seinem Jägernamen genannt, um den anderen Arashi zu warnen. Da er ein Landsmann war, genoss er Bonus. Er sollte nun Fersengeld geben.


    Die Brauen des Skolopenders verzogen sich daraufhin. Das Manöver war zu offensichtlich gewesen. Er packte Kakko an der Jacke, riss ihn mühelos an sich heran und schüttelte ihn kräftig durch. Das Paket rutschte unter Kakkos Jacke heraus und schlug mit schwerem Klatschen auf den Boden.


    "Vielleicht sollte ich mich künftig mehr beeilen, wenn ich Ware von Aaasfressern geliefert bekomme! Pass nur auf, dass du nicht mal an den Falschen gerätst, sonst werden es deine Knochen sein, mit denen man sich die Fasern aus den Zähnen pult." Dann lachte er jovial, als ob das Ganze nur Spaß wäre, während er ihn fast mit der Jacke erwürgte. "Du kleine Naschkatze! Hast du deinen Freund als Wiedergutmachung ... zum Essen eingeladen?"

  • Was für ein ungehobelter Klotz! Aisoru war zunächst fürchterlich erschrocken, als der Riesenkerl seinen neuen Kameraden angegriffen hatte. Nachdem er sich die Situation einen Moment lang angesehen hatte, war ihm allerdings klar, dass er etwas unternehmen musste. Das Monstrum, das wirres Zeug redete und anscheinend Skolopender hieß (was für ein seltsamer Name), würde nicht so einfach wieder verschwinden und besaß eine - selbst für jemanden wahrnehmbar, der so naiv war wie Aisoru - massive Aura von Aggressivität. Reflexhaft hatte Aisoru seine rechte Hand am Griff seines Katanas. Er zitterte leicht, schluckte seine Angst aber hinunter. Er hatte mit seinem Vater viele Jahre lang den Kampf trainiert, und sein Vater war immerhin sehr talentiert darin, während dieser Skolopender einfach nur plump aussah, wie jemand, der gegebenenfalls über seine eigenen Füße stolperte. Genau das hielt er sich vor Augen, während er die Klinge (mit leicht zittriger Hand) auf den Kerl richtete.

    "Was soll denn das?", brachte Aisoru heraus. Seine Stimme klang vor Nervosität heiser und dadurch gefährlicher als geplant. "Lass das, er hat dir nichts getan. Wenn du Ärger suchst, miss dich lieber mit jemandem, der dir gewachsen ist. Aber sei gewarnt, ich beherrsche mehr als nur eine Art von Kampf."

    Nachdem ihm diese Worte herausgerutscht waren, wollte Aisuro am liebsten im Boden versinken.

    Das Monstrum ließ aber immerhin von dem anderen Arashi (dessen Name Aisoru immer noch nicht kannte) ab und wandte sich zu Aisoru um. Bösartig grinsend und dazu noch riesengroß, in den Augen so etwas wie kaum verhohlene Vorfreude, geradezu Gier.

    Hätte ich bloß nichts gesagt, schoss es Aisoru durch den Kopf. Aber er konnte in so einer Situation doch nicht einfach stillschweigend danebenstehen, das war gegen jede Ehre!

    "Du willst dich also mit mir anlegen, was?", brummte Skolopender. Die auf ihn gerichtete Klinge schien ihn überhaupt nicht zu interessieren. "Ist dir klar, worauf du dich da einlässt? Ich geb dir einen guten Rat, du kleiner Wicht: halt dich aus Sachen raus, die dich nichts angehen."

  • Kakko war rasch zurückgewichen, als der andere Arashi seine Waffe zog. Nicht irgendeine, es war ein Schwert, das aus seiner Sicht ausgesprochen hochwertig wirkte! Sein Meister schätzte hochwertige Waffen, so dass Kakko einen guten Blick dafür hatte. Der Mann war offenbar nicht nur ein Krieger, sondern offenbar tatsächlich so reich, wie er es anhand seiner Kleidung vermutet hatte. Und dann kam er in die Grube, weil er nach einem Gasthof suchte?! Entweder der arme Mann war nicht bei Trost, oder er spielte seine Rolle des naiven Fremdländers sehr überzeugend. Nun, wie gut er war, das würde sich gleich zeigen. Gespannt wartete Kakko, wie sich der Kampf entwickeln würde. Der Arashi war bewaffnet, aber Skolopender war mit allen Wassern gewaschen und kannte alle schmutzigen Tricks.


    Skolopender hob langsam die Hände auf Brusthöhe. Zwischen ihnen lag das Fleischpaket. Seine Augen waren unverwandt auf den Arashi gerichtet.


    "Weißt du, ich mag euch Schlitzaugen", verkündete er in freundlichem Ton, ohne die Hände zu senken. "Den kleinen Kakko da genau wie dich. Nur leider wisst ihr nie, wann ein Kampf verloren ist. Ihr kämpft bis zum Untergang. Und wenn ihr doch einmal erkennt, dass ihr verloren seid, dann bringt ihr euch um, anstatt vor dem Sieger um Gnade zu winseln, wie es jeder mit Verstand tun würde. Woher rührt diese selbstzerstörerische Neigung? Hängt das mit eurem Segira-Kram zusammen?"


    Langsam ging er mit erhobenen Händen um den Mann herum.


    Skolopender hatte seinen wahren Namen offenbart, aber das kümmerte Kakko wenig. Der Fremde war nicht der Einzige, der ihn nun kannte. Was das anging, war er etwas nachlässig. Kakko spitzte die Ohren. Auf die Antwort des Fremden war er gespannt. Sie würde ihm vielleicht etwas mehr über das Land seiner Vorfahren verraten und über seine Eltern.

  • Aisoru ließ seine Augen keine Sekunde lang von Skolopender. Er musste vorsichtig sein, das spürte er. Ein Wort zu viel und er würde den Riesenkerl verletzen müssen - ein Gedanke, den er lieber beiseite schob. Warum konnte Skolopender nicht einfach Ruhe geben und verschwinden, was wollte er denn noch?

    Was das Monstrum da über seinen Glauben gesagt hatte, war noch keine Beleidigung gewesen, und Aisoru wollte sich nicht unnötig provozieren lassen. Er war ohnehin nicht sonderlich religiös, jedenfalls nicht auf einem fanatischen Niveau.

    "Ich will nicht mit dir kämpfen, solange du mir die Wahl lässt", sagte er deshalb leise, ohne auf irgendeine Frage einzugehen. "Geh einfach, lass uns in Ruhe."

    Offenbar, dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war das nicht ganz das, was Skolopender erwartet hatte, aber er behielt seine amüsierte Überlegenheit bei. "Ich gehe, wann es mir passt und nicht, wenn du es mir befiehlst", knurrte er. "Was glaubst du eigentlich, wo du hier bist? Hast du dich mal gefragt, was in dem Päckchen da ist?" Er zeigte auf Kakkos Paket, das auf dem Boden lag.

    Ach ja, das Päckchen. Aisoru hätte es gerne aufgehoben und Kakko zurückgegeben, aber sich jetzt danach zu bücken, wäre äußerst dumm gewesen, so viel begriff er. "Das geht mich wohl kaum etwas an", erwiderte er.

    Skolopender lachte laut auf. "Bist du wirklich so ein Vollidiot oder tust du nur so?"

    "Das reicht jetzt!", zischte Aisoru, dem das Ganze zu dumm wurde. Er trat mit erhobener Waffe nahe an Skolopender heran und näherte sich mit der Klinge gefährlich dessen Hals, aber statt ihn zu verletzen, beförderte er ihn mit einem gezielten Tritt zu Boden. Der Riese knickte einfach ein, als wäre er aus Papier. Funktioniert hatte diese spontane Aktion, wie Aisoru sich eingestehen musste, vermutlich nur, weil Skolopender die ganze Zeit auf die Klinge konzentriert gewesen war und überhaupt nicht in Erwägung gezogen hatte, dass ein Angriff auch von anderswo kommen konnte. Und getan hatte Aisoru das auch weniger aus strategischen Gründen, sondern vielmehr aus blanker Angst vor blutigen Verletzungen an seinem Gegner.

    Was würde Skolopender von ihm halten, wenn er das wüsste? Aber letztendlich war es egal, es hatte funktioniert und verschaffte ihnen einen Augenblick, in dem sie das Weite suchen konnten. Aisoru packte das kleine Paket und warf es zu Kakko hinüber.

  • Kakko fing das Paket. Sein Blick war einen Moment lang scheu, doch als er sah, wie Skolopender sich fluchend versuchte, aufzurappeln, verwandelte sein Gesicht sich in eine gehässige Fratze. Er verpasste dem verletzten Mann einen Tritt gegen die Schulter.


    "Aasfresser, was? Dann werde ich mal tun, was Aasfresser so treiben!" Trimphierend warf er das Paket in die Luft und fing es einhändig wieder.


    "Ich habe dafür bezahlt", keuchte der Soldat und in seinem Gesicht spiegelten sich gleichermaßen Wut und ein Anflug von Panik.


    "Solchen Hunger?", fragte Kakko in gespieltem Mitleid. "Du warst recht unfreundlich dafür, dass du nun nach deinem Fleisch winselst wie ein Straßenköter nach einem Stück schimmligen Fladenbrot. Wo du meinen Namen schon so gut hörbar herumposaunt hast, wie wäre es, wenn ich deinen nenne? Wenn ich meinem neuen Freund sage, wer und vor allem WAS du bist?"


    Der Mann hob beschwichtigend die Hände. "Kuckuck ... bitte! Mach es mir nicht noch schwerer."


    Kakko drohte ihm mit der freien Hand. "Hüte dich ... Skolopender. Kraft ist nicht alles und Freunde habe ich auch. Das hier", er klopfte auf das Paket, "nehme ich als Pfand an mich. Möge der Hunger dich daran erinnern, dass du nur einer von vielen bist. An die Gesetze musst auch du dich halten, ganz gleich, wie lange man dich hier schon kennt. Gehab dich wohl!"


    Skolopender biss sich auf die Lippen vor unterdrückter Wut. Er humpelte einbeinig zur nächsten Hauswand, wo er sich abstützte und nach etwas umschaute, was ihm als Gehhilfe taugen könnte. Der Tritt musste ordentlich gesessen haben, hoffentlich war seine Kniescheibe zertrümmert, dann war er den Rest seines Daseins lahm.


    Kakko griff an den Ärmel des anderen Arashi. "Besser, wir verschwinden nun hier", raunte er. "Ich bring dich zur Apotheke. Was brauchstt du? Hafari? Dhanga? Bitumena - oder Gletschersturm?"


    Er führte ihn im Laufschritt außer Sichtweite von Skolopender.

  • Aisoru war es noch immer ein Rätsel, wovon Skolopender sprach. Er und Kakko kannten sich, so viel war klar, und Kakko schien von dem großen Kerl in irgendeiner Weise unter Druck gesetzt zu werden, wegen einer seltenen Spezialität, die in diesem Paket steckte, aber davon abgesehen...? Jedenfalls schien es etwas Privates zu sein und Aisoru würde nicht unnötig nachhaken.

    Mittlerweile fühlte er sich doch ziemlich beschämt darüber, was er getan hatte. Der Angriff gegen Skolopender war alles andere als ehrenhaft gewesen und hatte möglicherweise sogar bleibende Schäden verursacht, was nun wirklich nicht seine Absicht gewesen war. Aber er hatte seinem Landsmann schließlich helfen müssen, wodurch das Ganze hoffentlich wieder aufgewogen wurde.

    Während er sich von Kakko aus der Gefahrenzone und in die Stadt hineinführen ließ, fragte er sich, was für eigenartige Medikamente das waren, deren fremdartige Namen ihm der neue Kamerad da nannte. Von keinem davon hatte er je etwas gehört. Diese Stadt war wirklich so voll mit exotischen, besonderen Dingen, wie die Piratenkerle angedeutet hatten.

    "Nein, ich suche etwas ganz anderes", rückte er schließlich mit der Wahrheit heraus. "Eishai-Hornmehl. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, was es genau ist. Es muss sehr selten sein, wahrscheinlich noch seltener als alles, was du mir eben aufgezählt hast. Oder kann irgendetwas davon womöglich auch Schwarzes Fieber heilen?"

    Dann nannte er auch endlich seinen Namen, was schließlich nur angemessen war, nachdem Skolopender Kakkos Namen bereits herausposaunt hatte.

  • "Eishai-Hornmehl? Nie gehört! Für solche exotischen Wünsche muss ich dich zu meiner Spezialapotheke bringen. Wir nennen ihn auch den Medizinmann. Scheint ein Rakshaner zu sein, zumindest ist er braun. Preiswert wird das nicht, aber du siehst nicht aus, als müsstest du um jeden Kupferling feilschen. Woher hast du die ganze Kohle überhaupt? In welche Geschäfte bist du verwickelt? Vielleicht kann man sich gegenseitig unterstützen."


    Kakko führte seinen neuen Bekannten in eine feuchte Gasse. Wie in allen Gassen der Grube herrschte hier unten ewiger Schatten, man sah den Himmel nicht, wenn man nach oben schaute, sondern nur Hauswände, Treppen, Brücken, Balkone, Regenrinnen und ein Spinnennetz von Wäscheleinen, die mit Lumpen behängt waren. Bettler, Krüppel und Aussätzige drängten sich hier. Viele streckten die Hände nach Aisoru aus, aber niemand machte Anstalten, ihn zu überfallen. Kakko kannte die Wege hier und wusste, welche man zu welcher Uhrzeit mehr oder weniger gefahrlos benutzen konnte. Ein Restrisiko blieb freilich. Er trat schließlich in einen unscheinbaren Hauseingang.


    "Nummer 11. Merke dir die Tür, sie ist nie verschlossen. Hier kommt man eine Ebene höher, ohne die Eisenleitern benutzen zu müssen. An ihren Wächtern kommt man nur mit einem sogenannten Pass vorbei, den ihr Anführer sich gut bezahlen lässt, oder mit einer dicken Stange Geld. Oder wenn man genug bewaffnete Freunde dabei hat."


    Gleich hinter der dunkel angelaufenen Holztür lag ein Toter, doch Kakko schenkte ihm keine Beachtung. Er ging an ihm vorbei und folgte der feuchten Steintreppe nach oben. Auf dem ersten Absatz lungerte eine Gruppe bewaffneter Männer. Nach einem kurzen Gespräch ließen sie die beiden passieren, doch das würde nicht ewig so gehen. Die Treppe endete bei einer Tür, die hinauf auf die Straße der nächsten Ebene führte. Auch hier stand eine 11.


    "Ebene eins", verkündete Kakko. "Wir müssen hoch zur Zwei." Der Weg erweckte den Eindruck, man würde über die Außenkante eines Flachdachs gehen. Ein Geländer gab es nicht. Fünf Meter weiter unten sahen sie die feuchten Gassen, durch die sie soeben noch gegangen waren. "In Obenza fällt man tief, ein altes Sprichwort", plauderte Kakko, dem die Höhe nichts ausmachte, während er voranschritt, das Paket noch immer in der Hand. "Diese Stadt hat noch jeden zerstört, der sie voll Hoffnung betrat. Wenn du meinen Rat hören willst, verschwinde so schnell wie möglich wieder von hier, es sei denn, das, warum du hier bist - ich meine nicht das Eishai-Hornmehl, sondern den wahren Grund - gibt es nicht woanders."

  • "Geschäfte?", fragte Aisoru verwirrt und schüttelte den Kopf. "Nein, keine Geschäfte. Das ist alles Erspartes, und ich muss vorsichtig damit umgehen. Ich hoffe, dieser Medizinmann hat, was ich suche."

    Die Gegend war genau so düster, wie sie von außen ausgesehen hatte. Oder eher noch düsterer. Den Geruch dagegen bemerkte Aisoru mittlerweile kaum noch - der Hafen hatte ihn darauf vorbereitet. Wäre er einfach sofort vom Schiff aus hier hineinmarschiert, hätte ihn die Luft vermutlich wie ein Brett von vorne erschlagen.

    Alles war voller Bettler, von denen Aisoru sich fragte, wie sie in eine solche Situation hatten geraten können. Derartige Armut kannte er nicht, und sie taten ihm leid. Sollte er ihnen etwas geben? Im Moment war das noch nicht möglich, weil er nicht wusste, wie viel Geld er in der Apotheke brauchen würde, aber später, wenn alles klarer war, würde er ihnen ein paar Münzen überlassen, denn es war kaum zu ertragen, an diesen armen Gestalten einfach so vorbeizulaufen.

    Dann sah er den Toten, der da einfach so herumlag, dem Aussehen nach vermutlich schon seit mehreren Tagen. Erschrocken blieb Aisoru stehen. "He -", entfuhr es ihm, aber Kakko hörte es anscheinend gar nicht und lief einfach an der Leiche vorbei, als wäre sie nichts weiter als ein Haufen Müll. Vielleicht hatte er sie nicht einmal bemerkt. Aisoru entfernte sich schnell von dem grausigen Anblick und schloss wieder zu Kakko auf, ohne es vermeiden zu können, noch ein paarmal über die Schulter zurückzusehen. Zum Glück verboten die Wände in dem finsteren, verwinkelten Gemäuer schnell weitere Blicke auf den Toten.


    Mit der Höhe hatte Aisoru kein Problem, so etwas war er von zuhause gewöhnt. Allerdings wünschte er sich ein Geländer. Waren sie denn wahnsinnig, diesen Pfad nicht in irgendeiner Weise abzusichern? Er wagte sich gar nicht vorzustellen, wie viele hier schon in die Tiefe gestürzt waren, und Kakkos Worte dazu waren auch nicht gerade vertrauenerweckend. Beeindruckend war dagegen, wie leichtfüßig Kakko sich auch hier bewegte - unwillkürlich musste Aisoru an den Drahtseilartisten denken, den er einmal als Kind auf einer Feier gesehen hatte. Nur dass Kakko nicht annähernd so zierlich und elegant war.

    Endlich endete der halsbrecherische Pfad vor einer weiteren Tür, und als sie sich öffnete, erfüllte mit einem Mal ein höchst angenehmes, exotisches Duftgemisch die Luft. Aisoru hielt sich an der Wand fest, noch immer ein wenig benommen von dem Balanceakt, und atmete tief durch. Er war noch nie selbst in einer Apotheke gewesen, und nun wurde ihm bewusst, was er verpasst hatte. Überall in den Regalen standen Flaschen, Körbe und kleine Säckchen mit Kräutern und farbigen Flüssigkeiten. Alles wirkte exotisch und, ja, wunderschön. Der Apotheker saß im Schneidersitz auf einer Matte auf dem Boden und sah gar nicht so aus, wie Aisoru sich einen vorgestellt hatte, sondern war ein ziemlicher Schrank mit einer riesigen Narbe quer übers Gesicht. Außerdem trug er Goldohrringe und dazu auch einen goldenen Nasenring.

    All das hier passte schon viel eher in das Bild von Obenza, das Aisoru sich gemacht hatte, während er mit dem Schiff hierhergefahren war. Völlig ohne Angst trat er in den Laden und konnte einen Moment lang gar nicht aufhören, all die Exotik um sich herum zu betrachten.

    "Wer bist du, was suchst du hier?", riss ihn der Apotheker schroff und ohne jede anständige Begrüßung aus seinen Schwelgereien. Erst jetzt fiel Aisoru auf, wie skeptisch der Mann ihn musterte, und hilfesuchend sah er zu Kakko hin.

  • Dieser Rakshaner war anders als jene, deren Reithyänen manchmal die Müllhalde der Unterstadt durchwühlten. Erstens überfiel er niemanden, sondern besaß als einer der ganz Wenigen seines Volkes ein Geschäft. Zweitens trug er keinen Schleier vor Mund und Nase und war demzufolge höchst unzüchtig gekleidet oder schwul. Nur die rakshanischen Frauen und Kinder liefen ansonsten unverschleiert herum. Drittens ließ er nichts von der vielgepriesenen rakshanischen Gastfreundschaft merken. Die meisten Rakshaner tätschelten ihre Gäste andauernd und zwangen sie, literweise Kaffee und vergorene Hyänenmilch zu trinken.


    "Ai tegu iaia, Takshar!"*, grüßte Kakko hochtrabend und führte die Finger erst zum Mund und dann zur Stirn, um ihn gemäß der rakshanischen Sitten zu grüßen.


    Der Apotheker nahm es ohne sichtbare Regung zur Kenntnis. "Setzen", kommandierte er. Und zu Kakkos Freude bekamen sie nun tatsächlich beide einen heißen Tee in die Hände gedrückt. Kein Kaffee, aber immerhin schon eine Steigerung. "Also, noch mal! Wer seid ihr und was sucht ihr hier?" Seine Blicke wanderten zwischen Kakko und Aisoru hin und her wie auf sie zielende Speerspitzen.


    "Ich bin Kakko Korikara, der Kuckuck aus dem Eis. Und das ist Aisoru, er stammt aus Arashima", übernahm Kakko die Vorstellung. "Und er wünscht Eishai-Hornmehl zu erwerben."


    "Damit kann ich nicht dienen", antwortete der Apotheker sofort.


    "Aisoru stammt außerdem aus gutem Hause und ist bereit, ein stattliches Sümmchen springen zu lassen."


    Der Apotheker wirkte nun nicht mehr ganz so abweisend. Er rieb nachdenklich sein Kinn. "Geld habe ich mehr, als ich zum Leben benötige. Aber dieses Schwert da ..." Er ließ die Worte bedeutungsschwer in der Luft hängen.


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    *"Ich grüße Euch, Freund!"

  • Dieser Apotheker war nicht gerade sympathisch, auch wenn Aisoru sich bemühte, sich nicht einschüchtern zu lassen. Vielleicht wurde der Mann ja öfters belästigt und wirkte deshalb so unfreundlich, und die Narbe im Gesicht ließ ebenso darauf schließen, dass er üble Erfahrungen gemacht hatte - vielleicht war er einmal in seinem Laden attackiert worden und fürchtete sich davor, dass es wieder passieren könnte. Das jedenfalls waren Aisorus Vermutungen.

    Der Tee schmeckte immerhin sehr gut, herrlich würzig. Ganz anders als die Art von Tee, die Aisoru von zuhause kannte. Und Aisoru war dankbar dafür, dass Kakko hier das Reden übernahm.

    Als aber der Apotheker plötzlich seine Aufmerksamkeit auf Aisorus wertvolles Katana lenkte, fiel alle Entspannung von Aisoru ab. Die Gedanken rasten in seinem Kopf durcheinander.

    Verärgerung darüber, wie dreist diese Anfrage war. Aber gleichzeitig auch das Bewusstsein, dass der Apotheker ja gar nicht wissen konnte, um was für eine besondere Waffe es sich handelte. Und natürlich war Aisoru klar, dass das Leben seines Vaters viel wertvoller war als jedes noch so besondere Schwert. Trotzdem - bei dem bloßen Gedanken daran, diese Waffe wegzugeben, wurde ihm schlecht.

    "Es tut mir leid", antwortete Aisoru heiser, "aber dieses Schwert kann ich nicht aus der Hand geben. Es wurde speziell für mich geschmiedet, es gibt kein zweites dieser Art auf der Welt. Gibt es denn nichts anderes, das ich dir geben kann?"

    Der Apotheker sah kurz grimmig und enttäuscht aus, lächelte aber gleich darauf verständnisvoll. "Das kann ich durchaus verstehen. Aber letztendlich musst du selbst wissen, was dir das Zeug wert ist." Er rieb sich das Kinn.

    "Es geht um Leben und Tod", sagte Aisoru ernst.

    Der vernarbte Mann lachte kurz auf. "So dringend, was? Na gut, lass mich überlegen." Er schenkte sich gelassen noch einen Schluck Tee ein, ohne den beiden weiteren anzubieten. "Auch wenn ich dein Geld eigentlich nicht brauche, würde ich es nehmen, aber nur, wenn du dafür auch was für mich erledigst."

    Handlangerdienste? Nicht gerade etwas, in dem Aisoru sonderlich geschickt oder geübt war. Aber immer noch besser, als diesem Mann sein Katana zu überlassen. Er schluckte seinen Ärger hinunter, denn es war ja alles für einen guten Zweck. Wahrscheinlich würde er nur die duftenden Regale einräumen und etwas fegen und Staub wischen müssen. "Also schön ... was soll ich tun?", fragte er.

    Die Antwort war leider wieder einmal nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Sie lautete: "Botengänge. Hier in der Stadt."

    "Was? Aber ich kenne mich hier überhaupt nicht aus!", entfuhr es Aisoru erschrocken.

    "Na, du hast doch Kakko, der kennt sich gut genug aus, schätze ich", grinste der Apotheker.

    Aisoru musste einen Moment lang nachdenken. Was sollte das? Warum konnte er nicht einfach normal bezahlen und damit die Sache abhaken? "Ich mach's", sagte er trotzdem, denn eine andere Wahl hatte er ja wohl kaum. "Wie lange dauert es, bis das Medikament da ist?"

    "Ein paar Tage. In der Zeit arbeitest du für mich. Oder du machst dir solange einen faulen Lenz und überlässt mir dein Schwert... kannst es dir immer noch überlegen."

    Innerlich seufzte Aisoru, noch immer verwirrt und verärgert darüber, wie gierig dieser vernarbte Mann auf sein Schwert war, ließ sich aber nichts anmerken. Kakko würde ihm schon bei alledem helfen.

  • "Die erste Lieferung", sinnierte der Rakshaner, während er in seinen Habseligkeiten wühlte und warf Aisoru anschließend ein kleines Paket zu. "Genau abgewogen, vermassel es nicht. Ich erhalte Nachricht, sollte die Lieferung verloren gehen oder sich reduzieren und dann wirst du zur Verantwortung dafür gezogen. Schnüffel nicht darin herum, die Pakete bleiben aus Gründen der Diskretion versiegelt und natürlich auch, damit niemand auf den Gedanken kommt, den Inhalt zu strecken. Der Empfänger ist Jean Belac. Dritte Ebene, Leitergasse 7. Das diesmalige Passwort lautet Honigsüß. Zustellung bis zum morgigen Sonnenaufgang. Ich erwarte Jeans schriftliche Bestätigung von dir."


    Da die Sachlage damit offenbar klar war, verabschiedeten Kakko und Aisoru sich von dem geschäftstüchtigen Rakshaner und gingen wieder nach draußen.


    "Botengänge, was?", meinte Kakko, warf sein Paket in die Luft und fing es einhändig wieder auf. "Wie praktisch, ich bin ebenfalls Kurier. Leider ist der Endkunde dieser Lieferung momentan unpässlich." Er gluckste. "Was meinst du, machen wir erst einmal eine Pause? In Obenza gibt es schöne Orte, auch wenn manch einer das nicht glaubt, man muss sie nur kennen. Wir haben noch ein paar Stunden Zeit, bis dahin machen wir es uns bei Speis und Trank gemütlich. Ich spendiere das Essen und du was zu trinken. Wir treffen uns am alten Leuchtturm. Einfach zurück zu den Docks durchfragen und dann folgst du, wenn du am Wasser stehst, der Uferlinie nach links. Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch bist du dort. Der Alte Leuchtturm liegt außerhalb der Stadt, dort kann man herrlich grillen. Wir sehen uns!"


    Er tippte sich an die Schläfe und machte einen Schritt rückwärts - in Richtung Abgrund. Wie ein Lumpengeschoss rauschte er, noch immer grüßend, in die Tiefe und war aus Aisorus Blickfeld verschwunden.

  • Aisoru schaute erschrocken nach unten, wohin Kakko eben verschwunden war. An derselben Stelle hörte er einen klappernden Karren davonfahren, auch wenn er nicht viel erkennen konnte. Wahrscheinlich war Kakko auf diesen Karren gefallen, denn er wirkte keinesfalls so idiotisch, Aisoru erst einzuladen und sich gleich danach offensichtlich mit voller Absicht in den Tod zu stürzen, und das Geräusch eines aufklatschenden Körpers war auch nicht zu hören gewesen. Aisoru würde jedenfalls zum vereinbarten Treffpunkt gehen, dort würde er schon die Bestätigung für seine Vermutung bekommen.

    Jetzt musste er wieder nach unten und plötzlich fiel ihm die Leiche wieder ein, die dort am unteren Ende der Treppe lag. Die hatte er beinahe vergessen, oder vielleicht vielmehr ausgeblendet, in dem angenehm duftenden Laden. Während er durch die Wolke aus Totengestank lief, hielt er sich das kleine Päckchen vors Gesicht, um möglichst nur dessen angenehmen Duft in der Nase zu haben. Wie gut und frisch das roch! Der Duft war nicht genau zuzuordnen, aber es musste irgendein Heilkraut sein. Dem Geruch nach wohl etwas, das den Hals freimachte. Er machte kurz die Augen zu, um dem Toten nicht ins Gesicht sehen zu müssen, und trat auf die stockfinstere Straße.

    Diese verflixte Leiche. Hoffentlich räumte sie jemand weg, denn er wollte nicht wieder und wieder an ihr vorbei müssen, während er seine Botengänge erledigte. Er nahm sich vor, den Apotheker beim nächsten Mal darauf anzusprechen, wenn sie bis dahin nicht verschwunden war.

    Ohne Kakko fühlte er sich in der finsteren Gasse völlig verloren. Er drehte sich kurz um sich selbst und wusste noch nicht einmal, aus welcher Richtung sie zuvor gekommen waren. So hatte er keine Wahl, als jemanden nach dem Weg zu fragen, also sprach er einfach gleich den erstbesten Passanten an, der war so gut wie jeder andere. Es war ein Kerl, der aussah wie ein buckliger Matrose, vielleicht kam er ja gerade vom Hafen.

    Aisoru hielt ihn an und fragte, wie er zurück zu den Docks käme. Der Mann, offenbar wirklich ein Matrose, gab mit rauer Stimme bereitwillig Auskunft. Da er so wenig abweisend wirkte, fragte ihn Aisoru auch gleich noch nach einem Laden auf dem Weg, in dem man Lebensmittel und Getränke kaufen konnte.

    "Versuch's direkt an der Ecke, wenn du von hier aus zum Hafen rauskommst", antwortete der Matrose, "da ist ein großer Kaufmannsladen, du erkennst ihn an dem roten Banner über der Tür."

    Aisoru bedankte sich und machte sich sofort auf den Weg, penibel darauf bedacht, bloß keine falsche Abzweigung zu nehmen. Immer wieder musste er an dem Päckchen schnuppern, weil es so wundervoll roch und den unangenehmen Geruch der Stadt übertönte.

    Endlich öffnete sich die Gasse vor ihm und er sah wieder Tageslicht. Einen kleinen Ausschnitt vom Meer und in den Himmel ragende Schiffsmasten ebenso. Erleichtert atmete er auf - er hatte es geschafft, sich nicht verlaufen und musste jetzt nur noch die richtige Richtung zum Leuchtturm einschlagen.

    Den von dem Matrosen vorgeschlagenen Laden fand er sofort. Es war eher eine Lagerhalle, vollgestellt mit einem chaotischen Sammelsurium an Kisten, Körben und Regalen. Lange nicht so einladend wie die kleine Apotheke, und auch nicht mit solch angenehmen Düften gefüllt. Aus einer Ecke roch es nach frischem Gebäck, aus einer anderen nach Gewürzen, aber ebenso schwebte der unangenehme Geruch von Fisch und Innereien in der Luft.

    Aisoru wollte Kräuterlimonade und Gewürze aus seiner Heimat kaufen, aber von keins von beidem hatte er eine Ahnung, wo er es finden sollte. Deshalb ging er gleich direkt zum Tresen, der sich in der Ecke vorne neben der Tür befand, und fragte. Schließlich kaufte er ein paar Beutelchen voll Gewürze, die sich zum Grillen eigneten, und dazu zwei Flaschen Kräuterlimonade. Die Gewürze waren leider recht teuer, aber damit hatte er gerechnet. Es war in Ordnung für ihn, sie würden so oder so eine Weile reichen und er wollte Kakko und sich selbst einen Gaumenschmaus bereiten. Er fand, das hatten sie sich verdient nach der ganzen Aufregung.

    Während er noch ein Brötchen aß, das er für sich selbst gekauft hatte, da ihn inzwischen nagender Hunger quälte, lief er an den Docks entlang in die von Kakko angegebene Richtung.

    Hier erstreckte sich ein weiter, heller Strand, auf dem leider einiges an Plunder herumlag, der aber immer noch einer der angenehmsten Anblicke sein mochte, die diese Stadt zu bieten hatte. Aisoru stapfte direkt durch den Sand. Kurze Zeit glaubte er, dem schlimmsten Gestank der Stadt entkommen zu sein. Aber das war leider ein Trugschluss, denn nun trug ihm ein dünner Wind vom Festland her das bestialische Aroma einer Mülldeponie entgegen. Er seufzte resigniert. Warum musste ihm Obenza auf alle möglichen Arten zeigen, dass seine Träumereien Unfug gewesen waren? Er nahm wieder das Päckchen in die Hand und hielt es sich vors Gesicht, genüsslich den frischen Geruch inhalierend, bis der verfallene kleine Leuchtturm in Sichtweite kam.

    Ein hübsches Fleckchen war das, musste er zugeben, und die Müllkippe konnte er hier auch nicht mehr riechen. Er rief nach Kakko und freute sich darauf, ihm etwas heimatliche Kochkunst zu zeigen.

  • Baxeda

    Hat den Titel des Themas von „Begegnung in der Grube“ zu „Kapitel 2 - Begegnung in der Grube“ geändert.