Kapitel 41 - Gedankenspiele

  • Gedankenspiele

    Tiefe, ruhige Flötentöne, melodisches Klimpern einer Lyra, leise Glöckchen und langsame Rasseln - die Ruspanti musizierten heute sehr dezent und leise. Während sie sich sonst mit ihren bunten Kleidern und ihren Tänzen in den Vordergrund drängten, hielten sie sich heute auf Anweisung von Irving mit Tänzen vollkommen zurück. Sie blieben in ihrer Ecke, um für die musikalische Untermalung zu sorgen. Wer es wünschte, konnte mit ihnen sprechen, dann gingen sie auch herum oder setzten sich an die Tische, aber ansonsten taten sie einfach, als wären sie nur zur Dekoration hier. Die wigbergsche Handschrift war unverkennbar, wenn man es einmal wusste, wer hinter dem Kult stand. Die Ruspanti waren so exzentrisch, dass man neigte, sie darauf zu reduzieren und dabei auch noch dermaßen freundlich, dass nicht einmal der Marquis de la Grange es schaffte, sie zu hassen. Auch Moritz mochte diese Paradiesvögel, er fand sie witzig. Er applaudierte zusammen mit den anderen nach der Gesangeseinlage eines pickligen Kastraten, der sich strahlend verneigte, ehe es weiter mit instrumentalen Stücken ging.


    Moritz wandte sich wieder seinem Hummer zu, den er unter Anleitung von Caillou versuchte, möglichst fein zu essen. Das führte immer wieder zu gelächter, denn es war sein erster Hummer und er schien alles falsch zu machen, was nur ging. Heute war ein Tag, an dem Moritz sich rundum glücklich fühlte. Selbstverständlich war das nicht bei seiner Vergangenheit, die seine Seele in Scherben geschlagen hatte. Bei ihm war das mehr als eine Metapher - der zweitgrößte Splitter saß an seinem Tisch, in einem neuen Körper und genoss sauer eingelegte Gurken:


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    Auch er war wie ein gebürtiger Wigberg aschblond und grünäugig, sein Haar wellig, seine Gesichtszüge weich. Moritz hingegen war in dem alten Körper verblieben, in dem er geboren worden war und den er schon vor Jahren durch einen Fleischformer hatte modifizieren lassen. Er saß zwischen Caillou und Camille, die es einem unmöglich machten, in ihrer Anwesenheit schlechte Laune zu haben - es sei denn, sie legten es darauf an, sie konnten auch gewaltige Kotzbrocken werden. Caillou hatte Vendelin als Jugendlicher regelmäßig zur Weißglut getrieben und das musste man erstmal schaffen. Heute aber waren sie genau so guter Dinge wie Moritz.


    Diesen schönen Tag verdankten sie Davard, dem Geburtstagskind. Bislang hatte Moritz noch nicht mit ihm zu tun gehabt, doch er war sehr neugierig auf diesen Mann. Er suchte zwischendurch immer mal eine Möglichkeit, mit ihm zu sprechen, doch bislang war ihm das nicht gelungen. Schon allein, dass er mit Vendelin getanzt hatte, obgleich sie nicht die besten Voraussetzungen gehabt hatten, war bemerkenswert. Davard war intelligent und sagte nicht viel, beobachtete aber sehr genau seine Umgebung. Er und Vendelin waren sich nicht unähnlich. Sie beide gemeinsam wären eine extreme Macht, würden sie es schaffen, dieses vorsichtig anvisierte Bündnis zu festigen. Verbündete zu finden war nicht schwer - sie zu halten war die Kunst. Moritz würde diesen interessanten Mann gern kennenlernen. Und nicht nur er, auch Patrice war neugierig, wenn auch aus sehr viel profaneren Gedanken heraus. Darüber regte Moritz sich nicht auf, er selbst hatte ihn so simpel geschaffen, um sich in seiner einfachen Gedankenwelt erholen zu können, darum nickte er nur, als Patrice ihm etwas Entsprechendes zuraunte.


    "Moment bitte." Er legte Patrice kurz die Hand auf den Oberarm, drängelte sich an Camille vorbei und eilte auf Davard zu, der gerade nicht von Vendelin bequatscht wurde, weil dieser sich mit der Konsistenz von essbaren kleinen Seelöwen beschäftigte. Er rannte fast, um bei dem Geistmagier zu sein, ehe Vendelin wieder zu reden begann. "Wir hatten noch nicht das Vergnügen, ich bin Moritz von Wigberg, es ist mir eine Ehre."


    Vendelin lächelte vor sich hin und bot dem Kind auf seinem Arm einen Seelöwen an.

  • Irmina nahm den Seelöwen vorsichtig entgegen, schaute ihn kurz neugierig an und biss dann ein Stück von ihm ab. Er schien ihr zu schmecken, denn sie packte mit beiden Händchen zu und aß weiter. Eindeutig wem der Seelöwe nun gehörte. Dave musterte Vendelin und Irmina vergnügt, als ein junger Mann angestürmt kam und sich vorstellte. Moritz von Wigberg, jener Moritz mit dem er versprochen hatte zu reden. So jung hatte er ihn sich gar nicht vorgestellt, aber wenn er ehrlich war, hatte er gar kein Bild zu Moritz im Kopf gehabt. Er wirkte sympathisch und freundlich, nicht gebrochen wie man es von einem Sklaven erwarten würde. Und genau dass war die schlimmste aller Ketten, jene die man für Schmuck hielt und sie freiwillig trug.


    "Nein wir hatten noch nicht das Vergnügen Moritz, Davard von Hohenfelde oder kurz Dave. Es freut mich, dass Du die Einladung von Deinem Vater angenommen hast. Wollen wir uns ein bisschen die Beine vertreten und gucken was die anderen Tische für Leckereien zu bieten haben? Vendelin passt derweil auf Irmina auf, oder sie auf ihn", schmunzelte er stand auf und machte eine einladende Geste.


    Dave wartete bis sich im Moritz anschloss, er überlegte ob er vorher etwas plaudern sollte, oder ob es besser war mit der Tür ins Haus zu fallen. Das Vorgehen hing davon ab, wieviel Zeit er mit Moritz hatte. Ehrlich antworten würde ihm der junge Mann nur, wenn er von seinem Herrn abgeschnitten war und sich sicher fühlte. Und das die passenden Begleitumstände und Zeit. Die Umstände waren günstig, die Zeit musste sich erweisen.


    "Vendelin hat mir eine große Freude mit der Feier gemacht, normalerweise feiere ich meinen Geburtstag sehr selten. Und eine derartige Feier hatte ich auch noch nicht spendiert bekommen. Zu meinem Magiermeister, da bekam ich eine Party von Pavo und meinen Leuten. Darüber habe ich mich auch sehr gefreut. Wie lange bleibst Du hier Moritz? Und mit wem bist Du angereist? Dein Vater hat mir von Deiner außergewöhnlichen Seele berichtet", sagte Dave ernst und freundlich zugleich.


    Davard machte es sich an einem Tisch gemütlich an dem es Kaffee und Kuchen gab und deutete Moritz an sich zu ihm zu setzen. Er goss ihnen beiden ein und schaute sich die Auswahl an Kuchenstücken an. Für sie beide entschied er sich für eine Mokkastange, das Ding klang so pervers wie es köstlich schmeckte.


    "Keine Anspielung, wobei Du gehörst wem habe ich Recht?", fragte Dave kaum hörbar, als er von dem Kuchen ein winziges Stück abbiss.

  • Moritz lachte. Er hatte eine genau so leise und angenehme Lache wie Vendelin, da konnte er seine Abstammung nicht leugnen.


    "Mokkastangen schmecken und sorgen für gute Laune, schon allein dafür sollten sie auf keiner Feier fehlen. Es freut mich, dass wir die Gelegenheit haben, uns kennenzulernen, nachdem mein Zweig so lange verborgen lebte. Meine beiden Männer sitzen dort drüben, es sind die Zwillinge, Caillou und Camille. Wir sind zu dritt angereist. Der andere da am Tisch ist ein abgesplittertes Seelenstück von mir, Patrice. Da ich nicht jedem diese Geschichte erzählen möchte, wird er hier einfach als Freund der Familie vorgestellt. Aber da du schon Bescheid weißt, ist es auch kein Geheimnis. Ich werde noch eine Weile auf der Feier bleiben, um die ganze Verwandtschaft endlich einmal kennenzulernen. Patrice aber wird vermutlich bald wieder verschwinden, er ist eigentlich nur wegen mir hier.


    Pavo ist der Goblin dort, nicht wahr? Verzeih, es ist eine Unart meiner Familie, alles schon zu wissen, was die Verwandten einem erzählen wollen. Aber die Sache mit Onkel Vanja, die ist neu. Wie habt ihr das in Zukunft geplant, er ist ja eigentlich Priester? Und wo ist die Mutter der kleinen Irmina, ist sie eine der Sippe?"


    Moritz trank einen schluck Kaffee, während er Davard freundlich über den Tassenrand musterte. Viele Fragen, aber wer konnte schon sagen, wann sie sich wiedersehen würden?

  • "Kaffee in der Tasse und im Kuchen, was möchte man mehr? Zu Deinen Fragen. Irminas Mutter ist eine alte Feundin von Ansgar und mir. Eine der wenigen die wir hatten. Ihre Eltern kamen uns öfter besuchen, ich kann Dir nicht mal sagen wieso. Was ich Dir sagen kann ist, dass sie genauso einsam war wie wir und wir uns angefreundet haben. War sie da, war es stets lustig. Wir hatten keine Spielgefährten, auch keine in unserem Alter. Wir waren Spielzeuge, das ist ein gewaltiger Unterschied.


    Als ich mir mit Varmikan ein Kind wünschte, habe ich sie gefragt, ob sie für mich mein Kind austragen würde und sie erklärte sich dazu bereit. So kam ich zu meiner Tochter.


    Pavo ist der Goblin und mein Ziehvater genau. Vorab informiert zu sein, hat immense Vorteile. Wie heißt es so schön? Nichts ist interessanter als den Leuten beim Lügen zuzuhören, wenn man bereits die Wahrheit kennt. So ist es auch. Durch Deine Vorabinformation weißt Du zudem, ob jemand gelogen hat oder die Wahrheit spricht.


    Vanja und ich werden heiraten, ich liebe diesen Mann und er behandelt mich so, dass ich mich bei ihm rundum wohl und geborgen fühle. Was gibt es bessers für die Basis einer Ehe? Vanja ist mein Priester, nicht ein Priester", lachte Dave leise und ditschte seine Mokkastange in den Kaffee.


    Die Lache von Moritz war genauso angenehm wie die von Vendelin und ebenso leise wie Daves eigene. Er schaute sich die Männer von Moritz an. Caillou und Camille hießen sie und waren Zwillinge. Dave grinste breit, als er sich vorstellte, dass das ganz schön zu Verwechselungen und Streit in einer Ehe führen konnte. Sicherheitshalber sollte man dann seine Männer mit Schatz ansprechen. Oder ihnen heimlich ein Erkennungsmerkmal verpassen. In diesem Fall hatten es die Zwillinge bereits selbst getan, der eine war ein Rotschopf der andere ein Blondie.


    Das abgespaltene Seelenstück von Moritz betrachtete Davard ausgiebig und lang. Er wusste, dass manche Personen im Leid ihre Seele teilten, ob bewusst oder unbewusst war ihm nicht bekannt. Andere wiederum zogen sich mit ihrer Seele aus ihrem Körper zurück, um der Qual zu entfliehen.


    Dave lehnte sich zurück und schaute Moritz tief in die Augen. Er versuchte in ihm zu lesen, aber da gab es nichts was er hätte lesen können. Sein Blick wurde weich und milde, als er kurz die Augen schloss.


    "Ein Seelensplitter, weißt Du dass ich mal ein ganz ähnliches Beispiel gebraucht habe? Nein woher auch. Archibald war mein Peiniger und als hätte er mich markiert haben es auch andere versucht. Nicht jene die zu seinem Kreis gehörten, sondern draußen, Wildfremde. Und dabei war es mir, als hätte er ein winziges Stück von mir selbst gestohlen. Andere spüren dies instinktiv und werteten mich als Beute. Und gleich was ich getan habe, ich bekam die Stückchen nicht zurück. Er raubte mir etwas, aber was?


    Dir fehlt wirklich ein Stück Deiner Seele, oder trug Deine Seele Früchte? Jedenfalls verfielfältigte sie sich, um etwas zu ertragen was unerträglich ist. Du hast Dich in Scherben zerschlagen Moritz, ich wählte stets die Flucht. Ich bin sogar bis in den Nexus geflohen, ein Hauch der mich nur noch mit meinem Körper verband. So als wollte ich vor meinen Peinigern, der Welt und mir selbst fliehen. Was mir nicht gelang.


    Ist es Dir gelungen? Bist Du nach Deinen Maßstäben frei? Oder bist Du auch jemandes Spielzeug?

    Fühlst Du was Deine anderen Seelensplitter spüren? Seit Ihr getrennt und dennoch eins? Oder seid Ihr vollständig losgelöst voneinander? Und wie fühlte es sich an? Wart Ihr Euch einander bewusst, als Ihr noch im gleichen Körper gelebt habt? Oder hatte jeweils einer die Oberhand und die anderen schliefen? Wie war dieser Zustand? Ich stelle es mir vor wie eine Gruppe in einem Raum", sagte Dave neugierig.

  • Moritz nickte. "Verstehe, du hast die Mutter nach Sympathie ausgewählt. Sehr untypisch für die Sippe. Was trieb dich dazu, die Vernunft außen vor zu lassen? In unserem Zweig handhabt man es so, dass die Mutter die bestmöglichen Veranlagungen bieten muss. Für das Gefühl sind männliche Partner da. Sogar mein Vater gönnte sich da keine Ausnahme, obgleich seine Vorlieben anderes sagen. Ich jedenfalls würde Caillou und Camille nicht hergeben wollen und ob ich die Mutter meiner Kinder anziehend fände oder auch nur sympathisch, wäre mir völlig gleich. Was also war es, was dich zu dieser Entscheidung veranlasste? Sie ist ja nicht hier, zumindest sah ich sie noch nicht und deine Liebe gilt, wie du sagst, Vanja und nicht ihr.


    Die Antwort auf deine Fragen in einfache Worte zu fassen, ohne dass ein Foliant daraus wird, ist gar nicht so leicht. Was dir genommen wurde, ist die Unversehrtheit deiner innersten Schicht. Sie wurde von herzlosen Menschen niedergetrampelt zu einer Zeit, da sie besonders zart und verletzlich war. Viele, bei denen jede Grenze überschritten wurden, tragen jenes unsichtbare Zeichen, das die Jäger anlockt. Es wurde an etwas gerührt, an dem niemand rühren sollte, am Herz deiner Seele. Noch nackter und hilfloser kann ein Mensch nicht sein. Diese Lücke ist, was dich für immer verwundbar macht. Deine innerste Grenze hat einen klaffenden Riss, weshalb es sich anfühlt, als würde dort ein Stück fehlen und manche sagen, daraus würde die Lebenlust herausbluten. Vielleicht ist es diese Spur, welche die Jäger wittern wie der Bluthund die Spur des verletzten Hirschen und der sie folgen, um erneut an ihm zu speisen.


    Vanja ist jemand, der sich darauf versteht, die Hand auf diese Wunde zu legen, ohne dass es sich schlecht anfühlt, da er sie nicht durchdringt, sondern schützend berührt. Ich habe mich bei Onkel Vanja immer geborgen gefühlt, er ist lustig, man kann mit ihm lachen und Spaß haben, aber er hört auch zu und tröstet. Sein Rat ist wohltuend realistisch. Dazu war mein Vater nie fähig, sein Trost war Sachlichkeit, Rationalisierung des Problems, Analyse, Lösungssuche im Hinblick auf größtmögliche Effizienz. Von der Sache her nicht verwerflich, aber für mich überfordernd in dem Moment, wenn ich am Boden liege. Da brauchte ich Vanja, der mich in den Arm nahm, mich für meine Tränen und die Unbeherrschtheit nicht rügte, sondern mir eine heiße Milch mit Honig machte.


    Mehr noch als Vanja hat mich aber Caillou aufgerichtet, da er öfter da war. Er ist mein erster Mann, später kam noch unerwartet Camille hinzu. Ich vermute, sie haben das absichtlich so eingefädelt, damit sie weiterhin zusammen wohnen können." Moritz blinzelte, zum Zeichen, dass er nur Spaß machte. "Die beiden sind wie Fangseile an jeder Seite. Sie sind wundervoll und ich bin froh, dass sie beide meinen Weg mit mir gehen. So ist es doch viel symmetrischer und ausgewogener.


    Was mir fehlt, Dave, ist wirklich ein Teil der Seele. Er wurde abgeschnürt, meine Seele hatte im Endstadium die Gestalt einer Traube. Die Abspaltung war ein bewusster Prozess. Über meine Arbeit als Spion wirst du inzwischen Bescheid wissen, sie ist ganz ähnlich der meines Vaters. Ich führte mehrere Leben mit eigenen Identitäten, die plausibel sein mussten. Natürlich gestaltet man sie so, dass sie einem gefallen. Patrice wurde mein Meisterwerk. Mit ihm wollte ich vollkommen vergessen können, wer Moritz von Wigberg überhaupt ist. Keine bloße Identität, sondern die feste Überzeugung, der wahre Eigentümer dieses Körpers zu sein. Mit diesem Potenzial stattete ich ihn aus, so wurde er eine perfekte Persona und er kam seiner Aufgabe nach, bis er mich fast darob umgebracht hätte. So war es geplant und darum wurden wir körperlich getrennt. In ihm schlummert, so harmlos er wirkt, das Potenzial, mich zu vernichten und notfalls sich selbst gleich mit dazu.


    Was Patti spürt, spüre ich nicht, aber ich kann es mir denken, da ich ihn verstehe und er mich. Und ich will ehrlich sein, dass er mir manchmal fehlt mit seiner simpel gestrickten Art. Ich konnte früher einfach die Augen schließen, er übernahm unseren Körper und regelte alles. Wurde es kritisch, übernahm wieder ich. Nun ist jeder für sich allein verantwortlich. Andererseits gehen mir seine Vorlieben mitunter gewaltig auf den Keks, da ich anschließend die Schmerzen spüren muss, die nur ihm galten. Wir konnten aber auch beide gleichzeitig wach sein, ja. Normalerweise merkte das niemand, es sei denn, wir stritten um die Oberhand, das konnte zu grotesken Situationen führen, wie es einst vor dem Duc geschah, als Patrice mitten in meinem Gespräch verkündete, er müsse jetzt gehen - und mit unserem Körper verschwand.


    Wirklich frei bin ich nicht, nein. Es war eine Flucht, nur floh ich nicht in den Nexus, sondern in eine Wahrnehmung, welche die grauenhafte Wirklichkeit als sehr angenehm empfand. Wenn ich schon vom Orden und meinem Vater als Werkzeug benutzt werde wie ein Gegenstand, warum dann keine Identität erschaffen, die genau das liebt und braucht? Das geht nun nicht mehr. Die Stelle, wo Patrice war, tut weh, die Seelennarbe blutet wohl auch. Sein Schutz fehlt mir, ich muss die Wahrheiten nun ungefiltert ertragen und das Gewesene kann ich nicht mehr als die Erinnerungen eines anderen abstempeln. Das kann sehr schmerzhaft und schamvoll sein und dann fällt es schwer, das zu verbergen.


    Ich vermute, ihm geht es ganz ähnlich, sonst hätte er mich nicht gegen den Willen seines Meisters besuchen wollen, das ist schon ein starkes Stück für ihn. Oder er will ihn zu einer Bestrafung provozieren. Wäre Tekuro intelligent, würde er ihn einsperren und ignorieren, stattdessen belohnt er ihn für jeden Fehltritt genau so, wie Patrice es haben will. Der Kerl ist dumm wie Brot."


    Moritz biss von seiner Mokkastange ab, als würde er das beste Stück von Tekuro abbeißen wollen.


    "Bei deiner Flucht in den Nexus, wie weit fort warst du da wirklich? Hast du keine Erinnerungen mehr an diese Zeit? Und wie sieht es im Nexus aus?"

  • "Da hast Du völlig Recht Moritz, ich ließ die Sympathie entscheiden bei der Wahl der Mutter von Irmina. Was mit dazu getrieben hat, war die Vernunft. Schau Dir doch an, wie weit uns alles andere gebracht hat. In welcher Konstellation werden Kinder gezeugt und aufgezogen? Nach den besten Veranlagungen, nach magischem Potential, danach wird verpaart und dann werden die Kinder auf größtmögliche Härte und Effektivität gedrillt. Hat uns das genützt? Nein es hat unserer Familie geschadet, wir sind selbst unser ärgster Feind.


    Ich möchte nicht der Zuchtmeister meiner Tochter sein und auch nicht ihr Feind. Ich bin ihr Vater, ich zeugte mein Kind aus Liebe. Irmina ist ein Wunschkind, folglich musste es mit einer Frau geschehen, die ich mag. Eloise bedeutet mir als Freundin sehr viel und ich bin froh, dass sie mir dieses Geschenk machte.


    Mehr noch, ob Irmina Potential hat interessiert mich nicht. Ob sie klug ist, oder ehr einfach gestrickt, auch das interessiert mich nicht. Sie muss nur eines sein, glücklich und gesund. Und das zu gewährleisten ist meine Aufgabe als Ihr Papa. Meine Tochter wird mich niemals mit Angst in den Augen anschauen. Meine Tochter soll mir alles erzählen können, gleich was es ist. Ich beschützte sie Moritz, sie soll werden können wer sie ist", antwortete Dave freundlich und schaute zu Vendelin und Irmina.


    "Vermutlich wird sie einmal Robbenjägerin, sie scheint Spaß daran zu haben, die kleinen Schaumrobben zu vertilgen", grinste er gut gelaunt.


    Daves Grinsen erlosch, als Moritz ihm erläuterte, was ihm noch kein Mensch erklären konnte. Er lehnte sich zurück und hörte seinem Gesprächspartner so aufmerksam zu, als wollte er jedes einzelne Wort von Moritz auskosten. So war es auch, all das was Moritz sagte, ergab für Dave Sinn.


    "Danke für Deine Erklärung, Du hast Worte für etwas gefunden, wo sie mir selbst fehlen. Das Herz meiner Seele und dessen Unversehrtheit. Ja das haben sie mir genommen, vor sehr langer Zeit. Ob es noch blutet kann ich Dir nicht sagen Moritz, aber einst hat es das und die Jäger haben wie Jagdhunde die Fährte aufgenommen. Manche kamen mir nur bedrohlich nahe, andere haben mich wie verletztes Wild gestellt. Wieder andere haben mich auch gerissen.


    Du hast Vanja sehr treffend beschrieben, er ist sowas wie ein Seelenschmeichler. Er berührt einen in der Seele und tut mir dabei gut. Er ist ein Schlitzohr, aber ein ganz liebes. Als er Dich in den Arm nahm und Dir Milch mit Honig servierte, wärmte er Deine Seele. Drum nennt man solche Gerichte, die man damit verbindet doch auch Seelenfutter. Er ist eine liebevolle, großzügige und sehr herzliche Person.


    Vendelin ist das ebenso, auch wenn es für Dich vielleicht verrückt klingen mag Moritz. Aber Vendelin ist liebevoll und herzlich auf seine eigene Weise. Das rationale Lösen eines Problems ist keine Kälte, sondern er möchte Deinen Hintern so schnell wie möglich in Sicherheit bringen. Für Umarmungen und Streicheleinheiten ist später immer noch Zeit. Zuerst das Wesentliche. Dein Vater hat Fehler und das nicht zu knapp. Aber das was Du hier als Problem sieht, dass ist kein Fehler. Es ist die gleiche Liebe und die gleiche Sorge die Vendelin und Vanja antreiben", sagte Dave ernst.


    Davard grinste als Moritz von seinen beiden Männern erzählte.


    "Man sagt dass Zwillinge eigentlich ein Mensch sind, der an zwei Orten zeitgleich sein kann. Vermutlich ist es bei Deinen Männern ganz genauso. Du kannst sie nicht trennen und die Frage wäre, warum solltest Du das auch wollen? Sie lieben Dich beide und Du hast zwei Männer. Dass kann auch nicht jeder von sich behaupten. Wichtig ist doch nur, dass Ihr zu dritt glücklich seid. Und so wie Du von den beiden erzählst, bist Du das.


    Ein Teil Deiner Seele fehlt Dir. Wie eine Seele mit magischem Blick betrachtet aussieht, kann ich Dir sagen. Sie sieht aus wie ein rundes Licht. Jede Seele hat ihre ureigenen Farben, man nennt sie Seelenfarben. Einige Seelen sind warm gefärbt, golden, orange, bräunlich, wie satte Herbstfarben und so warm und golden sind diese Seelen auch. Dann gibt es Seelen die ehr ins blaue tendtieren, grüne Seelen und fast ganz weiße, ebenso findest Du auch graue oder sogar schwarze Seelen. Zwischenfarben gibt es so viele, dass Du sie gar nicht zählen kannst.


    Du kannst sie mit den unterschiedlichen Augenfarben der Menschen vergleichen. Nur ist die Augenfarbe nicht identisch mit der Seelenfarbe.


    Das Ihr Euch bewusst voneinander getrennt habt, war vielleicht die einzige Möglichkeit richtig ohne noch größere Probleme nebeneinander zu existieren. Du hast die geschaffenen Persönlichkeiten derart perfektioniert, dass sie nicht nur überzeugend waren Moritz, sondern auch anfingen zu leben. Dein Meisterwerk ist vermutlich auch deshalb Dein größtes Problem geworden, nicht nur Du weißt wie er denkt, er weiß es auch von Dir. Ihr kennt Euch zu gut, als das Ihr beiden Euch etwas vormachen könntet.


    Das Ihr nicht spürt, was der andere denkt oder fühlt, ist auf eine Art doch sicher auch beruhigend für Euch oder? Sonst hättet Ihr Euch noch mehr gegenseitig auf die Füße treten können. Auf der anderen Seite, wären dann auch einige Missverständnisse nicht aufgetreten.


    Jedenfalls kannst Du von Dir behaupten, dass Du ganz ohne Zeugung Leben geschaffen hast. Eigene Seelen, die von Dir selbst geboren wurden. Nur hatten sie bis dato keine eigenen Körper. Und nun haben sie dass. Du bist der Vater von Patrice Moritz, dass sollte er nie vergessen. Ohne Dich hätte es ihn nie gegeben.


    Stell Dir Deine einstige Seele als Strang von Rosenkohl vor. Dann reiften die einzelnen Röschen und wurden abgepflückt. Die Röschen sind die anderen Seelen, die sich gelöst haben. Sie sind weg, aber die Sollbruchstellen, wo sie einst an Dir angewachsen waren, sind immer noch da. Natürlich bist Du noch verletzt, aber irgendwann werden die Stellen abheilen. Narben wirst Du dort aber Dein Leben lang tragen, sogar noch weit darüber hinaus. Denn Seelen sind unvergänglich, solange sie nicht verschlungen werden.


    Tekuro ist nicht dumm wie Brot, ich habe den Mann kennengelernt. Der Mann gibt sich hart und taff, dabei ist er wie sein Vater Kazrar. Beides sind Schwämme. Sie tun so, als würde alles an ihnen abprallen, dabei sind sie kleine arme Würstchen, die um jede noch so kleine Aufmerksamkeit und Zuneigung buhlen. Und diese Zuneigungen saugen sie auf wie Schwämme und speichern sie tief in sich ab.


    Leider begreifen sie nicht, dass jeder von ihnen misshandelte Sklaven nur dass sagt, was er in Angst und Schmerz lernte. Es steckt keine echte Zuneigung dahinter. Dass was sie suchen, was sie sich so sehr wünschen, dass kann man nicht erzwingen. Liebe kann man nicht kaufen, man kann sie auch nicht erzwingen, man kann sie nur geschenkt bekommen", erklärte Dave und trank einen Schluck Kaffee.


    Auch er nahm einige Bissen von seiner Mokkastange und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Es machte ihm Spaß sich mit Moritz zu unterhalten. Er war ganz anders als sein Vater. Im Grunde eine Mischung aus Vendelin und Vanja. Dave lehnte sich zurück und überlegte wie er Moritz den Nexus beschreiben konnte.


    "Der Nexus ist nicht mit der Physis zu vergleichen, denn alles was Du dort vorfindest ist im Grunde die Seele dessen, was es hier gibt. Es ist ein Ort Jenseits von Zeit und Raum. Entfernungen spielen keine Rolle, Du kannst Dich dort frei fortbewegen. Jedenfalls in dem Radius, wie es das Band zu Deinem Körper erlaubt. Wird dieses Band durchtrennt, hat sich Deine Seele von Deinem Körper getrennt.


    Manche Dinge erkennst Du dort wieder, Orte, Landschaften und so weiter. Man sagt es gibt auch bestimmte Häuser die in allen Dimensionen wahrhaftig existieren. Stell Dir vor der Palast in dem wir uns befinden, würde nicht nur hier stehen, sondern so wie Du ihn hier kennst, steht er auch im Nexus. Dort wirst Du allerdings nur sein Abbild finden, nicht den Palast selbst. Alles dort trägt die Farbe seiner Seele, Du, wie alles um Dich herum. Du kannst Deine physische Form annehmen, behältst dort dennoch Deine Seelenfarbe. Im Grunde kannst Du jede Form annehmen vermute ich, aber meist wandelt man als die Seele die man ist.


    Der Körper ist dort drüben bedeutungslos, ebenso Schmerz. Du kannst jedenfalls keinen körperlichen Schmerz empfinden. Seelischen Schmerz hingegen schon. Wie weit ich von meinem Körper entfernt war? Manchmal sehr weit Moritz. Aber eines Tages traf ich einen Goblin, der mir zeigte, dass die Physis nicht nur Schmerz und Leid, sondern auch Freundschaft, Liebe und vieles mehr zu bieten hat.


    Eine Lektion die gerne lernte und die Du auch ebenfalls gelernt hast. Auf Dich", sagte Dave und prostete Moritz mit seinem Kaffeebecher zu und trank einen großen Schluck.


    Davard stand auf und drückte Moritz Schulter.


    "Ich verabschiede mich von Dir, wir sehen uns hoffentlich später noch einmal. Ich werde mir draußen ein bisschen die Beine vertreten und mir eine Rauchstange gönnen", mit den Worten verschwand der Magier aus dem Festsaal und begab sich in den Hof des Palastes. Dort machte er es sich an einer windgeschützten Stelle gemütlich, schaute auf das Meer hinaus und gönnte sich seine Rauchstange.