Kapitel 9 - Aal an Bord

  • Aal an Bord

    Es bestand sofortige Veranlassung zum Handeln. Vendelin hatte die besorgniserregende Nachricht von Vittorio erhalten und sofort die Rettung von Arbogast in die Wege geleitet. Der Ordensbruder war in akuter Gefahr, womöglich sogar als Spion enttarnt worden und am Ende seiner Handlungsfähigkeit angelangt. Doch anstatt nun einen weiteren Ordensbruder zu entsenden, beschloss der Oberhaupt des Stählernen Lotos höchstselbst, sich ein Bild von der kritischen Lage zu verschaffen. Den sie barg auch neue Chancen. Nach einigen Wochen war Arbogast in der Wildnis durch einen Fallensteller ausfindig gemacht worden, der dem Flüchtigen mitteilte, wo er sich umgehend einzufinden hatte. Bald darauf trafen die beiden Stählernen Lotos sich in einem Gasthaus in Schwalbingen, das den sympathischen Namen Zum Goldenen Haken trug. Vendelin vornehm und wie aus dem Ei gepellt, Arbogast abgewrackt und stinkend. Arbogast durfte sich zunächst waschen, rasieren und ausruhen, sowie für einige Tage den Bauch nach Herzenslust auf Kosten des Ordens vollstopfen. In dieser Zeit organisierte Vendelin alles Weitere.


    Die Situation war ausgesprochen spannend. Das langfristige Ziel, die Himmelsröhre der Menschenfresser auszuheben, war womöglich gerade unerwartet einen großen Schritt nähergerückt, wenn er die Ereignisse, von denen Arbogast erzählt hatte, richtig deutete. Machtvolle Organisationen wie den Zirkel zerstörte man am besten von innen heraus, anstatt von außen mit schierer Waffengewalt dagegen vorzugehen. Und womöglich hatte Arbogast einen Fäulnisherd offenbart, der den Namen Dornburg trug. Vendelin würde seine neuen Möglichkeiten aufs Genauste ausloten. Er würde mit dem Grauen sprechen, das dem Zirkel vielleicht den Rücken zuzuwenden gedachte.


    Als die Tordalk auf ihrem Weg nach Arashima auf einem Zwischenstopp vor Schwalbingen ankerte, standen Vendelin und Arbogast zufällig am Kai bereit und Vendelin lud sie beide selbst ein. Mit einem Lächeln, das seine grauen Augen nicht erreichte, trat er an Bord.

  • Silvano beäugte mit schräg gelegtem Kopf und der Hand auf dem Haken die Gäste, die einfach an Bord der Tordalk gekommen waren. Mit dem gleichen stechend-feindseeligem Blick starrte Alessio die Gäste an.


    "Dies ist die Tordalk, Schiff von Boldiszar de Mancini, wer seid Ihr und was wollt Ihr? Sprecht!", forderte Vano in einer Lautstärke, die Arbogast einen Schritt zurückweichen und blinzeln ließ.

    Archibald und Hector traten neben Vano und Alessio und schauten sich die Gäste an.


    "Das ist Onkel Timo und der Lappen neben ihm ist mein unfähiger Sohn Arbogast", erklärte Archi.

    Hector schaute kurz zu seinem Vater und nickte knapp, "fast richtig", fügte er an.

    "Kakko?", rief er nach seinem Sohn.


    "Onkel Timo und unfähiger Arbogast, willkommen an Bord der Tordalk. Nein ich kenne Dich! Du bist doch der stinkende Penner, der Tekuro einmal im Hof von Davet begleitet hat nicht wahr?", sagte Vano mit einem Lächeln im Gesicht, während Arbo ein Gesicht zog, als hätte ihn Mancini gerade in die Eier getreten.

    "Ja sein Duft ist unverkennbar, Scheiß, Schweiß, Alkohol und was weiß ich noch alles", pflichtete Archibald bei, was Hector grinsen ließ.


    "Dann sei willkommen an Deck ist viel Platz und Frischluft", grinste Vano nicht weniger Haifischartig als die beiden Beißer, während sich Arbo fragte warum der Mann so schrie.

  • Vendelin lächelte höflich. Die Schmähung von Arbogast ignorierte er.


    "Mein Name ist Timothèe Mauchelin, ich arbeite in der Schreibstube seiner Majestät. Da mir bekannt ist, dass seine Hoheit Prince Ciel Felicien de Souvagne an Bord weilt und dieses Schiff wahrlich unverwechselbar ist, hielt ich es für angebracht, ihm meine Aufwartung zu machen. Den Sohn des Duc zu ignorieren wie einen Landstreicher wäre eine schwere Unhöflichkeit. Nicht zuletzt hoffte ich, meine werten Verwandten hier zu treffen, wie den guten Archibald, doch offenbar ist auch sein Sohn mit von der Partie? Welch eine Freude, ich hatte noch nicht die Ehre, persönliche Worte mit Euch zu wechseln, wenngleich das Antlitz mir bekannt ist."

  • "Schön Dich an Bord zu sehen Vendelin. Wie steht es um unseren Enkel? Ist das Küken schon geboren? Ja seine Majestät ist hier an Bord, ebenso Prince Linhard von Hohenfelde. Du und Hector Ihr kennt Euch bereits, jedenfalls vom Sehen her. Ihr solltet einander kennenlernen.


    Das was Silvano zu Arbogast sagte Kakko, ist leider nichts als die Wahrheit. Als wir gemeinsam mit Tekuro unterwegs waren in Souvagne, hat er leider nichts anderes getan, als unnütz mitzulaufen und zu stinken. Das liegt an seiner Alkoholsucht. Aber jeder Versuch ihm das auszutreiben hat nichts genützt. Irgendwann habe ich erkannt, dass es nicht an mir liegt, ob er aufhört oder nicht. Das kann er nur allein, weder Gewalt noch gute Worte werden daran etwas ändern. Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen.


    Und falls Arbo bei Tekuro und Silvano übernachtet hat, wird er da genauso vor sich hingemüffelt haben, wie überall. Das ist keine Beleidigung, sondern eine traurige Tatsache. Wie soll so aus dem Mann überhaupt ein Beißer werden? Er stinkt dermaßen, dass ihn jede Beute drei Meilen gegen den Wind riecht und er selbst riecht kein Opfer. Er riecht gar nichts, außer sich selbst. Das ist der gleiche unnütze Versuch wie Jesper von einer Diät zu überzeugen", erklärte Archibald seinem Ziehenkel freundlich und wandte sich an Hector.


    "Die Frage ist berechtigt, was ist mit Arbo? Hast Du ihn verstoßen?", fragte die Bestie leise.

    "Nein, das habe ich nicht. Im Wald nach dem Biss suchte ich Dich, ich dachte Du wärst in der Nähe. Also nutzte ich den Opak, um herauszufinden wo Du bist. Als er auf Arbogast deutete, hätte er anzeigen müssen, dass dieser von meinem Blut ist. Aber der Opak schwieg. Also wer ist das?", flüsterte Hector seinem Vater ins Ohr.


    Anhand Archibalds Miene konnte man nicht erkennen, was ihm zugeflüstert worden war, auch nicht als er Hector auf gleichem Weg antwortete.


    "Verstehe. Sicher das Du ihn vorher geeicht hast? Ihr habt Kakkos Vater gesucht. Du warst stinksauer, Du warst neben der Spur, Du warst kopflos und weit weg von Zuhause. Denk scharf nach Bübchen", raunte Archi nur für Hector hörbar.

    "Wohl wahr, keine Ahnung Paps", flüsterte Hector zurück.

    "Dann haltet Frieden. Die letzte Zeit hat er versucht sich zu machen", entschied Archibald und Hector nickte zustimmend.


    "Vielleicht wird Arbogast die Chance an Bord nutzen und sein Problem in den Griff bekommen. Tekuro ist hier und Du hast uns erzählt, er hätte Dir bereits einmal geholfen. Er wird Dir erneut beistehen", sagte Hector umgänglich.

    "Tekuro hilft jedem, der sich helfen lassen möchte. Das wissen wir, er hilft sogar denen die nicht so offen sind. Die öffnet der gute Bellamy dann", lächelte Vano verschmitzt.


    "Möchtest Du zuerst Prince Ciel Deine Aufwartung machen oder mit mir sprechen?", fragte das Grauen den Aal.

  • Vendelins Miene verriet Amusement. "Ich möchte niemanden in ein schlechtes Licht rücken, aber wenn meine Frau mir ein Kind unterschieben würde, dass laut magischem Artefakt nicht mein Sohn sein kann, würde ich wohl zu anderen Schlussfolgerungen kommen als ihr. Arbogast ist jedenfalls der Letzte, dem man die Schuld daran zuschieben sollte.


    Mein Enkelsohn ist gesund und der Vater glücklich, die Mutter allderings weniger, aber das wäre wohl niemand, der auf seine Hinrichtung wartet. Nun, ihre Söhne waren bei ihr, um sich zu verabschieden, das wird sie immerhin gefreut haben."


    Er wandte sich Hector zu.


    "Sprechen wir beide zunächst. Die Gespräche mit Prince Ciel dauern erfahrungsgemäß immer ein wenig länger, er ist ein sehr anregender und auch seinerseits wissbegieriger Gesprächspartner."

  • Archibald zückte sein Schwert und reichte es Hector. Das Grauen schloss die Klauen um die Waffe und verstaute sie an seiner Hüfte.


    "Denk dran, was ich Dir gestern gesagt habe. Und erinnere Dich daran was ich Dir erläutert habe. Einfach eine Frage der Konzentration. Deins bis ich wiederkomme", erklärte Archibald und drückte seine Stirn liebevoll gegen die von Hector. Danach fiel seine Kleidung in sich zusammen und eine Fledermaus schoss wie ein Pelzball in die Nacht hinaus.


    "Barla Sikara (Gute Jagd)", segnete Hector Archibalds Vorhaben und machte dann eine einladende Geste Vendelin gegenüber.

    "Folge mir in unser Quartier Vendelin, Kakko komm", sagte er freundlich und gab den Weg vor.


    Hector führte die beiden in ihr Quartier und machte es sich am kleinen Tisch gemütlich.

    "Was verschafft mir die Ehre dem Princen bevorzugt zu werden? Kakko sei so lieb und besorge unserem Gast etwas gutes zu beißen und mir etwas zu trinken. Hol Dir selbst auch was Leckeres Kleiner", sagte Hector freundlich.

  • Während Kakko davonschlenderte und sich nebenbei alles anschaute, folgte Vendelin dem anderen Beißer in dessen Quartier. Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn zusammen mit seinem Hut über einen Kleiderhaken. Dann ließ er sich nieder.


    "Die Neugier ist's, lieber Hector, die erwachte, seit wir über deine bedauernswerte Schwester familiär miteinander verbunden sind. Bislang kanntest du mich nur unter meinem Jägernamen Onkel Timo oder auch der Aal. Die Wigbergs sind dir ein Begriff?"

  • Die Klinke wackelte, ehe sie mit dem Ellbogen heruntergedrückt wurde. Kakko kam mit einem Tablett hinein, das er auf den Tisch stellte. Er servierte beiden Männern einen Teller mit rohen Filetstreifen, dazu gab es Orangenscheiben und Basilikumblätter. Eine kleine Karaffe mit Zitronensaft sowie Salz und Pfeffer rundeten das Ensemble ab.


    "Ich habe hier Rosèwein und Wasser, ich hoffe, das ist so in Ordnung?" Fragend schaute Kakko seinen Vater an, während er das Besteck austeilte.

  • Hector wartete bis es sich Vendelin gemütlich gemacht hatte.


    "Meine Schwester ist nicht bedauernswert, sondern ein dummes Luder dass es ständig schafft von einen Fettnapf in den nächsten zu stolpern. Da habe ich Schwestern, um die ich wirklich trauern würde. Vor allem eine, eine äußerst gefährliche und taffe Jägerin. Aber Derya? Nun sie hortet zuviel bei sich Zuhause. Man kann sich keine Sammlung leisten, wenn man kein Versteck oder kein Nest hat Vendelin. Aber wem sage ich das, Du weißt das besser als jeder andere.


    Es freut mich, dass Du der Neugier den Vorzug gibst. Da teilen wir beide eine Leidenschaft. Ja die Wigbergs sind mir ein Begriff, wieso?", fragte Hector gut gelaunt und schaute dann auf die Köstlichkeiten die Kakko ihnen beiden servierte.


    Er strich seinem Sohn über den Kopf, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief.


    "Meine ist Deine Portion Kakko, ich kann das Fleisch leider nicht mehr genießen. Aber der Duft ist abgrundartig göttlich. Sei so lieb und hol mir einen Liter Blut", bat Hec.

  • Amüsiert zog Vendelin sich den Teller hin und schenkte sich etwas von dem Wein ein, den er mit Wasser verdünnte. Trübe Perlen von Zitronensaft regneten auf die Filets, Pfeffer und Salz rieselten, die Gabel faltete ein Stück zartes Fleisch, pickte noch ein Basilikumblatt auf und dann probierte er. Langsam kaute Vendelin. Weiblich, Ende zwanzig, kein guter Ernährungszustand, aber bestens zubereitet. Jemand musste den Smutje gut instruiert haben, was die Zubereitung von Menschenfleisch anbelangte. Er hatte das Maximum herausgeholt.

    "Sehr gute Küche", lobte er und fühlte, wie die unheilige Wärme sich in seinen Eingeweiden ausbreitete, die ihn nie darüber hinwegtäuschen konnte, ob er hier vom verbotenen Fleisch kostete oder ob es Schwein war, das auf seinem Teller lag. Vendelins bleiches Gesicht nahm eine gesunde Farbe an, als würde ihn die Mahlzeit regenerieren. "Wigberg, das ist mein Name", sagte Vendelin leichthin. "Vendelin von Wigberg." Er aß noch ein Stück.

  • "Alles in Ordnung Kakko, ich muss selbst erst dran gewöhnen", sagte Hector gelassen zu seinem Sohn, als dieser die Karaffe Blut brachte.


    Er goss sich ein Glas voll ein, trank aber nicht sofort, sondern beobachtete Vendelin wie dieser das Fleisch verspeiste. Zitronensaft tropfte auf das Fleisch herab, gefolgt Pfeffer und Salz die es zusätzlich würzen sollten. Vendelin stach die Gabel in das Fleisch wie ein Liebhaber seinen Stachel in das Fleisch seiner Braut bohren würde. Er faltete es in einer fast zärtlich anmutenden Geste zusammen, garnierte es mit einem Blatt Grünzeug und schob es sich langsam in den Mund. Hector musste alle Kraft aufbringen, die Geste des Kauens nicht nachzuahmen. Der Genuss stand Vendelin förmlich ins Gesicht geschrieben, als Krönung röteten sich noch seine Wangen glückseelig. Vendelin aß nicht, er speiste, mehr noch er liebte das Stück Fleisch mit Zunge und Zähnen.


    Hector schenkte ihm ein ehrliches Lächeln, schwenkte sein Blut in dem Glas und nahm einen langen Schluck. Wie schon beim ersten Mal, wurde der Hunger stärken sobald er trank. Ein uralter Effekt, der durch den Blutgenuss sogar noch verstärkt wurde. Kaum dass es seine Zunge benetzte, schien er an das wahre Ausmaß seines Hungers erinnert zu werden. Hector trank bewusst langsam und genoss jeden Schluck.


    Als er seinen vollständigen Namen offenbarte, prostete Hector ihm zu.


    "Willkommen in meinem Quartier Vendelin von Wigberg, wie komme ich zu der Ehre dass Du mir derart vertraust? Du bist ein wahrer Genießer nicht wahr? Es freut mich, dass es Dir derart mundet. Möchtest Du ein Schluck Blut kosten? Erzähl mir von meinem Neffen, wie heißt der kleine Wonneproppen?", hakte Hector neugierig nach und fragte sich, ob Vendelins Lippen den Fleischgeschmack der Beute aufgenommen hatten.

  • "Ich weiß gutes Essen durchaus zu würdigen, ja", antwortete Vendelin freundlich. "Und dieses ist ausgezeichnet, mein Lob an die Küche beziehungsweise Kombüse." Er gab etwas Blut in seinen Wein, hob das Glas erneut und erwiderte den Trinkgruß, ehe er ein Viertel des Glases leerte. "Hm, ausgezeichnet, auch in dieser Form.


    Die Zeiten ändern sich. Mein Zweig hat beschlossen, die extreme Abschottung ein wenig aufzulockern, um fortan mehr am allgemeinen Familienleben der Sippe teilzunehmen. Wir beide sind nun verwandt, nicht wahr? Darum sollst du erfahren, wer ich wirklich bin, das oberhaupt eines für Generationen verborgenen Wigbergzweiges, der sich in Almanien verwurzelt hat, lange bevor der Rest der Sippe aus Naridien nach Souvagne kam. Dass die Dornburgs Teil der Sippe sind, dürfte sich ja inzwischen herumgesprochen haben, nehme ich an. Nicht umsonst wählte ich Derya als Mutter meines Enkelkindes. Dem kleinen Corvin geht es prächtig. Er sieht Archibald erstaunlich ähnlich, er erbte das schwarze Haar der Dornburgs und die grünblauen Augen."

  • "Wir werden Dein Lob an den Koch weitergeben. Stimmt, das Blut hat ebenfalls einen ausgezeichneten Geschmack, wobei ich Dich um den Fleischgenuss beneide. Allein die Haptik im Mund, wie die Zähne die Fasern zerschneiden ist ein unbeschreibliches und besonderes Gefühl. Bei jedem Bissen den man tätigt spürt man den Beweis dafür, dass man Jäger ist. Kein Fleisch, dass sich den Zähnen widersetzen könnte. Aber nun? Nun kann ich es bestenfalls zur Freude kauen, ob ich es noch verdauen könnte, weiß ich nicht. Andere kauen Kautabak, wieso sollte ich kein Fleisch aus Freude kauen? Genieß es für mich mit Vendelin.


    Interessant, wärst Du ein Zweig der Hohenfelde würde ich sagen, eine von des Meisters Blumen. Da Du offen bist, bin ich es auch Bruder. Wir waren schon immer verwandt, die Dornburgs gibt es nicht. Weder Archibald noch ich sind mit den Dornburgs blutsverwandt Vendelin.


    Alastair von Hohenfelde ist der Vater von Archibald, also damit mein Großvater. Archibalds Eltern waren Alastair von Hohenfelde und Rigmor von Sonnenwalde. Sie war mit Undorich von Dornburg verheiratet, also angeheiratet. Undorich von Dornburg hat Archibald als Kuckuck aufgezogen. Bis auf den Namen teilt Archibald nichts mit diesem Mann, nach dem Blut ist er ein Hohenfelde, genau wie ich. Die Information hat er noch nicht sehr lange und erst seit einigen Stunden.


    Das Haar und die Augenfarbe von Archi geerbt zu haben ist nicht schlecht, er wird also mal ein schmucker Bursche der kleine Corvin.


    Was hat Dich nach Schwalbingen verschlagen? Wohin wir unterwegs sind, ist Dir bekannt. Wirst Du uns begleiten? Prince Ciel ist ein sonderbarer Bursche, hochintelligent und begriffsstutzig zugleich. Ich habe nie eine verwirrendere Person als ihn getroffen. Und trotzdem, vielleicht gerade deshalb hege ich große Zuneigung für ihn. Ihm gebührt mein Respekt, er trotzte unserem Ältesten", sinnierte Hector und musterte Vendelin aufmerksam bei dem Wink.

  • "Korrekt", stimmte Vendelin zu, aß noch eine Gabel und legte dann sein Besteck erst einmal ab. Mit einem Stofftaschentuch tupfte er seinen Mund sauber, ehe er es wieder zusammenfaltete und zurück in seine Hosentasche schob. "Das eröffnet natürlich die Frage, was würde mit den Beißern und dem Zirkel geschehen, würde die Führung mit einem Male wegbrechen. Auch solche Dinge muss man bedenken, gerade solche Dinge. Gibt es denn für diesen Fall einen offiziellen Notfallplan oder eine geregelte Nachfolge?"


    Kakko beobachtete ihn die ganze Zeit, während er seine eigenen Fleischstreifen mumpelte. Der Junge machte keinen Hehl aus seiner Neugier und zeigte keinerlei Zurückhaltung.


    "Kakko scheint dir zu vertrauen. Euch beide zu sehen, erfüllt das Herz eines jeden Vaters mit Freude. Keine Dornburgs dem Blute nach, doch man könnte es fast schon als die Neugründung eines eigenen Zweiges unter diesem Namen annehmen. Denn wie Hohenfeldes lebt ihr nicht und niemand sollte diesen Namen tragen, wenn man mich fragt, er bringt nur Unglück.


    Dein Vater war also ein Kuckuck ... und dein Sohn ist es wieder. Korrekt? Weder Archibald noch du seid von einer Mutter aufgezogen worden, genau so wenig wie Kakko. Und auch die Tradition meines Zweiges sieht vor, die Kinder stets ohne Mutter aufzuziehen."

  • Hector lehnte sich zurück, trank einen Schluck und musterte Vendelin schmunzelnd über den Rand seines Glases hinweg.


    "Wie heißt es doch so schön in Souvagne? Der Duc ist tot, lang lebe der Duc. Ebenso würde der Zirkel verfahren, fällt das Oberhaupt, wird es durch einen Nachfolger ersetzt. Ob nun das Oberhaupt des gesamten Zirkels, oder eines Nestes. Wenn die Geschichte eines bewiesen hat, dann wohl, dass es meist die Prätorianer - die Wächter waren, die darüber das Urteil fällten.


    Wer wacht über die Wächter?


    Eine uralte Frage, die allerdings zwei Seiten birgt. Einmal wer passt auf, dass die Wächter ihrer Aufgabe nachkommen. Und einmal wiederum, wer behütet die Wächter, wenn sie selbst Hilfe bedürfen? Wer Vendelin? In Zirkel niemand, sie sterben für die Ziele anderer und zum Wohle des Nestes, des Ordens und vielem mehr. Aber wer blutet oder stirbt für sie? Falls es überhaupt vorkommt, dann ist es eine private Sache zwischen zwei Personen, ansonsten sind sie Waffen - heilige Ordenswaffen, dennoch Waffen", antwortete Hector absolut neutral, aber seine Augen sprachen eine andere Sprache. Sie suchten nach in Vendelins nach Verständnis, nach gleichem Gedankengut.


    Als die Sprache auf Kakko kam, hellte sich Hectors Miene auf. Man sah ihm an, wie er über den kleinen Kuckuck dachte.


    "Die Dornburgs als eigenen Zweig zu sehen gefällt mir. Es freut mich, dass Du Dich für uns freust. Ja Kakko und ich vertrauen einander, er ist mein Ein- und Alles. Ich liebe alle meine Kinder, aber er nimmt eine Sonderstellung ein. Justinian ebenso auf seine Art, aber wir sehen uns selten, er hat sein eigenes Nest zu hüten.


    Unsere Kinder werden von Ammen aufgezogen, da wir Babybeißer sind, ein offenes Geheimnis. Aber sobald sie der Phase entwachsen sind, kümmern wir uns um sie. Manfredo mein Kumpel erzählte mir einmal, dass es Seepferdchen genauso halten. Wusstest Du das? Es sind Fische, die tatsächlich aussehen wie Pferde. Er hat mir mal ein getrocknetes aus seiner alten Heimat mitgebracht. Sie sind erstaunliche und extrem schöne Kreaturen. Jedenfalls sagte mir Manni, dass bei den Seepferdchen die Männer die Eier in eine Bauchtasche gelebt bekommen und sie tragen sie dann aus und behüten sie. Bei uns ganz ähnlich, wenn seine Erzählung stimmt und keines seiner Gute Nacht Märchen war.


    Er erzählt gerne Seemannsgarn, ich glaube dass ist allen Fischköpfen zu eigen. Was nicht schlimm ist, ich mag seine Geschichten, meist lehrreich, witzig, gruselig oder unterhaltsam. Die beste war mal von einem Zuckerbäcker der die Gabad quälte indem er ihnen heimlich die Zahnfäule unterschob. Aber den Schmarn kannst Dir mal selbst anhören. Trotzdem hatte ich danach zig schlaflose Nächte, weil ich geträumt habe, irgendwer würde mich mit Kuchen zwangsfüttern wollen. Dafür hätte ich Manni in den Arsch treten können, aber ich wollte den Mist ja hören", lachte Hector leise.


    "Die Liebe eines Vaters ist nicht weniger stark oder bindend als die einer Mutter. Eine Nestschwester nannte es einmal Mann-Mamas, ein Begriff der es ganz gut trifft. Zwei meiner Kinder wurden von meiner Gefährtin aufgezogen. Die Frau kannst Du allerdings als vollwertigen Jäger rechnen, die hat mehr Eier in der Hose als so manches Nest zusammen.


    Das Du es ebenso handhaben möchtest, verstehe ich. Wer wird Corvin aufziehen? Ein Rabe und ein Kuckuck. Richtig mein Vater war ein Kuckuck und ich habe ebenfalls einen an der Seite. Ganz und gar freiwillig.


    So unter uns dreien, wir sind weit weg vom Zirkel und von einem Nest. Wieso fragst Du bezüglich der Nachfolge? Hast Du vor ein Nest zu gründen oder eines auszulöschen? Oder möchtest Du den Zirkel übernehmen? Dein Kopf wäre als Oberhaupt hübscher als dass von Mabel. Du solltest mindestes genauso gerissen, skrupellos, brutal und sadistisch wie die Baronin sein, sonst wird sie Dich bei lebendigem Leib fressen. Und siegst Du nicht Vendelin, kann ich Dir nicht beistehen, ich werde Mabel unterstützen müssen. Für meine Kinder, allen voran für Kakko. Also was planst Du?", fragte Hector neugierig.

  • "Ich? An der Spitze?" Vendelin lachte und naschte ein Basilikumblättchen. "Sehe ich denn aus wie eine Führungskraft? Für die Nachfolge wäre ich denkbar ungeeignet, ergo ist es müßig, mich um eine solche Position zu bemühen. Weder verfüge ich über die Gabe der Magie noch über die der Kampfkunst, ich bin nur ein einfacher Buchhalter. Als solcher aber hier und da vielleicht recht nützlich und ich habe den einen oder anderen guten Kontakt. Sollte der Sturm seine Richtung ändern, so sollte man sein Segel rechtzeitig in den Wind drehen, damit das Boot nicht sinkt, nicht wahr? Gäbe es entsprechende Tendenzen, würde ich dem entsprechenden Kandidaten meine Unterstützung zusichern, sollte ich ihn für geeignet halten.


    Nicht alle Vorgänge im Zirkel treffen jedermanns Wohlgefallen. Manche finden, dass ein frischer Wind nötig wäre, um den alten Staub der Vergangenheit loszuwerden.


    Und mir stellt sich neben anderen die große Frage, wen schützen die von dir benannten Wächter? Sie bluten, sie sterben. Aber wem dienen sie? Der Sachverhalt ist nicht so simpel, wie er scheint. Schützen die Wächter den Zirkel - oder schützen sie die Baronin? Das ist keine triviale Frage, sondern eine fundamentale! Denn die Baronin ist nicht der Zirkel. Und was müsste man tun, wenn die Baronin dem Zirkel nicht gut täte? Du als Wächter, wie würdest du diese Frage beantworten?"

  • "Schiffe und Boote sind eigentlich nicht mein Ding, aber das ist ein anderes Thema. Nur ein einfacher Buchhalter, tja und ich bin ein einfacher Hausmeister mit Schlüsselgewalt. Wir zwei haben es schon schwer nicht wahr?", grinste Hector gut gelaunt und nahm noch einen Schluck Blut und zwar einen ziemlich großen.


    "Die Antwort ist klar, wir sind dem Ältesten geweiht, auserkoren ihn, sein Besitz und seinen Zirkel mit unserem Leben zu verteidigen. Jeder der dem Zirkel schadet oder seine Existenz bedroht ist von uns zu richten. Nimm nicht mein Nest als Beispiel, denn bei mir lebt Mabel. Nimm das Nest von Justinian. Er ist das Oberhaupt des Nestes. Sein Wort ist Gesetz in seinem Nest. Streit zwischen Nestgeschwistern schlichtet er, Verfehlungen ahndet er, Straftaten richtet er. Zudem verteidigt er das Nest samt seiner Bewohner. Er hütet die ihm anvertrauten Besitztümer und mit dieser Arbeit sein Nest betreffend, sichert er das Überleben des Zirkels. So arbeitet jeder Schlüsselmeister. Würde Mabel morgen sagen wir mal nach Alessa ziehen, würde der dortige Schlüsselmeister schlagartig eine Zwischeninstanz über sich haben. Die Baronin steht über jedem Schlüsselmeister, wenn sie vor Ort ist. Sie lebt aber schon eine Ewigkeit in der Himmelsröhre, schon vor meiner Geburt lebte sie dort.


    Nun ich habe mir auch bereits einige Gedanken gemacht und überlegt, ob man unser Nest nicht einem Frühjahrsputz unterziehen sollte. Entstauben ist ein gutes Stichwort. Ein Zirkel frei von Gefahren internen Gefahren für die Geschwister, dass wäre mein Bestreben. Wofür Familie, wenn wir unser eigener Feind sind? Gemeinsam einsam?


    Das ist nicht Sinn eines Nestes und auch nicht der einer Familie. Meiner Meinung nach und ich weiß, dass einige ebenso denken. Mir ist auch bekannt, wie sonst Deine Sippe denkt. Sind Souvagnische Wiggis den Naridischen dort ähnlich?", fragte Hector lauernd.

  • "Wir agieren immer pro Familie", antwortete Vendelin ernst. "Immer, da gehen wir keine Kompromisse ein. Was ich mich gerade frage, mein lieber Hector, ist, ob du meine Gedanken absichtlich unbeantwortet lässt oder ob du nur versäumt hast, sie zu beantworten.


    Es geht nicht um die Baronin. Nicht um deinen Eid. Es geht draum, wen DU schützt als Schlüsselmeister. Eine alte Frau, von der du wenig zu halten scheinst? Oder den Zirkel, der dir zu Hause ist und das Nest, in dem dein kleiner Kuckuck lebt und atmet und in das er eines Tages vielleicht seine eigenen Eier legen wird?"