Das Verhör
172 nach der Asche, Naridien. Ein ledvigianisches Feldlager auf fremdem Territorium.
Zügigen Schrittes marschierte Garlyn vorneweg, die rutschende Hose nicht weiter beachtend, während Vittorio ihm mit der Armbrust in den Händen folgte und ihn scheinbar vor sich hertrieb. Dabei war die Waffe nicht einmal entsichert. Als das Feldlager in Sicht kam und die Wachposten ihnen entgegentraten, senkte Vittorio die Waffe. Garlyn wurde durchsucht, wobei man grob mit ihm umging, ihn schubste und auch Ohrfeige musste er ertragen und das der Wachposten ihn anbrüllte und schüttelte. Professionell war dieses Vorgehen nicht, doch das spielte längst keine Rolle mehr im Kargetas, wie man die Roten Berge in der Landessprache nannte. Der Wachposten hatte kürzlich einen besonders engen Kameraden verloren und ließ seine Wut nun an dem Gefangenen aus. Als Garlyn schließlich abgeführt wurde, schaute er hilfesuchend zu Vittorio herüber, doch er tat, als würde er es nicht bemerkten und begab sich zu seinem Vorgesetzten, um Bericht zu erstatten. Im Anschluss nahm er einen Kameraden zur Seite und bat ihn, etwas vorzubereiten.
Danach folgte er seinen eigenen Plänen.
Inzwischen hatte es wieder zu regnen begonnen. Die Wachen standen unter aufgespannten Planen und wer keinen Dienst hatte, verzog sich in sein Zelt. Planen schützten auch die Feuerschalen, die wegen der anhaltenden Nässe mehr qualmten als brannten. Die Ration zu kochen, machte keine Freude und der Rauch hing dick und schwer im Lager. Vittorio rieb sich die Nase von dem beißenden Geruch. Dabei verschmierte er Schlamm in seinem Bart. Er ging zur Waschstelle, wo er sich entkleidete und vom Regen duschen ließ. Er wusch seine Kleider im braunen Bach und kehrte nackt zurück, um sie im Vorzelt seiner Gruppe aufzuhängen. Die anderen Kleider waren immer noch feucht, doch er hatte keine andere Wahl, als sie anzuziehen, nachdem er sie bei der Feuerschale angewärmt hatte. Er stank wie ein Räucheraal. Ein ewiges Problem blieben die Stiefel, jeder besaß nur ein Paar. Er öffnete sie so weit wie möglich und steckte sie auf Stöcke bei der Feuerschale, in der Hoffnung, dass sie wenigstens die Nacht über trocknen konnten, selbst wenn sie am nächsten Tag wieder nass wurden, damit sie nicht anfingen, zu faulen und mit ihnen seine Füße.
Barfuß trabte er anschließend unter möglichst vielen Planen hindurch zu einem großen Zelt, in welchem die Gefangenen untergebracht waren. Er hatte Zutritt und das Recht, Gefangene zu verhören, so holte er Garlyn, der eingerollt auf dem feuchten Teppich lag, der den Bretterboden bedeckte, gleich wieder ab, um mit ihm allein in sein kleines Arbeitszelt zu gehen. Bewusst hatte er niemanden dazu beordert, ihm als Schutz zu Seite zu stehen. Er hatte seine Gründe, nicht anzunehmen, dass Garlyn versuchen würde, ihn zu überwältigen. Falls er sich irrte, war der Gespräch unter vier Augen ihm das Risiko wert.
Eine Kanne mit warmem, aber nicht heißen Tee, stand auf dem Tisch. Als Waffe taugte dieses Getränk nicht, so wenig wie der Krug, der aus verleimten Knochenstücken geformt und somit leicht war. Auch erzeugte er keine brauchbaren Scherben, falls er brach - wenn er es tat. Das war fast unmöglich zu schaffen bei diesem elastischen Harzleim, der dem Tee einen markanten Eigengeschmack verlieh. Die Splitterknochenkeramik stammte aus Rakshanistan. Vittorio wartete, bis Garlyn sich gesetzt hatte, schenkte ihm Tee ein und setzte sich auf die andere Seite des Tisches. Er beobachtete, wie der Gefangene seine Hände um den warmen Krug schloss und unglücklich hineinschaute. Kein Stolz, kein Trotz, aber auch keine übermäßige Angst. Verunsicherung überwog, wenn Vittorio sich nicht täuschte.
»Die Narbe an deinem Hals. Woher stammt sie?«
Garlyn stutzte. Doch dann sprach er. »Man hat mich dort gebissen.«
»Wer?«
»Das geschah beim Liebesspiel.«
»Ich denke nicht, dass es einfach geschah.« Vittorio blickte Garlyn all die Zeit über in die Augen. »Trink.«
Garlyn gehorchte.
Navu Lea war ein Wahrheitsserum, welches mit umständlichen alchemistischen Verfahren hergestellt wurde. Es war schwierig zu organisieren und teuer und stand nur wenigen Agenten im Dienste der Krone zur Verfügung. Im Normalfall wäre es in einem Feldlager im Kargetas nicht zu finden gewesen. Garlyn schloss nach dem Trinken die Augen und ließ den Kopf in den Nacken sinken. Seine Brust wölbte sich, als er tief einatmete und dann die Luft langsam durch die Nase entweichen ließ.
»Wie geht es dir?«, erkundigte Vittorio sich.
»Anders. Da war etwas in meinem Getränk, nicht wahr?«
»Dann bist du mit solchen Methoden vertraut.«
»Ja.«
Vittorio notierte nichts. Die Dinge, die er zu erfahren hoffte, waren in seinem Gedächtnis am sichersten aufgehoben. Eine Kopie würde es nicht geben. Starb er, starb das Wissen mit ihm. »Woher stammt die Bissnarbe an deinem Hals?«, wiederholte er seine Frage.
»Von meinem Herrn.«
»Wer ist dein Herr?«
»Mein Herr war Wenzel von Wigberg.« Die Lider des Mannes flatterten und er setzte sich wieder gerade hin. Die Sehnen an seinem Hals traten für einen Augenblick hervor. »In seinem Testament schenkte er mir die Freiheit.« Eine Nebenwirkung von Navu Lea war, dass auch das körpereigene System zur Lüge, genannt Selbstbeherrschung, versagte. Dem Krieger rannen die Tränen über die Wangen. »Aber er ist tot.«
»Er war dir wichtig«, sprach Vittorio in einfühlsamem Ton. »Wozu der Biss?«
»Wenzel lebte nach dem Gesetz der Jäger und war regelmäßiger Gast in der Himmelsröhre. Die Markierung ist das Recht der Jäger. Als Wenzel sich seine Zähne verdiente, wählte er von allen Sklaven aus dem Pferch mich allein und ich blieb zeit seines Lebens sein einziger Sklave. Mir ist bewusst, welche Ehre er mir damit erwies und ich habe ihn nie enttäuscht!«
Langsam formte sich ein Sinn aus den Bruchstücken. Ein Soldat, der einst Sklave gewesen war und sich nun an menschlichen Herzen labte, Bissmarken und Jäger - auf was auch immer Vittorio hier gerade gestoßen war, es handelte sich um eine Goldgrube an Informationen. Wenn Vittorios Eindruck stimmte, war er auf der Spur einer Parallelgesellschaft im Schatten der Halbwelt von Naridien. Würde er raten müssen, würde er darauf wetten, dass die Himmelsröhre in Obenza lag. Er arbeitete für jemanden, für den solche Informationen hochinteressant sein dürften.
»Berichte mir von deinem Leben, Garlyn Meqdarhan«, bat er und schenkte ihm einen zweiten Becher ein.