• Das Verhör

    172 nach der Asche, Naridien. Ein ledvigianisches Feldlager auf fremdem Territorium.


    Zügigen Schrittes marschierte Garlyn vorneweg, die rutschende Hose nicht weiter beachtend, während Vittorio ihm mit der Armbrust in den Händen folgte und ihn scheinbar vor sich hertrieb. Dabei war die Waffe nicht einmal entsichert. Als das Feldlager in Sicht kam und die Wachposten ihnen entgegentraten, senkte Vittorio die Waffe. Garlyn wurde durchsucht, wobei man grob mit ihm umging, ihn schubste und auch Ohrfeige musste er ertragen und das der Wachposten ihn anbrüllte und schüttelte. Professionell war dieses Vorgehen nicht, doch das spielte längst keine Rolle mehr im Kargetas, wie man die Roten Berge in der Landessprache nannte. Der Wachposten hatte kürzlich einen besonders engen Kameraden verloren und ließ seine Wut nun an dem Gefangenen aus. Als Garlyn schließlich abgeführt wurde, schaute er hilfesuchend zu Vittorio herüber, doch er tat, als würde er es nicht bemerkten und begab sich zu seinem Vorgesetzten, um Bericht zu erstatten. Im Anschluss nahm er einen Kameraden zur Seite und bat ihn, etwas vorzubereiten.


    Danach folgte er seinen eigenen Plänen.


    Inzwischen hatte es wieder zu regnen begonnen. Die Wachen standen unter aufgespannten Planen und wer keinen Dienst hatte, verzog sich in sein Zelt. Planen schützten auch die Feuerschalen, die wegen der anhaltenden Nässe mehr qualmten als brannten. Die Ration zu kochen, machte keine Freude und der Rauch hing dick und schwer im Lager. Vittorio rieb sich die Nase von dem beißenden Geruch. Dabei verschmierte er Schlamm in seinem Bart. Er ging zur Waschstelle, wo er sich entkleidete und vom Regen duschen ließ. Er wusch seine Kleider im braunen Bach und kehrte nackt zurück, um sie im Vorzelt seiner Gruppe aufzuhängen. Die anderen Kleider waren immer noch feucht, doch er hatte keine andere Wahl, als sie anzuziehen, nachdem er sie bei der Feuerschale angewärmt hatte. Er stank wie ein Räucheraal. Ein ewiges Problem blieben die Stiefel, jeder besaß nur ein Paar. Er öffnete sie so weit wie möglich und steckte sie auf Stöcke bei der Feuerschale, in der Hoffnung, dass sie wenigstens die Nacht über trocknen konnten, selbst wenn sie am nächsten Tag wieder nass wurden, damit sie nicht anfingen, zu faulen und mit ihnen seine Füße.


    Barfuß trabte er anschließend unter möglichst vielen Planen hindurch zu einem großen Zelt, in welchem die Gefangenen untergebracht waren. Er hatte Zutritt und das Recht, Gefangene zu verhören, so holte er Garlyn, der eingerollt auf dem feuchten Teppich lag, der den Bretterboden bedeckte, gleich wieder ab, um mit ihm allein in sein kleines Arbeitszelt zu gehen. Bewusst hatte er niemanden dazu beordert, ihm als Schutz zu Seite zu stehen. Er hatte seine Gründe, nicht anzunehmen, dass Garlyn versuchen würde, ihn zu überwältigen. Falls er sich irrte, war der Gespräch unter vier Augen ihm das Risiko wert.


    Eine Kanne mit warmem, aber nicht heißen Tee, stand auf dem Tisch. Als Waffe taugte dieses Getränk nicht, so wenig wie der Krug, der aus verleimten Knochenstücken geformt und somit leicht war. Auch erzeugte er keine brauchbaren Scherben, falls er brach - wenn er es tat. Das war fast unmöglich zu schaffen bei diesem elastischen Harzleim, der dem Tee einen markanten Eigengeschmack verlieh. Die Splitterknochenkeramik stammte aus Rakshanistan. Vittorio wartete, bis Garlyn sich gesetzt hatte, schenkte ihm Tee ein und setzte sich auf die andere Seite des Tisches. Er beobachtete, wie der Gefangene seine Hände um den warmen Krug schloss und unglücklich hineinschaute. Kein Stolz, kein Trotz, aber auch keine übermäßige Angst. Verunsicherung überwog, wenn Vittorio sich nicht täuschte.


    »Die Narbe an deinem Hals. Woher stammt sie?«


    Garlyn stutzte. Doch dann sprach er. »Man hat mich dort gebissen.«


    »Wer?«

    »Das geschah beim Liebesspiel.«


    »Ich denke nicht, dass es einfach geschah.« Vittorio blickte Garlyn all die Zeit über in die Augen. »Trink.«


    Garlyn gehorchte.


    Navu Lea war ein Wahrheitsserum, welches mit umständlichen alchemistischen Verfahren hergestellt wurde. Es war schwierig zu organisieren und teuer und stand nur wenigen Agenten im Dienste der Krone zur Verfügung. Im Normalfall wäre es in einem Feldlager im Kargetas nicht zu finden gewesen. Garlyn schloss nach dem Trinken die Augen und ließ den Kopf in den Nacken sinken. Seine Brust wölbte sich, als er tief einatmete und dann die Luft langsam durch die Nase entweichen ließ.


    »Wie geht es dir?«, erkundigte Vittorio sich.


    »Anders. Da war etwas in meinem Getränk, nicht wahr?«


    »Dann bist du mit solchen Methoden vertraut.«


    »Ja.«


    Vittorio notierte nichts. Die Dinge, die er zu erfahren hoffte, waren in seinem Gedächtnis am sichersten aufgehoben. Eine Kopie würde es nicht geben. Starb er, starb das Wissen mit ihm. »Woher stammt die Bissnarbe an deinem Hals?«, wiederholte er seine Frage.


    »Von meinem Herrn.«


    »Wer ist dein Herr?«


    »Mein Herr war Wenzel von Wigberg.« Die Lider des Mannes flatterten und er setzte sich wieder gerade hin. Die Sehnen an seinem Hals traten für einen Augenblick hervor. »In seinem Testament schenkte er mir die Freiheit.« Eine Nebenwirkung von Navu Lea war, dass auch das körpereigene System zur Lüge, genannt Selbstbeherrschung, versagte. Dem Krieger rannen die Tränen über die Wangen. »Aber er ist tot.«


    »Er war dir wichtig«, sprach Vittorio in einfühlsamem Ton. »Wozu der Biss?«


    »Wenzel lebte nach dem Gesetz der Jäger und war regelmäßiger Gast in der Himmelsröhre. Die Markierung ist das Recht der Jäger. Als Wenzel sich seine Zähne verdiente, wählte er von allen Sklaven aus dem Pferch mich allein und ich blieb zeit seines Lebens sein einziger Sklave. Mir ist bewusst, welche Ehre er mir damit erwies und ich habe ihn nie enttäuscht!«


    Langsam formte sich ein Sinn aus den Bruchstücken. Ein Soldat, der einst Sklave gewesen war und sich nun an menschlichen Herzen labte, Bissmarken und Jäger - auf was auch immer Vittorio hier gerade gestoßen war, es handelte sich um eine Goldgrube an Informationen. Wenn Vittorios Eindruck stimmte, war er auf der Spur einer Parallelgesellschaft im Schatten der Halbwelt von Naridien. Würde er raten müssen, würde er darauf wetten, dass die Himmelsröhre in Obenza lag. Er arbeitete für jemanden, für den solche Informationen hochinteressant sein dürften.


    »Berichte mir von deinem Leben, Garlyn Meqdarhan«, bat er und schenkte ihm einen zweiten Becher ein.

  • Mein Leben im Pfuhl begann plötzlich. Von einem Moment auf den anderen war ich hier und existierte, ohne dass es ein Davor gegeben zu haben schien. Ein dicker Jüngling, gänzlich haarlos, weißhäutig und mit freundlichem Mondgesicht lag an mich geschmiegt. Wir schienen Freunde zu sein, denn er lag wie selbstverständlich in meiner Armbeuge. Aber wie er hieß - oder ich - war mir unbekannt. Irritiert sah ich mich um.


    Die Luft war stickig vom Geruch all der nackten Menschen, die mit mir die Zelle bewohnten, dennoch stanken sie nicht, sondern waren in gutem Pflegezustand, hatten nur den menschentypischen Eigengeruch. Ich sah karge Wände zu allen Seiten, doch sie waren weder rissig noch schimmlig. Die Umgebung war pragmatisch, aber sauber. Eine der vier Wände war vollständig vergittert, dahinter sah ich die nächste Wand. Licht drang nur von draußen aus dem Gang zu uns herein, so dass wir im Dämmerlicht lebten. Die anderen saßen oder lagen überall herum, viel Platz hatten wir nicht. Ihre Blicke wirkten sehr unterschiedlich: Die meisten schauten gelangweilt, andere resigniert, wenige verzweifelt und in einem Augenpaar sah ich den Wahnsinn blitzen, ehe es wieder hinter den Händen verschwand. Wir alle waren offenbar schon lange an diesem Ort und hatten uns überwiegend mit unserem Schicksal arrangiert.


    Doch wer waren wir? Wer war ich?


    Ich blickte an mir hinab, augenscheinlich war ich gesund, denn mein Bauch war fett wie der eines Mastschweins. Einen Augenblick war ich nicht sicher, ob ich männlich oder weiblich war, da mein Wanst meine Scham bedeckte und ich Brüste hatte. Aber das rote Körperhaar ließ erahnen, was ein kurzer Griff zwischen die Beine bestätigte - ich war männlich. Der rote Flaum verriet mir auch, dass ich nicht, wie ich zuerst gedacht hatte, noch ein Kind war, sondern die Grenze zum Mannesalter überschritten hatte. Warum ich angenommen hatte, ein kleiner Junge sein zu müssen, hing sicher mit meinem Gedächtnisverlust zusammen.


    Ich erhob mich und war nicht nur fett, sondern auch verdammt groß. Heilige Scheiße, ich war ein Hüne! Ich überragte alle, die sonst noch standen. Mein Schlafgefährte wälzte sich schwerfällig und schlief weiter. Mit meinen Speckbeinen watschelte ich zum Gitter, wobei alles an mir bei jedem Schritt wackelte. Mein Eigengewicht vorwärts zu wuchten, war eine Qual. Für die dicken Speckbrüste schämte ich mich besonders. In meiner Vorstellung hätte ich schlank sein müssen und viel jünger, ein kleiner flinker Junge, plötzlich aber war ich ein fetter junger Mann. Ich presste mein Gesicht so weit, wie es ging, durch die Gitter.


    »Hallo?« Das widerhallende Echo meiner Stimme verriet, dass dies ein recht langer und kahler Gang sein musste. Ich hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, doch es kam eine in Form einer kleinen, heruntergekommene Gestalt, die rattengleich herbei huschte.


    »Du bist aufgewacht, wie schön. Freust du dich schon auf die Meister?«, wisperte sie. Ein wenig gehässig klang sie, fand ich.


    »Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal mehr, wer ich bin und wo wir hier sind. Welche Meister?«


    Die Gestalt leckte ihre Hand an und rieb sich damit ihr fettiges Haar aus dem Gesicht. Die Stimme und die zwischen der Zottelmähne herumschlenkernden Brüste offenbarten, dass es eine Frau sein musste.

    »Hat dir die Ehrfurcht ob solcher Ehre den Verstand geraubt?« Die Gestalt kicherte. »Ein wenig mehr Konzentration. Du sollst doch wach sein an deinem großen Tag.«


    Wurde ich heute freigelassen? Aber was dann, so ohne Gedächtnis? Ich klammerte meine Wurstfinger um die Gitterstäbe. »Aber ich weiß nichts mehr. Kannst du mich rauslassen?«


    Sie hob beide Hände, als würde sie sich ergeben. »Habe ich einen Schlüssel bei mir? Ich bin nur eine Sklavin, so wie du ein Sklave bist. Nur ein wenig besser gestellt, denn wie du siehst, darf ich mich frei in der Himmelsröhre bewegen. Ich wollte nach dir schauen, weil du gerufen hast. Ein wenig neidisch bin ich schon auf dich.«


    »Aber wer bin ich, wie heiße ich? Und wie heißt du?«


    »Mein Name ist Ratte«, antwortete sie nicht ohne Stolz. »Und wie du heißt, ist gleichgültig. Frag die anderen Klöße, vielleicht wissen sie es, aber bilde dir nicht zu viel darauf ein. Du hast nämlich keine wirkliche Identität, bist nur ein namenloser Fettsack von vielen, auf dem Höhepunkt deiner Reife. Du bist Pfuhlsklave Nummer 11, das genügt. Und vor dir gab es schon andere Nummer 11s.« Sie musterte meinen aufgedunsenen Leib, ihr Blick blieb unangenehm lange auf meinen Speckbrüsten haften, dann auf meiner haarigen Wampe und schlussendlich auf meinem Schritt. Ich wünschte mir etwas, womit ich meine Blöße hätte bedecken können.

    Sie nickte zufrieden. »Die Meister werden dich mögen, zumindest jene, für die du so lange gereift bist. Weißt du was, Elf? Ich erweise dir einen Gefallen. Ich werde ihnen sagen, dass du ungeduldig bist und dich auf sie freust. So etwas hören sie gern.«


    Flink huschte sie davon. Sonderlich freundlich hatte ihre Stimme nicht geklungen, als sie behauptete, mir einen Gefallen zu erweisen, aber vielleicht täuschte das.


    So wendete ich mich wieder meinen Leidensgenossen zu - zumindest nahm ich an, dass wir litten, immerhin waren wir eingesperrt. Angst oder etwas anderes spürte ich jedoch nicht, nur große Scham, weil eine Frau meinen fetten Leib so angestarrt hatte, und Irritation. Mir fiel auf, dass sich in meiner Zelle nur Jungs und junge Männer befanden. Aber weder Angehörige des weiblichen Geschlechts, noch Säuglinge oder Kleinkinder oder ältere Männer. Und wir alle waren pummelig bis fett.


    Ich setzte mich neben den Burschen, den ich für meinen Freund hielt und rüttelte sacht seine weiche Schulter, so dass Wellen durch seinen Körper gingen, bis er mich schläfrig ansah. Weder am Kopf noch am Körper schien er Haare zu haben, vielleicht waren sie ihm ausgefallen.


    »Was heißt, ich habe meinen großen Tag?«, fragte ich. »Werden sie mich freilassen?«


    Er lächelte er dünnlippig. »Die Meister haben dich zu sich gerufen, es gibt keine größere Ehre. Ich wünschte, sie hätten uns beide gleichzeitig erwählt, doch ihre Wege sind unergründlich.«


    »Aber für was erwählt? Du weißt mehr«, hakte ich nach.


    Er legte sich etwas bequemer hin, so weit das auf dem blanken Boden möglich war, indem er nun seinen Kopf aufstützte. »Ich weiß auch nicht mehr als du. Aber Gefangene sind wir nicht, diese Ratte lügt. Wir sind in Wahrheit Waisenkinder, von unseren Eltern verstoßen, ausgesetzt oder geflohen, weil sie grausam zu uns waren. Die Meister haben uns gerettet und sie helfen uns, lassen uns hier bei sich wohnen, sicher versteckt vor unseren Eltern, und nähren uns. Die Meister beschützen uns, so lange wir hilflos sind. Wenn wir alt genug sind, entlassen sie uns in einer großen Zeremonie in die Welt, ausgestattet mit genügend Proviant und allem, was wir brauchen.«


    Das hörte sich nicht so großartig an, wie mein Freund es mir vorschwärmte. Eigentlich wollte ich nicht allein irgendwo an einen fremden Ort gebracht werden, sondern hier bleiben, wo es sicher war und mich jemand mochte.


    Ich legte mich neben ihn, das Gesicht ihm zugewandt. Vor ihm spürte ich keine Scham, sei es, weil wir beide junge Männer waren, sei es, weil seine Anwesenheit vertraut wirkte. »Ich werde sie fragen, ob wir zusammen gehen dürfen.«


    »Das ist lieb, aber das haben andere schon versucht ... die Meister entscheiden, wer soweit ist, wer schon geht und Platz für weitere hilfsbedürftige Kinder macht, und wer besser noch bleibt.«


    »Ich frage sie trotzdem. Wie heißt du?«


    »Na Zwölf. Hast du dich gestern so aufgeregt, als sie es dir gesagt haben?«


    »Vielleicht. Ich bin übrigens Elf.«


    Er lachte. »Das weiß ich doch!«


    Sein Lachen klang leicht und und unbeschwert, aber falsch an diesem Ort. Er legte den Arm um meine Schultern und zog mich dicht an sich heran. Sein Kuss war kalt und feucht wie der eines Fischs.

  • Erkenntnisse

    Noch immer prasselte der Regen auf die Zeltplane. Das Leinen hielt längst nicht mehr dicht und die Tropfen klatschten in die überall verteilt stehenden Töpfe. Eine einzelne dicke Kerze auf dem Arbeitstisch spendete genügend Licht, um den Inhalt des Zeltes zu erkennen. Vittorio saß rauchend auf dem einzigen Feldbett. Garlyn lag zwischen seinen Beinen und ließ sich mit geschlossenen Augen streicheln. Sein Rücken fühlte sich kalt an.


    Es gab eine unerwartete Schnittmenge zwischen Garlyn und Vittorio. Manchmal fanden Zufälle statt, die wahren so unwahrscheinlich, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte. Die Schnittmenge trug keinen geringeren Namen als Wenzel von Wigberg. Seit sich herausgestellt hatte, dass sie beide einst für diesen Mann gearbeitet hatten, fraß Garlyn seinem Häscher aus der Hand. Das unterwürfige Verhalten und die Bissnarbe ließen keinen Zweifel daran, dass dieser kräftige große Kerl mit Leib und Seele Wenzels Sklave gewesen war. Allen Widerstand und alle Sorge hatte er vergessen und sich in Vittorios Hand begeben, als letzte Verbindung zu Wenzel, die es für ihn noch gab.


    Draußen vor der Zeltplane plauderten ein paar Soldaten, doch niemand störte sie. Der Zelteingang von Vittorios Einzelzelt war verhangen. Das schützte nicht vor Mitwissern, sorgte aber dafür, dass andere guten Gewissens behaupten konnten, nichts bemerkt zu haben. Es war nicht gern gesehen, dass er sich einen Gefangenen mit ins Bett genommen hatte, aber auch nichts Ungewöhnliches. Bemerkte man es, wurde man gerügt und diszipliniert, aber niemand gab sich in ihrer Einheit Mühe dabei, diese Art von Verstöße festzustellen. So nutzte Vittorio die gehobene Stellung, die ihm Cavaliere Zelindo di Acacia aus Faulheit verschafft hatte, zu seinem Vergnügen aus. Alejandro Alballo jedoch verwendete sie zur Erfüllung seiner Pflicht. Hinter der Maske von Vittorio war er hellwach, aufmerksam und erwog seine Möglichkeiten.


    »Dein Herr hat dir also mit seinem Ableben testamentarisch die Freiheit geschenkt, Garlyn. Wie geht es dir nun damit? Nachdem du Wenzel so lange dientest, stelle ich es mir schwer vor, als freier Mann durch Naridien zu wandeln, plötzlich Verantwortung für sein Leben tragen zu müssen.«


    »Es ist auch nicht leicht. Darum habe ich mich als Söldner verpflichtet.«


    »Nicht als Soldat also.«


    »Nein, Vittorio. Ich habe keine Geburtsurkunde und kann nicht nachweisen, dass ich wirklich naridischer Staatsbürger bin. Meine Eltern verkauften mich ja schon als kleiner Junge in die Sklaverei. Offiziell gibt es das in Naridien nicht, aber Wenzel hatte nicht nur die naridische Staatsbürgerschaft inne. Der Dienst als Söldner ist schon in Ordnung.«


    Vittorio streichelte ihm den muskulösen Nacken mit der wulstigen Bissnarbe. »Ob dieser Beruf für dich wirklich der richtige ist, darf sicher diskutiert werden. Du hast die Leiche deines Kameraden angeknabbert, ihm das Herz rausgeschnitten und es gegessen. Bist du sicher, dass du den Dienst gut verträgst?«


    »Das ist keine Abnormität. Es ist eine Notwendigkeit«, sagte Garlyn leise.


    Vittorio nahm einen tiefen Zug. Er blies den Rauch aus seinen Lungen. Unter dem nassen Zeltdach verwirbelte er. Vittorio zog die Decke etwas weiter über Garlyn und damit auch über seine Beine. Der Mann fühlte sich kalt an wie ein Fisch und spendete keine Wärme. Für einen so großen, kräftigen Burschen war das ungewöhnlich. »Ich möchte dich über deine jetzige Situation informieren. Bislang hat niemand Interesse daran bekundet, dich auszulösen. Niemand scheint sich für dein Fehlen zu interessieren. Vielleicht aufgrund deiner kulinarischen Interessen?«


    »Etwas anderes kann ich nicht essen, Vitto. Ich bin ein Ghul. Wie ich schon sagte, mein Herr hielt stets seine schützende Hand über mich, auch nach seinem Tod. Ich könnte theoretisch ewig leben, doch alles hat seinen Preis. Damit ich jung und gesund bleibe, muss ich Tote verzehren.«


    Das Puzzle fügte sich. Nun ergab alles Sinn. Das Schleichen zwischen den Fronten, der heimliche Verzehr der Leichenteile, die körperliche Kälte. Garlyn war ein Geschöpf, das eigentlich längst zu seinem Herrn unter die Erde gehörte, sich jedoch durch den Verzehr von Leichenfleisch in einer körperlichen Existenz verankerte.

    »Wenn dein Herr sich die unsagbar teuren Dienste eines Nekromanten leisten konnte, um seinen Sklaven vor dem Tod zu retten, warum hat er sich nicht auch selbst unsterblich gemacht?« Vittorio kannte die Antwort, doch er wollte herausfinden, inwieweit Garlyn eingeweiht war in Wenzels Geheimnisse.


    Der Rotschopf schnaufte, ihm machte das Thema zu schaffen. »Wenzel konnte nicht wiederbelebt werden, weil er keine Seele besaß. Solche Menschen gibt es. Er hat mir davon berichtet, wie seine Vorfahren einst lebten, in jenen Nächten, die zu lang und zu dunkel waren und die er nicht allein verbringen konnte. Ich hatte ihm selbst nie viel zu erzählen, da ich mein Leben abgeschottet in der Himmelsröhre verbrachte, doch ich war der Zuhörer, den er brauchte.«


    »Jetzt bin ich der Zuhörer, den du brauchst«, sagte Vittorio freundlich und nahm noch einen Zug. »Wenzel ist bis zu seinem Tod unser beider Herr gewesen. Dich gab er frei, in meinem Fall endete das Dienstverhältnis auf normalem Wege. Ich war nicht sein Sklave, sondern arbeitete als freier Mitarbeiter für ihn. Fahre ruhig fort. Ich höre zu. Was weißt du über die Seelenlosen?«


    »Sie sind ein Relikt aus der Vorzeit. Damals waren die Hexenmeister der Adel der Welt. Sie regierten die alten Länder und fochten ihre Streitigkeiten anders aus als heute. Es tobten schreckliche Magierkriege, die unsere Welt in Asche versinken ließen, bis alles kollabierte. Das Jahr der Asche, der Beginn unserer Zeitrechnung, als die Magier ihre letzte Zuflucht durch ein gewaltiges Gefecht zerstörten. Viele Magier sind danach nicht übrig geblieben, die ihre Gabe noch vererben konnten, darum sind heute, ganz im Gegensatz zu früher, die meisten Menschen nichtmagisch. Und sie haben auch keine politische Macht mehr inne. Einige der Hexer wurden damals während der langen Magierkriege völlig ausgebrannt, sie verloren nicht nur ihre Gabe, sondern ihre Seele. Zurück blieben sterbliche Hüllen ohne jegliche Verbindung zum Nexus. Das hatte einen überraschenden Vorteil, es machte sie immun gegen magische Angriffe. Aber leider auch gegen jede Art von magischer Hilfe. Man kann sie weder verfluchen noch heilen und auch nicht wiederbeleben. Wenzel war ein Nachfahre solcher Ausgebrannter.«


    Er war also gut informiert. Das machte vieles einfacher.

    »Wenzel entstammte einem sehr alten Adelsgeschlecht«, bestätigte Vittorio. »Ihre Überlieferung reicht gut 600 Jahre zurück in die Vergangenheit. Trotz des Verlusts ihrer magischen Fähigkeiten haben die Wigbergs sich durchsetzen können und sie existieren noch heute. Wo Magie und Schwert keinen Erfolg mehr versprechen, müssen andere Lösungen her und diese Kunst haben sie gemeistert. Sie sind Spione, Wissenssammler, Meister der Heimlichkeit. Vor allem aber sind sie begnadete Marionettenspieler und ihre Fäden reichen weiter, als die meisten ahnen. Kaum einer hat je ihren Namen gehört und doch ist er überall. Es war eine große Ehre für dich, einem von ihnen dienen zu dürfen. Eine noch ungleich größere Ehre jedoch war Wenzels Dank. Das daraus resultierende kulinarische Problem stellt uns nun allerdings vor Schwierigkeiten. Es wird nicht leicht werden, dich in Gefangenschaft zu versorgen.«


    »Heißt das, man wird mich laufenlassen?«


    »Nein, Garlyn. Das heißt etwas völlig anderes. Auch ein Ghul ist nicht wirklich unsterblich. Und glaubst du, jemand wird dir Menschenfleisch besorgen? Niemand wird dir, nur weil du der Sklave eines edlen Herrn warst, solche Marotten durchgehen lassen oder sie gar unterstützen. Dafür müsstest du schon selbst den Namen Wigberg tragen, oder Caldera, oder La Grange und wie die hohen alten Häuser alle heißen. Du wirst nur Fischbrei erhalten, den du nicht verwerten kannst. Bald verlierst du deinen Verstand und beginnst bei lebendigem Leib zu verwesen. Spätestens dann wird man sehen, was du bist und dich um die Last deines untoten Hauptes erleichtern.«


    »Dann lass mich laufen«, bat Garlyn flehentlich. »Du siehst mich nie wieder. Ich bin ein moralischer Ghul, ich organisiere mir mein Fleisch auf den Schlachtfeldern dieser Welt. Ich bin nicht wie andere meiner Sorte, ich bin kein Mörder, der die Leichen seiner Opfer frisst. Ich verdiene mein Geld mit ehrlicher Arbeit und verwerte nur jenes Fleisch, das ohnehin anfällt, ob ich nun zufällig in der Nähe bin oder nicht.«


    »Ich kann dich nicht laufen lassen. Du bist Söldner. Du würdest zu deinen Auftraggebern zurückkehren, du würdest es müssen für Lohn und Fleisch. Man kann es dir nicht verübeln. Aber du siehst, dass ich als Kommandant nicht gegen meine Truppe entscheiden kann.«

    Garlyn schluckte und runzelte besorgt die Stirn. Seine Augen wanderten hin und her, als er nachdachte. »Ich will nicht sterben, Vittorio.«


    »Es gibt einen Weg«, sprach dieser sanft.


    Garlyn sprang auf die Knie und sah ihm hoffnungsvoll in die Augen. »Nenne mir die Bedingungen.«


    »Wenzel von Wigberg hatte einen guten Bekannten namens Timothèe Mauchelin. Für diesen Mann arbeite ich. Ich habe Grund zur Annahme, dass Monsieur Mauchelin den ehemaligen Sklaven Wenzels nicht dem Tod überantworten würde, wüsste er von deiner Situation. Wir könnten dich als seinen entlaufenen Sklaven ausgeben und nach Souvagne überführen. Dort hat er sicher Arbeit für dich. Jedoch erwarte ich absoluten Gehorsam und bedingungslose Fügung. Ich schenke dir heute das Leben und wenn du mich enttäuschst, nehme ich es dir an jedem anderen Tag, der mir beliebt.« Er bot Garlyn die Hand. »Sind wir im Geschäft?«


    Garlyn schlug die Hand beiseite und fiel ihm um den Hals.