Grau
Noch war die Sonne nicht aufgegangen, doch die Welt lag bereits im Zwielicht der Dämmerung. Allein stand Minette am Fenster und lauschte den Vögeln des Morgens. Kalt war die Luft, doch der Frost war heute Nacht ausgeblieben. Schwere Wolken zogen über Souvagne, die Frühlingsgewitter kündigten sich mit Stürmen an. Tausend winzige schwarze Silhouetten jagten mit dem Wind. Aus Evalon und von den Feuerinseln kehrten die Vögel zurück, denen Minette als Kind gern gefolgt wäre in wärmere, bessere Gefilde. Diese Träumereien hatte sie auch als erwachsene Frau verspürt.
Ihr Haar war grau geworden an den Schläfen. Sie hatte darauf verzichtet, es färben zu lassen. Einen Anlass, sich jünger zu machen, als sie war, gab es nicht. Sie warb um niemanden und musste niemanden repräsentieren. Minette war seit jeher ein graues Mäuslein gewesen, still und unauffällig im Schatten anderer.
Wenn es etwas gab, dass sie in ihrem Leben bewirkt hatte, so war es, dass sie einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hatte. Der Sohn war erwachsen geworden. Ihr Mann hegte andere Interessen, als weitere Kinder zu zeugen. Genügend Frauen hatte er gehabt und genügend Söhne gezeugt sowie eine wundervolle Tochter. Minettes Pflichten waren erfüllt und seine auch.
Was blieb war grauer Alltag.
Minette war sich ihres Platzes bewusst. Für schmückendes Beiwerk taugte dessen charismatische Ehefrau besser. Minette, die graue Mätresse, konnte nicht mithalten. Sie verlor auch kein Wort darüber, dass ihr Mann die zarte Romanze mit ihrer Leibwächterin gestört hatte, ohne dass es einen anderen Grund dafür gab, als dass er sie nicht zulassen wollte. Die Nacht verbrachte er mit seiner Ehefrau oder seinem Leibdiener. Minette verbrachte ihre allein.
Wie eine alte Frau verbrachte sie ihre Tage mit dem Spinnen und Weben von Garnen und Stoffen. Es war die Tätigkeit mit ihren Händen, die sie suchte, das gleichmäßige Surren des Spinnrades und des Weberschiffchens, das seine Bahnen zog. Am Ende hatte sie ein einziges Gewand daraus anfertigen lassen nach dem Vorbild der Tauben. Sie trug es heute, grau und weich, unscheinbar und wärmend.
Die Tauben verließen sie im Winter nicht. Wie kalt es auch war, wie sehr Frost und Kälte wüteten, die Tauben blieben bei ihr. Sie besuchte sie täglich, fütterte und umsorgte sie, lächelte, wenn eine auf ihrer Hand oder Schulter saß. Minette liebte ihre Tauben.
Was war Liebe?
Natürlich wusste Minette, dass ihre Gefühle bedeutungslos waren. Sie besaß einen Schrank voller Kleider, das beste Essen, Hofdamen. Sie hätte sich amüsieren können bei Speis, Trank und dem Tanz während der rauschenden Feste. Doch all dies war nicht geeignet, die tiefe Trauer und Einsamkeit aus ihrem Herzen zu vertreiben.
Am 24 Tag des Wandelmonds im Jahr 206 nach der Asche stieg Minette mit den nackten Füßen auf das Fensterbrett. Sie hinterließ keinen Brief, denn Minette klagte nicht. Minette breitete die Arme aus. Mit Füßen so nackt und kalt wie die eines Vogels stieß sie sich ab. In ihrem grauen Kleid rauschte sie durch die Luft, der Wind riss an ihrem offenen Haar.
Grau war der Himmel, kalt der Wind, als die Zugvögel von Süden heimkehrten. Die Tauben, die den Winter in Souvagne verbracht hatten, blieben in ihren Nestern. Der Tag barg nichts, was sie lockte.
Graue Stoffbahnen wanden sich über dem reglosen Körper von Minette im Wind.