• Hand aufs Erz

    Seine Ohren taten weh, als dem Stollen folgte, hunderte Meter bis unter die Oberfläche von Asamura hinab. Für ihn, der vom Dach der Welt kam, den eisbedeckten Gipfeln des Taiweng, war der Weg in noch größere Tiefen jeden Tag aufs Neue schmerzhaft. Es würde auch heute seine Zeit dauern, bis Karasu Korikara sich wieder an die Tiefe gewöhnt hatte.


    erzmine.jpgSeit 120 Jahren wurde die Lagerstätte unter Trux von über hundert Spitzhacken und Schaufeln zugleich ausgebeutet. Die nördlichste Stadt von Naridien trug den Beinamen "Eisernes Herz", denn unter hier ruhte das größte Eisenerzvorkommen der Welt. Trux wirkte für diesen Rekord bemerkenswert unscheinbar und geradezu langweilig. Außer zu arbeiten schien man nichts zu tun. Es gab eine einzige Taverne und einmal im Monat kamen Händler zum Markttag. In den kahlen Bergen, die Trux umgaben, wuchs nur zähes Gesträuch. Im Sommer ging die Sonne nicht unter und im Winter kaum auf.


    Doch tief unten in der Grube, wo das Eisenherz schlug, war die Welt eine andere, dunkel und geheimnisvoll, mit schimmernden Leuchtpilzen und schwirrenden Glühmotten, erfüllt von einem nach Rauch riechenden Wind, der wie heißer Atem aus noch größeren Tiefen wehte, die kein Mensch je betrat.


    Karasu Korikara lebte gern dort unten, auch wenn er nicht freiwillig hier war. In einer Schreibstube zu sitzen - allein der Gedanke ließ ihn ein Stückchen mehr sterben. Er, ein Arashi von reinem Blut, brauchte die Arbeit mit dem Körper. Nach all den Kämpfen, die er in seiner Heimat gegen die Natur gefochten hatte, war jener gegen das brüchige Stollenlabyrinth nur ein freundschaftlicher Ringkampf. Er maß lieber die Vorteile. Unter Tage war niemals schlechtes Wetter, weder durchweichte ihn eisiger Regen noch verklebte ein Schneesturm seine Augen und täglich gab es eine Ration heißen Brei, den sie sich mit ihrer Schale beim Gitter abholen konnten. Was wollte er mehr?


    Die wenigsten Grubenarbeiter teilten diese Ansicht. Für sie war das Bergwerk Verderben. Die Grube, in der sie gemeinsam Erz schürften, ernährte ganz Trux, aber sie fraß das Umland auf und verschluckte oft jene, die ihre Tiefen durchwandern. Karasu wollte daran nicht denken, doch er erinnerte sich noch genau an seinen Marsch zum Eingang, bevor er den Stollen für die nächsten zehn Jahre betrat, sah die frischen Risse in der Grasnarbe und das eingesunkene Erdreich, wo ein Stollen frisch eingebrochen war. Von dem, was er danach in den Tiefen gesehen und erlebt hatte, wollte er nicht sprechen. Er sagte stets nur so viel: "Es ist eine gefährliche Arbeit." Darum schickte man auch keine Bürger in das Bergwerk, sondern Menschen wie ihn, Verbrecher, die ihren mehrjährigen Arbeitsdienst ableisteten, manchmal bis zum Tod. Gefängnisstrafen gab es in Naridien nicht, hier hatte man die Grube.


    Das galt auch für Fremdländer wie ihn, die sich innerhalb der naridischen Grenzen eines Verbrechens schuldig gemacht hatten. Für ihn war das in Ordnung, denn unter Tage, wo die Sträflinge sich eine kleine Siedlung errichtet hatten, war er auf seine Weise frei. Die Quartiere der Arbeiter befanden sich nahe der Oberfläche, wo der frische Wind der Oberfläche durch die Gittertür fuhr, die den Eingang zur Mine verschloss und sie drinnen behielt. Gearbeitet wurde in der lichtlosen Tiefe. Zehn Jahre waren eine überschaubare Menge und er hat schon Schlimmere Zeiten erlebt. Die Arbeiter respektierten ihn für sein Wissen, was die Vorgänge der Natur betraf. Seit er hier wohnte und sie beriet, starben weniger von ihnen und unter Mördern und Schlimmerem fiel ein verurteilter Spion kaum ins Gewicht. Man achtete ihn für seine Leistung, anstatt ihn für seine Taten zu verurteilen. Selbst an Liebschaften gab es keinen Mangel, auch wenn man sich mit dem eigenen Geschlecht begnügen musste.


    In den Jahren, die Karasu Korikara schon Eisenerz schürfte, wurde das Bergwerk rasch größer. Mittlerweile förderten sie das Erz aus über einem Kilometer Tiefe, wo das Atmen nicht immer leicht fiel. Auch an der Oberfläche arbeitete ein großer Teil der Bewohner in irgendeiner Form für die Mine. Trotz der Abgelegenheit der Ortschaft lebte man gut in Trux, denn Naridien investierte viel. Die einzige Straße - die Eisenstraße, die bis zum Schiffshafen des Medianik führte - hatte Naridien sich zum Beispiel einiges kosten lassen. Für tausende Tonnen Eisenerz, die jedes Jahr in Trux gefördert wurden, war der Transport keine Kleinigkeit. Wie tief man auch grub, das Eisen im Boden würde der Minengesellschaft noch in Jahrzehnten oder vielleicht einem Jahrhundert klingende Münze bescheren, schließlich waren die meisten Arbeitskräfte kostenlos. Erz ohne Grenzen, das war die Devise.


    Für die freien Arbeiter, die an der Oberfläche blieben, baute die Minengesellschaft neue Häuser, sie bezahlte Umzüge und war der größte Sponsor der Radhora Trux, jenes Teils der Armee, der die heißbegehrte Region vor Überfällen schützte. Und alle, die in Trux lebten und arbeiteten hofften, dass keine Wirtschaftskrise sie je erreichte, denn ohne den Erzabbau und ohne die Minengesellschaft starb auch Trux. Was dann aus den über hundert Sträflingen werden würde - ungewiss.


    Was Karasu Korikara betraf, so trennten ihn nur noch drei Jahre vom Licht. Doch wenn er an den Tag seiner Entlassung dachte, war er nicht sicher, ob er tatsächlich den Berg verlassen wollte, oder ob er der Außenwelt und den Taten, die auf seinem Gewissen lasteten, der Schande und der Verstoßung nicht ein für alle mal den Rücken kehren wollte, um den Frieden zu umarmen, den ihn die Grube gelehrt hatte.