Kälte
Silvano saß draußen auf der Terrasse und las ein Buch. Es war kalt geworden, sein Atem stieg in weißen Wolken auf, ebenso der warme Dampf seines Tees. Mancini störte die Kälte nicht. Er schaute über den dämmerigen Garten. Nicht mehr lange und die Nacht würde hereinbrechen. Mit dem Rücken saß er zu dem großen Fenster seines Zimmers, so dass das Licht des Raums auf die kleine Terrasse fiel.
Vano gähnte, legte das Buch beiseite und zündetet die Sturmlaterne an, die auf dem kleinen Gartentisch stand, um noch etwas länger bei ausreichend Licht draußen sitzen zu können. Er rollte sich zusammen und betrachtete die kleine Flamme in dem Glaszylinder. Die Laterne erinnerte ihn an sein ehemaliges Schiff die Choucas.
Im Sommer hatte er eine seiner Laternen mit nach Hause genommen, um Abends länger im Garten sitzen zu können. Heute war er froh um die Laterne, nicht nur weil sie ihm Licht spendete, sondern weil sie ein Andenken an die Choucas war.
Vano fror zwar nicht, aber aus Gemütlichkeit legte er nun doch eine Decke über sich, die er hochzog und sich unter das Kinn stopfte.
Seine Männer Boldi und Davet waren losgezogen um einige Piraten als Freibeuter für die Dhunische Küste Souvagnes anzuwerben. Direkt von der Neujahrsfeier bei den Dusoliers waren Davet, Boldi und noch einige andere aufgebrochen.
Die Dusoliers, eine Großfamilie mit über 60 Personen die sich ein Haus und ein Leben teilten. Selten hatte er sich so gut und geborgen gefühlt, wie dort. Das Neujahrsfest bei der Familie war geprägt von Wärme, Zusammenhalt und Liebe.
Dieses Jahr hatte er das erste Mal die Neujahrsfeier mit gemischten Gefühlen verlassen. Der Grund war einfach und hatte sogar einen Rang und Namen - Prince Ciel Felicien de Souvagne.
Das Neujahrsfest war das Fest der Familie und der Liebe, Streit hatte dort nichts verloren. Mit einer anderen Person hätte er die Aussprache gesucht, mit Ciel nicht. Er verstand den Mann nicht und er begriff nicht, warum ihn dieser so abgrundtief hasste und seine Feinde dafür liebte.
Agentensohn.
Dass er ein Agentensohn war, daran konnte er nichts ändern. Niemand konnte sich seine Eltern aussuchen. Aber er wurde genau dafür verachtet, während Ciel Quennel postum sogar noch vergab. Er vergab dem Mörder unschuldiger Frauen und Kinder, er vergab dem Mörder seiner Mutter, er sah in dieser Bestie sogar etwas Gutes.
Für ihn Opfer dieses Monsters hatte Ciel nur Verachtung übrig.
Schlimmer noch, er verhöhnte ihn damit, dass er sich wohl auf seiner "schlimmen Kindheit" ausruhen wollte und diese als Rechtfertigung für alles nahm.
Jene schlimme Kindheit, wo er mit ansah wie seine Mutter vor seinen Augen umgebracht wurde.
Wo er selbst beinahe von Parcival umgebracht wurde, hätte ihn Santo nicht beschützt. Eine Kindheit, wo man ihn dafür bestrafte, dass seine Mutter vom falschen Mann einen Sohn empfangen hatte und sie wie auch ihn dafür tot sehen wollte. Und während seine Mutter wirklich gestorben war, hatte man ihm die Erinnerungen und sein Leben geraubt.
Er war ein Ghul gewesen, nichts weiter. Er wusste wie man aß und schlief, das war alles. Er kannte nichts und niemanden, nicht mal sich selbst.
Und darauf ruhte er sich angeblich aus.
Ein Bett aus Sargnägeln...
Hätte er es sich aussuchen dürfen, hätte er eine stinknormale Kindheit gehabt. Das Davet mit Ciel aneinandergeraten war, sobald er Thema wurde hätte Vano ihm vorher sagen können. Es war durchaus möglich, dass Ciel Davet mochte. Das glaubte Vano sogar.
Aber Ciel konnte es nicht ertragen, die Verfehlung der Krone vor Augen zu sehen.
Die Agenten der Autarkie waren unschuldig.
Sein Vater war unschuldig.
Seine Mutter ebenso.
Und daran erinnerte sein Anblick Ciel. Er beherrschte zwar die Etikette des Adels in Vollendung, aber das war bedeutungslos. Er hatte Ciel auf der Choucas die Stirn geboten, er hatte ihm widersprochen und damit hatte der Prince sein Urteil über ihn gefällt - Agentensohn.
Vermutlich wäre es Ciel lieber gewesen, man hätte auch die Kinder hingerichtet. Praktischer wäre es auf alle Fälle gewesen. Die Überwachung von den Kindern wäre weggefallen. Was Ciel zu dieser Sicht bewog, den Mörder zu schützen und die Opfer zu verachten, konnte Vano nicht verstehen.
Logisch wäre sie alle zu verachten, oder wenn schon allen zu vergeben.
Besonders ihn verachtete er. Vermutlich aus dem Grund, da Quennel seinen Vater Mercer verachtet hatte. Und sein Lieblingsmörder Parcival hatte Vano als Kind tot sehen wollen, vermutlich stimmte auch Ciel darin mit Parcival und Quennel überein.
Sogar seinen übergroßen Truthahn hatte er nach dem Mörder benannt.
Quennel.
Mit so einer Person wollte Vano nicht mehr als nötig zu schaffen haben. Zumal wie er erfahren hatte, Ciel für Boldi Tekuro eingestellt hatte. Bellamy und Boldi mochte er. All das, was ihn zu einem Verbrecher abstempelte, war bei den anderen legitim.
Sogar die brutalen Ausraster. Manche Dinge musste man hinnehmen wie sie waren. Vano dachte an die Caretta, ihr kleines Hausboot, dass in Ledwick lag. Vano beschloss am kommenden Tag in aller Frühe nach Ledwick abzureisen. Er würde bis Rückkehr seiner Männer in der Caretta wohnen und den Tag mit Angeln verbringen. Und je nachdem was anbiss, dass gab es dann am Abend gegrillt. Den Rest des Tages würde er gemütlich im Bett ausklingen lassen bei einem guten Buch und vielleicht dem einen oder anderen Glas Rum. Vano beschloss anstatt mit seinem Prachtadler mit seinem Sturmvogel nach Ledwick zu reisen.
Sein Plan stand.
Es war schon seltsam, wie sich das Blatt an nur einem Tag für ihn gewendet hatte. Mancini streckte sich und schaute in den stockfinsteren Garten. Die Flamme der Sturmlaterne brannte gleichmäßig vor sich hin.
Silvano hoffte, dass die Choucas in Jaques Hände bleiben würde. Auch ein fremder Kapitän würde sie gut und anständig behandeln, dass stand außer Frage. Aber trotzdem versetzte es ihm einen Stich, sich die Choucas in fremde Hände vorzustellen.
Er überlegte kurz, ob er sie vor der Abreise besuchen sollte, aber er verwarf die Idee. Vermutlich würde er nur sentimental werden. Das war das Letzte was er gebrauchen konnte. Er musste endlich einen klaren Schnitt machen und die Sache hinter sich lassen.
Nach reiflicher Überlegung kam er zu dem Schluss, dass Ciel ihn verarscht hatte.
Zwar hatte er ihm das Leben gerettet, aber er hatte ihn gebrandmarkt und ihm damit trotzdem das Leben genommen, jedenfalls das Berufliche. James hatte ihn diesbezüglich gewarnt, aber das bezog sich auf die Kriminalität und die Beißer, war aber genauso gut auf seinen angeblichen Wahnsinn anzuwenden.
Vano musste sich eingestehen, dass er fertig war.
Ciel hatte ihn auflaufen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes - Havarie und er selbst war das Wrack.
Kein Mensch der seine sieben Sinne beisammen hatte, würde einem Kapitän dienen, der als wahnsinnig galt. Ein Mann dessen Wort nichts mehr galt, so dass ein anderer für ihn entscheiden musste, wie für ein Kleinkind.
Und auch in der zivilen Schiffart würde er aus dem gleichen Grund kein Bein mehr auf die Planke bekommen. Nicht einmal als Matrose, die Reedereien standen auf Glück. Niemand holte sich einen Unglückswurm an Bord. Schon gar nicht, wenn dieser Wurm Brief und Siegel darauf hatte, irre zu sein.
Aber noch war nicht alles verloren.
Er musste durchhalten und so gut es ging bei seiner Heilung mitwirken, so dass er wieder als mündiger Mensch eigene Geschäfte abschließen konnte. Sobald es soweit war, wollte er sich darum bemühen, sich in Ledwick eine neue Existenz und ein völlig neues Leben aufzubauen.
Die Dschunke und das Hausboot würden ihm dabei gute Dienste leisten. Silvano hoffte, dass wenigstens der Plan gelang, denn alles Geld was er besessen hatte, steckte in der Dschunke und in dem kleinen Hausboot.
Normalerweise war es ein lohnendes Geschäft Güter von A nach B zu transportieren. Er hoffte er konnte in dem gerade frisch angefangenen Jahr dort Anschluss finden.
Falls nicht, blieb immer noch die Piraterie. Davet lebte schließlich auch davon, aber das wollte er auf keinen Fall allein entscheiden, denn ihm schmeckte die Vorstellung nicht. Alles in ihm sträubte sich dagegen, ebenso wünschte er sich, dass Davet der Piraterie entsagte. Alte Gewohnheiten saßen tief, vor allem jene der Marine.
Möglicherweise musste er die Seefahrt ganz abschreiben, dann würde er Boldi folgen. Sein Mann hatte schließlich auch alles für ihn aufgegeben und war ihm in sein Leben gefolgt. Umgekehrt ging das natürlich auch. Vielleicht hatte auch Boldi oder Davet eine gute Idee. Ihm selbst waren die Ideen ausgegangen.
Vano hatte sich gefragte, was er tun sollte, falls der Hof Davet als Familienmitglied anerkannte und er ab dato zur Krone gehörte. Nun war es soweit, Davet war offiziell als Bruder vom Duc anerkannt.
Eines stand dann jedenfalls fest, Calli jemals zu heiraten, war damit ausgeschlossen.
Es war schon seltsam, dass alle Wege über Ciel führten.
Boldiszar diente einst Ciel, Fran aka Kabir hatte Ciel geheiratet und Davet war sein Halbonkel.
Damit verlor er die gemeinsamen Freunde die er mit Fran gehabt hatte und er konnte nicht vor Boldi und Davet offen über Ciel sprechen. Jedenfalls nicht in diesem Land.
Unter der Voraussetzung war es besser, das die Verhandlungen mit den Piraten gemütlich, friedlich und allein zu verbringen. Vielleicht würde er Jendro fragen, ob er nicht Lust hatte, ihn nach Ledwick auf eine ausgedehnte Angeltour zu begleiten. Der Gedanke gefiel ihm, genau wie Jendro selbst. Auf der Reise konnten sie seinen Gleiter auf einer Langstrecke testen. Vano grinste bei dem Gedanken gut gelaunt.
Er kraulte Foufou den Kopf, nahm den alten, schwarzen Pudel in die Arme und wickelte sie beide fest in die Decke ein um die Nacht draußen auf der Terrasse zu verbringen.
Diese Kälte konnte ihm nichts anhaben.
Eine ganz andere Kälte war ein Teil seines Lebens geworden, nur Boldi und Davet konnten sie abstreifen.