Ein Bote - 168 n.d.A.

  • Ein Bote
    Jahr 168 nach der Asche.


    Den ganzen Tag strich der sonst so ruhige Velasco durch das Haus wie ein unruhiges Tier. Eine entsetzliche Angst saß in seinem Nacken, der er nicht entkommen konnte. Nirgends fand er Ruhe, weder konnte er schlafen, noch spielen und jeder Bissen blieb in seinem Hals stecken. Nicht einmal Wasser bekam er herunter. Es war schon Nacht, als endlich die Türklingel ging. Velasco rannte durch den Flur. Sein Vater besaß einen Schlüssel, aber sicher läutete er, damit sein Sohn ihm entgegenkam. Er hatte ein besonderes Abendessen versprochen, wenn alles überstanden war und die Einkäufe würden schwer sein. Velasco riss die Tür auf und starrte in ein fremdes Gesicht.
    Vor ihm stand ein Mann, der Pluderhosen trug und dazu ein Schnürhemd. Ein Ledvigiano. Er mochte etwa dreißig Jahre alt sein. Er trug sehr kurzes Haar, hatte dunkle Brauen und schwarze Augen. Die Haut war stark sonnengebräunt. Was die Anwesenheit dieses Fremden bedeutete, wusste Velasco. Mit aufgerissenen Augen wich er zurück vor dem Boten, als könne er dem Schicksal entkommen.
    »Darf ich reinkommen?«, fragte der Mann, der eine weiße, turbanähnliche Kopfbedeckung in den Händen hielt. Trotz seiner maskulinen Erscheinung war seine Stimme recht hoch und er sprach mit leichtem ledwicker Dialekt.
    Velasco blieb stehen, als wäre er zu einer Statue erstarrt.
    »Alejandro Alballo«, stellte der Fremde sich vor. »Ein Freund deines Vaters.« Er griff dem Jungen an die Schulter. Seine Hand war warm und er hatte viel Kraft. Er schob ihn hinein und hinter ihnen schloss er die Tür.
    Velasco sah ihn an, der Schock saß so tief, dass er begann, wie ein Untoter zu funktionieren. Nichts von, dem, was er tat, war eine bewusste Handlung, als er seinen Gast hineinführte. »Bitte setzt Euch, Monsieur«, sagte er und seine Stimme klang, als würde sie aus großer Ferne kommen. »Möchtet Ihr etwas trinken?« Er konnte nicht weinen, er konnte nicht schreien. Es war, als ginge ein Riss durch die Realität.
    »Wir beide sind per Du, Velasco«, sagte Alejandro sanft. »Komm, setz dich zu mir.«
    Und dann erzählte er von der Schlacht, die sich im Palast zugetragen hatte, wie Mercer Desnoyer durch die eigenen Leute gerichtet worden war. Von Berzan Boviers letzter Bitte, die Kinder der Verräter zu verschonen. Und er erzählte davon, wie Velascos Vater sich als Köder zwischen die kämpfenden Orden gestellt hatte, während die Armbrustbolzen um seinen ungerüsteten Körper zischten. Die Erzählung endete mit seinem gewaltsamem Tod durch die Hand des Mannes, der ein Jahrzehnt seiner Lüge von Liebe erlegen gewesen war. Eines Familienvaters, der den offensichtlich nicht von ihm selbst gezeugten Sohn als den eigenen anerkannt hatte, damit sie eine Familie bleiben konnten.
    Velasco lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Bilder zu diesen Worten jagten durch seinen Kopf.
    »Hast du deinem Vater vertraut?«, fragte Alejandro.
    »Ich habe ihm immer vertraut«, sagte er tonlos. »Und da er dich geschickt hat, werde ich auch dir vertrauen, falls du darauf hinauswillst.« Dass er in der Vergangenheit von Soel sprechen musste, war grauenhaft. Er kniff die Augen einen Moment fest zusammen, dann blickte er wieder normal drein, spürte aber, dass ihm alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
    »Du nimmst die Nachricht von seinem Tod bemerkenswert gefasst auf, Kleiner.«
    »Es fühlt sich alles gerade an ... als würde ich träumen. Ich bin nicht ganz hier. Eine Hälfte ist auf der anderen Seite, bei ihm.«
    »Sieh mich an.«
    Velasco drehte seinen Kopf in die Richtung des Gastes.
    Alejandro legte die Hand auf seine Wange. »Du bist ganz blass. Wenn du deinem Vater vertraut hast und dich dafür entscheidest, auch mir zu vertrauen, möchte ich dir anbieten, dein Mentor zu werden. Es war Soels Wunsch, dass ich mich an seiner Stelle bis zu deiner Volljährigkeit um dich kümmere und dich auf alles vorbereite, was du wissen und können musst. Und dass ich dir der Freund sein möge, der ich auch ihm war.«
    Müde hob Velasco die Lider. Sein Blick währte lange.
    »Du kannst mich ruhig anschauen, keine Scheu. Zu verbergen haben wir alle etwas, aber das, was du von allein herausfindest, soll auch kein Geheimnis sein.«
    Velasco ließ prüfend den Blick über Alejandro schweifen und stoppte bei den wertlosen Ringen, die an seinen Fingern glänzten. Keine Schmucksteine, keine Gravuren, nur Eisen. Die Hände waren braungebrannt und muskulös. »Du hast starke Hände und Schwielen auf den Innenseiten. Du arbeitest körperlich schwer.« Er sah genauer hin. Unter den kurzen Fingernägel entdeckte er schwarzen Dreck. Da Alejandro ansonsten gepflegt war, hatte dieser Schmutz sich vermutlich nicht entfernen lassen. »Teer«, stellte Velasco fest. »Du fährst zur See.«
    »Jeder Ledvigiano tut das«, sagte Alejandro mit einem Schmunzeln.
    »Aber nicht jeden zeichnet die Seefahrt dermaßen stark. Du fährst nicht nur gelegentlich zur See, du verbringst viel Zeit auf einem Schiff.«
    »Gut beobachtet. Was siehst du noch?«
    Velasco musterte auf diese Aufforderung hin jeden Zentimeter seines Körpers. Dies war der Mann, den sein Vater ihm geschickt hatte und er würde dafür triftige Gründe gehabt haben. Er hatte nicht vor, die gereichte Hand auszuschlagen. Alejandro breitete die Arme etwas aus. Auf Höhe seiner Hüfte blieb Velascos Blick erneut hängen. Hier passte etwas nicht ins Gesamtbild. Velasco befühlte die Gürtelschnalle. »In der Tracht der Ledvigiani gibt es weder Knöpfe noch Schnallen, die Gewänder werden geschlungen oder lose getragen. Stoffschärpen halten eure Hosen. Dies ist ein fremdländischer Gürtel.«
    »Gut erkannt. Sieh genauer hin.«
    Velasco ließ die Finger darüber gleiten. »Er stammt nicht aus Almanien. Zwei halbrunde Eisenringe bilden die Schnalle und es gibt keinen Dorn. Diese Art von Gürteln trägt man in Naridien.«
    Alejandro nickte. »Was meine Hose an Ort und Stelle hält, ist ein Doppel-D-Ring-Gürtel, wie sie beim naridischen Militär verwendet werden. Preiswert und stufenlos verstellbar, dieser Gürtel passt um jede Hüfte, ob schmal oder breit. Sie sind praktisch und gehen nicht so schnell kaputt wie einer mit Dorn. Was schlussfolgerst du daraus, dass ich als stolzer Ledvigiano solch ein Kleidungsstück trage?«
    »Vielleicht warst du mit deinem Schiff dort.«
    »Falls ja, habe ich diesen Gürtel als Urlaubsandenken gekauft?«
    Velasco schüttelte er den Kopf. »Seit dem Jahr 119 liegen die almanischen Großherzogtümer mit Naridien im Krieg. Wenn dies der Gürtel eines naridischen Soldaten ist, hatte er einen Vorbesitzer. Dieser Gürtel ist eine Trophäe.« Er blickte an Alejandro hinauf. »Du dienst auf einem Kriegsschiff.«
    »Ich werde diese Schlussfolgerung weder dementieren noch bestätigen. Mach dir ein eigenes Bild von mir, viel erzählen kann jeder und genau so viel lügen. Darum möchte ich, dass du nicht meine Worte, sondern deine eigenen Beobachtungen als Grundlage nimmst, um mich einzuschätzen.« Alejandro löste die Hände des Jungen von seinem Gürtel. Dabei drückte er sie freundlich. »Ich mache dir etwas zum Abendbrot.«
    »Warte.«
    Alejandro hielt inne. »Ja?«
    Unvermittelt legte Velasco die Arme um ihn und drückte seinen Kopf an die muskulöse Brust.
    »Na, na«, sagte Alejandro sanft. Er schob die Hände unter den Achseln seines neuen Zöglings hindurch. Mühelos hob er ihn an und trug ihn in sein Zimmer, wo er ihn auf das Bett legen wollte. Doch Velasco klammerte sich mit aller Kraft an ihm fest. Er war ab heute Waise, er hatte niemanden mehr, der sich um ihn kümmerte. Und was würde aus seinem kleinen Bruder werden? »Mein Vater hat gesagt, du würdest kommen.« Heiß rannen die Tränen von seinen Wangen. »Er sagte, du würdest auf mich aufpassen, wenn er nicht mehr nach Hause kommen sollte.«
    »Und das werde ich«, versprach Alejandro und strich ihm über das Haar.
    »Dann gehe nicht wieder fort.«
    »Psch«, machte sein neuer Mentor beruhigend und hörte auf damit, zu versuchen, ihn auf das Bett zu legen. Stattdessen wiegte er ihn in seinen Armen. Doch er gab ihm nicht das Versprechen, zu bleiben. »Ich werde immer auf dich aufpassen, bis einer von uns beiden stirbt. Möge ich es sein, der zuerst geht und dann werde ich dafür sorgen, dass ich einen geeigneten Nachfolger hinterlasse. Du bist nicht verloren in dieser Welt. Ich bin an deiner Seite. Immer, Velasco, ob du mich siehst oder nicht, ich bin da.«
    Da brach der Damm. Velascos Trauer drang als langgezogener Schmerzensschrei aus seiner Kehle. »Papaaa«, schrie er, so wie früher. Doch er würde nie wieder eine Antwort auf diesen Ruf erhalten. »Papaaa«, brüllte er. Sein Körper wurde geschüttelt von Weinkrämpfen. Er krallte sich an Alejandro. Vor seinem inneren Auge sah er das Gesicht seines Vaters, sein letztes Lächeln und wie er aus der Tür ging, um nie wieder heimzukehren.
    Als die Tränen nach langer Zeit versiegten, setzte Alejandro ihn behutsam ab und verließ kurz das Zimmer. Er kehrte mit einer Waschschüssel voll kaltem Wasser und einem Lappen zurück. Er wusch Velascos Gesicht und dann brachte er ihm noch eine Schüssel voll frisch geschlagener Sahne, über die er Zucker gestreut hatte.
    »Ich will nichts«, sagte Velasco matt.
    »Du wirst essen«, befahl Alejandro. »Solche Mätzchen, die dich schwächen, gewöhnst du dir gar nicht erst an. Weine so viel du willst, brülle deine Wut hinaus, aber iss, Junge. Ändere nichts an deinen Gewohnheiten und Tagesabläufen. Mach weiter, das wird dich stabil halten. Der Schmerz wird nicht weniger, wenn du dich selbst aufgibst. Er wird schlimmer. Du bist ein Kämpfer, Velasco. Das sehe ich in deinen Augen. Vielleicht kein Soldat, aber ein Kämpfer.« Er tippte mit dem Finger auf Velascos Kopf. »Hier drin. Es sind nicht die Muskeln, die einen Krieger stark machen, auch wenn sie natürlich nützlich sind. Entscheidend aber ist dein Kampfgeist. Und den wirst du dir bewahren. Dein Vater war schlank wie ein Schilfhalm und hatte Augen so sanft wie ein Delfin. Aber er stand an der gefährlichsten Stelle im Schlachtgetümmel. Er hatte die Schlüsselposition inne, mit ihm stand und fiel alles. Er war stark auf seine Weise und das war er für dich und deinen Bruder. Soels Weg ist zu Ende, doch du wirst ihn ab der Stelle weitergehen, wo er es nicht mehr kann. Du bist nun das älteste männliche Mitglied der Macaults. Du, Velasco, bist nun Familienoberhaupt.«
    Velasco griff nach dem Löffel. Er schaffte den halben Teller Sahne, dann legte er sich auf sein Bett. »Ich bin noch nicht mal volljährig, Alejandro. Mein Wort hat kein Gewicht.«
    »Doch, das hat es, dafür sorge ich. Du wirst nicht die Marionette der Verwandtschaft deiner Mutter. Du bist kein Langeron und niemand wird dich zu einem machen.« Alejandro zog die Decke über ihn, seine raue Pranke streichelte ihm den Kopf. »Ich lasse dir nun Zeit für dich. Wenn du etwas brauchst, rufe oder komm zu mir rüber. Ich kenne mich hier aus, ich nehme das Gästezimmer.«
    Leise schloss er die Tür.