Saint Aumary - 165 n.d.A.

  • Saint Aumary
    Mancini, Jahr 165 nach der Asche


    Velasco kannte den Anblick seines durch das Zimmer huschenden Vaters, der in Windeseile die nötigsten Habseligkeiten in den Koffer warf. Es war spät in der Nacht, die Sterne verblassten schon und bald würde die Sonne aufgehen. Marilou war nicht zugegen, sie war für zwei Tage außer Haus, was Soel die Zornesröte ins Gesicht trieb, als er das erfuhr.
    »Wie oft lässt sie dich hier eigentlich während meiner Abwesenheit ohne Kindermädchen allein?«
    »Keine Ahnung, eigentlich kommt sie immer nur für ein paar Stunden nach Hause. Ein Kindermädchen war nie da, das ist auch unnötig. Mama bringt mir ja jedes Mal zu Essen und frische Wäsche, die alte nimmt sie dafür mit. Sie kontrolliert, ob ich gebadet bin und schneidet mir die Nägel. Ich kann den ganzen Tag spielen.« Velasco zuckte mit den Schultern. Er verstand Soels Zorn nicht. »Du musst dich auch mal waschen, Papa«, murrte er.
    »Dafür hatte ich keine Zeit und ich habe sie auch jetzt nicht. Das trifft auch auf dich zu, du bist noch im Nachthemd. Zieh deine Reisekleider an, wetterfest und stabiles Schuhwerk.«
    »Ich soll mitkommen? Jetzt?«
    Er blickte zum Fenster, vor dem schwarz die Nacht stand. Draußen war es still und kein Nachtwächter drehte in diesem abgelegenen Viertel die Runde. Selbst die Eulen schienen beschlossen haben, diese einsame Gegend zu meiden. Draußen herrschte Totenstille.
    Velasco kannte die Gegend zu allen Tages- und Nachtzeiten. Für ihn war es eine Mutprobe, in der Dunkelheit draußen herumzuschleichen. In der Regel aber hielt er sich an den Tagesablauf, den er gewohnt war, wenn Marilou und Soel zu Hause waren: Zu Sonnenaufgang aufstehen, spielen, Frühstücken, Hausarbeit erledigen, Mittagessen, spielen, Abendbrot, Hausarbeit, leise Abendbeschäftigung, Schlafen. Trotz seines jungen Alters war Velasco ausgesprochen zuverlässig.
    Er hatte lernen müssen, allein zurechtzukommen und Marilou war eine sehr strenge Mutter. Sehr viel strenger als Soel, der zu keinem Zeitpunkt je die Hand gegen seinen Sohn erhoben hatte. Es fiel ihm schon schwer, zu schimpfen. Marilou hingegen war zweifelsohne die Person, welche die Regeln dieser Familie bestimmte, das hatte Velasco schon zeitig begriffen. Zu ihm war sie hart, aber gerecht, zumindest nach seinem Empfinden. Jedoch war er mit der Strenge der Regeln manchmal überfordert und seinen Haushalt ganz im Alleingang zu führen, wenn die Eltern außer Haus waren, war viel verlangt von einem Neunjährigen.
    Doch wie seine Mutter mit Soel umging, wenn die Eltern meinten, er würde es nicht mitbekommen, stimmte ihn traurig, bisweilen packte ihn auch gleißender Zorn. Er wollte nicht sehen, wie Marilou seinen Vater zwang, die Kleider abzulegen, um ihn nackt zu demütigen und doch konnte er nicht die Augen abwenden. Er hatte das Gefühl, er würde seinen Vater im Stich lassen, wenn er sich davor versteckte, was er durchleben musste. Velasco konnte ihm nicht helfen, aber er wollte ihn wenigstens nicht allein lassen.
    »Du bist nun neun Jahre alt, Velasco«, riss Soel ihn aus seinen Gedanken. Er legte zwei Hemden in den Koffer. »In diesem Alter hat traditionell schon längst die Ausbildung begonnen.«
    »Was denn für eine?«, wollte Velasco wissen. Ihm missfiel die hektische Art, mit der sein Vater die Sachen packte. Auf Soels Wangen glühten rote Flecken vor lauter Unruhe.
    »Die Vorbereitung auf den späteren Beruf. Bauernkinder helfen bei der Apfelernte und beim Pilze putzen, Fischerjungen werfen das erste Mal eine Angel aus, angehende Diener erledigen kleine Botengänge und decken für die Herrschaften den Tisch. Du aber wirst zu weitaus Bedeutsamerem herangezogen.«
    Velasco beobachtete, wie mehrere Sockenpaare in hohem Bogen durch die Luft flogen und auf den Hemden landeten, ohne dass Soel richtig hinsah. Mit beiden Händen durchwühlte sein Vater ein Fach nach dem anderen und packte ein, was er für notwendig hielt - auch Dinge, die er sonst nicht mitzunehmen pflegte. Es sah nach einer längeren Reise aus. Velasco freute sich, ihn begleiten zu dürfen. Er vermisste seinen Vater oft, viel mehr noch als seine Mutter, auch wenn Soel sich ihm gegenüber kaum warmherziger verhielt.
    »Und was werde ich tun?«
    Jetzt endlich war sein Vater mit dem letzten Fach durch, schlug den Schrank zu und drehte sich zu ihm um. »Du wirst deinem kleinen Bruder das Leben retten. Marilou hasst ihn, weil er eine andere Mutter hat als du. Vielleicht Eifersucht, vermutlich aber Besitzdenken mir gegenüber. Sie findet, dass ich ihr gehöre. Mit Liebe hat das nichts zu tun, mach später nicht den Fehler, das zu glauben. Aber wir lassen Syrell nicht im Stich. Falls sie ihn sucht, wenn sie merkt, dass ich fort bin und mich ihrer Kontrolle entzogen habe, wird er für sie unauffindbar sein. Ich werde eine falsche Fährte legen, während du deinen Bruder in die andere Richtung bringst. Du musst dafür sehr mutig sein, Velasco. Wenn du versagst, kann niemand Syrell noch retten.«
    »Ich hasse Mama«, sagte Velasco leise. »Sie ist so böse!«
    »Du brauchst sie nicht zu hassen, es genügt, wenn du weißt, wie gefährlich sie werden kann und entsprechend handelst. Du bist ihr Sohn und sie liebt dich auf ihre Weise, darum kannst du in meiner Abwesenheit hier in deinem vertrauten Umfeld wohnen bleiben. Syrell jedoch ist nicht von ihrem Blut. Sobald ich das Land verlassen habe, erlischt sein Schutz.«
    »Bisher ging es doch aber auch? Ich verstehe das alles nicht!«
    »Es ist ganz einfach. Bisher habe ich dort gelebt, wo Syrell mit seiner eigenen Mutter wohnt. Ich war immer bei ihm, so konnte ich ihn schützen. Ab heute ist das unmöglich. Verstehst du das?«
    »Ja«, sagte Velasco, obwohl er es nicht verstand.
    »Gut. So, ich habe alles«, verkündete Soel. »Den Rest organisiere ich mir unterwegs. Zieh dich jetzt endlich an.«
    Kurz darauf ging ein Fuhrwerk, das sie zum Hafen von Macini brachte. Dort mietete Soel ein kleines Segelboot samt dem Fischer, dem es gehörte. Dank eines starken Ostwinds sausten sie über die Azursee, die stahlgrau in der sonnenlosen Morgendämmerung wogte. Eine dichte Wolkendecke verhüllte die Sonne, es wurde heller, aber nicht wärmer. Der Rumpf schien kaum die Wellen zu berühren. Hin und wieder spritzte ihnen die Gischt ins Gesicht. Einmal landete ein kleiner Fisch im Boot, den Velasco fing und zwischen den Fingern hielt, um ihn beim Zappeln zu beobachten. Dann warf er ihn zurück ins Meer, nur um zu sehen, wie eine Möwe sich das Fischlein schnappte. Betroffen sah er dem davonfliegenden Vogel hinterher.
    »Schau nicht so«, rief Soel gegen den Wind. »Sie hat ein Nest und füttert damit ihre Jungen. Damit ihre Kinder überleben, müssen andere sterben, so ist das Leben, da sind die Tiere wie die Menschen.«
    Nach nicht allzu langer Fahrt hatten sie ihr Ziel erreicht. Es war ein einsames Holzhaus zwischen grasbewachsenen Sanddünen und windschiefen Kiefern, abseits von Mancini, aber in Reichweite der Stadt. Eine einzelne schmale Pflasterstraße führte dorthin, die vermutlich von den Bewohnern selbst gebaut worden war. Ein bunter, gut gepflegter Garten umsäumte das Haus und am Weg war eine Pferdekoppel.
    »Hier wohnst du, wenn du auf Arbeit bist?«, fragte Velasco und sah sich neugierig um, während sie über das harte Gras gingen, das die Dünen bedeckte.
    »Hier habe ich gewohnt, es geht nicht länger. Gib Acht, dass du nicht auf den Sand trittst, sondern auf dem Gras oder den Steinen gehst. Wir wollen keine Spuren hinterlassen, die zum Wasser führen. Um diese Uhrzeit ist niemand da außer Mariette, die Mutter von Syrell. Ihr Mann ist auf Arbeit.«
    »Dann hat Mariette ... zwei Männer?«
    »Nicht ganz. Ihr Mann ist das Familienoberhaupt, von ihm geht alles aus. Das bedeutet, er hat eine Frau und einen Mann. Die Frau sorgt für den Erhalt der Linie und die Zweitfrau oder eben der zweite Mann für die Liebe.«
    Velasco grübelte eine Weile. »Warum heiratest du dann nicht noch eine zweite Frau oder einen Mann? Du und Marilou, ihr liebt euch doch gar nicht.«
    »Darum! Du kennst Marilou doch. Und jetzt höre auf, mir solche Fragen zu stellen. Mache dir darüber Gedanken, wenn du alt genug dafür bist. Heute geht es um Syrell.«
    Er führte ihn zu einer Vertiefung zwischen den Kiefern, in die man weder vom Haus noch vom Meer aus sehen konnte. »Warte hier, ich werde deinen Bruder holen. Du wirst ihn dann ins Waisenhaus Saint Aumary bringen. Folge immer weiter der Küste und dann dem Weg, den ich dir unterwegs beschreiben werde, der Fischer weiß, was er zu tun hat.«
    »Aber das ist gefährlich«, wandte Velasco ein. »Du hast mir immer verboten, allein mit Fremden mitzufahren.«
    »Es ist nicht gefährlich, wenn du ihnen das hier zeigst.«
    Soel nahm eine massive metallisch glänzende Kette von seinem Hals, die er unter seinem Hemd hervorzog. An ihr war ein Anhänger befestigt, der auf den ersten Blick wie ein Gitter aussah. Auf den zweiten Blick erkannte Velasco, dass er eine Blume mit spitzen, nach oben gerichteten Blütenblättern darstellte. Die Kette war ein regelrechtes Kunstwerk und sah unwahrscheinlich teuer aus.
    »Das ist eine Amtskette, Velasco. Amtsketten sind wertvoll und nur von Kunstschmieden zu reproduzieren, welche die modernste Ausrüstung und das teuerste Material besitzen und bei den besten Meistern in der Lehre gegangen sind. So etwas erstellen die besten Schmiede der Krone, niemand sonst ist dazu in der Lage. Mit einer Amtskette weist man sich aus, wenn man einen wichtigen Auftrag hat. So erkennen die Leute, dass man im Auftrag des Duc handelt. Wer eine Amtskette sieht, weiß, dass die Krone persönlich einen geschickt hat. Und dass ihn harte Strafen erwarten, falls er den Anweisungen dessen, der die Kette trägt, nicht folgeleistet. Man muss schon sehr dumm sein, sich unserer Anweisung zu widersetzen. Derjenige bezahlt bei anhaltendem Widerstand mit seinem Leben, das ist gewiss. Du brauchst noch nicht zu wissen, was diese Kette im Einzelnen bedeutet. All das erfährst du, wenn du vierzehn bist und damit volljährig. Vorher ist die Gefahr zu groß, dass du dich verplapperst. Diese Kette ist für dich, du darfst sie behalten. Es ist jene, die für dich angefertigt wurde. Du solltest sie erst in fünf Jahren erhalten, aber da ich nicht weiß, ob ich dann noch zugegen sein kann, habe ich sie bereits organisiert. Keine Sorge, ich habe noch eine eigene. Und diese hier«, er drückte ihm eine weitere in die Hand, »ist für Syrell.«
    Er zog seinen Sohn an sich und umarmte ihn fest. Eine seltene und wohltuende Geste, aber sie machte Velasco auch Angst. Sein Vater war sonst nie so sentimental, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.
    »Falls ich nicht zurückkehren sollte, wird sich ein anderer Mann um deine Ausbildung kümmern. Welchen Namen er an diesem Tag tragen wird, vermag ich dir nicht zu sagen, doch du wirst ihn erkennen. Es handelt sich um einen Ledvigianio mit schwarzen Augen.«
    »Was ist ein Ledvigiano?« Das Wort klang fremd und unheimlich.
    »Das heißt, er stammt aus Ledwick, einem benachbarten Großherzogtum. Er ist also Almane, du musst keine Angst haben. Seine Heimat liegt im Süden, am Dhunischen Ozean, dessen Wasser türkisblau ist und seine Strände leuchten weiß. Ein wunderschönes Land, ich war schon einmal dort. Der Mann wird etwas anders sprechen als die Menschen hier in Souvagne, aber du wirst ihn verstehen.«
    »Papa.« Velasco sah ihn besorgt an. »Warum weißt du nicht, ob du zu meinem vierzehnten Geburtstag da sein kannst?«
    Soel schlug die Augen nieder und lächelte. »Weil ich nicht weiß, ob ich überhaupt je zurückkehren werde. Möglicherweise ist dies ein Abschied für immer. Nimm es hin und warte nicht länger, sobald der Ledvigiano vor deiner Tür steht, denn dann liegt eine Heimkehr nicht mehr in meiner Macht. Jetzt aber geht es erst einmal um Syrell.«
    Als Velasco ihn an seinem Wams festhalten wollte, löste Soel mit sanfter Gewalt den Griff der kleinen Hände. »Mariettes Mann wird nicht ewig fortbleiben. Warte hier und lerne.«
    Damit wandte er sich ab und ging über das Gras bis auf den steinernen Weg, so dass man die Spuren nicht sah, die zum Wäldchen führten, in dem Velasco zurückblieb. Die Entführung lief vollkommen lautlos ab. Soel verschaffte sich Zutritt und sorgte dafür, dass die Mutter und alle drei Kinder ruhig schliefen. Über das Gras und die Steine gehend, trug er den Dreijährigen zum Boot, hinter ihm folgte Velasco, der das Bündel neugierig betrachten wollte. Er hatte seinen Bruder noch nie gesehen, er kannte ihn nur vom Hörensagen. Soel kniff voller Schmerz die Augen zusammen, als er seinen jüngsten Sohn in das Boot legte, Velasco sah es. Sein Vater kämpfte mit den Tränen. Der kleine Junge schlief tief und fest.
    Velasco betrachtete seinen Bruder nun auch und ihm wurde in diesem Moment bewusst, dass Syrell den Großteil der Zeit mit Soel verbracht hatte, während er nur die Reste abbekommen hatte. Genau wie Mariette viel mehr von ihm gehabt hatte als Marilou. Er ahnte so langsam, woher ihr Zorn stammte.
    Soel sprach leise mit dem Fischer und umarmte ihn zum Abschied. Diese emotionale Geste einem völlig Fremden gegenüber überraschte Velasco. Auch er selbst wurde kurz und fest umarmt, dann kehrte Soel mit raschen Schritten durch das Wasser zum Strand zurück. Über die Steine und Grasbüschel stieg er auf den Weg und dann lief er quer über den Sand, als sei er die Straße von Mancini aus gekommen. Er öffnete das Gatter, stieg auf den bulligen schwarzen Hengst, gab ihm die Fersen und das Tier galoppierte im Eiltempo über den Strand nach Süden, ins Landesinnere hinein. Velasco aber würde Syrell mithilfe des gut bezahlten Fischers nach Nordosten bringen. Den einzigen Anhaltspunkt für die Entführung des Kindes würden die Fußspuren und die Hufabdrücke sein, die in die völlig falsche Richtung führten. Velasco wusste, dass Soel sich auf Arbeit anders ansprechen ließ und diese Familie war Teil seiner Arbeit gewesen. Wenn Velasco die Lage richtig einschätzte, würde sein kleiner Bruder in dieser Familie ebenfalls mit einem völlig anderen Namen angesprochen worden sein. Sie würden ihn nicht als Syrell Macault kennen, so wenig wie ihnen der Name Soel Macault bekannt war und ihre Nachforschungen mittels der anderen Namen würden ins Leere laufen.
    Der Fischer drehte das Segel in den Wind und das Boot schoss erneut davon, nach Nordosten, die Küstenlinie entlang.
    »Es gibt hier keine Bäume mehr«, wunderte Velasco sich nach einigen Stunden. Er saß auf dem Boden des Bootes und hatte seinen kleinen Bruder zwischen den ausgestreckten Beinen sitzen, mit dem Rücken an ihn gelehnt. Er hielt ihn mit beiden Armen fest. Gewiss, er war ein wenig eifersüchtig, aber seit er ihn im Arm hielt, konnte diesen Jungen nicht länger hassen. Er war ein Teil seiner Familie, sie beide waren Blut von Soels Blut. Sie waren Brüder. Vielmehr bedauerte er, dass sie nicht gemeinsam ihren Vater hatten teilen und zusammen aufwachsen können.
    »Das hier sind die nördlichen Lehen«, erklärte der Fischer. »Wir steuern Dupont an, bei der rakshanischen Grenze, hier beginnt langsam die Steppe und im Landesinneren gibt es ein großes Moor. In seinem Herzen liegt die uralte Gewitterfeste, die noch heute bewohnt ist. Dort residieren die Chevaliers de Dupont und wenn du mich fragst, sind sie Schuld daran, dass hier nichts wächst. Von ihnen geht etwas Finsteres aus und man sagt, Ainuwar würde sie hassen. Ich hoffe, du weißt den weiteren Weg, denn ich werde dich nicht länger begleiten. Am nächsten Hafen lasse ich euch beide raus.«
    »Ich finde mich schon zurecht.«
    »Na, du hast Mut, so ganz allein.«
    »Ich vertraue meinem Vater. Er hat mir alles erklärt.«
    Dazu fiel dem Fischer nichts mehr ein. Er wirkte auch langsam ein wenig erschöpft, sie waren seit Stunden unterwegs. Und als Velasco die Stadt sah, rührte der Mann sich nicht mehr. Er ließ sich auch nicht mehr wecken und es schien, als würde er überhaupt nicht mehr atmen. Darum also die Umarmung. Velasco verstand, er kannte das Alchemielabor in ihrem Haus. Das Gift musste über all die Stunden nach und nach seine Wirkung entfaltet haben. Auch diese Spur endete in einer Sackgasse. Der Fischer konnte nicht mehr plaudern und man würde meinen, der Wind hätte das Boot mit dem Toten zufällig in diese Richtung getrieben, sofern ihn überhaupt jemand fand und er nicht aufs Meer hinaustrieb. Und wer wusste, wie viele Menschen noch gestorben waren, damit Syrell in Sicherheit gebracht werden konnte. Zum Glück war der Fischer der Anweisung gefolgt, immer so nah wie möglich am Ufer zu bleiben. So konnte Velasco seinen Bruder in den hölzernen Rettungsring setzen und ihn an Land ziehen, während der Kleine immer noch selig schlummerte.
    Ihr Ziel war das Waisenhaus Saint Aumary. Nachdem Velasco die Straße gefunden hatte, wobei er seinen in dicke Decken gewickelten Bruder auf dem Rettungsring wie auf einem Schlitten hinter sich her zerrte, kannte er die Richtung. Es gab hier nicht viele Straßen und Soel hatte ihm alles genau beschrieben. Leute trafen sie keine, das Lehen hatte kaum Einwohner. Es war ein trostloses, graues und windiges Lehen.
    Mitten in der Nacht und todmüde erreichte Velasco den Tempel der Bruderschaft von Zeit und Raum, der hinter der kleinen Hafenstadt lag. Er wirkte im Dunkeln fast wie ein kleines Spukschloss. Zu diesem Tempel gehörte ein Waisenhaus. Velasco musste lange gegen die Tür hämmern, ehe man ihm endlich öffnete. Ein Mann mit schwarzer Kutte und tief ins Gesicht gezogener Kapuze schob den Kopf hinaus. Seine Mundwinkel hingen mürrisch nach unten, aber schließlich durfte er den Eingangsbereich betreten, vermutlich nur darum, damit der Mann selbst nicht in der Kälte stehen musste. Velasco erzählte ihnen wahrheitsgemäß, dass er seinen Bruder hierher in Sicherheit bringen müsse, da seine Mutter ihm nach dem Leben trachte. Einige Ordensbrüder des Mönchs kamen näher. Die Männer, die hier arbeiteten, waren wenig erfreut, dass sie ein weiteres Kind in ihrem Waisenhaus aufnehmen sollten. Sie behaupteten, das Heim sei ohnehin schon überfüllt und es gäbe zu wenig zu essen. So dürr und bleich, wie sie unter ihren schwarzen Kapuzen aussahen, glaubte Velasco ihnen. Sie forderten ihn auf, seinen Bruder in einem anderen Heim unterzubringen.
    Velasco merkte, dass er mit Worten allein nicht mehr weiterkam. Als er ihnen seine und Syrells Amtskette zeigte, kam auf einmal Hektik in die Mönche. Sie wurden extrem höflich und zuvorkommend. Velasco wurde in den Speisesaal gebeten, ein Mönch trug seinen Bruder andächtig wie einen kleinen Prinzen nach nebenan und versicherte, es würde ihm hier an nichts mangeln. Velasco oder sein geschätzter Vater könnten sich dessen jederzeit bei einem Besuch - gern auch unangekündigt - versichern. Scheinbar war Soel hier bekannt und man brachte ihm größten Respekt entgegen. Diese Reaktion beruhigte Velasco. Syrell würde es gut haben. Und er kannte nun einen Ort, wohin er dank seiner Amtskette gehen konnte, falls das Leben mit Marilou unerträglich werde würde. Er ließ sich nach dem Essen noch einmal zu seinem Bruder geleiten. Der lag in einem eigenen großen Bett, in warme Decken gehüllt und ein kleiner Ofen sorgte für angenehme Wärme. Auf dem Nachttisch standen warmer Haferbrei und eine Kanne Honigmilch bereit. Er streichelte ihm das Köpfchen.
    »Ich werde dich besuchen, Syrell«, versprach er, auch wenn sein Bruder noch immer schlief und ihn nicht hörte. »Um zu kontrollieren, dass sie sich wirklich gut um dich kümmern. Sie haben mir versichert, dass du nicht drüben bei den Heimkindern wohnen wirst, wo es überfüllt und laut ist, sondern hier bei den Mönchen. Sie werden dich aufziehen als einen ihrer Novizen und dich unterrichten. Ich muss jetzt leider zurück nach Hause. Bis bald, schlaf dich schön aus.«
    Zum Abschied küsste er ihn auf die Stirn. Damit verließ Velasco den Tempel und kehrte Saint Aumary den Rücken zu. Er stieg in die Kutsche, welche die Mönche eigens für ihn bestellt hatten und die ihn nach seinen Anweisungen wieder zurück nach Macini fuhr. Befehle zu geben war herrlich praktisch, er würde seine Amtskette niemals wieder ablegen. Er ließ die Kutsche außerhalb seiner Heimatstadt halten, um den Rest des Weges zu Fuß zu gehen. Marilou sollte nicht wissen, dass ihm eine Kutsche der Bruderschaft von Zeit und Raum zur Verfügung gestellt worden war, damit sie keinen Anhaltspunkt hatte, wo Syrell versteckt worden war. Doch als Velasco das Haus seiner Eltern betrat, war seine Mutter noch immer nicht zu Hause.