Das Blut der Wigbergs

  • Das Blut der Wigbergs
    Irgendwann in einer Zukunft, die niemals eintreten sollte


    Nur wenige Kerzen spendeten Licht. In trügerischer Ruhe saß Vanja im Halbdunkel auf dem Sofa. Langsam nippte er an seinem Hagebuttentee. Sein Blick war so leer wie seine Gedanken. Alles was er tat, war zu warten. Er dachte nicht, er fühlte nicht. Vanja war bereits im Tunnel, wie man diesen Zustand nannte. Alle Zweifel waren im Vorfeld beiseite geräumt worden und was es noch zu erledigen gegeben hatte, war erledigt worden. Jetzt lebte Vanja für den Augenblick, die Aufmerksamkeit auf das anvisierte Ziel gerichtet, ohne nach rechts und links zu blicken. Das Ziel war noch nicht daheim, doch sein Willen fest darauf fokussiert. Kein Argument, kein Ereignis, kein Gedanke konnte Vanja jetzt noch aufhalten.
    Nach zwei Stunden quietschte der Schlüssel im Schloss, das Windspiel hinter der Tür klingelte eine Melodie. Vanja kannte die Geräusche von Vendelins Bewegungen, seine leichtfüßigen Schritte. Als Vendelin in die Küche trat, trank Vanja einen weiteren Schluck. Das Kerzenlicht spiegelte sich tanzend von dem Luftzug in seinen Augen. Als einer der wenigen Wigbergs war er braunäugig, doch auch um seine Pupille lag wie die Strahlen einer giftigen Sonne ein grüner Saum. Er blickte nach oben, stellte die Tasse ab und erhob sich.
    Vendelin lächelte. Er war alt geworden, sein ordentlich gescheiteltes Haar vollständig ergraut. Immer noch machte er den Eindruck eines in Würde ergrauten Aristokraten. Seine penible Wahl feinster Salben hatte seine Falten fest und gleichmäßig entstehen lassen. In einer fließenden Bewegung schälte er sich aus dem Mantel und warf ihn auf die leere Küchenbank. An der Weste darunter glitzerte das Goldkettchen einer Taschenuhr, unter dem Halstuch die Amtskette des Stählernen Lotos.
    Vanja, der trotz seines jüngeren Alters weitaus weniger gut aussah, erhob sich und die Halbbrüder umarmten sich.
    »Du so spät hier?«, fragte Vendelin. »Was verschafft mir die unerwartete Ehre?« Er wirkte erfreut und drückte seinem Bruder einen Kuss auf den Mund, ehe er ihn losließ. Sie gingen sehr vertraut miteinander um, denn sie waren ihre ganze Familie gewesen in einer Welt, der ihre Vorfahren den Krieg erklärt hatten. Einen Krieg den sie bereits als Kinder fortsetzen mussten.
    Vanja liebte seinen Bruder aus ganzem Herzen. Aber das würde nichts am Verlauf des heutigen Abends ändern.
    »Ich denke, es ist eine gute Zeit. Es gibt etwas Wichtiges zu klären.« Vanja lächelte und wartete.
    »So, so. Na, dann lass mal hören.« Vendelin schaute sich um, um zu sehen, ob Vanja ein gemeinsames Abendbrot vorbereitet hatte. Eine Teekanne mit einer einzelnen Tasse stand auf dem Tisch. Als Vendelin sich von ihm abwandte, hob Vanja die Faust und stach von schräg oben zu. Zeitgleich wirbelte Vendelin herum. Finger wie ein Schraubstock fingen Vanjas Handgelenk ab. Irgendetwas musste dafür gesorgt haben, dass er bemerkte, dass der Dolch auf seinen Nacken zugerast war. Vielleicht das Geräusch der Bewegung, die er selbst so oft durchgeführt hatte und daher kannte, vielleicht auch die Spiegelung der Kerzenflamme in der Klinge, deren Reflektion an der gegenüberliegenden Wand kurz aufgeblitzt war.
    »Sieh an«, knurrte Vendelin und verdrehte ihm die Hand, so dass Vanja den Dolch loslassen musste. Klirrend landete er zwischen ihnen auf dem Boden. Vanja trat dagegen, ehe sein Bruder danach greifen konnte, der Dolch schlitterte unter den Ofen.
    Entgegen dem, was bei anderen in einer ähnlichen Situation geschehen wäre, entstand nun kein Gerangel. Fast bewegungslos verharrten die beiden alten Männer, darauf wartend, was der andere tat, um darauf reagieren zu können. Sie beide waren von den Jahrzehnten deutlich gezeichnet, doch gemessen an ihrem Alter gut in Form und vor allem beweglich. Besonders Vendelin hatte sich hervorragend gehalten, besser als sein Bruder, dessen Augen von schwerer Krankheit in Schatten lagen.
    »Für?«, fragte Vendelin, der sich denken konnte, dass Vanja nicht aus Eigennutz handeln würde.
    »Für Dave, dessen Schatten du herangezüchtet hast mit dieser Skorpionbrut von einem Chud.«
    »Ach«, grinste Vendelin spöttisch.
    »Seit ihrer ersten Begegnung waren sowohl Dave als auch Tekuro dafür bestimmt, das alte Jäger-Beute-Spiel fortzusetzen. Die Fährte wurde gelegt. Ganz gleich, was mein Mann tut, er wird Tekuros Witterung nicht los. Weder durch Worte noch durch Taten, denn Tekuro hat die Unsterblichkeit auf seiner Seite und die Unterstützung etlicher Verbündeter. Dave ist beides nicht vergönnt und seine gewohnten Waffen sind gegen einen Vampir wirkungslos. Ich kann Tekuro nicht besiegen, aber ich werde den töten, der ihn dressierte und entfesselte!«
    Vendelin lachte schallend. »Und du meinst, dein sensibles Hohenfeldchen würde es gutheißen, dass du dich von mir umbringen lässt?«
    »Wer hier wen tötet, werden wir sehen. Dave hatte in seinem Dasein schon genug Pein für ungezählte Leben. Er hat verdient, wenigstens die letzten Jahre nicht mehr kämpfen zu müssen. Meine Tage sind ohnehin bald gezählt, ich trage den Tod in der Brust. Und wenn ich meinen Mann schon nicht vor Tekuro retten kann, so werde ich wenigstens dafür sorgen, dass seine Ehre wieder hergestellt wird, dass die Wurzel dieses Übels ausgerissen und sein Leid gerächt wird!«
    »Ich bin nicht die Wurzel, sie ist viel älter, Bruderherz.«
    »Deine Linie nährt es! Wenzel kannte Kazrar, er wachte über ihn, so wie du über Tekuro wachst und Moritz über Tanuki! Es setzt sich fort!«
    Vendelins Gesicht veränderte sich. »Moritz«, keuchte er.
    Vanja grinste böse. »Dein Stammhalter, zumindest noch, so lange er und du leben. An dritter Stelle komme ich. Nicht viele Tode, die nötig sind, um an die Spitze kommen. Und dann werden die Karten zum Thema Chud und all den anderen schwächenden Seitentrieben neu gemischt.«
    »Mir scheint, die Hohenfeldes haben auf dich abgefärbt, mein Lieber«, knurrte Vendelin.
    »Vielleicht bin ich ja inzwischen selbst ein Hohenfelde geworden«, meinte Vanja.
    »Das ist vollkommen gleich, du wirst wie einer sterben!«
    Damit stieß Vendelin seinen Bruder in Richtung des Ofens. Der Lehmofen der Küche hatte die Gestalt einer Halbkugel. Unten war, ähnlich einem offenen Maul, die Feuerstelle, obendrauf wurde gekocht. Vanja hatte seine gewohnte Pilgerrobe anbehalten, um Vendelin in Sicherheit zu wiegen, doch das kam ihm im Kampf nun in die Quere. Er stolperte, stürzte fast in die Feuerstelle und das Gewand knisterte auf. Vendelin setzte sofort mit einem Tritt nach, der Vanja zu Boden schickte. Er klappte die Sitzbank hoch und darunter zog er einen blank polierten Degen hervor. Armlang, fingerdünn und bestens dazu geeignet, einen Körper mühelos zu durchbohren. Nicht zuletzt eine Waffe, mit der jeder Adlige von Kindesbeinen auf lernte, umzugehen. Vendelin schwang sie wie einen verlängerten Arm.
    Nur knapp konnte Vanja zur Seite springen. Er rannte in Richtung Ausgang, doch nicht, um zu fliehen - er wusste, dass über dem Türrahmen ein zweiter Degen hing, um ungebetenen Besuch entfernen zu können. Vendelins wütendes Zischen verriet ihm, dass sein Bruder wusste, was er vorhatte. Nützen würde ihm das nichts mehr, auch Vanja war schnell. Er hatte die Tür erreicht, packte den Griff und riss die Waffe von der Wand.
    Gerade noch rechtzeitig, um Vendelins Stich abzuwehren. Ein schnelles Duell entbrannte. Hier ging es nicht um die Ehre, hier ging es nicht um ihr Überleben, hier ging es darum, wessen Zweig die Linie fortsetzte. Ein solcher Kampf konnte nur auf Leben und Tod erfolgen.
    Ginge es nach Vendelin, dann würden die Wigbergs ihr altes, heimliches Leben fortsetzen, weit verzweigt mit mehreren Sicherheitslinien, von denen sie selbst die Wichtigste waren. Ein Hauptstamm, unterstützt und genährt von unendlich vielen Seitenzweigen, die am Ende doch Marionetten blieben. Ein Leben als Lotosspinne, an deren Fäden die Marionetten tanzten mit mehreren Sicherheitsnetzen, um das eigene Überleben zu sichern.
    Ginge es jedoch nach Vanja, würde zu aller erst die Sicherheitslinie der Chuds getilgt werden. Und falls das während seiner verbleibenden Lebenszeit nicht möglich war, musste zumindest der Schutz, den seine Familie ihnen gewährte, ein sofortiges Ende haben. Eine Schleppjagd der Chuds auf einzelne Hohenfeldes war auch ein Krieg einer Wigberlinie gegen die Familie seines Mannes. Ein Krieg, der sowohl Hohenfeldes als auch Wigbergs schwächte und die Einheit der Trinität bedrohte. Und bei aller Liebe zu seinen Brüdern, waren auch die Boviers Teil der allgegenwärtigen Bedrohung, die von Tekuro ausging. So lange der Schwarze Skorpion seine Beißer hatte, so lange war er stark und so lange konnte Davard nicht in Frieden leben.
    Mit diesem Wissen im Hinterkopf gelang es Vanja, Vendelin mit heftigen Schlägen zurückzudrängen, so dass er mehr Spielraum für den wirbelnden Degen hatte. Eine Kerze wurde geköpft, es wurde ein Stück dunkler, ein Wandteppich fiel in Streifen auf die Dielen. In der fast vollständigen Finsternis sprühten ihre aufeinanderschlagenden Klingen Funken.
    »Ich habe dich großgezogen«, rief Vendelin wütend, während er rückwärts eine Treppe hinaufstieg, um durch die Höhe einen Vorteil zu haben.
    »Genau wie Tekuro Chud«, ergänzte Vanja voller Hass. »Ich wollte Moritz nie etwas tun, aber ihr zwingt mich, diesen Weg zu gehen! Und wenn ihr beide gefallen seid, widme ich mich den Boviers. Und wenn das nicht genügt, fällt auch Desnoyer.«
    »Meinetwegen töte die anderen. Aber lass meinen Moritz aus dem Spiel«, brüllte Vendelin mit für ihn untypischer Lautstärke durch das Haus. »Er hat mit Tekuro schon seit Jahren nichts mehr zu tun!«
    »Oh, doch«, keuchte Vanja, während er focht. »Wir beide wissen, dass Patrice und Moritz nur körperlich getrennt wurden. Ihr seelisches Band besteht noch immer! Sie vermissen einander und sie fühlen, was der andere fühlt. Nicht eins zu eins, aber Moritz vermisst Tekuro und Patrice vermisst die Zwillinge. Sie alle treffen sich regelmäßig und was sie bei diesen Treffen besprechen und tun, weiß Ainuwar allein. Alles zum Wohl des Skorpions!«
    »Bleib meinem Sohn vom Leib«, keuchte Vendelin. Er war rückwärts in der nächsten Etage angelangt und versuchte mit einem gezielten Stich, Vanja von oben zu durchbohren.
    Vanja griff hinauf und nahm in Kauf, dass die Klinge ihn traf. Von oben nach unten fuhr sie durch seinen Brustkorb. Während die Klinge seine Lunge durchbohrte, packte er Vendelins Kleidung und riss ihn zu sich hinab. Unter der Last verlor er das Gleichgewicht. Beide stürzten die steile Treppe hinunter, wobei sie sich mehrmals überschlugen. Als sie unten zum liegen kamen, hatte jeder den Degen des anderen bis zum Heft in seiner Brust stecken. Die hinteren Enden waren abgebrochen. Eine Weile rührte sich keiner von beiden. Stille lag auf dem Haus.
    Vendelin blutete am Kopf und atmete nur schwach. Blut lief aus seinem Mund.
    »Vendel«, hauchte Vanja fast ohne Stimme. Er fühlte den Drang, zu Husten, aber konnte es nicht.
    Ganz langsam hob Vendelin noch einmal die Lider, als er seinen Namen hörte. Müde und gleichgültig. Er war kaum noch bei Bewusstsein, der Stich hatte eine Schlagader des Herzens zerstört. Es würde nun sehr schnell gehen, er blutete innerlich aus. Was wohl seine letzten Gedanken waren? Alejandro, der ihn selbst als Greis noch einmal verlassen hatte, um allein zurück ans Meer zu reisen? Sein Sohn Moritz? Oder seine Enkelchen?
    Vanja hätte nicht sagen können, wem die letzten Gedanken seines Bruders galten, als seine Augen glasig wurden. Vendelin, Bruder, Vater, Opa, Oberhaupt des Stählernen Lotos, Oberhaupt der Wigbergs, Hochverräter, Mörder, Geliebter hörte auf, zu atmen.
    Hier lagen sie beide in ihrem Blute und doch war es kaum mehr als der müde Abklatsch einer Rache. Ein Tropfen auf den heißen Stein, gewollt und nicht gekonnt. Vanja hatte nur einen der beiden Wigbergs getötet, die auf seinem Weg zum Familienthron standen. Fünfzig Prozent waren keine gute Quote ... was das betraf, war er wohl doch nicht zum Hohenfelde geboren. Er hatte seinem Mann vielleicht noch mehr Schande gemacht. Ein schmerzhaftes Zucken ging durch Vanjas Leib. Blieb zu hoffen, dass Davard verstand, was er beabsichtigt hatte und seine Tat mit der Kunstfertigkeit seiner Familie vollendete. Er selbst konnte es nicht mehr.
    Vanja griff nach einer der beiden abgebrochenen Spitzen. Mit einem Schnitt durchtrennte er die Pulsadern an beiden Unterarmen, um sein Ableben zu verkürzen. Rot rann das Leben aus seinen Adern und vermischte sich mit dem von Vendelin.
    Dave, dachte Vanja mit seinem letzten Atemzug.