Kapitel 12 - Zungenknoten und Zungenlockerer

  • Zungenknoten und Zungenlockerer



    Bellamy Bourgeois
    Vendelin hörte auf dem Gang draußen die Schritte von schweren Militärstiefeln. Es wurde leise vor seiner Zelle gesprochen, aber mehr als ein unverständliches Wispern, konnte er nicht verstehen. Er hörte wie die schwere Verriegelung zur Seite geschoben wurde und seine Zellentür öffnete sich. Allerdings wurde er nicht in die Freiheit oder auf den Richtplatz gebeten, sondern Bellamy betrat seine Zelle. Hinter dem Ex Palaisin fiel die schwere Tür wieder ins Schloss. Der Mann der Vendelin gegenüberstand sah anders aus, als er ihn in Erinnerung hatte. Er war schlanker, jedenfalls im Gesicht und eine ganze Spur blasser. Seine Augen schienen noch kräftiger als zuvor zu strahlen und sein schwarzes Haar zeichnete sich durch die Blässe noch deutlicher ab. Etwas in dem Blick von Bellamy war anders, etwas Raubsüchtiges hatte darin Platz gefunden. Offensichtlich und für jeden erkennbar, wenn man sich nur wagte ihm genau in die Augen zu schauen. Bell machte eine eindeutige Geste und setzte sich auf die schmale Pritsche die Vendelin als Bett diente. Er musterte den Mann von oben bis unten und schien auf etwas zu wittern, dass er nicht in ihm fand. Für Bellamy roch der Mann fade, so als würde Vendelins Blut die gewisse Note fehlen, jene Note die Wein besonders würzig machte oder ein Stück Fleisch etwas Leben einhauchte. Er roch fast blutleer, aber das war es nicht. Bellamy konnte nicht benennen, was Vendelin fehlte. Er selbst hatte von Vampirismus nicht genug Ahnung um zu wissen, dass er ein Loch in der Seele hatte und dadurch Energie verlor. Das gewisse Etwas, dass er am Blute seiner Opfer liebte war der Anteil Seele der darin mitschwang und der diesen Lebenssaft so unverkennbar köstlich machte. Nun ein Lotos verfügte angeblich nicht über eine Seele, so konnte sie auch nicht im Blut gerochen werden. Bellamy schien einen Moment darüber verwirrt zu sein, wie Vendelin roch, aber er verkniff es sich, noch genauer an dem Mann zu riechen. Dieser könnte es missdeuten und das jemand in einer Zelle nicht nach Rosenblüten duftete war eine unbestreitbare Logik. Bellamy leckte sich über die blutleeren Lippen und für einen Sekundenbruchteil sah Vendelin die rasiermesserscharfen Eckzähne von Bellamy die leicht gekrümmt waren und fast an die einer Viper erinnerten. Genau jene Lippen verzogen sich zu einem freundlichen Lächeln. "Du hast meine kleine Aufmerksamkeit erhalten wie ich sehe", sagte Bellamy und ließ seinen Nacken knacken, indem er den Kopf nach links und rechts schnellen ließ. Er lockerte nicht die Muskeln, sondern deutete damit an, dass Vendelin noch den Kopf auf den Schultern hatte. "Ich bin gekommen um Dir erneut zu lauschen, Du hast mir Informationen von meiner Mutter versprochen, die ich noch nicht hätte. Die sich lohnen würden. Nun hier bin ich und hier bist Du Ven", sagte Bell freundlich. Sein Blick allerdings war hart, es lag keine Freundlichkeit in seinem Blick, sondern ehr etwas Manisches, seine Mutter zu retten und sei das Informationsstückchen noch so winzig war eines seiner wichtigsten Anliegen geworden nach seiner Vampirwerdung.


    Timothée Mauchelin
    Vendelin lehnte sich an die Wand und schloss die Augen zur Hälfte, als würde er sich entspannen. Er atmete langsam durch die Nase aus und ließ die Schultern etwas sinken. Den Jagdtrieb des Vampirs zu wecken, würde ihm wenig passen. »Wer hat dir die Ehre erwiesen?«, fragte er. »Wenn ich raten müsste, würde ich auf Tekuro tippen. Wie du siehst, ist das Verhör zu meinen Gunsten ausgegangen, trotz des einen oder anderen Verlusts.« Vendelin betrachtete seine fehlenden Fingernägel und die zu dicken Würsten geschwollenen und fast schwarz angelaufenen Daumen. Trotz seiner hervorragenden Selbstbeherrschung zitterten seine Hände kaum merklich. »Ich stehe zu meinem Wort, du sollst ein weiteres Geheimnis deiner Familie erfahren. Unserer Familie, Bellamy. Wie schon angedeutet hatte Mariette nicht nur zwei Kinder. Sie hatte drei. 160 nach der Asche kamst du zur Welt, ihr großer Junge. Doch bevor Boldiszàr geboren wurde, bekamst du bereits einmal einen kleinen Bruder. Nicht von Berzan, er hatte einen anderen Vater, doch ihr habt die selbe Mutter. Der Vater hingegen war der selbe wie meiner, es war natürlich Wenzel von Wigberg, den Mariette als Pascal liebte. Wir beide, du und ich, haben also einen gemeinsamen Halbbruder, den Wenzel unmittelbar nach der Geburt in Sicherheit brachte, wie er es nannte. Kurzum: Er lebte nur wenige Tage bei euch. Vanja von Wigberg. Er ist heute 42 Jahre alt.«


    Bellamy Bourgeois
    Bellamy schmunzelte kaum merklich, als Vendelin Tekuro erwähnte. "Wie kommst Du auf Tekuro Chud? Mich hätte auch ein anderer Vampir gebissen haben können? Nun die Sachnähe lässt auf ihn schließen und so war es auch, aber ich möchte von Dir hören, weshalb Du Tekuro erwähnst. Ich habe ihn darum gebeten. Ich habe viel erreicht, wenn man schaut woher ich kam und wohin ich ging. Alles was ich erreichte, habe ich mir selbst aufgebaut und auch wieder eingerissen. Aber jemand ganz Bestimmtes hat mir mit einer einzigen Handlung eines gezeigt, es benötigt nur Sekunden und all das was man kannte und vielleicht sogar liebte ist vorbei. Ich hasse ihn, ich verachte ihn und ich bin ihm zeitgleich dankbar für diese äußerst wichtige Lehrstunde meines Lebens. Das werde ich ihm auch ins Gesicht sagen, während ich ihm den Stachel in seinen welken, weichen Arsch ramme und ihm dabei die Kehle zerfleische. Aber ich bin nicht undankbar. Wie sagte ein weiser Mann einst? Manchmal gewinnt man und manchmal lernt man. Dabei ist dieser weise Schnösel gar nicht so alt und hat Tekuro vollgemeckert wie eine Ziege im Melkeimer. Aber das ist eine andere Geschichte, wie Du sagen würdest. Vanja - ein schöner Name, ein guter Name. Wo lebt mein Halbbruder? Und wieso versteckte sie ihn, wie konnte Mutter ihn verheimlichen?", fragte Belly aufgebracht vor Neugier.


    Timothée Mauchelin
    »Er wurde nicht verheimlicht. Berzan sah ihn und wusste, er war in dem Falle nicht der Vater. Aschbraunes Haar und grüne Augen, eindeutig ein Spross des Dritten im Bund ihrer Ehe. Doch wollte Wenzel nicht, dass sein Sohn in dieser Familie aufwuchs, denn er ahnte, was ihren Mitgliedern blühte. Niemand wusste, wohin er Vanja gebracht hatte, doch er versicherte allen, er sei in guten Händen. Mariette weinte sich die Augen aus und auch Berzan hätte gern etwas mehr von dem Kleinen gehabt. Wo Vanja gelandet ist, habe ich durch Zufall erfahren, als ich etwas recherchierte. Er sitzt im Gremium der Priesterschaft von Zeit und Raum, er ist Ainuwarpriester geworden. Nur leider wurde der Tempel, dem er vorstand, vor kurzem geschlossen. Wo es ihn nun hinverschlagen hat, müsste ich in Erfahrung bringen, doch meine Prioritäten lagen anders.« Vendelin hob den Blick und betrachtete das von Neugier im ursprünglichsten Wortsinne gierig wirkendes Gesicht. »Räumliche und emotionale Nähe. Ich weiß so manches über Tekuro, genau so wie über dich und Boldiszàr und den einen oder anderen darüber hinaus. Vieles davon dank meines lieben Sohnes. Ihr steht euch freundschaftlich nah, fast brüderlich und Archibald weilt fern. An Vampiren aus dem Bekanntenkreis kommt daher nur er in Frage. Eine einfach zu treffende Schlussfolgerung.«


    Bellamy Bourgeois
    "Das mag sein, aber wir sind keine Brüder im üblichen Sinne. Ein Priester des Ainuwar? Uns scheint es alle zu Institutionen zu ziehen, zur Orden und Uniformen. Wieso dass? Hast Du dafür auch eine Erklärung? Wie Vanja heute wohl aussieht? Ob er von uns weiß? Und falls ja, was er wohl von uns denkt? Ich muss ihn finden, hast Du irgendeine Spur? Ainuwar wird in Souvagne stark angebetet, sogar der Duc und seine Familie verehren ihn tief. Vanja kann nicht verschwunden sein, es sei denn... Du hast Deinen Auftrag bis zum Schluss ausgeführt und diesen halben Agentensohn getötet!", zischte Bellamy alarmiert.


    Timothée Mauchelin
    »Vanja lebt«, sprach Vendelin ernst. Und er ist sicher einer der wichtigsten Gründe, warum du und Boldiszàr überleben solltet. Ihr seid seine Halbbrüder, verbunden über die Mutter. Ja, er weiß von euch, so wie ich es wusste. Unter dem Namen Vanja von Wigberg konnte er freilich so wenig arbeiten wie ich unter meinem. Wenn du ihn suchst, so frage nach Pater Syrell, mit vollem Namen Syrell Macault. Er stand dem Tempel in Mancini vor, der auf einen Befehl von Prince Ciel hin kürzlich geschlossen wurde. Warum es die Wigbergs in Institutionen zieht, ist leicht zu erklären. Wissen und Einfluss sind gut für die Familie, auch verdient man gut und die Arbeitsplätze sind ungefährlich und sicher. Die Boviers aber suchen eher den Dienst am Schwert, ausnahmslos. Vanja kam also ganz nach seinem Vater, genau wie du und ich.« Vendelin schmunzelte, doch in seiner momentanen Verfassung wirkte es nur wie ein grimassierendes Zucken seiner Mundwinkel. Zum Lächeln war ihm keineswegs zumute. »Keine Brüder im üblichen Sinne, Wahlbrüder wie Tekuro und Boldiszàr? Blutsbrüder, verbunden über das Blut ihrer Opfer?«


    Bellamy Bourgeois
    "Warme Brüder Vendelin, er ist mein Mann. Uns verbindet soviel, selbst wenn ich wollte könnte ich Dir nicht alles benennen, es gibt dafür keine Worte. Und es muss sie auch nicht geben. Ich empfand schon lang etwas für ihn, nur was... das war die große Frage. Manchmal ist man sich so nah - zu nah, um noch scharf sehen zu können und ich übersah genau wie er die Tatsache, dass wir zusammengehören. Nun gehören wir zusammen, in einem Moment seiner Schwäche fand ich die Stärke es ihm zu gestehen. Vielleicht eine meiner schwierigsten Schlachten, Selbstüberwindung. Aber wie ich auch Tekuro sagte, ist Schwäche zugeben können eine Stärke. Ich fand sie nur bei ihm, also ist er der Richtige. Und dass er es ist, hat er mir so oft bewiesen, das eine Frage danach schon an Lächerlichkeit grenzt. Ich stelle mir keine Fragen mehr, ich finde einfach Antworten und genieße sie mit ihm gemeinsam. Er gehört zu meiner Familie. So wie Silvano zu Boldi gehört, gehört er zu mir. Aber zurück zu uns Ven. Wie stehen wir zueinander? Du sagst Vanja ist unser Halbbruder, meine Mutter und Dein Vater. Dein Vater zeugte Dich mit wem? Zu wem gehörst Du ganz? Zu den Wigbergs? Wer war Deine Mutter, dass möchte ich wissen. Über Vanja sind wir verbunden, aber nicht blutsverwandt oder doch? Wo öffnet und wo schließt sich der Kreis? Ich weiß das die Wigbergs einer Sippe angehören, welches Blut fließt noch in Deinen Adern Ven? Und welchen somit in Vanjas? Ich möchte ihn sprechen und ich möchte ihn kennenlernen. Und ich wünsche mir, dass er uns ein klein wenig mag. Dein Vater tat gut daran ihn zu beschützen, auch wenn er für uns keine Gnade kannte. Er war also nicht durch und durch ein Arschloch. Nun das ist wohl keiner, nicht mal ich", lachte Belly leise.


    Timothée Mauchelin
    »Dann meinen Glückwunsch. Mein Sohn wird die Nachricht vermutlich mit ... gemischten Gefühlen aufnehmen.« Vendelin musste über seinen Witz schmunzeln, dann legte er den Kopf ein wenig schräg. »Wenzel kannte keine Gnade für euch? Hätte er sie tatsächlich nicht gekannt, wärt ihr dann noch am Leben, du und Boldiszàr? Wenzel war nicht herzlos. Er hatte mehr Herz, als gut für ihn war, doch diesen Fehler habe ich nicht von ihm geerbt. Der Name meiner Mutter war Annunciata Macault. Von ihr erhielt ich den Namen Velasco Macault. Und sie war wenig einverstanden damit, dass Wenzel seine Arbeit auf die Weise machte, wie er es eben tat. Sprich, sie war eifersüchtig auf Mariette und mehr noch auf Berzan. Sie warf Wenzel vor, dass er nicht trennen könne zwischen Privatleben und Arbeit und damit hatte sie recht. Sie drohte damit, die Identität meines Vaters offenzulegen. Sie machte ihm das Leben zu Hölle. Er war keineswegs wehrlos, aber er stand durch die Erpressung unter großem inneren Druck. Ich nahm ihm die Entscheidung und die Aufgabe ab, die daraus folgte. Im Jahr 167, mit elf Jahren, beging ich meinen ersten Mord. Und darum war der Zungenknoten so wichtig für mich. Mein Vater hat nie offiziell die souvagnische Staatsbürgerschaft erhalten. Je nachdem, wie man die Sachlage interpretiert, hat somit ein Naridier eine Souvagnerin getötet.«


    Bellamy Bourgeois
    "Das heißt, wenn Du nicht unter der Schwäche Deines Vaters leidest, dass Du keine Gnade für uns kennst Vendelin. Sollte ich dann welche für Dich kennen? Oh jener Teil Deines Sohnes der Tekuro liebt, muss sich nicht sorgen. Er ist bei uns willkommen und von meiner Seite aus sogar herzlich. Er gehört schließlich zur Familie, schon bevor er Tekuro liebte. Warum sollte ich da nicht mit ihm teilen? Oder warum sollte ich ihm böse sein, dass er vor mir die Augen geöffnet hatte? Nun ich würde sagen, diese Naridier wären sehr schnell, sehr tot, würde die Krone davon erfahren Vendelin. Dein Hals ist nur noch eine dürre Schnur und der Deines Sohnes. Wobei er ja nicht Dein Sohn ist, nicht wahr? Ich bin mir da sicher, dass ich dafür irgendwie Beweise finden werde", sagte Bellamy und stand auf.


    Timothée Mauchelin
    »Du missverstehst mich«, antwortete Vendelin ruhig, während Bellamy schon stand. »Ich erfüllte ihm seinen Wunsch, indem ich über euer Leben und eure Sicherheit wachte, da wir über Vanja miteinander verwandt sind. Nicht blutsverwandt, nein. Warum glaubst du, dass Moritz nicht mein Sohn ist? Selbst wenn Patrice in eurer Beziehung willkommen ist - was macht dich glauben, dass du es wärst?«


    Bellamy Bourgeois
    Bellamy rollte mit den Augen. "Man Du bist für einen Spion aber echt schwer von begriff, soll ich es Dir vortanzen? Ven... wenn mich je wer fragt, habe ich geschönte Beweise, dass Dein Sohn nicht Dein Sohn ist, damit er überlebt! Kapiert?", fragte Bellamy extra langsam. "Das Du über uns gewacht hast, freut mich, wenn es so gewesen ist. Das ich über meinen Mit-Mann wache, ist ein unumstößlicher Fakt. Und wenn er dafür keinen Vater haben darf, dann ist das so, klar?", hakte Belly nach.


    Timothée Mauchelin
    »Du meinst, es ist eine gute Idee, ihm erst den Mann zu nehmen, um den er so viele Jahre so hart kämpfte und dann auch noch den Vater?« Noch immer blieb Vendelin ruhig, lustig fand er die Situation allerdings keineswegs. Er musste sich in seinem angekratzten Zustand sehr zusammenreißen. »Warum dieser Sinneswandel? Für eine Frau, deren Gesicht du nie gesehen hast?«


    Bellamy Bourgeois
    "Ich nehme ihm nicht den Vater, ich tue es nur, wenn Du versagst, Du hingerichtet wirst. Falls Du die Wahrheit gesprochen hast und der Krone dienst und nicht der Verräterin hast Du nichts zu befürchten. Falls doch, willst Du Deinen Sohn mit in den Tod reißen? Hast Du ihn nicht viel zu lange, viel zu fest in Deinen Klauen gehabt und so schon in genug Teile zerfetzt? Lass Du den Rest von Moritz leben, lass ihm dass bisschen Glück. Und gönne ihm doch seine Rettung, oder willst Du ihn mit Dir untergehen sehen? Ich biete Dir an ihn zu retten. Nicht sein Leben in eine Lüge zu verwandeln, sondern für ihn zu lügen! Sinneswandel? Ich habe nie anders über meine Mutter gedacht. Ihr Gesicht? Nein, früher hätte ich niemals ihr Gesicht erkannt bis zu jener Erinnerung, wo ich es sehen durfte. Aber eines hätte ich immer wieder erkannt - ihre Stimme. Es war die Stimme der Frau die in meinen Träumen zu mir sprach, die von Dingen sprach die es in meiner Welt nicht gab. Jedenfalls nicht, wenn ich wach war Vendelin. Für diese Frau hätte ich alles getan und ich tue es heute noch. Gut möglich, dass Du das nicht verstehst, dass musst Du allerdings auch nicht. Es ist ein Gefühl dessen Tiefe so weit hinabreicht, dass ich nicht weiß wo es endet. Ich vermute in den Grundfesten meiner Seele. In dem Urzustand meines puren Seins, wo es weder Scham noch Grenzen gab, sondern nur sie und mich und das war alles was zählte. Sie war mein Kosmos in diesem winzigen Moment, wo ich auf ihrem Bauch lag und mit ihr kuschelte. Verständnis musst weder Du noch sonst wer dafür aufbringen, es war meine Mutter Vendelin. Und ich bin ihr Sohn. Söhne schützen ihre Mütter, ich habe versagt. Das was ich wiedergut machen kann, das was ich retten kann, das rette ich. Und dazu gehört auch mein Halbbruder, denn er ist einer von uns und somit ein Stück von ihr. Mach daraus was Du willst Ven, ich machs ja auch. Pass auf Dich auf... es tut sonst keiner", sagte Bellamy und donnerte gegen die Tür. Einen winzigen Augenblick später war der Ex Palaisin verschwunden. Sein neues Ziel hatte einen wohlklingenden Namen - Vanja.


    Timothée Mauchelin
    Vendelin hatte Bellamy offenbar tatsächlich falsch verstanden. Er war davon ausgegangen, dass der ehemalige Palaisin wütend auf ihn war aufgrund des Mordes an seiner Mutter und ihn daher ans Messer liefern wollte. Das Gegenteil war der Fall. Bellamy versprach, seinen Sohn zu schützen, auch wenn er selbst es nicht mehr konnte. Bellamy war zu schnell fort, als dass Vendelin noch etwas sagen konnte. Die Tür fiel hart ins Schloss und die Sicherheitsriegel klackten. Einen Moment hörte er noch sich entfernende Schritte, dann war er wieder allein. Er sah seine zerstörten Daumen an. Ob er sie je wieder benutzen konnte, war fraglich. Trotz allem hatte er sich gut geschlagen beim Verhör. Erschöpft ließ er die Hände in den Schoß sinken und fragte sich, welche Körperteile sie als Nächstes malträtieren würden. Vendelin schloss die Augen und ließ sich in den Abgrund seiner Gedanken fallen, wo ganz unten noch ein wenig Sonne in seinen Erinnerungen schien.

  • Im Sanatorium



    Patrice Vertcuis
    Die ersten Tage im Sanatorium waren schlimm. Kein Mensch mochte es, eingesperrt zu sein und wenn man ihm noch so oft versicherte, dass es nur zu seinem Besten war. Pascal tat das, was die meisten taten, er suchte systematisch nach Schwachstellen in der Sicherung der Anlage. Und wie alle anderen zuvor musste er feststellen, dass es eine solche nicht gab. Es gab nicht einmal Wasserleitungen oder Stützbalken oder Ofenrohre, an denen man sich erhängen konnte, genau so wenig wie spitze Messer. Manche Patienten bekamen überhaupt keine Messer ausgehändigt, nicht einmal stumpfe mit runder Klingenform. Das Geschirr bestand ausnahmslos aus Holz, es gab keine Keramikteller- und Tassen, die man als Waffe verwenden oder in Scherben verwandeln konnte, um sich oder anderen etwas anzutun. Pascal mied den Kontakt zu den anderen Patienten, er fühlte sich nicht verrückt. Mit den Heilern redete er nur das Nötigste, gerade genug, um als kooperativ zu gelten, doch sie mussten ihm jedes Wort aus der Nase ziehen und er verlor sich in allgemeingültigen Formulierungen. Meist verzog er sich mit einem Buch aus der Bibliothek und einem Tee sowie einer dicken Decke auf eine abseits gelegene Gartenbank. Da die Temperaturen noch niedrig waren, das Wetter meist kühl und grau hatte er hier draußen seine Ruhe. Da er sich mit Patrice geeinigt hatte, ließ er ihn ab und zu an die Oberfläche und dann war er ein anderer. Patrice lief ununterbrochen die Mauer entlang, blieb hin und wieder stehen und brach in haltloser Verzweiflung aus. Patrice jammerte im Gegensatz zu Pascal den Heilern die Ohren voll, aber auch er hielt sich inhaltlich bedeckt. Er benutzte die Heiler vielmehr als seelische Abfalleimer. Und Moritz? Moritz nervte die Leitung mit extravaganten Literaturwünschen. Unter anderem forderte er eine Ausgabe der souvagnischen Verfassung. Damit saß er in der Bibliothek, wälzte Gesetzestexte, machte sich Notizen und suchte nach einer Möglichkeit, sich hier herauszuklagen. Selten, ganz selten, kam auch Louis an die Oberfläche. Man erkannte ihn daran, dass er sich mit einem Stapel sauberer Putzlappen in seinem Zimmer versteckte und vor sich hinsang, während er mit den Lappen spielte. Für die anderen Patienten war es höchst verstörend, wie scheinbar ein und dieselbe Person sich derart unterschiedlich benehmen konnte. Am heutigen Tag saß der Mann mit der Scherbenseele im Garten und beobachtete die Singvögel, die er mit Brot fütterte.


    Benito
    Benito betrat den Garten des Sanatoriums und hielt nach Pascal Ausschau. Im Grunde hielt er nach einem Körper und vier Seelen Ausschau. Vermutlich war er bei Pascal immer noch beliebt wie ein Kropf, aber um ihn zu retten, war Ben gar nichts anderes übrig geblieben, als dem Duc die volle Wahrheit zu offenbaren. Pascal selbst, wollte die Chance verstreichen lassen und so hatte er ihn mit dem Zungenlockerer zu seinem Glück gezwungen. Wie Pascal oder die anderen heute darüber dachten, dass entzog sich Benitos Kenntnis, aber hoffte sie würden eines Tages verstehen, warum er zu diesem Mittel gegriffen hatte. Ben setzte sich neben Pascal auf die Parkbank und schaute ihm dabei zu, wie er die kleinen Vögel fütterte. Ben beobachtete sein Gegenüber und überlegte wie er anfangen sollte. Mit der Frage wie es ihm ging, begrüßte er fast jeden. Nun das war wohl typisch für einen Heiler. Er wollte es anders versuchen und hoffte, das sich Pascal über seinen Besuch freute, oder wenigstens nicht kreischend die Flucht ergriff. "Schön Dich in so ausgelassener Stimmung zu sehen. Wer füttert hier gerade die Vögel?", fragte Benito ruhig.


    Patrice Vertcuis
    »Der Dumme war das«, antwortete Pascal und hörte auf, Brotkrümel zu werfen. Er hatte das Gefühl, sich vollkommen lächerlich gemacht zu haben, obwohl er gar nichts dafür konnte. Er legte das Brot neben sich auf die Bank und wandte sich Benito zu. »Gibt es zur Abwechslung einmal gute Neuigkeiten? Wurde entschieden, was mit uns geschehen soll? Der Dumme jammert jedem die Ohren voll, weil er das Arschloch vermisst. Und mir wurde zugesichert, dass Caillou mich besuchen darf.«


    Benito
    Benito lehnte sich an die Rückenlehne an und ließ den Blick über den Garten schweifen. "Dumm ist von Euch keiner, verwechsele dumm nicht mit ungebildet. Jeder von Euch hat eine andere Meinung, eine andere Auffassungsgabe und eine völlig andere Sicht auf die Welt. Wenn Patrice seinen Freund vermisst, musst Du das genauso hinnehmen, wie Du Brot vor Schnäbel wirfst, während Ledwicker hungern. Hält er Dich deshalb für dumm? Aber ich bin nicht hier um einen von Euch zu belehren oder in die Schranken zu weisen, ich wollte damit nur sagen, vertragt Euch bitte. Wenn es hart auf hart kommt, dann habt Ihr nur Euch und diesen einen Körper, den ihr Euch teilt. Denkt immer daran, bevor Ihr den anderen maßregelt oder leichtfertig be- und verurteilt. So das dazu und nun zu dem schönen Themen. Ich bin hier, somit ist der Besuch endlich erlaubt. Ich habe Euch versprochen, nach Euch zu schauen und hier bin ich. Ich hoffe es geht Euch etwas besser. Das heißt, ja Ihr dürft endlich Besuch empfangen. Bei dem nächsten Besuch werde ich Caillou mitbringen, falls er Dich nicht schon vorher besuchen möchte Pascal. Über Euer Schicksal ist entschieden, Euch soll geholfen werden. Wie - nun dass steht noch auch. Aber der Duc möchte Euch beistehen und Euch helfen. Dazu soll auch Brandur von Hohenfelde gehört werden, sprich der Duc zieht für Euch sogar Nekromantie in Betracht. Habt Ihr irgendwelche Fragen?", fragte Ben freundlich.


    Patrice Vertcuis
    »Das Brot habe nicht ich herumgeworfen«, verteidigte Pascal sich. »Das ist das Problem, alles fällt immer auf mich zurück. Ich hätte es nicht mit jemandem von hier geteilt, weder Mensch noch Tier. Nekromantie, wir sollen also hingerichtet werden? Ist es das?«, fragte Pascal mit erstickter Stimme. »Warum lasst ihr uns nicht einfach gehen? Moritz hat in der Verfassung nachgeschlagen, man wird üblicher Weise in geschlossenen Sanatorien festgehalten, wenn man sich oder andere gefährdet. Das tun wir aber nicht, das tut nur Patrice! Beziehungsweise Tekuro gefährdet uns. Er müsste eigentlich hier an unserer Stelle sitzen! Es ist hier unwahrscheinlich langweilig und die Patienten sind keine angenehme Gesellschaft. Wenn du uns helfen möchtest, dann schreibe uns ein Attest, dass wir hier herauskommen oder organisiere uns einen Advokaten.«


    Benito
    Benito hörte sich die Erklärung in aller Ruhe an und in gewisser Weise hatten sie sogar Recht. "Nichts fällt auf Dich zurück, es war ein Beispiel und kein Vorwurf, dass habe ich doch gleich dabei erklärt. Aber ich verstehe auch warum Ihr derart gereizt seid. Niemand ist gerne eingesperrt. Richtig wenn Leib und Leben von einem selbst oder das anderer Personen gefährdet ist, kann man in Verwahrung genommen werden. Entweder bei den Bütteln, oder wie Ihr in einem Sanatorium. Eines vorweg, keiner von Euch soll sterben. Genau darum geht es dem Duc, das Gegenteil ist der Fall. Ihr seid vier Personen, aufrechte Männer die sich einen Körper teilen. Es gibt aber auch Personen, die anderen das Leben nahmen und somit das Recht auf Ihr Leben verwirkt haben. Die Intension seiner Majestät ist hier, dass drei von Euch umziehen und zwar in einen neuen Körper. Keiner von Euch soll sterben, genau das ist der Knackpunkt. Soweit mir bekannt ist, hat der Marquis von Hohenfelde dies bereits einmal bewerktstelligt, er verpflanzte den Geist seines Bruders in den Körper von Comte Aimeric de la Cantillion und die Verpflanzung war erfolglich. Jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, denn Aimeric und Dunwin hatten dann das gleiche Problem wie Ihr, sie waren zu zweit. So soll es aber diesmal nicht laufen, denn jeder von Euch der umzieht, soll diesen Körper für sich alleine haben, er erhält also ein eigenes, eigenständiges Leben. Ob der Marquis dazu in der Lage ist, wird sich herausstellen. Ich kann nur hoffen, dass dies der Fall ist. Andernfalls welche Lösung würdet Ihr selbst denn vorschlagen, solltet Ihr auf ewig zusammen bleiben müssen? Hattet Ihr Euch selbst hierzu schon Gedanken gemacht? Was das selbstschädigende Verhalten angeht, da müsst Ihr ehrlich zu Euch sein. Drei von Euch neigen nicht dazu, Patrice hingegen schon. Und das dürfen wir nicht zulassen um die drei anderen Personen zu schützen. Oder wie steht es hierbei um Dich Patrice? Erzählt bitte", bat Ben.


    Patrice Vertcuis
    Noch bevor Pascal etwas erwidern konnte, drängelte Patrice sich an die Oberfläche. Benito sah es daran, dass sich der Gesichtsausdruck des Mannes vollkommen veränderte. Von einer zur Schau getragenen Arroganz wechselte seine Mimik in blanke Verzweiflung. »Pascal sagt dauernd, er hätte uns erschaffen und er würde uns wieder vernichten. Das ist gelogen, Moritz ist das Original! Auch wenn er uns nicht zu töten vermag, so kann er uns dennoch an die Wand drücken, so dass es aussieht, als wären wir nicht mehr da. Er hat Tekuro damit sehr verletzt! Ich habe alles mit angesehen. Tekuro war früher oft grausam, ja, aber er hat sich geändert! Er ist nicht mehr der Mann, der er mal war. Ich wäre bereit auszuziehen, in einen neuen Körper, aber Tekuro muss dabei sein, damit er es mir glaubt, dass ich da drin stecke. Kann ich mir den Körper selbst aussuchen? Ich würde alles tun, um hier herauszukommen! Wenn es erstmal nicht so viele Körper gibt, würde ich mir auch mit Louis einen teilen.«


    Benito
    Benito schenkte Patrice ein aufmunterndes Lächeln und legte ihm kurz die Hand auf den Arm. "Wer bei dieser Behandlung dabei sein darf, das wird der Marquis von Hohenfelde bestimmen, sollte er sie vornehmen. Sobald ich näheres weiß, werde ich ihn umgehend danach fragen. Also Du und Louis, Ihr wärt bereit auszuziehen. Euer neuer Körper wäre entweder ein verurteilter Mörder, dem dann logischerweise nicht der Kopf abgeschlagen wird oder eine andere Person, mit einem gleichwertig schweren Verbrechen. Vielleicht auch ein Fremdling, das wäre ebenso möglich. Sollte es mehrere Personen zur Auswahl geben, also mehr als benötigt werden, so vermute ich spricht nichts gegen eine Wahl. Es könnte auch in Ledwick nachgefragt werden, ob Kriegsverbrecher bekannt sind. Das wäre auch eine weitere Möglichkeit. Und Dich Pascal möchte ich bitten, Dich dort nicht wie ein Platzhirsch auszubreiten, Du hast dort weder die Führung inne, noch bist Du das Hauptbewusstsein, das ist Moritz. Generell solltet Ihr fest zusammenhalten, anstatt einen oder mehrere gegen die Wand zu spielen. Je besser ihr zusammen funktioniert, je einfacher ist auch für Euch das Zusammenleben. Reibereien werden Euch das Leben zum Abgrund machen, dann könnt Ihr dieses "Gefängnis" hier hinter Euch lassen, Ihr selbst werdet Euer Gefängnis stets bei Euch tragen. Man sagt Menschen ändern sich nicht, aber das ist nicht korrekt. Menschen ändern sich schon, aber es müssen dazu zwei Faktoren zusammen kommen, sie müssen es wirklich wollen und sie benötigen einen trifftigen Grund. Ich hoffe Tekuro hat beides, so dass seine Änderung von dauerhafter Natur ist. Ich würde es Dir wünschen Patrice. Soweit ich weiß, wollte der Duc mit Euch noch einmal das Gespräch suchen, ebenso mit Vendelin. Allerdings wird er vorher mit Brandur von Hohenfelde sprechen. Wie eine Person aus Euch extrahiert werden kann um sie in ein anderes Gefäß zu transverieren, so könnte man es nennen", erklärte Ben.


    Patrice Vertcuis
    »Pascal hasst Tekuro und will nicht von ihm angefasst werden. Hat er mich gefragt, ob ich Caillou leiden kann? Ihre Wiedersehensfreude war für mich auch nicht gerade angenehm und von Louis will ich gar nicht reden, er ist ein Kind! Ja, wir würden ausziehen, also ich und ich nehme Louis gern mit, damit er von Pascal wegkommt. Aber das geht nur, wenn Tekuro dabei ist und das neue Gefäß absegnet, er ist so unwahrscheinlich mäklig. Das darf kein siebzigjähriger zahloser Obdachloser sein oder jemand der gerade die Pocken überstanden hat. Er wird mich dann nicht mehr lieben! Ich möchte nicht anspruchsvoll wirken, mir wäre es gleich, so lange der Körper nicht allzu alt und gesund ist. Aber wenn ich Tekuro verliere ...« Patrice versagte die Stimme.


    Benito
    "Du bist mehr als nur das Anhängsel von Tekuro Patrice. Du musst Dich in diesem Körper wohl fühlen, sollte auch Tekuro ihn attraktiv finden ist das wunderbar. Aber stell Dir vor Du würdest Jahre später einen anderen Mann finden, der andere optische Vorlieben hat. Was möchtest Du dann? Umziehen? Bedenke bitte einmal die Gegebenheit vor die ein normaler Mensch gestellt ist. Niemand hat sich selbst gemacht, oder meinst Du dann hätte ich schütteres Haar, wäre faltig, fett und grau? Ganz sicher nicht und das hat nichts mit Eitelkeiten zu tun, sondern damit dass sich jeder gerne fit und gesund fühlt. Und so möchte er auch aussehen. Also solltest Du nach Deinem Wohlbefinden und Geschmack gehen. Segnet Tekuro diesen Körper ab, ist das wunderbar. Falls nicht, wie soll denn die Alternative aussehen? Du bleibst so lange bei Moritz, Pascal und Louis, bis Tekuro sich bequemt hat, Dir ein passendes Körpermodel zu backen? Was können denn in dem Fall die anderen dafür, dass Tekuro keiner der Körper gefällt? Was kannst Du selbst dafür? Möchtest Du nicht ein eigenständiges, autarkes Leben von den anderen? Ihr könnt gerne in Freundschaft verbunden bleiben, aber als Körper solltet Ihr getrennte Wege gehen und das so bald wie möglich, auch für Eure eigene geistige Gesundheit. Möchtest Du das Schicksal von vier Personen von den Launen eines anderen Mannes abhängig machen? Und zwar von der Laune, welche sexuellen Vorlieben er hat und was er gerne vor das Rohr bekommt? Dann mein lieber Patrice, müsstest Du vermutlich alle 3 Jahre umziehen, wenn sich die ersten Fältchen zeigen und Tekuro nicht mehr mit Dir einverstanden ist. Denn Du wirst altern, im Gegensatz zu ihm. Es sei denn, Du lässt auch das beheben. Aber das liegt dann nicht mehr in meinem Bereich und das ist eine Entscheidung die gut überlegt sein will. Denn wer Angst vor dem Tod hat, sollte sie nicht mit einem Selbstmord durch Vampirbiss bekämpfen. Nun wie hast Du Dir dass denn mit Tekuro gedacht? Und Du Pascal, was hast Du Dir wegen Caillou überlegt? Ich würde ihm gerne bescheid sagen, dass er Dich besuchen soll. Was soll ich ihm von Dir ausrichten? Moritz hast Du jemanden den Du sprechen möchtest, oder eine Botschaft für jemanden? Oder Du Louis?", hakte Benito nach.


    Patrice Vertcuis
    »Benito«, sprach Patrice sanft und sah ihn mit Rehaugen an. »Ich wurde dafür geschaffen, um das Anhängsel von jemandem zu sein. Meine Wahl fiel auf Tekuro, weil ich mehr sehe als die anderen. Ich sehe, wer er wirklich ist. Ich wurde zu meiner Geburt mit einem wunderbar aussehenden Körper gesegnet und diesen liebt er. Sicher könnte man ihm seinen einseitigen Geschmack zum Vorwurf machen, aber wozu? Für mich ist es Garant, dass er sich nicht woanders umschaut und mich an seiner Seite behält.« Er lächelte schmerzvoll bei dem Gedanken an seinen Geliebten. Er holte ein Taschentuch hervor und musste sich die Augen tupfen. Als er in das Taschentuch blickte, war sein Gesicht angewidert und er steckte es wieder in die Tasche. »Ich hab ja gesagt, dass er dumm ist. Wegen Caillou, was sollte ich mir überlegt haben? Ich möchte mein Leben mit ihm fortsetzen. Er ist mein Mann, wir sind verheiratet und Moritz kennt ihn und hat ihn für gut befunden. Moritz und ich stehen uns nahe, ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob wir wirklich zwei sind. Er hat versucht, mir seine ganzen Erinnerungen vorzuenthalten, aber ansonsten sind wir uns sehr ähnlich. Ich bin er ohne seine Erinnerungen an die Familie und das alles. Das heißt, so hatte er es angedacht, aber es hat nicht funktioniert. Wir sind also nur anderthalb Personen, wenn überhaupt.« Der junge Mann zog sich die Schuhe aus und zog die nackten Füße an den Rumpf. Er legte sich hin und legte seinen Kopf auf Benitos Oberschenkel. »Ich hab Angst«, gestand er mit einem zarten Stimmchen, das der Heiler nie zuvor bei ihm gehört hatte. »Wo ist Papa?«


    Benito
    Benito strich ihm sanft über den Kopf. "Du musst keine Angst haben, hier passen alle gut auf Dich auf. Du bist hier, damit Du gemeinsam mit Patrice ausziehen kannst und Pascal bleibt vielleicht mit Moritz zusammen. Aber wir möchten, dass Ihr alle einen schönen neuen Körper bekommt. Ja ich weiß, sowas kann einem große Angst machen. Das ist, als wäre man in einen Raum mit fremden Leuten eingesperrt und kann nicht raus. Gleich was man macht, man kann das Zimmer nicht verlassen, sich nur in eine Ecke zurückziehen. Aber wenn wir Glück haben, dann können wir Euch alle ein eigenes Leben schenken und es gibt nichts, was ich Euch sehnlicher Wünsche. Patrice erzählt, er wäre dafür geschaffen worden, um ein Anhängsel von jemandem zu sein. Was Patrice nicht weiß ist, das wir alle geschaffen sind um von jemandem das Anhängsel zu sein und der andere von uns. Niemand sollte allein durchs Leben gehen müssen, aber leider kann man sich das nicht immer aussuchen. Ihr lebt in einer Zwangsgemeinschaft, andere leben in Zwangseinsamkeit. Die goldene Mitte ist für alles die Lösung, auch für Dich Louis. Falls Du niemanden hast, bei dem Du nach dem Umzug bleiben kannst, dann bleibst Du bei uns. Ich hoffe nur dass das was der Duc sich für Euch erhofft, in Erfüllung gehen kann. Ich kann es nur wiederholen, Ihr sollt hier gesunden und Euch nicht gefangen fühlen. Natürlich ist das leichter gesagt als getan, aber versucht in der Zeit die Ihr hier seid, zusammen zu finden, Euch zu erholen und Euch kennenzulernen. Denn im aller schlimmsten Fall, ist keine Heilung also kein Umzug möglich. Jedenfalls dann nicht auf dem Wege der Nekromantie. Ich hatte überlegt, ob ich eventuell gemeinsam mit Prince Ciel eine Möglichkeit finden könnte Euch zu trennen. Denn, hör zu Louis, es war Prince Ciel der Aimeric das Leben rettete. Er zog die fremde Seele aus ihm heraus und er war wieder für sich allein. Folglich habe ich mir überlegt, könnte Ciel ja auch drei von Euch aus dem Körper ziehen. Bis dato müsste es ja theoretisch funktionieren. Ausgezogen wärt Ihr dann schon mal, aber wie zieht Ihr in den neuen Körper ein? Wäre dies durch eine Art Transmitter, also Mittler möglich? So wie wenn ich jemanden heile und ihm von mir Energie zufügte, dass ich einen von Euch zufüge? Darüber habe ich nachgedacht, bis mir einfiel, dass man Euch nur betrachten kann, aber man kann Euch nicht ergreifen. Ich konnte nur Eure vage Form bestimmen, aber keinen von Euch festhalten. Das macht die Besonderheit Eurer Seele aus. Ich stehe vor einem Rätsel, aber ich bin nicht gewillt so einfach aufzugeben und der Duc ist es ebenfalls nicht. Heilmagie, Nekromantie, irgendetwas muss Euch retten können. Und falls nicht, dann müsst Ihr für Euch selbst die Rettung sein, dann seid Ihr in der kleinsten Wohngemeinschaft die es gibt, ein Quartett, dass eine lange beschwerliche Reise hinter sich hat, aber das dennoch jeden Weg gemeinsam geht, weil es das muss. Jeder sollte seine Stärken dazu beitragen und die Schwächen des anderen aufheben und nicht darauf zeigen. Denn wenn es keine Trennung gibt, dann gibt es für Euch nur ein wir. Und jeder Ich-Gedanke schadet Eurer winzigen Seelenfamilie. Das man bei solchen Herausforderungen Angst bekommen kann, dass ist ganz normal. Völlig normal, sogar ich habe manchmal Angst. Aber sie mahnt uns zur Vorsicht und es gibt genug Leute die sich um Euch sorgen und ihr Bestes versuchen. Dein Papa muss leider auch eine Behandlung über sich ergehen lassen Louis, er muss dazu viele Fragen beantworten. Und wenn er es schafft sie richtig zu beantworten Kleiner, dann ist er hier auch bald zu Besuch, versprochen", sagte Ben liebevoll.


    Patrice Vertcuis
    »Ich bin auf einmal so groß«, wunderte sich Louis und betrachtete eine seiner Hände. Er schob den Ärmel hoch und besah sich den Unterarm. Mit dem Finger strich er über die nachwachsenden Haarstoppeln. »Wer sind die anderen drei? Die wollen mir nicht sagen, wo Henri ist. Sie sagen, er wird mich nicht besuchen bekommen. Alle erwarten Besuch, nur mich will niemand sehen. Ich brauche nirgendwo hin, ich wohne bei Henri, am Hohen Weg 14 in Beaufort.«


    Benito
    Benito streichelte ganz sanft den Kopf von Louis, ehe er ihn in eine sitzende Position zog und an sich drückte. "Louis Du hast sehr lange geschlafen, darum erkennst Du Dich kaum wieder. Das passiert manchen Menschen und niemand weiß warum. Du bist im Herzen immer noch ein kleiner Junge, aber Dein Körper ist der eines Erwachsenen. Henri wäre sicher gekommen um Dich zu besuchen Louis, aber er kann es leider nicht mehr. Henri ist vor langer Zeit eingeschlafen, für immer. Henri ist von Dir gegangen Louis. Er hat Dich geliebt und das ist etwas, was Dir immer bleiben wird. Im Moment mag Dir das kein Trost sein, aber sobald Du Dich schlecht, traurig oder schwach fühlst, denk daran zurück", antwortete Ben und legte seinen Kopf auf den von Louis ab, während er ihn hielt. Das die anderen Louis nicht aufgeklärt hatten, war ihnen hoch anzurechnen. Was hätten sie ihm aus erzählen sollen? Wie Henri eingeschlafen war, das musste Louis nicht erfahren, daran würde er sich selbst erinnern, oder niemals. Aber daran geliebt worden zu sein, jedenfalls an das Gefühl, das jemand da gewesen war - dass sollte Louis festhalten. Ben war selten ratlos in seinem Beruf und nur selten fehlten ihm die Worte. Im Gegenteil, sein Mundwerk konnte schärfer sein, als sein Skalpell. Aber hier und heute, galt die alte Weisheit, wo einem die Worte fehlten, machte eine Umarmung alles wieder gut. Und er hoffte, dass Louis diese Umarmung verstand. Als Trost und als mögliche Hoffnung, dass er nicht ganz allein auf der Welt war. Ben wusste nicht, wie Etti darüber dachte, aber Louis war ein kleiner verlorener Junge in einer viel zu großen Welt und in einem für ihn viel zu großen Körper. Er würde ihm ein Zuhause bieten, bei ihnen beiden.


    Patrice Vertcuis
    Louis reagierte, wie jedes Kind auf so eine Botschaft reagieren würde - mit Entsetzen und tiefer Trauer. Er hielt sich an Benito fest und weinte, ehe das Weinen auf einmal verstummte und der Mann mit den vielen Seelen sich wieder aufsetzte. Er nahm erneut das Taschentuch und putzte sein Gesicht ab. Dann zog er seine Schuhe wieder an. »Es ist manchmal nicht einfach, alle Interessen unter einen Hut zu bekommen, selbst wenn wir uns redlich bemühen. Manchmal ist es auch einfach peinlich. Zu zwei Dritteln der Zeit muss man sich fremdschämen. Ach so, ich bin gerade Moritz. Ich weiß zu schätzen, dass du uns besucht hast. Die Lösung mit den Körpern ist gar nicht schlecht, falls sie realisierbar ist. Ich bin ebenfalls damit einverstanden, es zu versuchen. Bitte organisiere schnellstmöglich einen Termin bei seiner Majestät und mit Brandur von Hohenfelde. Und was Vendelin anbelangt, sollte ihn der Block erwarten, würde ich ihn gern noch einmal vorher sehen. Wenn es dir nichts ausmacht, wäre ich sehr dankbar, wenn du uns sowohl Caillou als auch Tekuro zu Besuch vorbeischicken könntest, damit niemand sich benachteiligt fühlt.«


    Benito
    "Tja ob Du es glaubst oder nicht, manchmal ist das schon allein unter Brüdern so und das obwohl man sich liebt und gerne zusammen halten möchte. Ich werde ihnen bescheid sagen und Ihr werdet bald Besuch bekommen. Ich glaube Dein Vater verkennt die Situation, genau wie ich sie einmal verkannt habe. Der Duc ist genau wie sein Sohn Ciel ein überaus großzügiger Mann. Man könnte annehmen, dass er darauf aus ist einen Verräter zu töten. Aber das ist er nicht Moritz, dem Duc geht es darum herauszufinden, ob er einen Landsmann als Verräter sehen muss. Der Tod des Verräters wäre nur die Konsequenz. Kann er es sich aussuchen, schenkt er jedem wenn es möglich ist eine zweite Chance. Deinem Vater genauso wie einst Massimo, oder sogar mir. Denn Dein Vater ist Souvagner, er diente der Krone, wem genau? Dem Duc möchte nicht den Tod wählen weil er muss, sondern er hofft Milde aussprechen zu können, weil das die Ermittlung ergab. Das kannst Du mir glauben, sein Sohn ist ebenso - Prince Ciel wie Archi-Duc Dreux. Und ich verdanke Ciel meinen Kopf, ich hoffe Dein Vater hat den Mut zu seinen Fehlern zu stehen, falls er welche begangen hat und sieht sie ein. Der erste Schritt zur Besserung. Und falls er keine gemacht hat, falls er sauber ist, so sauber wie ein arbeitender Mann sein kann - dann wirst Du ihn bald wiedersehen. Das wünsche ich Dir und auch Deinem Vater. Du bist hier, weil ich Euch retten wollte, ich wollte Euch nie etwas Böses. Erholt Euch, es geht aufwärts, ich bin bald zurück. Und vor mir vielleicht schon einige Besucher", sagte Ben und drückte Moritz und alle anderen kurz fest, bevor er sich erhob und sie im Garten allein ließ.