Das vergessene Volk - Jaros NaNoWriMo 2017

  • Anmerkung: rot markierter Text bestand schon vor dem NaNo


    Prolog


    Linu nahm Anlauf und rannte auf das Ende der Klippe zu, die 100 m senkrecht nach unten bis zum Meer reichte. Das Gras war weich und grün und umschmeichelte ihre nackten Füße. Am Abgrund angekommen sprang sie ab und schneller als man Blinzeln konnte, hatte sie sich verwandelt. Elegant schwebte sie mit weit ausgespannten Schwingen in den blauen Himmel und stieß dabei ein Jubelkreischen aus.


    Zwei Meter mindestens mochte die Spannweite der Schwingen auf dem Gemälde hinter Lord Xyrius Tisch betragen. Triborin betrachtete das Bild, während er wartete. Noch nie hatte er einen derart großen Vogel gesehen. Das Gefieder war braun, doch an den Spitzen leuchtete es golden und um den kräftigen Leib trug das Wesen einen hölzernen Harnisch.
    „Hallo Triborin.“ Er zuckte zusammen. Xyrius hatte absolut lautlos den Raum betreten.
    „Lord Xyrius“, Triborin verbeugte sich.
    „Du musst etwas für mich tun.“

    Rak packte sich mürrisch eine Armladung Holzscheite und ging zum großen Ofen der Bäckerei. Wie ihm geheißen, warf er eins nach dem anderen in die knisternden Flammen.
    „Rak mach dies, Rak mach das“, grummelte er vor sich hin. „Dabei sollte ich ein Krieger sein! Ja ein Krieger, wie zu Zeiten der großen Schlacht!“
    Er schwang eines der Holzscheite wie ein Schwert zur Seite.
    „Sterbt, ihr Ratten!“


    „Sonst, verehrte Dame, verehrte Herren, werden wir alle sterben“, beendete der Lord der Alben unterdessen in der Kühle seines Ratsaales eine lang geplante Rede.
    Sinklar beobachtete die Wirkung seiner Worte im großen Saal. Oh ja, er war ein guter Redner, schon immer. Diese Eigenschaft war nicht unentscheidend gewesen bei seinem Aufstieg auf den Thron von Mildir. Da saßen sie nun, die Herrscher und Berater der umliegenden Reiche, träge und eingerostet durch den langen Frieden und lauschten seinen Worten. Hatten die Alben nicht schon lange davor gewarnt, dass Rebellionen entstehen würden? Das hatten sie, mehrfach. Doch Menschen- und Zwergenohren konnten so fürchterlich taub sein, wenn sie von Wein und Wohlstand umgeben waren. Dass die Stühle von Lord Xyrius und seinem Gefolge ebenso leer geblieben waren, wie die von König Warkas, musste nun aber wirklich jedem aufgefallen sein und machte die Lage in Orchaldor nicht besser.
    Kaiserin Limargre erhob sich anmutig von ihrem Platz.
    „Ihr sprecht sehr schwarz, Euer Ehren. Wo sind die Beweise für den aufziehenden Sturm?“
    Menschliche Skepsis, dachte Sinklar. Die dunkle Schönheit aus dem Süden sprach an, was vermutlich alle dachten.
    „Wir sehen seit einiger Zeit Veränderungen in der Natur, die Bäume wissen es, Mylady. Außerdem erreicht uns zunehmend die Kunde über Raubzüge; auch jenseits der Grenzen Mildirs“, fügte er an. „Ich denke, dass die Wilden sich scharen. Doch wer führt sie?“ Er ließ seinen Blick bedeutend über die leeren Plätze schweifen.
    „Ihr glaubt, dass Xyrius und Warkas gemeinsame Sache machen?“
    Bromir, der Zwerg blickte ihn fordernd an. „Die beiden können sich nicht ausstehen.“
    „Nein, mein lieber Bromir, das glaube ich nicht. Ich denke, dass einer von beiden etwas im Schilde führt und der andere aus anderen Gründen fehlt. Ich habe beiden nie vertraut.“
    Die Herrscher sahen sich unter einander an. Jeder wusste um der Alben Rivalität mit den Dunkelelfen und ebenso deren Ablehnung gegen das raue Menschenvolk aus Nordost.
    „Verzeiht mein Bedenken, aber zieht Ihr womöglich voreilige Schlüsse, was die Abwesenheit der beiden betrifft? Xyrius hat schon immer gerne sein eigenes Süppchen gekocht und lässt jeden gerne spüren, dass er nur das tut, was er will und wann er es will. Und Warkas… es gibt Gerüchte, dass er nicht mehr bei Sinnen ist.“
    „Und widerspricht eines von beiden meinen Befürchtungen?“
    Er wandte sich wieder der ganzen Runde zu.
    „Wie ich zu Beginn bereits sagte, liebe Freunde, es ist im Augenblick unerheblich, wer unser Feind ist. Wir müssen uns nur einig sein, dass es einen Feind gibt. Seid wachsam, schickt Späher und Spione aus, sammelt und formiert Eure Truppen und überprüft Eure Verteidigungsanlagen. Macht Euch bereit, anderen zur Hilfe zu eilen.“
    Nachdem er seine Stimme stetig hatte anschwellen lassen, pausierte er kurz, bevor er gewichtig anfügte: „Ich werde unterdessen nach den Aviaren schicken.“
    Sofort setzte Gemurmel ein am Tisch. Bromir erhob als erster die Stimme. „Bei allem Respekt, Lord Sinklar, die Aviaren sind seit der großen Schlacht Malgors ausgestorben.“
    „Das weiß niemand“, warf Limargre ein. „Legenden besagen, dass sie geflohen sind.“
    „Das Vogelvolk ist selbst nur mehr eine Legende“, beharrte Bromir. „Niemand weiß, was mit ihnen geschah. Heutzutage weiß kaum jemand mehr, dass sie überhaupt je existiert haben. Sogar die Relikte und Erinnerungen an sie sind komplett in Vergessenheit geraten. Wie kommt Ihr darauf, dass diese Suche lohnt? Was wisst Ihr, was wir nicht wissen, Lord Sinklar?“
    „Ich glaube daran, mein lieber Bromir. Und lasst dieses Unternehmen ganz meine Sorge sein. Ich denke, Ihr habt genug Dinge, um die Ihr Euch selbst kümmern müsst.“
    Bromir schnalzte mit der Zunge. „Ich habe mein Reich durchaus besser im Griff als Ihr vielleicht meint. Und auf gar keinen Fall, werde ich das Volk unnötig in Aufruhr bringen, indem ich überall Truppen stationiere. Meine Burgen sind intakt, meine Männer tapfer und stark.“
    „Das könnt Ihr gewiss besser beurteilen als ich, mein Freund. Alles was ich kann, ist euch zu warnen. Ein Sturm zieht auf.“


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    Linu


    Was für ein wundervoller Tag! Linu war mit ihrem Freund Taal so lange auf den umliegenden Wiesen unterwegs gewesen, bis die eigene Hand vor Augen kaum mehr zu erkennen war, so stark hatte die Dämmerung bereits eingesetzt. Natürlich war Aalon nicht glücklich darüber. Ihr strenger Vater hatte die junge Aviare schon an der Tür ihrer kleinen Hütte mit einer Standpauke erwartet. Dabei war es momentan so mild, die Wiesen so grün und üppig und überall duftete es lieblich. Auch die Ernte war großzügiger ausgefallen als je zuvor, zumindest so lange Linu sich erinnern konnte. Großmutter Sonila hatte ganze Regale mit wunderbaren süßen Cremes, Säften und Trockenfrüchten gefüllt, um die Gaben der Natur verarbeiten zu können. Und trotzdem rügte Aalon seine Tochter, die seine Strenge nicht verstehen konnte. Die Füchse und Baumkatzen kamen nie so weit in die Ebene hinaus und sie wusste nicht, was ihr sonst hätte gefährlich werden können. Im Gegenteil: am liebsten hätte Linu die ganze Insel erkundet, den großen Wald und das Gebirge und anschließend auch all die anderen Inseln von Caertol. Großvater Min erzählte von mehr als zwanzig größeren und kleineren Inseln, die sich teilweise so steil und schlank in den Himmel streckten, dass man oben gerade einmal Platz zum stehen hatte. Nicht wenige Male hatte sie den Wunsch bereits geäußert, doch Aalon erlaubte es ihr nicht.
    „Du bist zu jung“, sagte er stets. „Du könntest dich verirren, deine Kraft überschätzen oder angegriffen werden.“
    Eines Tages würden sie einen Schulausflug machen, versicherte er ihr, doch Linu wollte ihre Umgebung jetzt erkunden. Sie war 13 und sehnte sich nach einem Abenteuer.
    Der Alltag in dem kleinen Dorf war zäh wie Sirup, jeder Tag wieder der andere. Früh morgens half sie Mutter und Vater dabei, die Hühner zu füttern oder deren Gehege zu reinigen und anschließend war Schule. Immerhin konnte sie dort ihre Freunde sehen, Taal und Flinn, die beiden Jungen mit denen sie so gerne spielte. Am schulfreien Ralonstag stand stets der Hausputz an. Die großen, von vielen Füßen glatt polierten Steinfliesen wurden gekehrt und gewischt, die Kochstelle und der Kamin vom Ruß und die Hauswand so gut es ging vom Salz befreit, dass der Wind konTriborinuierlich über die Ebenen von Caeron blies, der Insel, auf der sie lebten. Aber nie geschah etwas Besonderes, nichts, dass nur annähernd so interessant und magisch gewesen wäre, wie Großvater Mins Geschichten.
    Min war nicht Linus echter Großvater. Ein jeder nannte ihn so, da er mit Abstand der älteste Aviare im Ort war und auch in allen Nachbarorten, soweit Linu wusste. Er hatte immer eine Geschichte für die jungen Aviarenkinder parat, die ihm neugierig an den Lippen hingen. Es gab Unterwasserwelten versunkener Städte und ferne KonTriborinente mit magischen Feen und tapferen Helden. Doch auch von Caertol erzählte der alte Mann; von mystischen Geheimnissen in den Tiefen des Attalongebirges und des umliegenden Waldes, von Begegnungen mit den dort lebenden Menschenaffen, von Exkursionen auf andere Teile der Inselgruppe und von mutigen Aviaren, die Abenteuer suchten und siegreich nach Hause kehrten. Konnte das Leben in Wirklichkeit nur aus Hausarbeit und der Dorfgemeinschaft bestehen?


    Tags darauf kamen Linu und Taal vom Reisig Sammeln zurück ins Dorf, als sie eine große Menschentraube vor einer der Hütten bemerkten. Die ganze Gemeinde schien sich dort aufzuhalten, denn sowohl der kleine Marktplatz als auch die Freiluftkapelle – Orte, an denen tagsüber stets ein reges Treiben herrschte – waren wie leergefegt. Es war Großvater Mins Hütte. Linu schmiss ihre Zweige in den Speicher und rannte auf die Gruppe zu.
    „Was ist los?“
    „Großvater Min liegt im Sterben. Er wird bald übertreten und er richtet gerade seine letzten Worte an einige aus dem Clan“, flüsterte ihr Flinn zu. Linus Augen weiteten sich. Natürlich hatte sie damit gerechnet. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen und trotzdem fühlte sie sich in diesem Augenblick gänzlich unvorbereitet und hilflos.
    „Darf ich zu ihm?“, fragte sie Pater Ren mit einem Zittern in der Stimme.
    Der Geistliche nickte und schwer schluckend trat die junge Aviare in Großvater Mins Hütte ein. Er war dunkel und stickig und die Luft war übersättigt vom Geruch verschiedenster Heilkräuter und von Schnaps.
    „Ah, Linu mein Kind“, sagte Min mit brüchiger Stimme und hob dabei kaum den Kopf. „Komm her zu mir, damit ich nicht so schreien muss.“
    Linu trat ans Bett und legte ihre Hände auf den Matratzenrand. „Du stirbst?“
    „Nein meine Kleine, ich sterbe nicht. Ich bin jetzt bereit, um weiter zu ziehen. Der Pater hat Ralon befragt; er nimmt mich auf in die ewigen Himmel.“
    „Aber du bist dann nicht mehr hier.“
    „Mein Körper nicht, nein, aber mein Geist wird immer über euch wachen und wenn ihr zu Ralon betet, werde ich es auch hören.“
    Er hustete und trank einen Schluck.
    „Erinnerst du dich an meine Geschichten?“
    „Aber ja! An jede einzelne“, rief Linu aus und Min lächelte schwach.
    „Ich habe dir viel erzählt, seit du noch ganz klein warst und ich habe das nicht nur getan, weil ich ein guter Erzähler bin. Es gibt Dinge, die verloren gegangen sind, Wissen und Fertigkeit und mein ganzes Leben habe ich daran geforscht. Du musst wissen, dass Caertol nicht das einzige Stückchen Land auf diesem Planeten ist. Es ist sogar nur ein winzig kleiner Teil. Und ich habe Grund zu der Annahme, dass wir nicht von hier stammen.“
    „Was?“ platzte Linu heraus. „Davon hast du mir noch nie erzählt!“
    „Doch mein Kind, das habe ich. Versuche dich an meine Geschichten zu erinnern. Alles was ich weiß, habe ich dort verarbeitet, denn es gibt Aviaren unter uns, die meinen Forschungen schon immer kritisch entgegen standen. Dabei ist es so wichtig. Es wird …“ Er hustete erneut, dieses Mal kräftiger. „Es wird eine Zeit geben, in der man sich auch anderorts wieder an uns erinnert und dann müssen wir bereit sein.“
    „Ich verstehe gar nichts“, seufzte Linu.
    „Das wirst du! Auch wenn die Zeit jetzt knapp ist und ich dir nicht so viel erzählen kann, wie ich mir gewünscht hätte. Ich dachte immer, du bist noch zu jung, doch jetzt stellt sich heraus, dass ich zu alt bin.“ Er lächelte. „Denk an meine Geschichten, wenn dir wirklich etwas daran liegt, meine Forschungen weiterzutreiben. Ich glaube, du bist dazu bestimmt. Und jetzt geh, mein Kind, ich muss noch mit Maad sprechen.“
    Linu wusste, dass er ihr keine weiteren Fragen beantworten würde, dafür kannte sie den alten Mann zu gut. In Gedanken versunken verließ sie die dunkle Hütte und ging zurück zu Taal und Flinn.
    „Was wollte er?“
    „Ich bin nicht sicher. Er hat irgendetwas von anderen Ländern erzählt und dass irgendwer sich an uns erinnern wird.“ Sie blickte ihre beiden Freunde an und seufzte. „Ich kann nicht glauben, dass er bald nicht mehr da ist.“
    Welche Informationen sollten die Geschichten enthalten? Großvater Min hatte schon immer gerne in Rätseln gesprochen. Ihre Mutter meinte, dass liege an seinem Alter. Er war der beste Geschichtenerzähler gewesen, doch in diesem Augenblick war die junge Aviare sich nicht mehr sicher, ob es wirklich Geschichten waren. Sie spürte Wut und Trauer, dass sie ihn das alles jetzt nicht mehr würde fragen können.


    Später am Abend saß sie bei Tisch mit ihren Eltern.
    „Papa“, setzte sie schließlich an, nachdem sie seit einiger Zeit schon unentschlossen in ihrem Essen herumgestochert hatte. „Min hat mir heute gesagt, dass Caertol nicht der einzige Ort auf dieser Welt ist.“
    Ihr Vater sah sie mit seinen strengen gelblich-braunen Augen eindringlich an. Dann antwortete er.
    „Den Legenden zufolge – und niemand weiß, ob es reine Märchengeschichten sind – gibt es im Norden einen großen KonTriborinent, der unsere Heimat wie winzige Kleckse im Meer erscheinen lässt.“
    „Wieso hast du mit nie davon erzählt?“
    „Weil es Legenden sind, Linu. Was nutzt dir dieses Wissen?“
    Linu sagte nichts. Vater hatte natürlich recht, es hätte ihr nichts genutzt, bis jetzt zumindest. Jetzt war sie gezwungen darüber nachzudenken, wenn die Worte Mins nicht nur das wirre Gerede eines sterbenden Mannes gewesen waren.
    „Und was weißt du von diesem KonTriborinent?“
    „Nicht viel.“ Aalon seufzte. „Den Legenden nach gibt es dort viele verschiedene Völker, ganz anders als wir und anderes Wetter und anderes Land.“
    „Und kommen wir von dort?“
    „Was?“ Ihr Vater stoppte den Löffel auf halben Weg zum Mund.
    „Min hat gesagt, wir sind nicht von hier. Kommen wir dann von dort?“
    „Min hat wahrlich schon wieder zu viele Geschichten erzählt. Ich weiß von keinem Aviaren, der nicht auf Caertol geboren wurde und jetzt iss deine Suppe!“
    Linu schlief in dieser Nacht lange nicht ein und als sie es tat, träumte sie von angreifenden Menschenaffen und vom hustenden Min.


    Am nächsten Tag beschloss sie, auf Erkundungsflug zu gehen. Sie sprang von der Klippe und flog in eleganten Pirouetten in den Himmel hinauf. Dann steuerte sie mit kräftigen Flügelschlägen hinaus auf das Meer. Es veränderte sich. An den Klippen und Stränden von Caertol war es hell und blau, doch schon nach wenigen Minuten wurde es dunkel und sah kalt aus. Es war unruhig und wild, nicht so stetig und vorhersehbar wie sie es kannte. Sie blickte zurück. Die einzelnen Inseln Caertols waren nur noch dunkle Flecken inmitten des endlosen Blaus. In allen anderen Richtungen gab es nichts bis auf den Horizont. Linu flog weiter. Nach einer halben Stunde konnte sie Caertol nicht mehr sehen und ihre Flügel schmerzten. Das Mädchen begann sich zu fürchten. Sie verharrte kurz in der Luft, dann drehte sie um. Sie musste sich ausruhen.
    Es war gerade rechtzeitig gewesen: mit letzter Kraft erreichte sie die erste Insel, landete am Strand und sank erschöpft zu Boden. Sie nahm ihre Menschengestalt an und lehnte sich rücklings an die steil aufsteigende Felswand. Sie atmete schwer.
    „Wo soll es hier Land geben?“ dachte sie. Vielleicht war Min doch nur ein alter verwirrter Mann gewesen.


    Rak


    Rak war früh morgens auf den Beinen, lange bevor die feinen Leute im Palas der Festungsanlage von ihren Dienern geweckt, mit einem Bad und Frühstück versorgt und frisch eingekleidet würden. Noch bevor es richtig hell war, holte er die Leiber aus dem Ofen, die die ganze Backstube mit dem Duft von warmem Roggenbrot erfüllten. Er legte sie einzeln zum Abkühlen auf den Holzrost und bestäubte sie mit etwas Mehl. Dann, mit Anbruch des Tages, kamen die Mägde und Köche der verschiedenen Höfe und aus der Burg, um das frische Brot abzuholen. Rak nahm die Münzen entgegen und brachte sie seinem Vater.
    „Alle verkauft“, sagte er.
    „Gut“, antwortete Brigg. „Geh zur Mühle, ich komme gleich nach.“
    Rak tat wie ihm geheißen. Unterwegs schnappte er sich eine Flasche Dinkelbier, öffnete sie mit den Zähnen und trank einen großen Schluck. Er stellte die Flasche in eines der Regale und warf sich einen Sack Roggenkörner über die Schulter. Fünf Säcke brachte er zur Mühle und begann, den Trichter zu füllen. Dann kam Brigg dazu und setzte die großen Mahlsteine in Gang. Rak nahm oben auf dem Holzgerüst Platz und trank nach und nach das Bier, darauf bedacht, dass sein Vater ihn von unten nicht dabei sah. Von Zeit zu Zeit füllte er Körner nach, bis Brigg ihm signalisierte, dass es genug sei.
    Rak brachte die Flasche zurück und ging zum Holzschuppen. Eine seiner Aufgaben war sicherzustellen, dass jederzeit genug gehacktes Holz aufgestapelt war, um nicht nur die Öfen der Backstube sondern auch den großen Kamin im Wohnhaus befeuern zu können. Es war noch genug vorhanden, also kehrte er zurück zur Backstube.
    „Vater“, setzte er an, „darf ich zum Ritterturnier gehen?“
    Brigg sah vom Teigkneten auf. Das Mehl ließ sein Haar noch grauer aussehen, als es eh schon wurde und unter den kastanienbraunen Augen, die er auch seinem Sohn vererbt hatte, bildeten sich deutliche Falten.
    „Ist genug Holz im Speicher?“
    „Ja, Vater, es ist bis zur zweiten Ebene gefüllt. Ich habe gerade nachgesehen.“
    „Und Lise und Nele, haben sie noch Heu?“
    „Ich bringe ihnen etwas! Darf ich dann gehen?“
    „Einverstanden, Rak. Aber komm nicht zu spät heim und lass dir nichts von Fremden aufschwatzen.“
    „Danke, Vater! Ich werde auf jeden Fall vorsichtig sein!“, rief er aus und rannte aus der Bäckerei.
    Als Rak an der Turnierwiese ankam, war der Wettkampf bereits im Gange und er drängelte sich durch die Menge, um etwas sehen zu können. Mittlerweile war Rak schon 15, doch er hatte nichts von seiner Faszination für Ritter verloren. Die Schlachtrosse, die Rüstungen und vor allem die Schwerter brachten sein Gesicht zum Strahlen. Für den jungen Bäckersohn verkörperte ein Ritter Edelmut und Stärke, ein Leben für den Kampf, für einen hohen Herren oder mit etwas Glück vielleicht auch eine hohe Lady, die man bedingungslos beschützte. Die Männer mussten Nerven wie Drahtseile haben und Muskeln wie Stein, dachte Rak Gebannt beobachtete er, wie sich zwei Ritter auf den gegenüberliegenden Seiten des Feldes postierten, um sogleich aufeinander zu zu galoppieren und sich die Lanzen gegen die Brust zu hämmern. Er selber war auch schon stark. Er konnte bereits alleine einen ganzen Sack Körner zur Mühle hieven und die Schubkarre machte er schon so voll mit Mist wie sein Vater. Unter dem rhythmischen und dumpfen Takt der Pferdehufe stellte sich der Junge vor, er säße auf einem der Rösser und ganz unwillkürlich spannte er seine Schulter an, um zum Stoß anzusetzen … Es schepperte laut und einer der Männer fiel zu Boden. Die Menge jubelte und unter ihnen Rak, als hätte er selbst den Kampf gewonnen.
    „Sieh an, da ist ja das Brötchen“, ertönte eine Stimme von rechts.
    Rak stoppte seinen Jubel und blickte in das Gesicht der rothaarigen Cousine des Prinzen. „Wie kommt es, dass du heute hier bist? Backt sich das Brot von alleine?“
    „Ich bin heute schon fertig mit der Arbeit“, sagte Rak.
    „Und da verschwendest du deine Zeit auf dem langweiligen Ritterturnier? Matthes hat Bier geklaut. Du könntest mit uns zum Fluss kommen.“
    „Ich schaue mir gerne Ritterturniere an“, erwiderte der Bäckerjunge.
    „Klar machst du das. Es ist sicher nicht so langweilig wie Brötchen backen.“
    „Wenigstens arbeite ich.“
    „Hüte deine Zunge! Ich könnte dich mit einem Wink meiner Hand auspeitschen lassen.“
    Rak folgte ihrem Kopfnicken und erblickte in nicht allzu großer Entfernung Sir Kartoff, der ihr Gespräch ohne auch nur zu Blinzeln verfolgte.
    „Traust du dich auch ohne ihn auf die Straße?“
    Sara seufzte. „Meine Mutter lässt mich nicht ohne ihn auf die Straße. Was ist nun, kommst du mit?“
    Rak blickte zur Arena. Eigentlich wollte er lieber hier bleiben. Doch wie wirkte das vor den anderen Jugendlichen, wenn er sich wie ein kleiner Junge lieber ein Ritterturnier ansah?

    Er folgte Sara durch die Menge in Richtung des Flusses. Der Dimmort war kein großer Strom, führte aber doch genug Wasser, um die Zisternen der Burganlage zu speisen, die sich erhaben und mächtig in Mitten der Senke auf einem zu drei Seiten steil abfallenden Hügel erhob. Das kreisrunde Tal wurde von dichten Nadelwäldern gesäumt und bot nur je einen ebenen Zugang zu beiden Seiten, die auch der Fluss nahm.
    In Zeiten von Krieg und Belagerungen war Burg Kalkstein der sichere Zufluchtsort für die Menschen aus dem Umland. Natürlich hatte es schon lange keine Schlacht mehr gegeben, doch Rak hatte davon gehört und auch von den tapferen Rittern des Königs, die stolz zu Pferd ihren Herren und ihr Land verteidigten.
    Die Bäckerei und das Wohnhaus seiner Eltern lagen innerhalb des ersten Mauerringes und häufig erklomm er die Wehrgänge und blickte in die Ferne, sah die Herden der Viehhirten und die Felder der Bauern. Er würde keiner der ihren werden, kein Hirte, kein Bauer und auch kein Bäcker, das schwor sich Rak jede Nacht vor dem Einschlafen. Er würde sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und etwas aus seinem Leben machen. Wie beneidete er die jungen Leute aus dem Palas. Der einzige Unterschied zwischen ihnen war die Familie, in der sie geboren waren und während er Tag für Tag schuftete, genossen sie jeden erdenklichen Luxus mit eigenen Dienern, die ihnen jeden Wunsch von den Lippen ablasen.


    Am Fluss war nicht nur Matthes, der Knappe, sondern auch drei andere Jungen aus dem Dorf und, wie Rak erstaunt feststellte, die Prinzessin höchst selbst.
    „Was starrst du so?“, fuhr sie Rak an. „Im Gegensatz zu meinem hohen Bruder vermisst meine Anwesenheit bei so einem Schwachsinn wie diesen Turnieren niemand. Da kann ich genauso gut ein wenig Spaß haben.“
    Rak blickte sich um und lange suchen musste er nicht: am Rande der Böschung waren drei Ritter der königlichen Garde postiert. Er fragte sich, ob es Fluch oder Segen war, immer von einer schweigenden Horde Ritter flankiert zu werden.
    „Warum hast du ihn mitgebracht?“ Prinzessin Karla gab sich nicht einmal Mühe leise zu sprechen.
    „Wieso nicht?“, antwortete Sara. „Desto mehr Jungs aus dem Dorf, desto besser oder nicht? So können wir uns den besten aussuchen und wenn sie uns erwischen, haben wir genug Schuldige für den Bierdiebstahl.“ Sie zwinkerte Rak zu.
    Rak mochte Sara. Sie war eigentlich immer nett zu ihm gewesen, auf ihre eigene, stichelnde Art und Weise. Klara hingegen war hochnäsig und gebieterisch. Raks Vater sagte immer, sie komme nach der Königin, denn König Warkas war eigentlich immer schon ein ruhiger, gerechter Herrscher gewesen. Zumindest bis seine Frau sich vom höchsten Turm seiner Burg gestürzt hatte. Seither ließ Warkas hauptsächlich seinen Rat regieren und verschanzte sich fast rund um die Uhr in seiner privaten Kemenate. „Es ist der junge Prinz, in den das Dorf sein Vertrauen legt“, sagte Brigg immer. „Und mit ihm wahrscheinlich ganz Norgond.“
    Wenn sie nicht so eine unangenehme Art gehabt hätte, hätte Klara Rak wahrscheinlich sogar leidgetan. Mit ziemlicher Sicherheit würde sie strategisch klug verheiratet werden. Wäre die Königin noch am Leben, wäre dies bestimmt schon gesehen. Mit 14 war eine Prinzessin selten noch ledig.
    Die Gruppe saß am Flussufer und trank Bier. Klara hatte ihren Kopf auf Jaspers Schoß gelegt, der seinem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck zum Trotz verkrampft und regungslos da saß. Rak verstand sich eigentlich gut mit dem Sohn des Waffenschmieds, doch es störte ihn, dass der Freund sich von der Prinzessin so manipulieren ließ. Ihm musste doch klar sein, dass für ihn nichts als Ärger aus so einer Verbindung herausspringen würde.
    „Hört ihr das auch?“, sagte Matthes plötzlich in die Stille. „Hier summt etwas.“
    „Du summst“, lachte Bastian. „Du hast wohl schon zu viel Bier getrunken.“
    „Eben, das kommt bestimmt nur aus der Imkerei“, ergänzte Sara.
    „Nein. Ich höre es auch. Das sind keine Bienen.“ Rak wusste genau, wie sich Bienen anhörten, da sich auch seine Eltern ein paar kleinere Stöcke hielten. Sie brauchten den Honig zum Süßen und das Wachs für Kerzen zu feierlichen Anlässen. Die kleinen Insekten summten auf eine stetige und sanfte Weise, doch dieses Geräusch war scharf wie eine Schneide und unstetig.
    „Es kommt von hier drüben“, sagte Matthes und ging in Richtung einer dichteren Böschung. „Hier ist es richtig laut.“
    Rak stand auf und folgte dem Knappen. Er hatte Recht: das Geräusch schwoll an und pochte in dröhnenden Wellen in seinem Kopf. Rak spürte ein Kribbeln in seinen Händen. Er konnte das Geräusch nicht länger nur hören, sondern auch fühlen. In Wellen strich es über seine Haut und pulsierte durch sein Blut. InsTriborinktiv hielt er sich die Ohren zu.
    „Da ist etwas in dem Gebüsch“, sagte Matthes, dem das Summen offenbar weniger zusetzte. „Lass uns nachsehen, was es ist.“
    Rak wollte protestieren, doch er war wie betäubt und Matthes griff bereits zum Griff seines Kurzschwerts.


    Triborin


    Triborin gab seinem schwarzen Ross die Sporen. Lord Xyrius hatte ihn auserwählt diese wichtige Aufgabe zu erfüllen und er würde ihn nicht enttäuschen. Er ritt bereits seit zwei Tagen und machte nur zum Schlafen Halt. Er nutzte dabei wann immer möglich die Pflicht der Bürger, einem höher gestellten Dunkelelfen Gastfreundschaft zu gewähren. Unter freiem Himmel würde er noch früh genug schlafen müssen, wenn er Lacharys verließ. Er schoss vorbei an den dichten Fichtenwäldern, in denen er als Kind so oft gespielt hatte, entlang des Filthri, der sein Bett über all die Jahre nach Belieben geformt hatte, immer in Richtung Süden. Sein blonder Zopf wehte hinter ihm im Wind und hob sich deutlich vom restlichen Erscheinungsbild ab: gemäß seines Standes war er komplett in schwarzes Leder gekleidet. Das Krummschwert steckte griffbereit im Geschirr auf seinem Rücken und an seinem Handgelenk war kaum sichtbar die kleine Armbrust mit einem Speicher voller tödlicher Giftpfeile befestigt. Triborin war weitaus gefährlicher als sein schönes Gesicht verriet.
    Lord Xyrius hatte ihn auserwählt. Von all den jungen Männern aus der Akademie. Die Jahre des Schuftens hatten sich gelohnt, die Trennung von der Familie und der Verzicht auf seine Jugend. Nun, mit 20, war er ein fertig ausgebildeter Soldat der Leibgarde des Hauses Xyrius in der Festung Xarchavas und führte seinen ersten großen Auftrag aus.
    Bis zur Grenze waren es zehn Tagesritte, dann würde er sich westlich halten, um Lord Xyrius‘ Wunsch nachzukommen, Mildir zu umgehen. In Vesperion musste er aber ebenso achtsam sein: König Krinkar war wie ein Schoßhündchen von Lord Sinklar. Triborin schätzte, dass er Vesperion in zwei Wochen durchquert haben würde, wenn er sich sputete. Und sobald er dann im südlichen Kaiserreich war, würde es wieder einfacher werden. Dort könnte er wieder mit einem festen Dach über dem Kopf schlafen und man sagte, dass es nirgends so gute Tavernen gab, wie in Solterra. Das Klima schenkte ihnen Weine mit voluminösen Körpern und Frauen mit kupferfarbener warmer Haut, die nach Gewürzen und Honig roch. Andererseits durfte er sich auch nicht zu sehr ablenken lassen. Xyrius hatte ihm wie immer nur das nötigste an Information für den Auftrag gegeben, aber eines hatte er mehrfach wiederholt und betont: Zeit. Je schneller Triborin seine Aufgabe erfüllte, desto besser.
    Er hatte geplant sein heutiges Nachtlager in der kleinen Stadt Kaachor an der Südgrenze des Fichtenwaldes aufzuschlagen und er wusste, dass sie mit Einbruch der Dunkelheit die Tore schließen würden. Deshalb beschleunigte er sein Pferd nochmals und donnerte an zwei Getreidewägen vorbei.


    Kaachor war zwar klein, dafür aber ein bedeutender Stützpunkt in Lacharys und so alt wie die Hauptstadt selbst. Der Minister von Kaachor, so sagte man, wurde immer direkt vom Lord bestimmt und nicht wie in den anderen Städten vom jeweiligen Stadtrat gewählt. Im Gegensatz zu Xarchavas war Kaachor hauptsächlich aus Holz gebaut. Das Gebirge mit seinen dunklen Steinen lag in zu großer Ferne, um das schwere Baumaterial heranzuschaffen. Triborin war noch nie zuvor dort gewesen. Er saß ab und führte sein Ross durch die recht engen Straßen der Kleinstadt. Die ausladenden Verandas im ersten Stockwerk der Häuser ließen alles noch dunkler erscheinen und gaben einem das Gefühl, durch einen Tunnel zu laufen. In einigen Wohnungen brannte Licht, doch nirgends im Erdgeschoss, wo sich wahrscheinlich, so dachte Triborin, die Nutzflächen befanden. Neugierig sog der junge Elf alles in sich auf. Er hatte schon lange darauf gebrannt, Kaachor zu besuchen. Die Stadt war nicht nur die südlichste Stadt Lacharys‘ und damit die nächste Anlaufstelle für Kunde aus dem Süden, vor allem aus Mildir, sie war auch Heimat der Schattenakademie. Nach der Leibgarde des Lords, war diese Institution das zweite Juwel der Dunkelelfischen Gesellschaft. In den verschachtelten Räumen der Akademie wurden die Meisterspione ausgebildet, die Schattengänger. Triborin hatte noch nie einen der ihren getroffen, auch wenn er bestimmt schon öfter in der Nähe gewesen war. Wenn ein Schattengänger nicht gesehen werden wollte, wurde er nicht gesehen. Und mit Sicherheit hatte Lord Xyrius eine ganze Horde des Geheimdienstes in seiner Festung stationiert. Vorfreude paarte sich mit dem kleinen Funken Hoffnung in Triborin, in ihrer Heimatstadt endlich einmal einen Spion zu Gesicht zu bekommen, und wenn auch nur in zivil.
    Er suchte sich eine Taverne, die Fremdenzimmer anbot und warf dem Wirt zwei Silbermünzen auf die Theke. Ein Gardist seiner Lordschaft musste für Kost und Logis dem Gesetz nach nicht aufkommen, doch Triborin hatte ein Gefühl dafür, wann und wo es wichtig war, einen Verbündeten zu haben. Eine Taverne gehörte, selbst im Heimatland, zweifelsohne zu diesen Orten.


    Triborin setzte sich an einen kleinen Tisch im Eck. Der Wirt hatte ihm ein dunkles Gewürzbier und einen Bohnen-Kartoffeleintopf an den Tisch gebracht und der junge Dunkelelf hatte erst, als ihm der Duft der warmen Mahlzeit in die Nase stieg, gemerkt, wie hungrig er war. Er saugte mit dem trockenen Brot die letzten Reste der köstlichen Sauce aus der Tonschüssel. Angenehm gesättigt ließ er seinen Blick durch das Lokal schweifen. Es gab die üblichen Gäste: Männer, die zusammengesunken an der Theke hingen und sich an einem Krug festhielten, Gruppen von Leuten, die Karten spielten und Münzen über den Tisch schoben und jene, die wie Triborin einfach nur alleine da saßen und zusahen. Sein Blick traf den des Mannes genau gegenüber, dessen Gesicht im Schatten der Kapuze seines dunkelgrünen Umhangs lag. Triborin konnte das Schimmern zweier grüner Augen ausmachen. Er ließ seinen Blick weiter wandern und orderte ein neues Bier. Dann sah er wieder hinüber, doch der Mann war fort. Er schaute zur Tür, zur Theke und in das andere Eck des Schankraumes, doch keine Spur von dem Fremden. Als er das nächste Mal wieder geradeaus blickte, hätte er vor Schreck beinahe seinen Krug umgestoßen.
    „Ich dachte, ihr Leibgardisten fürchtet euch nicht.“
    Die Stimme klang warm und melodisch. Es war die Stimme einer Frau.
    „Ich fürchte mich nicht. Ich hatte Euch nur nicht kommen sehen und war überrascht, das ist alles.“
    „Das meine ich nicht. Ihr habt dem Wirt Geld gegeben, als Ihr eintratet.“
    Sie lachte. „Schon wieder überrascht?“
    „Ein wenig“, er lächelte. Wenn sie ein Spiel spielen wollte, dann sollte es so sein. „Aber ich muss Euch enttäuschen. Soldaten des Lords haben keine Angst. Wir verstehen es nur, uns das Leben einfach zu machen und gehen Ärger aus dem Weg. Anders als ihr, nicht wahr?“ Er trank einen Schluck, während sie ihn weiter aus dem Schatten ihrer Kapuze musterte.
    „Wieso solltet Ihr euch sonst unter einer Kapuze verstecken? Ich wüsste nicht, dass Frauen in den Tavernen Kaachors verboten wären. Also: woran kann es liegen?“
    Er tat so, als grüble er, tippte sich mit dem Finger ans Kinn und sah sie dann wieder direkt an: „Ha, ich habe es: Ihr seid eine Albe.“
    Triborin meinte ein Lächeln unter der Kapuze zu erkennen.
    „Also gut, Herr Soldat, ich werte das als Unentschieden.“
    Sie winkte dem Wirt, der ihr wortlos einen Becher Honigwein servierte. Sie trank und schob die Kapuze gerade so weit zurück, dass Triborin ihr Gesicht erkennen konnte. Er hatte sich nicht getäuscht: ihre Augen leuchteten grün wie ein strahlender Smaragd und wurden durch das rotbraune Haar nur umso mehr hervor gehoben, das sich zu beiden Seiten sanft an ihr ebenmäßiges Gesicht mit den auffallend hohen Wangenknochen anschmiegte. Nie zuvor hatte Triborin eine Albe gesehen. Es stimmte, was man über ihre Schönheit sagte.
    „Ich bin Liena“, sagte sie und streckte Triborin eine schlanke Hand entgegen. Er nahm sie und deutete einen Handkuss an.
    „Ich heiße Triborin, sehr erfreut. Was bringt euch nach Kaachor?“
    „Geschäfte. Und Euch? So weit von Xarchavas entfernt trifft man selten einen der Euren.“
    „Geschäfte“, Triborin zwinkerte.
    „Natürlich“, antwortete Liena und lächelte verschmitzt. „Auf jeden Fall Geschäfte von Herrn Xyrius, so viel ist sicher oder wirst du gar ein Abtrünniger sein?“
    „Wie kommt es, dass du so viel über uns weißt, frage ich mich.“
    „Ich verbringe viel Zeit in Lacharys“, antwortete Liena. „Heutzutage kann man sich auch mein Volk wieder frei in eurem Land bewegen.“
    „Oder zumindest unter einer großen Kapuze“, zwinkerte Tin.


    Linu


    Am nächsten Tag war Schule. Linu saß in der kleinen Hütte und sollte eigentlich die Namen der Pflanzen aufschreiben, die vor ihr auf dem Pult lagen, doch sie starrte gedankenverloren vor sich hin. Draußen lernten die Kleinsten gerade den kontrollierten Wechsel ihrer Wesensform. Aviarenkinder wechselten unbewusst und nach Gefühlslage ständig ihren Körper, was durchaus gefährlich sein konnte. Zwar gab sich das von alleine, doch teilweise erst, wenn die Kinder zehn Jahre alt waren. Deshalb hatten die meisten Dorfverbände vor einiger Zeit Frühklassen für die vier bis sechs Jährigen eingeführt, die sie mit einem Wechselführerschein abschlossen.
    Eigentlich war die ganze Grübelei hinfällig. Linu hatte sich längst entschieden, dass sie sich auf die Suche machen würde. Wieder und wieder hatte sie die Geschichten durchgekaut und war zu dem Schluss gekommen, dass sie handeln musste, um weiter zu kommen. Der einzige ihr bekannte Anhaltspunkt aus Mins Erzählungen waren die Menschenaffen im Attalongebirge. „Da weiß ich zumindest, dass es sie gibt“, hatte sie gedacht und versucht zu verdrängen, was sie noch wusste. Das Affenvolk duldete die ihren nicht in ihrer Mitte, das lernten die Schüler schon früh. Trotzdem musste sie es versuchen. Die Neugierde und die Qual der Unwissenheit nagten zu stark an ihr.
    Zu Hause würde sie erzählen, dass sie sich in der Schule freiwillig für eine Exkursion gemeldet hatte. Natürlich würde das auffliegen, doch sie hoffte dann bereits weit genug entfernt zu sein, um eingeholt werden zu können. Sie brauchte nur einen Tag Vorsprung, vielleicht zwei. Ihr Rucksack lag bereits gepackt unter ihrem Bett: Wechselkleidung, eine Trinkflasche, etwas Trockenbrot und ihr kleines Taschenmesser. Sonstige Nahrung konnte sie in Vogelgestalt ohne Probleme beschaffen. Sie wusste nicht genau, wo sie hingehen musste, um die Menschenaffen zu finden, doch das Attalongebirge war kaum zu übersehen und so würde sie erst einmal direkt auf dessen Zentrum zusteuern.
    In der großen Pause kam Taal auf sie zu.
    „Was ist los, Linu? Dich beschäftigt etwas.“
    Ihr bester Freund sah sie mit seinen grau-blauen Augen an. Er durchschaute sie immer, lügen war zwecklos.
    „Ich gehe fort, Taal; zu den Menschenaffen.“
    „Ich weiß“, antwortete der Junge nur und wuselte sich durch das kurze blonde Haar. „Und ich komme mit.“
    Linu wollte widersprechen, doch Taal kam ihr zuvor.
    „Du brauchst es gar nicht versuchen. Ich werde dich auf jeden Fall begleiten. Selbst, wenn du meine Hilfe nicht brauchst – und das bezweifle ich – wirst du dich zumindest über etwas Gesellschaft freuen.“
    Linu sah ihren Freund eine Zeit lang an. Dann fiel sie ihm um den Hals.
    Linu war nicht sonderlich überrascht, dass Taal ebenfalls bereits gepackt hatte. Unmittelbar nach dem Mittagessen verließen die beiden heimlich das Dorf und marschierten in Richtung des Attalon-Gebirges. Ihre Heimat lag ganz im Osten der Hauptinsel Caeron, sodass sie bereits drei Tage bräuchten, um nur die Grasebenen hinter sich zu lassen. Linu hatte eine grob skizzierte Karte ihres Vaters mitgehen lassen. Auf dem Weg in den Wald und ins Gebirge würden sie mehrere andere Dörfer passieren. Linu wollte die Orte unbedingt umgehen. Die Gefahr, dass sie aufgehalten und zurück nach Hause gebracht würden, war zu groß. Auf Caeron kannte fast jeder jeden.
    „Morgen Nachmittag werden sie es wissen“, sagte Taal. „Wir sollten heute Nacht durchmarschieren.“
    Linu nickte. „Wenn wir Glück haben finden wir morgen ein paar Felder durch die wir gehen können. Vater ist ein schneller Flieger. Er wird uns eingeholt haben und Kreis um Kreis über den Himmel ziehen.“
    „Mach dir keine Sorgen. Die Insel ist so breit, es wäre ein Wunder, wenn sie uns fänden.“
    Die beiden Kinder lächelten sich an und trotz der Aufregung über das begonnene Abenteuer fragte sich Linu, ob gefunden zu werden ihre größte Sorge war.


    Sie kamen gut voran. Als die Sonne hinter den gewaltigen Gipfeln des Gebirges verschwand, hatten sie bereits die Rauchschwaden von zwei anderen Dörfern passiert, die sie mit ihren Eltern des Öfteren besuchte. Mit der Dunkelheit kamen die Insekten und als sie es nicht mehr aushielten, beschlossen Linu und Taal ein Stück zu fliegen, in der Hoffnung, ihre Eltern suchten nicht bereits nach ihnen.
    Als sie hinauf in den Himmel gestiegen waren, bot sich ihnen ein Anblick, der sie in Staunen versetzte. Durch die Höhe kam der goldene Rand der Sonne wieder in Sicht, vor dem die zerklüfteten Gipfel zu schwarzen Silhouetten mutierten und der die Spitzen der am höchsten gelegenen Riesenmammutbäume in warmes Licht tauchte.


    [Platzhalter 1: Kapitel ist noch fertigzustellen]


    Rak


    Matthes entfernte das Gebüsch mit seinem kurzen Schwert.
    „Was ist das?“, raunte Bastian, der Metzgerjunge aus einiger Entfernung.
    „Ein Stein, was sonst“, warf Jasper ein.
    „Das ist kein normaler Stein“, sagte Sara. „Seht doch wie die Luft um ihn herum vibriert und wie es summt.“
    Der Rest der Gruppe schloss auf zu Rak und Matthes.
    Jasper streckte die Hand nach dem kleinen Pfeiler aus.
    „Vielleicht sollten wir es lieber nicht anfassen“, sagte Rak unsicher.
    Klara schnaubte. „Hast du Angst, Brötchen?“
    „Er hat Recht“, sagte Sara. „Wir wissen ja gar nicht, was das ist. Vielleicht sollten wir die Ritter rufen.“
    „Spinnst du? Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, bis ich sie davon überzeugen konnte, dass sie nicht pausenlos direkt hinter mir stehen müssen? Lasst mich machen, immerhin bin ich die Tochter der Königs. Im Gegensatz zu euch bin ich nicht so ein Angsthase.“
    Klara streckte die Hand aus und legte sie auf den Pfeiler. Ihre Augen weiteten sich kurz, dann aber lächelte sie.
    „Seht ihr, ihr Feiglinge? Das ist nur ein Wegestein! Früher hat es solche Markierungen oft gegeben, bevor gute Landkarten entstanden.“
    Zufrieden wollte sie ihre Hand wieder wegziehen, doch es ging nicht. Entsetzen machte sich in ihrem Gesicht breit und Rak folgte ihrem Blick bis zur Hand und sah den Grund dafür: der Stein bewegte sich. Es sah ein bisschen aus wie grauer Brötchenteig und langsam schloss sich die Masse um Klaras Hand.
    „Tut etwas, so tut doch etwas!“, rief die Prinzessin verzweifelt.
    Die merkwürdige Steinmasse hatte bereits ihr Handgelenk erreicht und es wirkte nicht so, als würde er dort stoppen. Hilflos stand die Gruppe Jugendliche um das Mädchen und starrte aus bleichen Gesichtern auf den verschwindenden Arm. Mittlerweile hatten die Ritter die Gruppe erreicht.
    „Euer Majestät, was habt ihr getan?“, rief einer aus, den Rak als Sir Wernett erkannte. Klara schrie wie am Spieß, doch auch die Ritter schienen unfähig etwas zu tun. Bevor er wusste was er tat, griff sich Rak Matthes‘ Schwert und trennte mit einer schnellen und gezielten Bewegung die Hand der Prinzessin ab.
    Klara verstummte kurz. Rak spürte alle Blicke auf sich. Dann begann die Prinzessin wieder zu schreien, dieses Mal vor Schmerz.
    Rak stand da wie erstarrt. Was hatte er getan?
    Klara weinte und schrie und es war fast schon erlösend, als sie schließlich das Bewusstsein verlor.
    „Du hast die Prinzessin verletzt!“, rief Sir Wernett.
    „Ich… ich habe sie gerettet“, stammelte Rak.
    „Du hast die Klinge gegen Eure Majestät erhoben“, beharrte der große Mann. „Das wird mit dem Tode bestraft.“
    Rak wollte etwas erwidern, doch Jasper erhob zitternd die Hand und zeigte auf die Prinzessin.
    „Klara! Was passiert mit ihr?“
    Die anderen folgten seinem Blick. Die Haut der Prinzessin verfärbte sich grau und schien brüchig zu werden.
    „Sie verwandelt sich in Stein“, flüsterte Rak eigentlich mehr zu sich selbst, doch Sir Wernett blickte ihn aus strengen blauen Augen an.
    „Du scheinst ja sehr genau Bescheid zu wissen…“
    Weiter kam er nicht. Klara öffnete die Augen und sah sich panisch um. Ihre Pupillen tanzten in den Höhlen, doch kein Laut kam aus ihrem Mund.
    „Sir, wir müssen sie ins Schloss bringen“, sagte einer der anderen Ritter und Sir Wernett nahm widerwillig seinen Blick von Rak. „Bringt sie zu meinem Pferd, Sir Merin, Sir Penleff und danach legt diesen Bastard in Ketten und werft ihn in den Kerker.“
    Rak stand wie erstarrt da, als wäre er ebenfalls versteinert. Er hatte doch nur helfen wollen! Während die anderen nur zugeschaut hatten, hatte er instinktiv gehandelt. Er spürte eine Hand an seiner Schulter. Scheinbar waren die Ritter schon zurück, um ihn abzuführen.
    „Folg mir, Junge. Schnell. SCHNELL!“, sagte eine fremde Stimme.
    Im Nachhinein erinnerte Rak sich nur noch, dass er sich hatte wegziehen lassen, dass er in den Umhang des Fremden gehüllt und in den Wald geführt worden war. Er hatte zurück geblickt, doch seine Freunde starrten alle gebannt auf den Pfeiler.
    „Hier hinauf“, drang die fremde Stimme in sein Bewusstsein und wie ferngesteuert machte sich Rak daran, auf den Baum zu klettern. Der Fremde hatte einen guten Baum gewählt. Sein Blattwerk war dicht und die Äste stark. Als Rak nach unten blickte, konnte er den Boden nicht mehr sehen. Mit einer Geste bedeutete der Mann Rak still zu sein und das erste Mal sah er dessen Gesicht: er hatte dunkelblondes Haar und gebräunte Haut und seine Augen waren ebenso tief braun wie seine eigenen.
    „Wo ist er?“
    Das war Sir Wernetts Stimme.
    „Er kann doch nicht einfach verschwunden sein. Ihr standet alle direkt neben ihm!“
    „Ich schwöre, er war plötzlich weg“, sagte Matthes.
    „Lüg nicht!“
    „Es ist die Wahrheit“, sagte Sara. „Ihr könnt Sir Kartoff fragen.“
    Dann war Stille. Rak vermutete, dass Sir Wernett zu Saras Ritter gegangen war, der mit Sicherheit wie immer in einigem Abstand seinen Schützling beobachtet hatte.
    „Sie werden das Ufer und das Waldstück durchsuchen. Wir müssen uns noch etwas gedulden.“
    Rak wollte den Fremden so viel fragen. Wer war er? Wieso hatte er ihn fortgebracht und wie hatte er ihn fortgebracht? Doch alles was er herausbrachte was: „Sie werden uns finden! Sie werden auch auf den Bäumen nachschauen.“
    „Hab Vertrauen.“ Der Mann entblößte perfekte Zähne. Seine Stimme war wie Honig.
    „Ich muss nach Hause! Ich muss meine Eltern warnen.“ Die Erkenntnis traf Rak wie ein Schlag ins Gesicht: wenn sie ihn nicht finden konnten, würden sie seinen Vater zur Rechenschaft ziehen.
    Seinen guten, fleißigen Vater, der unermüdlich arbeitete und schuftete und dafür sorgte, dass es ihrer Familie gut ging, es an nichts mangelte, wo andere mit Hunger und Kälte zu kämpfen hatten. Auf einmal schämte sich Rak für seine kindischen Fantasien und für seinen Egoismus, der ihn so unzufrieden gemacht hatte, während seine Eltern ihr ganzes Leben dafür opferten, dass er behütet und gesund aufwuchs. „Ich muss!“, drängte er. „Sie werden sie holen.“ Heiße Tränen flossen ihm die Wangen hinab.
    „Das geht nicht, mein Junge. Es ist zu spät.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Nachtrag Platzhalter 1


    Selbst aus der Ferne konnte Linu erkennen, wie der auffrischende Wind die Bäume wiegte wie eine lebendige Masse, begierig darauf sie zu verschlingen.
    Der Wald war unsagbar alt. Großvater Min hatte erzählt, dass manche der Bäume schon über ein Tausend Jahren lang lebten und mehr gesehen hatten, als man sich vorstellen konnte. Es gab Bäume so hoch wie Berge, mit Stämmen so dick wie eine Aviarenhütte und solche, die eher in die Breite wuchsen, ihre Äste seitlich in alle Richtungen ausstreckten, zwischen den geraden Stämmen der anderen hindurch und manchmal auch kreuz und quer ineinander. An einigen Stellen, hatte Min berichtet, war der Wald so dicht, dass kaum ein Lichtstrahl den Weg hinunter zum Boden fand und es immer düster war. So lange schon brannte Linu darauf, dorthin zu gehen, doch nun, da es so weit war, war ihr etwas mulmig zumute. Sie war sehr froh, dass Taal bei ihr war.
    „Was meinst du, wie lange brauchen wir, bis wir die Ausläufer des Waldes erreicht haben?“ fragte ihr Freund.
    „Morgen Abend werden wir da sein. Ich habe die Entfernung anhand Vaters Karte grob abgeschätzt“, antwortete Linu.
    „Und du willst wirklich kein Nachtlager machen?“
    „Nur, wenn es nicht anders geht. Lass uns noch fliegen, bis die Sonne ganz untergegangen ist und dann wieder ein Stück laufen.“


    Sie überflogen Meile um Meile der großen Grasebene, die sich um das Gebirge und den Wald herum auf ganz Caeron bis zum Rand der steilen Klippen erstreckte. Vereinzelt gab es landwirtschaftlich genutzte Flächen und kleine Siedlungen wie die ihre, doch in der eingetretenen Dunkelheit konnten sie das trotz ihrer scharfen Augen nicht mehr erkennen. Auch die Flügel begannen mittlerweile zu schmerzen und sie landeten sanft auf dem taunassen Boden.
    Nachdem sie einige Zeit schweigend nebeneinander her getrottet waren, ergriff Taal das Wort.
    „Hast du dir schon Gedanken über die Menschenaffen gemacht? Was machen wir, wenn wir sie gefunden haben?“
    Linu antwortete nicht gleich.
    „Erinnerst du dich an Großvaters Geschichte von Gemby?“
    „Ja, der junge Affe, der die Welt erkunden wollte. Er hat den ganzen Wald durchstreift und bat um Erlaubnis auch die Ebenen besuchen zu dürfen, doch es wurde verboten.“
    Linu nickte eifrig. „Genau und er hat sich trotzdem hinaus gewagt und hat einen Jungen getroffen, der Holz sammelte. Die beiden haben sich vorsichtig angenähert und sind gute Freunde geworden.“
    „Hm“, machte Taal. „und du denkst, diese Geschichte ist wirklich passiert?“
    „Ich muss es hoffen. Wenn wir die Affen finden oder sie uns, werde ich nach Gemby fragen.“
    „Das ist dein Plan?“ Taal lachte. „Typisch Linu!“ Er boxte sie an die Schulter.
    „Hast du eine bessere Idee?“
    „Min hat erzählt, dass sie die Schätze des Meeres lieben und das Wasser aber so sehr fürchten, dass sie sich nicht nahe genug hin trauen. Wir könnten einen Umweg zur Nord- oder Südküste machen und ein paar Perlen und Muscheln suchen.
    „Ein Geschenk? Warum nicht“, überlegte Linu.
    „Ich weiß, auch da verlassen wir uns auf eine Geschichte von Min, aber etwas anderes haben wir nicht.“
    „Weil sie uns nichts erzählen!“, schimpfte Linu. „In der Schule lernt man nur, was für Gefahren überall lauern und nicht, wie man sich ihnen stellt.“
    „Eines kann uns vielleicht helfen“, entgegnete Taal. „Wir dürfen vor den Augen der Affen auf keinen Fall Vogelgestalt annehmen.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Triborin


    Triborin erwachte früh. Gut erholt streckte er die Glieder und schlüpfte in seine Uniform. Nach dem allmorgendlichen Gebet zu Noxa, der Göttin der Nacht, stieg der Dunkelelf die Treppe hinab, um ein schnelles Frühstück einzunehmen. Er hatte geplant, sich die Schattenakademie anzusehen, was ihn schon genug Zeit kosten würde, als dass er lange schlafen oder speisen konnte. Der grimmigen Miene des Wirtes zufolge, war dieser alles andere begeistert von Triborins Frühstückszeit, doch er wagte nicht, dies kundzutun.
    Eilig aß Tin das dunkle Brot mit dem dargebotenen Käse und trank eine Tasse Ziegenmilch dazu. Er blickte zu dem Tisch, an dem er abends mit der Albe gesessen hatte und dachte an ihr Gespräch zurück. Sie hatten sich noch einige Zeit unterhalten und doch stellte Triborin fest, dass er eigentlich nichts über die Frau wusste.
    Selbst in den moderneren Zeiten kam ein Alb nicht ohne wichtigen Grund nach Lacharys, auch nicht in den Süden, der durch die Nähe und den notgedrungenen Handel aufgeschlossener war als der hohe Norden um die Hauptstadt. Warum war Liena hergekommen? Er hatte es nicht herausfinden können, bevor sie schließlich aufgestanden war, um zu gehen. Wohin, wusste Triborin ebenso wenig. Die Stadttore Kaachors waren lange schon geschlossen gewesen, also musste sie eine andere Unterkunft bewohnen. Triborin bezweifelte, dass er sie wiedersehen würde, obwohl er sich wunderte, dass sie ausgerechnet ihn angesprochen hatte. „Sie wusste, was ich bin und wollte mit mir spielen“, dachte er und musste sich eingestehen, dass es ihm Freude bereitet hatte, mit ihr zu reden, zu testen, ob er Anzeichen von dem finden konnte, was man jedem Dunkelelf von frühester Kindheit an einbläute: Lüge ist des Alben Sprache, Verrat liegt ihm im Blut.
    Sie hatte sich zumindest in keine Ecke drängen lassen.


    Nach dem Mahl verabschiedete sich Triborin vom Wirt, holte sein Pferd aus dem Stall und führte es durch die langsam erwachenden Gassen. Die Akademie war nicht weit und beinahe wäre er daran vorbei gelaufen. Das Gebäude hob sich nicht nennenswert von den übrigen ab, es hatte denselben krummen Aufbau, dasselbe dunkle Fachwerk und dieselbe Größe wie alle anderen Gebäude Kaachors. Einzig ein kleines Schild an der Hauswand machte es als Lehrinstitution der Meisterspione kenntlich. Nachdem er das Ross an einem niedrigen Zaun festgebunden hatte, spähte Triborin durch eines der Fenster im Erdgeschoss. Dort gab es eine Art Speise- oder Versammlungssaal mit u-förmig aufgestellten Holztischen, einen Kamin und einen Tresen, der wahrscheinlich die Verbindung zur Küche darstellte. Dies sollte die legendäre Schattenakademie sein?
    „Was das Auge sieht, ist niemals der Wahrheit letzter Schluss.“
    Triborin zuckte zusammen und folgte dem Klang der Stimme.
    „Und ich sag‘ dir, auf sein Ohr, verlässt sich nur ein armer Tor.“
    Ein Teil der schmutzigen Fassade bewegte sich und die Umrisse eines Mannes kamen zum Vorschein.
    „Mein Herr Gardist“, er verbeugte sich, „willkommen in der Schattenakademie.“
    Triborin erwiderte die Verbeugung wie es sich gehörte und schluckte die Frage, wie er ihn hatte täuschen können hinunter. Immerhin war dieser Mann ein Schattengänger.
    „Zu welchem Zweck kommt Ihr hier her? Gibt es Anweisungen aus Xarchavas, die meine Brüder und Schwestern nicht kennen?“
    „Nein, tut mir leid“, gab Tin zurück. „Ich kam nur her, um die legendäre Akademie zu sehen.“
    „Und Ihr habt etwas anderes erwartet“, vervollständigte der Schattengänger seinen Gedanken. Seine Kleidung wirkte schäbig, doch Triborin wusste, dass dies einen Zweck erfüllte.
    „Mit der Festung und den Obsidianhallen von Xarchavas können wir selbstverständlich nicht mithalten. Doch es ist auch nicht unser Daseinszweck aufzufallen.“ Triborin merkte, dass er den Mann nicht sonderlich leiden konnte. Er war überheblich und auf eine unangenehme Art gelangweilt.
    „Wollt ihr euch die Akademie ansehen?“
    „Ich fürchte dafür habe ich keine Zeit. Ein anderes Mal vielleicht.“
    Der Schattengänger verbeugte sich. „Wie Ihr wünscht. Dann weiterhin viel Erfolg auf Eurer Reise und hütet Euch vor der Albe. Sie beobachtet Euch schon den ganzen Morgen.“
    Triborin konnte seine Überraschung nicht verheimlichen und dass dies den Spion zu amüsieren schien, ärgerte ihn. Er hielt dem Drang stand, sich umzusehen.
    „Ich danke Euch für Eure Hilfe“, sagte er stattdessen und tat mit einer knappen Verbeugung der Höflichkeit genüge.
    Auf dem Weg zum Stadttor blickte Triborin immer wieder zur Seite und tat so, als mustere er das ein oder andere Haus, ein Schaufenster voller dunkler Artefakte, die Noxas Wohlwollen beschwören sollten, und die Arbeiten eines Tischlers, der das hölzerne Gerüst einer Veranda bearbeitete. Am Straßenverkauf einer kleinen Bäckerei blieb er stehen und kaufte etwas Brot und knusprige Dinkelstangen für die weitere Reise. Verstohlen sah er sich dabei nach hinten um, doch außer einiger dunkelelfischer Frühaufsteher war die Straße leer; kein Anzeichen von Liena. Es war sinnlos. Selbst wenn sie noch irgendwo lauerte, er würde sie nicht finden, zumindest nicht, ohne offensichtlich nach ihr zu suchen. Sobald er wieder im Galopp die Straße entlang donnerte, würde sie ihm sowieso nicht mehr folgen können, es sei denn, auch sie besaß ein großes Streitross und dann wäre es wohl kaum eine heimliche Angelegenheit mehr.
    Als Triborin das Stadttor erreichte, hatten die Wächter es gerade erst geöffnet und der Dunkelelf freute sich innerlich über seine akkurate Planung. Er saß auf, nickte den Wachen zu und nachdem er die Schlange der wartenden Händler mit ihren Holzkarren und Rückentragen hinter sich gelassen hatte, gab er seinem Pferd die Sporen und raste der Südgrenze Lacharys‘ entgegen.


    Am nächsten Tag sah er schon von Weitem den Grenzwald, an dessen Nordgrenze er gen Westen reiten würde. Im Wald selber, so sagte man, gab es ebenso viele Späher wie Bäume, denn sowohl Dunkelelfen als auch Alben bewachten den Übergang ihrer beiden Länder akribisch. Im Gegensatz zu den reinen Nadelwäldern weiter nördlich, mischten sich hier erste Laubbäume in den Bestand, die typisch für die Vegetation Mildirs, dem Reich der Alben, waren. Triborin war selbst natürlich noch nicht dort gewesen, doch in der Akademie der Leibgarde erhielten die Rekruten unter anderem auch umfangreichen geographischen Unterricht.
    Seine Vorräte hatte der Dunkelelf in einem kleinen Ort aufgefüllt. Er wusste nicht, was ihn jenseits der Grenze in Vesperion erwarten würde und wollte für alles gerüstet sein. Von der Albe Liena war noch immer keine Spur und Triborin zweifelte daran, dass sie ihn wirklich verfolgte oder zumindest nicht mehr. Er konnte sich schwerlich vorstellen, dass es viele Pferde auf der Welt gab, die es mit der Schnelligkeit und Ausdauer der schwarzen Streitrösser aus Lacharys‘ Ebenen aufnehmen konnten. Mit der Zeit verschwendete er immer weniger Gedanken an die Frau und fokussierte sich wieder stärker auf seinen Auftrag. Der einfachste Teil lag nun hinter ihm. Er erreichte jetzt nicht nur ein fremdes Land, er näherte sich zudem auch dem Zeitpunkt, an dem er selbst Entscheidungen treffen musste. Es war nämlich so, dass Lord Xyrius den genauen Aufenthaltsort dieses Vogelvolkes, das Triborin unbedingt für ihn finden sollte, gar nicht kannte. Sicher war er hingegen, dass die Alben es taten und dass deren Blick nach Süden gerichtet war. Deshalb sollte auch Triborin dorthin reisen und mehr in Erfahrung bringen. Der junge Gardist wusste zu gut, warum Xyrius ihn alleine geschickt hatte, auch wenn der Lord ihm wie gewöhnlich keine Einsicht in seine Pläne gewährt hatte. Sein Fernbleiben bei der letzten großen Ratsversammlung würde das Verhältnis zu den Alben kaum verbessert haben und jede größere Truppenbewegung oder sonstige Anzeichen kriegerischer Absichten konnten einen Konflikt vom Zaun brechen, der Lord Sinklar in die Karten spielen würde. Seit vielen Jahren, es mochte schon in die Tausende gehen, herrschte ein striktes Friedensabkommen zwischen allen Völkern Orchaldors und dem, der es brach, drohte die geballte Macht aller übrigen Völker und ewige Unterjochung und Enteignung zum Schutze der Welt. Triborin hatte die Aufzeichnung aus Xarchavas‘ heiliger Bibliothek studiert. Damals, nach Jahre langen Kämpfen, hatten die großen Herrscher sich unter der Führung der Alben zusammengefunden, um dem Leid und Elend der Bevölkerung ein Ende zu machen. Auch der damalige dunkelelfische Lord hatte den Pakt unterzeichnet, dem Misstrauen, dass er dem Handeln seines albischen Rivalen entgegen brachte, zum Trotz. Triborin vermutete, dass es weiterführende Niederschriften gab, diese jedoch seiner Lordschaft alleine vorbehalten waren. Wie hätte Lord Xyrius sonst von dem Vogelvolk erfahren können? In keinem Buch, keiner Karte hatte Triborin je von den Aviaren gelesen.


    Linu


    Nach zwei Nächten und zwei Tagen, wobei sie sich doch in beiden Nächten ein wenig hingelegt hatten, erreichten Linu und Taal die nördliche Küste von Caeron, auf Höhe einer der etwas größeren Nachbarinseln, die auf Aalons Karte als Vogelinsel gekennzeichnet war. Der Name war Programm: die rauen Felswände waren über und über von weißen Vögeln besetzt, deren Kreischen die Luft erfüllte. Die Sonne ging bereits unter und Linu und Taal hatten vor, sich einen Unterschlupf in der zerklüfteten Wand von Caerons Klippen zu suchen. Solange es noch Tageslicht gab, wollten sie aber schon einmal nach einigen schönen Exemplaren von Muscheln und vielleicht sogar Perlen umsehen. Sie schwebten hinab auf den kleinen Strand, wo glücklicherweise gerade Ebbe war.
    „Hast du dich schon einmal gefragt, ob es dort draußen wirklich noch Land gibt?“, fragte Linu ihren Freund während sie den Boden absuchten.
    „Schon oft“, entgegnete Taal. „Meine Eltern waren schon immer der Meinung, dass es noch andere Länder auf unserer Welt gibt. Vielleicht gibt es sogar noch andere Welten oben im Himmel.“
    Linu sah ihren Freund vorwurfsvoll an. „Was? Wieso hast du mir dann noch nie davon erzählt?“
    „Ich habe nicht gedacht, dass es etwas Ungewöhnliches ist. Ich meine, könnte die Welt wirklich so klein sein wie unsere Insel?“
    „Das will uns doch immerhin jeder weiß machen“, sagte Linu ein wenig beschämt, dass sie genau das immer gedacht hatte.
    „Naja… sie lehren uns nur Dinge über Caertol, weil wir nur das kennen und weil das wichtig für unser Überleben ist, oder nicht? Die fremden Länder könnten doch so weit weg sein, dass man niemals dorthin gelangen kann.“
    Linu erzählte Taal von ihrem Streifzug hinaus ins offene Meer und dass sie nichts gefunden hatte.
    „Woher weißt du, dass es die richtige Richtung war?“
    Eine Hand voll Sand traf den Jungen am Kopf. „Hey! Wofür war das?“
    „Dafür, dass du so ein elendiger Klugscheißer bist!“, entgegnete Linu, doch lächelte dabei. Taal hatte natürlich wie immer Recht und bevor sie nun das ganze Meer abflog, wollte sie erst einmal sehen, ob an Großvater Mins Geschichten überhaupt etwas dran war.


    Sie hatten die Nacht in einer gut geschützten kleinen Höhle auf halber Höhe der Klippen verbracht und zogen früh morgens mit ein paar wunderschönen milchig-blau schimmernden Perlen und großen rotmelierten Jakobsmuscheln im Gepäck los.
    Von hier aus war der Wald nicht weit, den Caertol erstreckte sich von Nord nach Süd nicht annähernd so weit wie von Ost nach West. Linu war ganz froh, dass sie die Ausläufer der Bäume bei Tageslicht erreichten, immerhin betraten sie nun vollkommen fremdes Gebiet. Vor dem Einschlafen hatten die beiden noch lange über fremde Länder gesprochen, versucht sich auszumalen, wie es dort wohl aussähe und was für Tiere dort lebten. Sie stellten sich andere Aviare vor, ganz kleine und riesengroße und dachten sich große Städte aus. Linu erzählte Taal, wie gereizt ihr Vater reagiert hatte, als sie ihn nach anderen Ländern befragt hatte.
    „Ich denke Aalon hat nur Angst, dass du eines Tages von einem Erkundungsflug nicht mehr heimkehrst“, hatte Taal zwinkernd gesagt. „Er kennt seine Tochter eben. Aber von den Legenden hat er ja scheinbar auch gehört, Linu. Ich bin mir sicher, dass viele der Erwachsenen wissen, dass es jenseits von Caertol noch mehr gibt, es interessiert sie nur nicht. Wir haben hier ja alles, was wir brauchen.“
    „Bis irgendwann jemand uns findet und dann stehen wir unvorbereitet und schutzlos da“, hatte Linu entgegnet und an Mins Worte gedacht.


    Die Sonne stand noch tief, als sie den Wald erreichten und strahlte wunderbar zwischen die Bäume hinein, die am Rand noch relativ klein waren. Sie hatten eine glatte, grünliche Rinde und trugen ein dichtes Blätterwerk. Je tiefer Taal und Linu in den Wald vordrangen, desto vielfältiger wurde die Vegetation. Es gab dicke und dürre Bäume, welche mit rissiger und dunkler Borke und wieder andere, die komplett mit Moos oder Kletterpflanzen bewachsen waren. Gestrüpp und Farne wucherten stellenweise dazwischen, weshalb die beiden Jugendlichen im Zickzack gehen mussten. An sonnigeren Lichtungen wuchsen bunte Blumen und dort, wo der Boden komplett mit Moos bedeckt war, reihten sich Pilze in allen Farben und Formen. Wirkliche Pfade gab es nicht, die Pflanzen bestimmten ihren Weg und einige Male musste sie sich durch eine Ansammlung an Büschen kämpfen. Der Wald wurde immer dichter und bald kamen sie an ersten Gesteinsformationen vorbei. Linu kam aus dem Staunen nicht heraus. Es war wunderschön. Bis auf ein paar kleinere Nagetiere und Kolibris waren sie noch auf keine Lebewesen gestoßen und Linus Vorsicht schwand. Sie roch an Blumen, hob kleine Steine an, spähte in Höhlen hinein und pfiff vergnügt ein Lied.
    „Spätestens, wenn die Dämmerung einsetzt, solltest du damit aufhören“, riet ihr Taal, der stumm und wachsam neben ihr herging. „Du wirst Füchse und Baumkatzen anlocken und wer weiß, was es hier noch alles gibt.“
    „Verderb‘ mir doch nicht den Spaß, Taal. Es ist so ein wundervolles Abenteuer.“
    „Du hast mir besser gefallen, als du noch etwas ängstlich warst.“
    Linu zog die Augenbrauen hoch. „Ich war noch nie ängstlich.“
    Taal lächelte bloß.


    Abends gelang es ihnen ein paar Mäuse zu fangen, die sie in Vogelgestalt verspeisten, um kein Feuer machen zu müssen. Linu hatte es ein, zwei Mal probiert, doch ihr menschlicher Körper vertrug kein rohes Fleisch. Taal suchte einen Baum aus, der einen hohen Stamm und eine dichte Krone hatte und sie flogen hinauf, um oben zu nächtigen. Am Waldboden fühlten sie sich nicht sicher genug.
    „Wir sollten trotzdem abwechselnd Wache halten“, sagte der Junge. „Nicht nur Baumkatzen können klettern. Ich weiß nicht, wie weit die Menschenaffen vorstoßen. Vielleicht haben sie uns schon bemerkt.“
    „Meinst du?“, fragte Linu. „Die Holzfäller gehen doch auch in den Wald, um Baumaterial und Feuerholz zu holen.“
    „Ich denke, dass wir schon wesentlich weiter in den Wald vorgedrungen sind, als sie es je tun. Ich übernehme die erste Schicht. Schlaf ein wenig, ich wecke dich dann.“


    Als Taal sie weckte, war es dunkel und frisch. Schläfrig öffnete Linu die Augen und staunte. Durch das Blätterwerk des Baumes drang das bleiche Mondlicht und erzeugte einen leicht bläulichen Schimmer, während weiter unten tausende grün-gelbe Lichter durch den Wald schwebten. Vereinzelt ließ ein Lufthauch die Blätter rascheln, hin und wieder schrie eine Eule und unter all dem lag das unterschwellige Summen, das auch in den Wiesen nachts vorherrschte.
    „Schön, nicht?“, flüsterte Taal. „Ich werde jetzt ein wenig schlafen. Weck mich, wenn du wieder müde bist.“
    Das Mädchen nickte und zog die Beine an, um sich gegen die typische Kälte der Müdigkeit zu schützen. Einmal zuckte sie zusammen, als ein kleiner Vogel sich von einem nahen Ast abstieß und einmal sah sie ein Wesen weit unten über den Waldboden schleichen, wahrscheinlich ein Fuchs. Mit der Zeit ließ ihre Anspannung nach und nachdem sie sich gewärmt hatte, begann sie ihre Wache richtig zu genießen. Selbst wenn sie von einer Baumkatze oder sonst einem Angreifer entdeckt würden, könnten sie einfach hinauf in den Himmel fliegen.



    Rak


    Rak verlor jegliches Zeitgefühl, während sie nach ihm suchten.
    Die Ereignisse des Tages prasselten auf seinen Geist ein wie Hagelkörner auf kalte Haut. Wäre er doch nur bei dem Ritterturnier geblieben! Er hatte seinen Vater enttäuscht, sein zu Hause in Gefahr gebracht und sich zum meist gesuchten Mann Krinkgards gemacht. Nun war er in den Händen eines Fremden von dem er gar nichts wusste und dem er doch sein Leben anvertrauen musste.
    Er saß auf dem Ast und umschlang die Knie mit seinem Armen. Sein Blick lag ohne Fokus im Blattwerk.
    Irgendwann in stockfinsterer Nacht, als Rak schon glaubte, er würde hier oben festwachsen, war die Suche scheinbar beendet, denn sein Erretter geleitete ihn vom Baum herab.
    „Komm“, flüsterte er und führte ihn durch das Waldstück hindurch. Schweigend gingen sie hintereinander her. Der Mann verursachte nicht das geringste Geräusch auf dem Waldboden und ging doch so zügig, dass Rak Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen. Sie überquerten den kleinen Bach, in dem Rak als Kind oft gebadet hatte und die Weide des Ziegenhirten. Auf der anderen Seite waren zwei Pferde angebunden. Sein Begleiter schwang sich auf einen großen braunen Hengst, dessen Fell teilweise golden schimmerte und unter dessen Haut sich starke Muskelstränge abzeichneten. Er deutete auf das beige, etwas kleinere Tier daneben.
    „Er heißt Willi“, sagte der Mann. „Steig schon auf.“
    „Ich bin noch nie auf einem Pferd gesessen.“
    „Das macht nichts. Solange du sitzen kannst, wird er den Rest für dich erledigen.“

    Zögerlich griff Rak den Aufstiegriemen des Sattels und zog sich nach oben. Das kleine Pferd blieb ruhig stehen und ließ ihn auf seinem Rücken Platz nehmen.
    „Zeit zu gehen“, sagte der Mann und beide Pferde setzten sich in Bewegung. Sie gingen eine Weile in langsamem Schritttempo, ehe sie wie von Geisterhand in einen flotten Trab wechselten und in die Nacht hinaus ritten.
    Rak wagte einen letzten Blick zurück und sah die vereinzelten und kleiner werdenden Lichter von Burg Kalkstein, die fünfzehn Jahre sein zu Hause gewesen war. Ob er jemals dorthin würde zurückkehren können?
    Bald verlor der Bäckersohn jegliches Zeitgefühl, während sie sich abseits der Straße Meile um Meile fortbewegten. Kleine Waldstücke lösten Ackerland ab, von Zeit zu Zeit war das Plätschern von Gewässer zu hören und sofern sie Dörfer passierten, lagen diese in vollkommener Dunkelheit und waren nicht zu sehen. Kerzen und Lampen waren ein teures Gut, das man nicht verschwendete.
    Noch nie zuvor hatte Rak Krinkgard verlassen, er wusste gar nicht, wie es in anderen Regionen oder Städten Norgonds aussah, geschweige denn, in welche Richtung sie sich bewegten.
    Mit der Zeit zog sich Müdigkeit wie ein milchiger Schleier über seinen Geist und löste endlich die grausamen Schuldgefühle und die Furcht vor dem, was seinen Eltern angetan wurde, ab. Erschöpft sank der Junge auf seinem Sattel zusammen und Willi schnaubte, als er das erste Mal einnickte.
    „Ich denke, wir sollten unser Nachtlager aufschlagen.“
    Sein Begleiter hatte das Pferd an Raks Seite geführt. „Dort vorne gibt es einen alten Steinkreis. Dort bleiben wir bis morgen früh.“


    Rak nahm das Bündel von Willis Rücken und entrollte eine geflochtene Strohmatte und eine gesteppte Decke, während der geheimnisvolle Fremde ein Feuer entfachte.
    „Du wirst Hunger haben“, stellte er fest ohne eine Antwort zu erwarten und Rak hörte das Klimpern von metallenem Kochgeschirr. „Morgen haben wir noch ein gutes Stück vor uns.“
    „Wohin reiten wir eigentlich?“, schaffte Rak endlich zu fragen. „Und wer seid Ihr überhaupt?“
    Der Mann lachte. „Ich bin Holon und wir reiten zum Gut von Lord Sarkis ganz im Süden Norgonds.“
    „Noch nie gehört“, sagte Rak, wohl in dem Wissen, dass das nichts hieß. Bildung dieser Art war auch etwas, das nur den adeligen Kindern und Jugendlichen vorbehalten war.
    „Er ist ein Gönner unseres… Ordens“, sagte Holon mit einem leichten Zögern, als suche er nach dem passenden Wort. „Du wirst alles, was du wissen musst noch früh genug erfahren. Hier, iss.“
    Er drückte Rak eine Schüssel mit Eintopf in die Hand.
    „Den Zwischenfall mit der Prinzessin erwähnst du lieber nicht vor dem Lord. Wir wollen ja nicht, dass er seinen Eid brechen und lügen muss, wenn die Häscher des Königs ihre Finger so weit in den Süden ausstrecken sollten.“
    Rak sah von seiner Schüssel auf und wischt eilig ein wenig Sauce von seinem Kinn. „Waf?“
    „Der Lord muss nicht wissen, dass du im Land gesucht wirst“, erklärte Holon und schob sich auch einen Löffel in den Mund.
    „Die Prinzessin… was ist überhaupt mit ihr geschehen? Was war das für ein Ding? Es sah aus, als würde sie in Stein verwandelt“, murmelte Rak, als erinnere er sich gerade erst wieder an die Ereignisse.
    „Das war ein Signalstein. In ganz Norgond sind Pfeiler wie dieser postiert, in Vesperion auch und vielleicht sogar auf der ganzen Welt.“
    „Signal wofür?“
    „Ich hätte all das lieber erst in Lord Sarkis‘ Hof besprochen gemeinsam mit den Ältesten“, sagte Holon ernst.
    „Bitte. Ich muss es wissen. Was ist mit der Prinzessin passiert?“
    Holon seufzte.
    „Signalsteine erkennen magische Fähigkeiten. Ich weiß, ich weiß“, fügte er an, noch bevor Rak seinen Protest Kund tun konnte, „alle sind der Meinung, es gäbe keine Magie und jeder, der darauf beharrt, ist ein Verräter und ein Irrer. Aber doch gibt es sie. Du hast heute Nachmittag den Beweis gesehen.“
    „Heißt das, dieser… Stein hat Prinzessin Klara erkannt? Es hat sie angegriffen!“
    Holon schüttelte den Kopf. „Nein, mein Junge. Der Stein hat Klara angegriffen, weil sie, ein Mädchen ohne magische Fähigkeiten, ihn berührt hat und er zuvor aktiviert wurde.“
    „Aktiviert?“
    „Es ist die eigentliche Funktion der Signalsteine. Wenn ein Magier in seine Nähe tritt, erwacht er zum Leben, beginnt zu schwingen und mit ihm alle Signalsteine in einer Umgebung von vielen hundert Meilen. In diesem Zustand kann nur ein Magier den Stein berühren.“
    In Raks Kopf drehte sich alles. Was, wenn dieser Mann, Holon, ihm irgendeine Geschichte auftischte? Er kannte ihn gar nicht und er war weit weg von zu Hause, wo er das Missverständnis vielleicht auflösen und seine Eltern befreien könnte. Andererseits… er hatte genau gesehen, wie der Pfeiler sich bewegt hatte, wie er an Klaras Arm hinauf gewandert und die Prinzessin schließlich selbst zu Stein erstarrt war.
    „Mein Orden hat Grund zur Annahme, dass du ein Gesteinselementar bist, Rak“, bestätigte Holon schließlich Raks Befürchtung, wohin das Gespräch führte.
    „Willst du sagen, ich bin ein Hexer?“
    Rak wusste zu gut, was mit Leuten passierte, die mit Hexerei in Verbindung gebracht wurden. Mit eigenen Augen hatte er gesehen, wie man den jungen Maat, den Lehrling des Apothekers, gesteinigt hatte, weil er für den Feuertod seines Meisters verantwortlich gemacht wurde. Angeblich hatte er die Flammen allein durch die Kraft seiner Worte beschworen, so berichtete die Witwe des Verstorbenen.
    „Nenn es wie du willst“, sagte Holon. „Freunde wirst du damit nirgends finden, außer dort, wo ich dich hinbringe.“
    „Ich glaube dir nicht“, Rak spürte Wut im Bauch.
    „Du wirst es noch früh genug sehen. Der Signalstein hat so stark ausgeschlagen wie schon ewig nicht mehr. Meine Ältesten erwarten dich sehnsüchtig. Und jetzt solltest du ruhen. Wir werden morgen den ganzen Tag reiten, ehe wir Grauenstein erreichen.“
    Rak schwieg. Müde war er tatsächlich, aber an Schlaf war nicht zu denken. Wo war er hier hineingeraten? Gesteinselementar… was sollte das sein? Bis zum heutigen Tag hatte er noch nie etwas Außergewöhnliches erlebt, im Gegenteil, er war im Gegensatz zu den Jungen und Mädchen von hohem Stand immer unbedeutend gewesen. Wenn er wirklich so besondere Fähigkeiten hatte, warum hatte er es dann nie bemerkt?
    Der Junge grübelte noch einige Zeit darüber nach, versuchte sich an das Geräusch und das Gefühl erinnern, das von diesem merkwürdigen Steinpfeiler ausgegangen war, doch es fiel ihm schon jetzt schwer, es zu rekonstruieren. Irgendwann umfing ihn schließlich doch der Schlaf und mit ihm kamen wirre Träume.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Kleine Ergänzung zu Linus letztem Kapitel:


    Genau das mussten sie am darauffolgenden Tag öfter tun, obwohl sie wussten, dass es zusehends gefährlicher wurde, desto tiefer sie in den Wald gelangten. Ohne die regelmäßigen Orientierungsflüge hätten sie sich aber bald verirrt, denn im dichten Grün des Waldes war es kaum möglich gerade aus zu gehen, geschweige denn eine Himmelsrichtung zu bestimmen.
    „Wir sind ein ganzes Stück zurück nach Osten gegangen“, stellte Taal fest. „Besser, wir hätten früher einmal unsere Lage korrigiert.“
    „Aber wir sind auch schon viel näher an der Mitte“, fügte Linu hinzu, die den Blick nicht von den schroffen Steilwänden des Attalongebirges abwenden konnte, dem sie noch nie so nahe gewesen war. Stolz erhoben sich die Gipfel aus dem grünen Meer des Waldes. „Es ist irgendwie gruselig.“
    „Was meinst du?“, fragte Taal.
    „Das Gebirge. Es wirkt, als wäre es lebendig, wie ein Riese mit grünen Hosen.“
    „Früher war es wirklich lebendig. Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass der höchste Gipfel früher Feuer und flüssiges Gestein gespuckt hat.“
    Flüssig?“, fragte Linu ungläubig. „Dein Vater erzählt fast so tolle Sachen wir der alte Min.“
    Sie landeten. „Was hat dir dein Vater denn noch über das Gebirge erzählt?“
    „Dass es Ralons Heimat ist.“
    „Was?“ Linu starrte ihren Freund an. „Aber Ralon lebt in den ewigen Himmeln und hütet unsere Seelen, wenn wir übergegangen sind.“
    „Das stimmt. Vater meinte, der Berg sei sein irdisches Zuhause. Auf der Erde“, fügte er hinzu, als Linu ihn fragend anblickte. „Vor vielen Jahren hat Ralon die Feuer des Berges gelöscht und sich dort niedergelassen und auf der fruchtbaren Asche sind der große Wald und die Wiesen gewachsen.“
    „Das hast du mir noch nie erzählt.“
    „Du hast mich ja nie gefragt. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht.“
    „Aber eines verstehe ich nicht. Wenn Ralon angeblich dort oben lebt, warum hat dann noch kein Aviare versucht, hinauf zu fliegen und ihn zu finden?“
    „Wer weiß. Vielleicht haben es schon welche getan.“

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    Laotse

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  • Triborin


    Die Straße führte Triborin so weit nach Westen, dass er das Meer sehen konnte. Erst dann machte sie eine Biegung nach Süden. Wo das Gebiet um die Grenze zu Mildir üppig und grün gewesen war, zeichneten den Übergang nach Vesperion graue Geröllfelder und Felsformationen. Fast strohfarbene Gräser bevölkerten die Steine und die der Jahreszeit geschuldete dichte Blütenpracht des Heidekrauts, in lila und rosa, war ebenso schön wie sie fehl am Platz wirkte.
    Der Grenzübergang war bemannt. In Schritttempo ritt Triborin an der Hütte des dunkelelfischen Wächters vorbei und nickte zum Gruß. „Möge Noxa mit Euch sein“, rief dieser bloß, denn einem Leibgardisten wurden keine Fragen gestellt. Er war ein recht kleiner Elf, doch wahrscheinlich immer noch größer als die meisten Menschen. Triborin dankte ihm, indem er leicht den Kopf senkte und näherte sich dem Wachhaus der Westmenschen. Triborin hatte willentlich die Straße genommen, anstelle die Grenze an einer beliebigen Stelle zu überqueren. Wenn es während seines Aufenthaltes in Vesperion Probleme gäbe, war es wesentlich besser, wenn er kein unangemeldeter Gast war.
    „Guten Tag, Elf“, brummte einer der Wachleute. Sie waren zu zweit auf die Straße gelaufen, mit Speeren bewaffnet. Der eine war bereits ergraut und trug einen dichten Bart, während der andere sehr jung wirkte und dichtes braunes Haar hatte. Ihre Steppwämser waren stellenweise mit Leder verstärkt, doch sie trugen weder Helme noch Schilder. Binnen Sekunden hätte Triborin sie niederstrecken können, aber dafür war er nicht hier. Aus Höflichkeit stieg er von seinem Pferd.
    „Seid gegrüßt“, antwortete er, so förmlich wie möglich. „Ich begehre durch das Land Eures hohen Königs zu reisen.“
    „Aus welchem Grund?“ brummte der Alte.
    So viel zum Thema Höflichkeit, dachte Triborin.
    „Mein Ziel ist Solterra. Ich habe dort Besorgungen zu machen.“
    „Besorgungen… Ich frage mich, Elf, warum schickt Euer Lord einen seiner edlen Leibgardisten zum Einkaufen?“
    „Diplomatisches Geschick ist von Nöten. Es soll nicht Eure Sorge sein, welche Aufgaben den unseren zugeteilt werden, vor allem in Zeiten des Friedens, in denen wir uns unweigerlich befinden, sofern Ihr nicht widersprechen wollt.“ Also konnten auch die Westmenschen einen Leibgardisten erkennen, wenn sie einen sahen. Ihr Bildungsstand schien besser, als man in Lacharys dachte.
    „Gut gesprochen, Elf.“ Der Alte grinste und entblößte braune Zähne. „Dann sagt mir, weshalb den Umweg nach Westen nehmen, wo es doch auch einen direkten Weg nach Süden gibt.“
    Triborin musste lächeln. Ein cleverer Kerl war das, auf Mildir anzuspielen. „Mein Ziel ist Jum Al Dahab.“ Die Stadt der goldenen Sonne lag ganz im Westen Solterras, was der Dunkelelf bewusst unerwähnt ließ. Entweder der Mann kannte die Stadt oder seine geographischen Kenntnisse reichten nicht aus, so oder so würde er sich damit zufrieden geben, um sich nicht bloßstellen zu müssen.
    „Wenn das so ist“, antwortete er, „dann wählt man natürlich den angenehmeren Weg… Ihr dürft passieren.“
    Triborin saß wieder auf. „Mögen die Götter Euch beschützen.“
    „Folgt einfach dieser Straße und Ihr werdet auf direktem Wege in die südlichen Lande kommen. Doch seid auf der Hut: nicht jeder Westmann ist erfreut über den Anblick der Euren in unserem Land. Hier gilt des Königs Gesetz, dem Ihr ausnahmslos unterworfen seid, so lange ihr Vesperions Boden unter Euren Füßen und seine Luft in Eurer Lunge habt. Besser Ihr haltet Euch daran.“
    Triborin verbeugte sich noch einmal. Mehr als die Westmenschen sorgte ihn Sinklars langer Arm.


    Vesperion war in einem schlechten Zustand. Schon am ersten Tag hatte Triborin die Ruinen zweier Gutshöfe passiert, mehrere Bauernhöfe mit eingefallenen Dächern und unzählige Bettler, oft auch Kinder, am Straßenrand. Die Kooperation mit den Alben schien für das gemeine Volk nichts abzuwerfen.
    Die Straße hielt sich zunächst nahe an der Küste. Wie überall im Norden fiel das Land steil ab und das Wasser sprang und stürmte wütend dagegen. Weiter im Süden würde sich das ändern, immerhin verfügte Vesperion über eine Hafenstadt, deren Zugänglichkeit zum Wasser deutlich einfacher sein musste. In ganz Orchaldor waren es nur die Menschen aus Ost und West, die gelernt hatten, die See zu nutzen, um Fisch zu fangen oder Güter zu transportieren. Mittlerweile gab es selbst in Solterra einige Warenhäfen, auch wenn das Volk des Südens sich selbst vor dem Wasser scheute. Der Handel mit den rauen Seeleuten hatte die Landstriche reich gemacht, weshalb sie sich damit begnügten, für den Anlegeplatz zu sorgen, anstelle sich selbst in der Kunst der Schifffahrt zu üben. Triborin wusste, dass auch die Flussboote, die in Lacharys Ketten von Baumstämmen durch den Filthri zogen, ihren Ursprung in Vesperion hatten. Erstaunlich, dass das Land im Westen und, soweit er wusste, auch Norgond selbst so unbedeutend und schmutzig waren, wo sie über solch ein Alleinstellungsmerkmal verfügten. „Menschen…“, dachte er. Dieses Machtwerkzeug in der Hand von Dunkelelfen, oder im schlimmsten Fall von Alben… Leider bot Lacharys‘ Küste keine Möglichkeit und die Alben fürchteten Nēn, den Gott des Wassers, zu sehr.


    Es dauerte nicht lange, da stieß Triborin auf eine mögliche Ursache für Vesperions miserablen Zustand. Er erreichte eine Ortschaft, in der das Chaos ausgebrochen war. Häuser brannten, Menschen und Tiere rannten wild und schreiend durcheinander und hier und da gab es Kämpfe zwischen einfachen Leuten in groben Wollstoffen und Knüppeln und Mistgabeln in der Hand gegen gerüstete Krieger, auf deren Schildern das Wappen des Königs prangte. Gesalbte Ritter waren dies nicht, doch ihre Gegner waren Bauern, Waffenschmiede und was das Dorf sonst noch hergab, sodass es eine ziemlich einseitige Angelegenheit war. Viele Männer starben, andere wurden in Gewahrsam genommen und fortgeschleppt und viele, vor allem Frauen und Kinder, versuchten zu fliehen. Triborin hielt auf einer kleinen Hügelkuppe unweit des Geschehens. Einfach vorbeizureiten… das wäre das Richtige. Was auch immer die Westmänner dazu brachte, das eigene Volk abzuschlachten, war nichts, was ihn anging. Er war ein dunkelelfischer Leibgardist auf wichtiger Mission!


    Hart wie Obsidian, kalt wie Eis,
    ein Leben für Land und Lord.
    Kraft und Blut und Schmerz und Fleiß
    Auf ewig dien‘ ich, bis zum Tod.

    Der Schwur eines Leibgardisten war ein Eid für das Leben. Weder in der Ausbildung noch danach war Platz für Mitgefühl und Güte, für Freundschaft und Wärme. Er musste weiter und doch konnte er den Blick nicht abwenden. Frauen weinten und schrien vor Qual, ein kleines Kind saß weinend im Matsch und rief nach seiner Mutter, während die Krieger weiter brutal gegen die Männer vorgingen, die ihr Dorf und ihre Familien beschützen wollten. Wieso taten sie das? Was hatten diese armen wehrlosen Menschen getan? Von einem Augenblick auf den anderen musste er an seine Mutter denken. „Du hast ein großes Herz, Tin, du bist ein guter Junge. Vergiss das nie.“ Das hatte sie ihm gesagt, als er nach den ersten Ausbildungsjahren zu Hause zu Besuch gewesen war und sie hatte ihn in ihre Arme geschlossen wie früher, wenn er der alten Krycha beim Tragen ihres schweren Korbs geholfen oder kleine Tiere zur Pflege aus dem Wald mitgebracht hatte, die verwundet oder krank waren. Aber das war er nicht, nicht mehr. Es war seine Entscheidung gewesen, zur Leibgarde zu gehen, anstelle gemeinsam mit seinen Geschwistern später einmal Vaters Holzbetrieb zu übernehmen und zu dieser Entscheidung gehörte auch alle Elemente der Ausbildung auf sich zu nehmen. Fortan gab es nur noch einen Lebenszweck für einen jeden Gardisten: Dienst und Treue dem Lord, bis zum Tod, gewaltsam oder friedlich. Es hatte Mutter geschmerzt und doch war es notwendig und früher oder später würden sie stolz auf ihn sein und verstehen, dass er ein wichtiger Bestandteil ihrer Gesellschaft war. Jetzt aber, auf dieser Anhöhe in einem fremden Land erinnerte er sich an ihre Worte und spürte wie sein Herz brannte, als wand es sich in den kalten Ketten mit denen er es vor vielen Jahren eingesperrt hatte. Was dort vor sich ging, war nicht rechtens.
    Bevor ihm doch noch Zweifel kamen, trieb Triborin sein Pferd an und ritt auf die brennende Siedlung zu, bereit zu kämpfen, sollte es nötig sein.


    „Haltet ein!“, rief Triborin, als er den Rand des Dorfes erreichte. Die Kämpfenden fuhren herum und starrten ihn an.
    „Welch Verbrechen haben diese Leute begangen, dass Ihr sie ihrer Heimat beraubt?“
    Einer der Krieger spuckte aus. „Das geht dich nichts an, Elf. Schau, dass du verschwindest.“
    „Dies sind einfache Menschen. Wie könnt Ihr es über Eure Ehre bringen, sie abzuschlachten wie Vieh?“ Triborin wusste, dass er sich auf dünnes Eis begab, doch nun, da er das ganze Ausmaß des Gemetzels sehen konnte, siegte der Zorn über die Vernunft.
    „Das ist nicht dein Land, nicht dein König und nicht dein Volk. Du hast hier nichts zu melden und allein, dass du hier auftauchst, rechtfertigt uns, dir den Kopf abzuschlagen… so wie ihm.“
    Er holte mit dem Schwert aus. Sein Gegenüber war ein Junge, der kaum älter als fünfzehn sein konnte. Mitten in der Bewegung stockte er jedoch und fiel zu Boden. Aus seinem Hals ragte kaum sichtbar ein winziger Pfeil aus Triborins kleiner Armbrust.
    „Du! Was hast du gemacht? Bist du etwa auch ein Hexer?“ knurrte ein anderer Mann und zu dritt richteten sie ihre Waffen nun auf den Dunkelelf. Triborin lächelte kalt. Drei Mann? Vielleicht noch eine Hand voll weitere im Dorf, mit schlechten Rüstungen und ohne Pferde? Es war fast schon ungerecht. In einer fließenden Bewegung zog er das Krummschwert, ließ sein Ross auf die Hinterbeine gehen und befreite ein Dorf, dessen Namen er nicht einmal kannte.

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  • Linu


    Je näher sie dem Gebirge kamen, desto unebener wurde der Grund. Es gab Gruben, Hügel, kleine Schluchten und vereinzelte Wasserläufe und überall, selbst in unmöglichster Position, stemmten sich Bäume in die Höhe. Erst merkten sie es nicht, doch das Gelände fiel zusehends ab.
    „Es ist, als liefen wir in einen Kessel“, sagte Linu. „Wenn das so weiter geht, muss um die Berge herum eine richtige Schlucht sein.“
    „Die Bäume werden dafür immer höher“, entgegnete Taal und blickte nach oben, die mächtigen rotbraunen Stämme entlang bis zum fernen Blätterdach. Er blieb stehen. „Was ist das?“
    Linu folgte seinem Blick. „Wo?“
    „Dort, ein Stück links.“
    Linu kniff die Augen zusammen und tatsächlich: der Stamm des einen Baumes schien oben breiter zu werden. Sie suchten benachbarte Stämme ab und fanden noch viele weitere der Gebilde. „Sollen wir hochfliegen und schauen?“, fragte Linu.
    Taal schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Ich glaube, wir haben das Gebiet der Affen erreicht.“
    „Du meinst, das sind…“
    „Ja, das müssen Häuser sein – Baumhäuser.“
    „Und was machen wir jetzt?“ Linu sah ihren Freund an.
    „Wir gehen vorsichtig weiter und lassen sie auf uns zukommen. Sie werden uns bestimmt bald bemerken, wenn sie es nicht schon haben.“
    Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch gingen sie weiter. Auf einmal hatte jeder Busch Augen, jedes Rascheln verriet einen Angreifer und jedes Flüstern des Windes war eine Stimme im Dickicht. „Was, wenn sie uns einfach aufspießen und fressen?“, flüsterte Linu.
    „Sich darüber Gedanken zu machen ist jetzt zu spät. Wir müssen hoffen, dass sie wissen wollen, was uns herbringt.“
    „Das möchten wir auf jeden Fall“, sagte eine Stimme mit starkem Akzent und einer seltsamen gurrenden Aussprache. „Ihr habt hier nichts verloren, Schrecken der Lüfte, Ebenenbewohner.“
    Langsam drehten sich die beiden Aviare um. Der Affe stand direkt hinter ihnen, aufrecht auf zwei Beinen mit einem Lendenschurz aus Moos bekleidet und einem polierten Stab in der Hand. Seine Augen waren gelb, seine Lefzen blutrot und um den Kopf trug er einen Kranz von federartigem Fell, das viel heller war, als das dunkelbraune Haar, das seinen Körper überzog. Von links und rechts traten weitere Affen aus dem Gebüsch und ergriffen Linu und Taal.
    „Ihr werdet uns folgen. Wenn ihr euch verwandelt, werden wir euch vom Himmel schießen und ihr werdet tot sein, lange bevor ihr aufschlagt.“
    Linu schluckte. Der Griff des Affen schnürte ihr den Arm ab. Das Tier roch erdig, aber nicht unangenehm. Vorsichtig schielte sie zur Seite, als die Gruppe sie in dichteres Unterholz führte. Er trug ebenfalls einen Lendenschurz, hatte aber zusätzlich einen Köcher mit Pfeilen auf den Rücken geschnallt und sich spiralförmige Muster ins Fell rasiert. „Hier hinauf“, sagte er mit demselben kehligen Gurren, das auch in der Stimme des anderen Affen geklungen hatte.
    Sie fanden sich am Fuße eines der hohen Riesenmammutbäume wieder und Linu entdeckte kleine Stufen, die sich spiralförmig nach oben schlängelten. „Das ist ein Weg für Alte, Kranke und Kinder“, sagte der Affe mit Spott in der Stimme und während er gemeinsam mit den Aviaren und Taals Wächter ebenfalls den Stufen folgte, sah Linu wie alle anderen Affen blitzschnell und spinnenartig die Stämme der umliegenden Bäume erklommen, an denen es keine Treppen gab. „Ich könnte einfach hinauffliegen, wenn ihr nicht so Angst davor hättet“, dachte sie sich gereizt, doch sie biss sich auf die Zunge. Linu war Höhe gewöhnt und trotzdem wurde ihr mit jedem Schritt mulmiger zumute. Normalerweise verfügte sie über ein Paar sehr zuverlässiger Flügel, wenn sie sich soweit vom Erdboden entfernte und ging nicht auf winzigen Stufen an einem Baumstamm entlang. Als wäre das nicht genug, waren die Spiralen um den Stamm so eng, dass ihr bald recht schwindelig war. Der Baumstamm schien kein Ende zu nehmen. Nach ewigem Treppensteigen erreichten sie endlich die ersten Äste, an denen man sich zumindest ein wenig mit den Händen abstützen konnte. Linu sah nach unten. Der Boden war in weite Ferne gerückt, es mochten gut und gerne 50 Meter sein, wenn nicht mehr.
    „Hier entlang.“ Der Affe wies auf einen etwas breiteren Ast. Gerade als Linu meinte, der Ast werde zu dünn für ihr Gewicht, entdeckte sie die Brücke. Es war eine Hängebrücke, die den Baum mit dem nächsten verband und als sie den Blick hob, erkannte sie, dass fast alle Bäume im Umkreis spinnennetzartig miteinander verbunden waren. Ein guter Teil dessen, was vom Boden aussah wie Äste, mussten Brücken und Stege sein. Ihre Begleiter führten sie von Baum zu Baum, über Podeste, an Hütten vorbei und bald hatte Linu jede Orientierung verloren. Erst, als sie sicher war, dass sie im Kreis herum gingen, hielten sie an. Die Plattform, die sie nun betraten, war riesig. Sie umschlang unzählige Bäume, bot Platz für ganze Reihen von Hütten und verfügte über einen künstliche angelegten Wasserlauf, der überall mithilfe der hölzernen Bahnen in Hütten abzweigte, kleine Schaufelräder antrieb und schließlich in die Tiefe hinab stürzte. Sie gingen an Verkaufsständen vorbei, an Werkstätten und blieben schließlich auf einem freien Platz stehen, der einem Viertelkreis entsprach und dessen Spitze von einem kunstvoll verzierten Unterstand mit einem großen Stuhl eingenommen wurde. „Das ist nicht einfach ein Stuhl“, dachte Linu. „Das ist ein Thron.“
    „Hinknien und warten“, befahl der Affe und Linu und Taal taten wie ihnen geheißen. Sie wechselten kurz einen ängstlichen Blick, ehe der Affe Linu mit dem Fuß anstieß und sie eilig nach unten auf die Holzplanken sah.
    Die Zeit zog sich unbarmherzig. Linu hörte allerlei Geräusche, Füße trappelten über den Boden, Stimmen hoben und senkten sich in einer fremden Sprache und in der Ferne klapperte und knackte es.
    Dann wurde es plötzlich still. Was passierte um sie herum? Linu zwang sich, den Blick unten zu halten und erschrak, als eine Stimme ertönte, so laut, als spräche ihr jemand direkt ins Ohr.
    „Vor langer Zeit haben die Simearu dem Vogelvolk Zuflucht in ihrer Heimat gewährt. Wir haben es geduldet, ihnen Land überlassen, ihnen das Leben geschenkt und es gab nur eine einzige Bedingung, nur eine!“ Die Stimme pausierte und fuhr dann wesentlich leiser fort, dafür mit einem bedrohlicheren Ton.
    „Niemals dürfen sie in den Wald vordringen, niemals dürfen sie die heiligen Gipfel besteigen, niemals dürfen sie in den Himmel steigen und die Sonne verdunkeln, unsere Mutter. Und doch versuchen sie es wieder und wieder. Wir erlauben ihnen Holz zu nehmen, Kräuter und Pilze zu sammeln, doch sie kriegen nicht genug. Sie wollen unsere Heimat.“
    Linus Kopf wurde nach oben gezogen. Der Thron war nicht länger leer. Ein großer Affe mit einem langen Bart saß dort, in eine prächtige mit Blüten verzierten Tunika gehüllt und einer Krone auf dem Kopf. Zu beiden Seiten postierten bewaffnete Wächter und auf den Mund des Herrschers war das kleine Ende eines geschwungenen Holzrohres gerichtet, dass seine Stimme verstärkte. Links und rechts standen Schalen, in denen Feuer tanzte.
    „Ihr da“, wandte er sich direkt an Linu und Taal. „Seid ihr nicht gekommen, um unser Land zu nehmen, uns auszuspionieren, unsere Reichtümer zu stehlen und die heiligen Berge in eure Gewalt zu bringen? Sprecht rasch!“
    „Aber nein, großer… Herrscher“, sagte Linu schnell und verbeugte sich leicht. „Wir möchten nichts davon. Wir sind auf der Suche nach der Wahrheit und man sagt, niemand sei weiser als Ihr.“ Woher das gekommen war, konnte Linu nicht sagen. Sie hatte vollkommen instinktiv gehandelt.
    „Wahrheit, hm? Also möchtet ihr uns ausspionieren!“ Das Gesicht des Oberhaupts war wütend, doch seine Stimme verriet ihn. Linus Worte hatten dem Affen geschmeichelt. „Wieso sollten wir unser Wissen mit euch teilen?“
    „Wir werden dafür bezahlen“, sagte nun Taal.
    „Bezahlen, ja?“ Er lachte schallend. Taal griff zu seiner Tasche, um die Schätze vom Strand hervor zu holen, da legte ihm ein Affe den Speer an den Hals.
    „Lasst ihn“, befahl der Herrscher. „Ich habe überall Scharfschützen postiert.“
    Linu beobachtete den Affen, als Taal die Perlen und Muscheln vor sich auf dem Boden ausbreitete. Seine Augen wurden einen Moment groß, dann verengten sie sich zu Schlitzen.
    „Was soll ich damit? Um die ganze Insel herum kann ich diesen Krempel sammeln.“
    Taal öffnete den Mund, doch ihm fehlten die Worte, etwas, dass Linu selten erlebt hatte. „Und doch tut ihr es nicht“, sagte sie stattdessen. „Denn ich sehe nichts davon. Ihr fürchtet euch vor dem Meer, ist es nicht so?“
    „Ich habe Hallen voller Schätzen wie diesen.“
    „Nein habt Ihr nicht“, beharrte Linu, doch ihre Unsicherheit wuchs. Konnte sie sich getäuscht haben?
    „Lasst es mich aus der Nähe sehen.“ Mit einem Wink schickte er einen der Leibwächter zu Taal. Der Affe sammelte alles ein und brachte es seinem Herrscher, der begann die Schätze eingehend zu studieren.
    „Gut… gut“, sagte er schließlich. „Und welches Wissen begehrt ihr hierfür?“
    „Wir wüssten gerne, was ihr über unser Volk wisst.“
    Der Affe begann laut los zu lachen. Er lachte und lachte und schien gar nicht mehr aufhören zu können.
    „Ihr… ihr fragt uns nach eurem eigenen Volk?“ Das Lachen ging in Husten über und versiegte schließlich. „Also gut, ich werde euch geben, was ihr wünscht: ihr habt zwei Gestalten, könnt sowohl Mensch als auch Vogel sein und ihr bewohnt die Ebenen Caerons, weil wir es euch erlauben. Ihr betet zu Ralon, dem Gott des Himmels und Bruder von Mana, Göttin von Sonne, Licht und Feuer. Ihr seid arrogant und besitzergreifend und doch so dumm, dass ihr selbst nicht wisst, wer ihr seid.“ Er grinste bösartig. „Und nun, da wir Quitt sein, sperrt sie weg!“
    „Was?“ Linu war fassungslos. „Ihr habt bloß irgendwelche allgemein bekannten Fakten aufgezählt!“
    „Ich habe deine Frage beantwortet, ungezogenes Gör. Ich habe euch gesagt, was ich weiß. Wegsperren!“, brüllte er. Mehrere Wächter ergriffen die beiden Aviare hart und zerrten sie vom Platz, vorbei an Massen von Affen, die sich hinter ihnen versammelt hatten, um dem Schauspiel beizuwohnen.


    Rak


    Sie erreichten Grauenstein mit der Abenddämmerung. Die Burg war ganz anders als Kalkstein. Sie war grau wie der Fels, mit dem sie zu verschmelzen schien, ihr Querschnitt war viereckig und das Gemäuer gleichmäßig bis auf die Unterbrechungen der in regelmäßigen Abständen platzierten Fensterlöcher. Weiter unten gab es kaum Öffnungen und wenn, waren diese deutlich kleiner als in den höheren Ebenen. Es gab vier Ecktürme mit klobigen Zinnen, die auch die Wehrgänge dazwischen zierten. Obwohl die Anlage viel kleiner war als Burg Kalkstein, wirkte sie wuchtiger, da ihr die Eleganz und die filigranen Elemente fehlten. Auch die Umgebung unterschied sich deutlich. Krinkgard lag im Grünen, Grauenstein hingegen machte seinem Namen alle Ehre.
    Sie ritten durch das dem Gut zugehörige Dorf, vorbei an einer kleinen Kapelle und wurden schließlich am Tor der Burg von einem beleibten Mann in teurer Kleidung empfangen.
    „Willkommen zurück“, sagte er mit auffallend hoher Stimme.
    „Hofmeister Vresus“
    Holon stieg von seinem Pferd und verneigte sich, also tat Rak es ihm nach.
    „Lord Sarkis ist außer Haus, doch Eure Räume sind vorbereitet, ebenso ein kleines Nachtmahl. Heja, Ben!“ rief er plötzlich in Richtung der Stallungen. „Bring die Pferde unserer Gäste in freie Boxen und gib ihnen Heu.“
    Ein Junge kaum älter als Rak, aber deutlich größer und schlaksiger, kam angelaufen, verbeugte sich wortlos und nahm die Zügel der beiden Tiere.
    „Unser Stallbursche“, erklärte Vresus unnötigerweise; „ein guter Junge, wenn auch nicht die hellste Leuchte.“ Er lachte hoch und schneidend.
    „Wann wird seine Lordschaft zurück erwartet?“, fragte Holon den Beamten, als sie zur Burg schritten.
    „Gleich morgen früh. Er weilt bei einem Vasall an der Grenze zu Mildir.“
    „Hat er Anweisungen hinterlassen?“
    „Nur eine, mein Herr: fühlt Euch wie zu Hause.“


    Rak hatte noch nie so ein prächtiges Zimmer gesehen. Boden, Wände und Decke waren mit verziertem Holz verkleidet, in einem Eck loderte ein Kamin und in der Mitte stand ein riesiges Bett mit Türmen von Kissen und Vorhängen auf allen Seiten. Nach dem rustikalen Aussehen von Burg Grauenstein, hatte er nackte Steinwände, Dunkelheit und Kälte erwartet, doch man hatte überall Fackeln entzündet, die zwar stanken und qualmten, doch ein warmes Licht in die Gänge und Zimmer warfen und das Feuer in seinem Gemach strahlte eine angenehme Wärme aus. Sahen so die Räumlichkeiten der Königsfamilie aus oder waren sie gar noch atemberaubender? Rak konnte sich kaum vorstellen, was diesen Raum noch übertreffen konnte und nahm sich fest vor, dem Lord ausgiebig zu danken. Sein Gemach hatte sogar ein kleines Fenster, das mit Scheiben aus poliertem Horn bespannt war. Hinausblicken konnte er leider nicht, wurde dafür aber vom gröbsten Zug geschützt. Der Junge ließ sich auf das Bett plumpsen, das angenehm weich war. Auf den Kissen waren Bündel duftender Kräuter platziert, die er nicht kannte. Am liebsten hätte Rak jedes kleine Eck untersucht, doch eine Dienerin klopfte und trat ein.
    „Mein Herr“, sagte sie schüchtern mit einem Knicks, „Meister Holon bittet Euch mit ihm zu speisen. Wenn Ihr mir bitte folgen mögt?“
    Mein Herr… Rak konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen und folgte dem Mädchen die enge Wendeltreppe ein Stockwerk nach unten. Holon saß schon bei Tisch und wies mit der Hand auf den einzigen anderen eingedeckten Platz an der großen Tafel. Vorsichtig nahm Rak Platz und zuckte zusammen, als der schwere Holzstuhl laut über die Steinfliesen kratzte.
    „Bist du mit Tischmanieren vertraut, Junge?“, fragte Holon.
    Rak nickte. „Mein Vater legt viel Wert darauf.“
    Sein Gegenüber zog die Augenbrauen hoch. Ob aus Anerkennung oder Zweifel, vermochte Rak nicht zu deuten. „Zeig es mir. Dann werden wir sehen, ob es für ein Mahl mit seiner Lordschaft genügt.“
    Das Gedeck bestand aus einem kleinen Tablett wie Rak es noch nie gesehen hatte, einem Löffel und einem Trinkgefäß aus Horn.
    „Du hast kein Messer“, stellte Holon fest und reichte ihm eines. „Achte gut darauf. Es wird erwartet, dass du eines mit an die Tafel bringst.“
    Der blonde Mann läutete eine kleine Glocke und kurz darauf traten zwei Diener ein und brachten mehrere Schalen mit dampfenden Speisen. Rak hatte Hunger wie ein Berglöwe und der Geruch von gekochtem Fleisch und Gemüse ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Trotzdem wartete er geduldig, bis er an der Reihe war. Unterdessen füllte einer der Diener sein Gefäß mit dickflüssigem Bier und zog sich zurück.
    Holon griff sich eine Scheibe flachen Brotes und schaufelte Eintopf aus einer der Holzschalen darauf. Erst als er begann, Stücke von dem Brot abzureißen und zu essen, griff Rak ebenfalls nach den Speisen.
    „Mhm“, schüttelte Holon den Kopf, schluckte hinunter und bat Rak ihm seine Hände zu zeigen. „In Zukunft wirst du deine Hände reinigen, bevor du an die Tafel trittst.“ Ärgerlich schloss Rak die Augen. Wie oft hatte Vater ihm genau dasselbe gesagt? „Für heute soll es genügen, greif zu.“
    Es war köstlich. Das Fleisch war zart, nicht so sehnig wie zu Hause, wenn Mutter sich mit den Resten begnügen musste, die nicht an die königliche Küche gegangen waren, und die Sauce war bereichert mit fremden Gewürzen. Rak bemühte sich nicht allzu sehr zu schlingen und saugte anschließend jedes Bisschen Flüssigkeit vom Tablett. Instinktiv wollte er nach dem Tischtuch greifen, um seine Finger abzuwischen, doch Holons Blick ließ in innehalten. Der zweite Gang bestand aus wunderbar gebratenen Wildtauben und zum Abschluss folgten süße Früchte. Als schließlich die Diener mit Waschschalen für die Hände an den Tisch traten, meinte Rak, er müsste jeden Augenblick platzen. „Nicht schlecht. Du weißt mit Messer und Löffel umzugehen. Dein Vater scheint mir ein außergewöhnlicher Mann zu sein, wenn er in seinem Stand“ – „Wir sind keine Bettler!“, unterbrach ihn Rak wütend. „Meine Eltern sing gute und ehrliche Leute. Dass sie Bäcker sind, macht sie nicht zu niedrigen Menschen.“ Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen, als er wieder an Vater und Mutter dachte, doch er wollte nicht weinen, auf keinen Fall wollte er jetzt weinen.
    „Das sage ich auch nicht. Es ist eben nur… besonders.“ Rak biss sich auf die Lippe. „Es ist mir egal, woher ein Mann oder eine Frau stammt, Junge. Du wirst noch merken, dass in unserem Orden nicht die Geburt entscheidet, ob jemand wichtig ist oder nicht. Die Fähigkeiten sind es, die eine Person aus der Masse hervorheben und das Benehmen.“ Er sah Rak durchdringend an, um seine Botschaft zu verstärken und entließ den Jungen dann in die Nachtruhe.


    Am nächsten Morgen empfing Lord Sarkis sie direkt nach dem Frühstück, das im Bett eingenommen wurde, in seinem Studierzimmer. Als sie eintraten, kratzte seine große Tintenfeder noch über ein Stück Pergament. „Mylord, Herr Holon Brannes mit einem Jungen“, verkündete ein Bediensteter.
    Sarkis sah auf und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung sich aufzurichten. Er hatte ein leicht gerötetes Gesicht und trug einen kurzen Bart um den Mund herum, der in der Mitte des Kinns bereits ergraut war. Ansonsten war sein Haar blond mit einer Tendenz zum Rötlichen. Er trug ein dickes Hemd aus schwarzem Samt, das vorne durch Metallschnallen zusammen gehalten wurde. An Hals und Ärmeln spitzten weiße Rüschen hervor.
    „Seid gegrüßt. Ich hoffe, Euer bisheriger Aufenthalt war Euren Ansprüchen entsprechend.“
    „Habt Dank, Mylord“, antwortete Holon.
    Der Lord erhob sich von seinem Stuhl und ging um den großen polierten Holzschreibtisch herum. Er war ein großer Mann mit muskulöser Statur. „Ist alles reibungslos verlaufen, Meister Brannes?“
    „Ja, Mylord. Die Eltern des Jungen waren geehrt, dass ihr Junge für eine besondere Ausbildung erwählt wurde.“
    Reflexartig sah Rak zu Holon. Was erzählte er da?
    „Gut, gut“, sagte Sarkis, dem Raks Überraschung entgangen zu sein schien. „Sagt, wann erwägt ihr zur Akademie zu reisen?“
    „Ich plante morgen aufzubrechen.“
    Auch dies waren Neuigkeiten für Rak, der gedacht hatte, sie hätten ihr Ziel bereits erreicht.
    „Vortrefflich!“, rief Sarkis und klatschte in die Hände. „In diesem Fall würde ich mich freuen, Euch heute Abend bei meinem Bankett begrüßen zu dürfen. Und nun entschuldigt mich bitte, ich habe zu tun.“


    „Was“, setzte Rak an, als sie aus dem Raum waren und die Treppe hinabstiegen, doch Holon unterbrach ihn.
    „Erinnerst du dich, was ich dir unterwegs gesagt habe? Die genauen Umstände unserer Begegnung sind unerheblich.“
    „Und was, wenn nun jemand meine Eltern auf diese Ehre“, er betonte das Wort ironisch, „anspricht? Du hättest dir schon etwas Besseres ausdenken können.“
    Holon atmete tief ein. „Rak“, begann er. „Niemand wird deine Eltern ansprechen. Ich denke nicht, dass… ich meine…“
    „Du willst sagen, sie sind tot.“ Schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit kämpfte Rak mit den Tränen, als Holon mit traurigem Blick nickte. Es war ein kleiner Faden der Hoffnung, an den er sich geklammert hatte und nun war er ihm durch die Finger geglitten. Mit größter Anstrengung schaffte Rak es in sein Gemach, ehe die angestaute Trauer aus ihm heraus brach und er weinte und schluchzte wie er es noch nie zuvor in seinem Leben getan hatte. Schuld und Wut mischten sich unter den Schmerz des Verlustes und der Junge schwor alles dafür zu tun, dass es nicht umsonst gewesen war, dass seine Eltern von oben mit Stolz auf ihn herabsehen würden.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Triborin


    Trotz der Gefahr, entdeckt zu werden, ritt Triborin weiter auf der Straße. Es war der schnellste Weg und er hatte es eiliger denn je. Sich abseits der Hauptroute zu verirren war um Einiges riskanter. Und überhaupt, woher sollten die Westmänner wissen, dass er derjenige war, der ihre Männer getötet hatte? Von den Kriegern war keiner übrig, der Bericht hätte erstatten können und falls sie die flüchtigen Dörfler zu fassen kriegten, um sie zu verhören, würde Triborin bis dahin schon jenseits der südlichen Grenze sein. Er musste hoffen, dass die Informationen, die er vor seiner Reise erhalten hatte, stimmten und diese Grenze unbewacht war. Noch immer grübelte er über die Beweggründe des Königs Männer nach, eigene Leute in deren Dorf, weit entfernt vom Hof, niederzumetzeln. Stand Vesperion am Rande eines Bürgerkrieges? War das der Grund, warum es zuletzt nach langer Zeit wieder eine große Ratssitzung gegeben hatte? Nach allem, was Triborin über König Krinkar wusste, entsprach solch ein Vorgehen nicht seiner Art. Er war als sanftmütiger und gerechter Herrscher bekannt, der genau aus diesem Grund natürlich auch Feinde hatte. Es war durchaus denkbar, dass hier Verrat und Intrige am Werk war. Das Verhältnis zu Vesperion war für seine Heimat nicht unbedeutend. Die Westmänner waren nicht nur wichtige Handelspartner sondern auch Lacharys‘ Verbindung in den Süden. Bräche in Vesperion Krieg aus oder schottete sich das Land ab, waren die Dunkelelfen nahezu isoliert. Die Grenze zu Grakia, dem Zwergenland, war so gut wie unpassierbar und auch das Verhältnis zu dem kleinen Volk war mäßig, wurde nur noch von dem zu den Alben unterboten. Der Verlust von Vesperion als Verbündeten bedeutete vollkommene Abgeschnittenheit oder Abhängigkeit von Mildir, beides Zustände, die inakzeptabel waren.
    Es war fern seines Auftrages, doch Triborin sah es in seiner Pflicht, mehr über die aktuellen Ereignisse in Vesperion zu erfahren und nach seiner Rückkehr seinem Lord zu berichten. Noch ein Grund, sich an die Straße zu halten und zu sehen, wer sonst noch unterwegs war und über was man sprach.


    Eines Abends beschloss der Dunkelelf ein noch größeres Wagnis einzugehen und in einem Ort zu rasten. Die letzten Nächte hatte er stets unter freiem Himmel geschlafen und er sehnte ihn nach warmen Speisen, einem Bier und einem weichen Bett. Von weit hatte er den Rauch der Schornsteine erspähen können und als er näher kam, erkannte er, dass es sich um eine größere Siedlung handelte. Zufrieden lächelte er. Je größer ein Ort, desto höher die Anonymität. Kurz überlegte er dennoch, sein Pferd in einem kleinen, an die Straße angrenzenden Waldstück zu lassen. Sollte er in einen Hinterhalt geraten, würden sie mit Sicherheit zuerst versuchen, ihm sein Reittier zu nehmen und in der freien Wildbahn konnte es sich besser wehren oder notfalls davon laufen, als in einer kleinen Box irgendeines Stalls. Schließlich nahm er seinen Hengst doch mit, zu groß war sein Vertrauen, dass sie nichts über ihn wussten und ein wenig gehaltvolleres Futter würde dem schwarzen Knaben ohnehin gut tun.
    Der kleine Gasthof war dunkel und stickig, Boden und Tische klebten von Speiseresten und verschütteten Getränken und die Decke war so niedrig, dass Triborin sich ducken musste. Die Mahlzeit hingegen war vorzüglich und auch das Starkbier, für das die Menschen bekannt waren, fand Triborins Zuspruch. Es waren kaum Leute im Schankraum. Im Eck saß eine alte Frau, tief über eine dampfende Tasse gebeugt, am Tresen saßen zwei stämmige Burschen und ansonsten war nur der bucklige Wirt zugegen, der nicht ein Wort verloren hatte, seit Triborin eingetreten war und schließlich schon früh die wenigen Lichter löschte, die den Raum mäßig erhellt hatten. Triborin sollte es recht sein. Die angenehme Schläfrigkeit eines vollen Bauches hatte ihn in Beschlag genommen und da auch die anderen Gäste gegangen waren, würde er hier keine Informationen sammeln können.


    Das Klirren von Schwertern und Geschrei auf der Straße weckte ihn. Triborin warf die Decke zurück und ging zu dem kleinen, offenen Fenster seines Zimmers. Nach der Wärme der Decken fröstelte ihn. Es musste mitten in der Nacht sein. Die Seite an Seite gebauten Häuser waren dunkel bis auf eines, das die benachbarten Gebäude auch in der Höhe überragte. In seinen bespannten Fenstern schimmerte Licht und auf der Straße davor herrschte Aufruhr. Gerüstete Krieger, hoch zu Pferd, warteten mit Fackeln in der Hand an der Türe, während Fußsoldaten einige wütende Bürger in Schach hielten. Die berittenen Männer, da war er sich sicher, waren erfahrene Ritter. Mit etwas Anstrengung gelang es Triborin, ein paar der Wortfetzen über den Lärm hinweg einzufangen, die einer der Reiter an die Bewohner des Hauses richtete.
    „… wiederhole… im Namen des Königs … Sicherheit. Verlasst dieses Haus… Vesport. Oder“, dieses Wort schrie er förmlich und wurde danach so leise, dass der Dunkelelf nichts weiter verstehen konnte. Vesport war die Hauptstadt und Sitz von König Krinkar und jemand sollte dort hingebracht werden; jemand, der dem Gebäude nach offensichtlich nicht mittellos, oder zumindest bei wohlhabenden Leuten untergekommen war.
    Die Ritter versuchten nun, sich gewaltsam Eintritt zu verschaffen, ließen ihre Pferde gegen die Türe ausschlagen, versuchten sogar sie mit einer Fackel zu entzünden, doch sie hielt stand. Die Fußsoldaten hatten immer größere Schwierigkeiten die wachsende Menge tobender Bürger, Männer wie Frauen, in Schach zu halten, von denen einige mit Schwertern bewaffnet waren. „Noch haben sie niemanden getötet“, stellte Triborin fest. Wieso? Fürchteten sie sich vor der Masse? Das andere überfallene Dorf war viel kleiner, die Leute ärmer gewesen. Der Dunkelelf zweifelte nicht einen Moment, dass die Vorfälle miteinander zu tun hatten. Gebannt beobachtete er die Szene, hielt Ausschau nach möglichen Hinweisen und versuchte verkrampft, die Worte zu verstehen, die gesprochen wurden. Alles was er verstehen konnte, waren die wütenden und verzweifelten Ausrufe aus dem Pulk, wie „Mörder“, „Tod“ oder „nicht mein Sohn!“… und noch etwas anderes. Es wuchs aus dem Gemurmel heraus, als stimmten immer mehr Leute ein, wurde deutlicher und deutlicher, bis er nicht länger leugnen konnte, was er verstand. „Der schwarze Reiter wird euch holen.“


    Triborins Herzschlag setzte einen Moment aus. Wie hatte die Kunde so schnell hierher gelangen können? Mittlerweile schien es, als sänge die ganze Stadt im Chor, während die Ritter noch immer auf die Tür einschlugen, noch immer ohne Erfolg. Wer hatte ihn alles gesehen? Der Wirt, die anderen aus dem Schankraum und davor… Er gab auf. Jeder konnte ihn gesehen haben, als er die mit Kopfsteinpflaster ausgelegte Hauptstraße entlang geritten war. „Sie wissen, dass ich hier bin.“ Die Erkenntnis löste ihn aus seiner Starre. Er musste weg, musste sein Pferd hohlen, bevor es jemand anderes tat. Der Stall führte zur anderen Seite des Gasthofes hinaus. Solange der Tumult tobte, könnte er unbemerkt davon reiten und so schnell es ging nach Solterra fliehen.
    Gerade als er zum Bett eilen, sich ankleiden und seine wenigen Sachen packen wollte, ertönte der Klang eines Horns. Triborin schloss in bitterer Erkenntnis die Augen. Er kannte diesen Klang. Unzählige Male hatte er in der Akademie die Merkmale des rivalisierenden Volkes herunterbeten müssen. Triborin hätte es selbst in nahender Ohnmacht noch zuordnen können: Das war ein Albenhorn… Schnell legte er seine Lederuniform an, befestigte die Armbrust und das Schwert, warf sich den Mantel über die Schultern und stopfte den Rest seiner Habe hektisch in die Satteltasche. Auf der Straße war es ruhig geworden und er konnte der Neugierde nicht widerstehen. Außerdem… wüssten sie wo er sich aufhielt, hätten sie dann nicht schon jemanden nach ihm geschickt? Vorsichtig näherte er sich dem Fenster und blickte hinaus. Die Augen aller Menschen waren in eine Richtung gerichtet, ihre Münder standen teilweise offen. Zwölf Alben bewegten sich mit langsamen Schritten auf die Gruppe zu. Sie gingen jeweils zu dritt nebeneinander und die äußeren trugen grüne Laternen, die viel mehr Licht verbreiteten, als die lodernden Fackeln der Ritter. Sie waren allesamt in dunkelgrüne Umhänge gehüllt, die bis zum Boden reichten und trugen goldene Helme. Hellbraunes bis rotes Haar floss wie dunkler Honig über ihre Schultern und den Rücken hinab. Beim Gehen verursachten sie nicht den geringsten Laut und blieben mit mechanischer Gleichzeitigkeit unweit der Menschentraube stehen.
    „Haltet ein mit diesem Unsinn!“, durchbrach ein Alb schließlich die Stille. Er trat vor und zog ein langes, silbrig leuchtendes Schwert unter dem Umhang hervor. „Eine Mondklinge“, flüsterte Triborin. Ängstlich wichen die Menschen zur Seite, stolperten dabei übereinander wie zusammengetriebene Ratten, den Blick nicht einen Moment von dem Fremden lösend. Auch die Krieger und die Reiter machten ohne ein einziges Wort Platz. „Auf diese Weise werdet ihr die Türe niemals öffnen. Sie ist… geschützt.“ Der Alb ging nahe an das Haus heran. Triborin kniff die Augen zusammen, rückte, alle Vorsicht beiseite schiebend, wieder näher an das Fenster, um im flackernden Licht der Fackeln zu sehen, was geschah. Die Flammen spiegelten sich in dem hellen Schwert, hoch über den Kopf erhoben, dann war es verschwunden. Mit einer gleichmäßigen Bewegung senkte der Alb die Arme und im selben Moment, in dem das Schwert wieder zum Vorschein kam, schwangen die Flügel der Tür wie von Geisterhand nach außen auf. In dem Licht, das aus dem Gebäude strömte, konnte Triborin die schweren Riegel sehen, sauber durchtrennt mit einer einzigen, flüssigen Bewegung des Schwertes. Also stimmten die Legenden über die Mondklingen. Nur Zwerge vermochten sie zu schmieden und selten verließ eine solche Waffe seine Geburtsstätte in Grakia. Wer war dieser Mann?
    „Stürmen“, sagte er emotionslos und nach einem kurzen Zögern drangen die Krieger Vesperions in das Gebäude ein. Die Alben aber blieben davor stehen, ebenso die vor Furcht gelähmten Menschen. Das war seine Chance. Solange der Überfall auf das Haus im Fokus lag, konnte er fliehen. Er warf einen letzten Blick auf die Gruppe Alben, die alle stur geradeaus blickten. Alle außer einer. Vor Schreck zuckte Triborin zusammen. Wie lange beobachtete er ihn schon? „Sieh genau hin“, sagte er sich. Augen wie Smaragde, das Haar der Farbe von Kastanien gleich und hohe Wangen, die von den Wangenleisten des Helms nur ungenügend verdeckt wurden. Dieser Alb war eine Frau. Es war Liena.


    Linu


    Die große Baumsiedlung hatte mehrere Ebenen und die Zellen von Linu und Taal befanden sich in keiner davon. Sie wurden in eckige Käfige gesperrt, deren Wände und Decke gitterartiger Struktur waren und mit kräftigen Seilen ein paar Meter hinab gelassen. Linu war froh, dass die böigen Küstenwinde ihren Weg nicht bis in den Wald fanden. Das leichte Schaukeln durch die hiesigen Luftzüge reichte vollkommen, um ihr ein immer währendes mulmiges Gefühl in der Magengegend zu bereiten. Zudem hatten sie Hunger. Taal hatte ihr den Rücken zugewandt und schien zu schlafen. Im Gegensatz zu ihr, die von Fassungslosigkeit und Panik befallen worden war, hatte ihr Freund weiterhin Ruhe ausgestrahlt.
    „Noch ist nichts geschehen“, hatte er ihr zugeflüstert, während die Käfige vorbereitet wurden. „Hast du mit einem Ehrenempfang gerechnet? Wenn sie nicht interessiert an uns wären, hätten sie uns umgebracht, oder nicht?“ Es hatte sie ein wenig beruhigt, doch nun begann das Unbehagen wieder zu wachsen. Was, wenn die Affen sie einfach in diesen Käfigen würden verrotten lassen? Gerne hätte Linu noch mehr mit Taal besprochen, doch sein Käfig hing so weit entfernt, dass sie sich nicht leise unterhalten konnten und man auf der Plattform darüber jedes Wort würde verstehen können. Sie griff das Gitter des Käfigs. Die verflochtenen Äste waren so dick wie ihr kleiner Finger, starr und unbeweglich. „Und wenn du ein Loch hineinarbeiten könntest“, dachte Linu, „was dann? Du hast sie gehört. Wenn du dich verwandelst, wirst du sofort vom Himmel geschossen.“ Trotz dieser Bedenken, begann Linu zu zweifeln, dass die Affen sie so einfach abschießen könnten. Die Käfige waren eine Vorsichtsmaßnahme. Ihr war nicht entgangen, dass es auf der untersten Ebene viele Hängegefängnisse ohne seitliches Gerüst gegeben hatte. Flugunfähige Feinde wurden zur zusätzlichen Folter mit Sicherheit darauf hinabgelassen, ständig in der Furcht, im Schlaf über den Rand zu rollen und in die Tiefe zu stürzen.
    Das Mädchen blickte in die Ferne soweit es der Wald zuließ. Obwohl sie dem Gebirge sehr nahe sein mussten, konnte sie nichts ausmachen als das allgegenwärtige Grün getragen von braunen und roten Säulen. Eigentlich, so kam ihr plötzlich in den Sinn, waren sie schon viel weiter gekommen, als man ihnen im Dorf zugetraut hätte, zwei Kindern, die ohne besondere Ausrüstung, ohne tiefere Kenntnisse einfach los gezogen waren. Sie hatten es tief in den Wald geschafft, hatten die Affen gefunden und sogar mit ihnen gesprochen. Und es gab noch etwas, was sie durch die bisherige Reise gewonnen hatten. Linu dachte an den gierigen Blick des Oberhaupts, als sie die Schätze des Meeres ausgepackt hatten, an die Art und Weise, mit der er sie studiert und begutachtet hatte. Eines hatten sie bereits herausgefunden: Großvater Mins Geschichten waren nicht bloß Hirngespinste und das bedeutete, dass auch der neugierige Abenteurer Gemby wirklich existieren konnte; oder zumindest einmal existiert hatte.


    Linu musste in einen unruhigen Schlaf gefallen sein, denn als sie die Augen aufschlug, war es bereits dunkel. Ihr Magen knurrte fürchterlich. Der Duft von gebratenem Fleisch lag in der Luft, von Gewürzen und anderen Köstlichkeiten und verstärkte ihren Hunger ins Unermessliche. Taal war ebenfalls wach. Er saß in seinem Käfig und winkte ihr, deutete nach oben und schaukelte den Körper hin und her, als wollte er ihr etwas sagen. Nach oben zu sehen war zwecklos, es gab nichts zu sehen, als die starken Balken und Planken mit den kleinen, allesamt geschlossenen Luken, durch die die Käfige abgelassen worden waren. Allerdings konnte sie etwas hören. Rhythmische Geräusche, Trommeln, vielleicht das Stampfen von Füßen und Rasseln mischten sich mit einer Melodie, deren Klang Linu fremd war. Das wollte Taal ihr sagen: dort oben war eine Art Fest. Hoffnung keimte in ihr auf. Wo gefeiert wurde, gab es viel zu Essen. Vielleicht würde man ihnen von den Resten geben. Das Mädchen atmete tief und blickte hinunter auf ihren Schatten. Sie hielt inne. Wieso warf sie einen Schatten? Schnell hob sie den Kopf, und tatsächlich: die Luke war geöffnet und gelb-rotes Licht fiel auf sie herab. Es ruckelte kurz, dann bewegte sich ihr Käfig nach oben. Die Seilwinde wurde von einem Affen bedient, den Linu noch nicht gesehen hatte. Er war wesentlich kleiner und schmächtiger, als die Wächter, die sie hierhin eskortiert hatten und tat sich trotz des Flaschenzuges sichtlich schwer damit, sie hochzuziehen. Linus Gefängnis kam Geräuschvoll auf dem Boden auf. „Psst, psst, zu laut, zu laut“, drängte der Affe, obwohl Linu gar nichts hätte tun können. Er wartete nicht auf eine Antwort sondern flitzte in kleinen Trippelschritten zu Taals Luke und holte auch ihren Freund hinauf, bevor er beide Käfige öffnete.
    „Fliegen! Ihr müsste jetzt fliegen“, sagte er hektisch. „Schnell, keine Zeit, keine Zeit. Ich reite.“ Mit einem Satz sprang er dem verdutzten Taal auf den Rücken und klammerte sich um dessen Hals.
    „Na los, LOS!“
    Linu und Taal sahen sich kurz an, dann sprangen sie von der Gefängnisebene, fielen ein Stück in die Tiefe und segelten auf breiten Schwingen in den Wald, einen wimmernden Affen im Gepäck.


    Jenseits der Siedlung war es deutlich dunkler, doch die Augen der Aviare sahen auch bei Nacht gut und scharf. Anfangs rechnete Linu damit, jeden Augenblick, von einem Pfeil oder sonst einem Geschoß getroffen zu werden, doch nichts geschah. Es schien, als bliebe ihre Flucht unbemerkt. „Oder sie lassen uns absichtlich entkommen“, fuhr es dem Mädchen durch den Kopf, doch sie verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich darauf, Taal und seinem Reiter im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch zu folgen. Es war unmöglich auszumachen, in welche Richtung sie flogen, bis die Steilwände des Gebirges plötzlich neben ihn auftauchten. Dunkel und bedrohlich führten sie in die Höhe und die Bäume standen teilweise so dicht am Fels, dass sie kaum zu zweit durch fliegen konnten. Nach unten tat sich ein schwarzes Nichts auf. Die Kronen der Bäume schmiegten sich an den Fels, manche Äste schienen fast hinein zu wachsen und Kletterpflanzen schlängelten sich aus dem Grün heraus auf die Felswand. Der Affe führte sie höher hinauf und sie durchbrachen das Dach aus Blättern und Zweigen und fanden sich vom einen auf den anderen Moment unter einem klaren Sternenhimmel wieder. Die Baumwipfel ähnelten im sanften Licht des Mondes einem grünen, aufgewühlten Meer, ein Eindruck, der durch die vereinzelten, weißen Nebelschwaden nur noch verstärkt wurde. Zu allen Seiten breitete es sich aus und in der Mitte brandete es an die imposanten Schultern des Attalongebirges. Der Fels leuchtete in einem gespenstischen Licht und Linu stellte fest, dass, die Berge sich, aus der Nähe betrachtet, kaum von den Klippen der Inseln unterschieden.
    Taal verlangsamte seinen Flug und Linu hielt sich dicht hinter ihm. Eine Weile folgten sie dicht der Kontur der Berge, flogen mal höher, mal tiefer und schließlich landeten sie auf einem kleinen Vorsprung, der neben den sonstigen Rissen und Kratern kaum auszumachen gewesen war. Der Affe sprang von Taals Rücken und die beiden Aviare nahmen menschliche Gestalt an.
    „Gleich da“, versicherte ihr Begleiter und führte sie in einen Spalt im Fels, der sich schnell zu einer Höhle verbreiterte. Er nahm etwas von der Wand, kratzte damit über den Stein und das warme Licht einer Fackel erhellte ihnen den Weg. Die Höhle war größer und vor allem höher als gedacht. Neugierig sah Linu sich um. Im flackernden Licht meinte sie allerhand Zeichen und Bilder an den Wänden zu erkennen. Ihre Körper warfen große Schatten auf den Boden und die Seiten und jeder Schritt klang dumpf nach. Ein engerer Gang verband den ersten Raum mit einem zweiten und dieser war nicht nur hell erleuchtet, sondern auch häuslich eingerichtet. Es gab Sitzgelegenheiten, einen krummen Tisch, ein Bett, sogar eine kleine Feuerstelle über der ein verbeulter Topf an einem Dreibein hing.
    „Du… du wohnst hier“, stellte Linu fest.
    „Ich? Nein, nein, ich nicht“, sagte der Affe mit seinem nervösen Unterton. Linu sah ihn das erste Mal bei vollem Licht. Er war tatsächlich sehr schmächtig, sein Fell war an einigen Stellen leicht verfilzt und er verfügte nicht über den prächtigen Kranz um den Hals, wie es die anderen Affen taten. Seine Bewegungen passten zu seiner Art zu sprechen. Er sah ständig von Seite zu Seite und machte schnelle kleine Schritte.
    „Wer dann?“, fragte Linu.
    „Der Meister, oh ja. Er hat mich geschickt.“ Er grinste breit. Linu grübelte und suchte Taals Blick. Konnte dies eine Falle sein?
    „Der Meister bittet mich und ich führe aus, jawohl“, plapperte er munter weiter.
    „Was für ein Meister ist das?“, fragte Taal.
    Mein Meister, ja? Der hier natürlich.“ Er zeigte mit einem ledrigen Zeigefinger auf einen großen Korbstuhl und tatsächlich; in mitten von Bergen an Decken, Kissen und Kleidung konnte Linu ein Affengesicht erkennen. Das Fell um den Kopf herum war komplett ergraut und als er schließlich begann sich zu bewegen und die ersten Stoffballen auf den Boden kullerten, kam ein langer weißer Bart zum Vorschein.
    „Meister Gemby!“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Anmerkung: ich habe beim letzten Kapitel noch die Worte frohlockte der Affe hinten angefügt, dass man nicht denken könnte, Linu oder Taal sprechen die Worte "Meister Gemby!"



    Rak


    Hoch oben auf einem der Ecktürme ließ Rak den Blick schweifen. Unter ihm herrschte reges Treiben. Menschen wuselten wie kleine Käfer durch die erdigen Straßen des Dorfes, Kamine rauchten und all die Geräusche mischten sich zu einem leisen, stetigen Brummen. Er sah den Weg, den sie gekommen waren, wie er sich an den Nutzfeldern der Bauern vorbeischlängelte und schließlich im Horizont verschwand. Zu beiden Seiten und hinter der Burg umrahmten Berge den Ort. Ob sie noch weit gehen mussten, bis zu dieser Akademie? Rak war wütend auf Holon, dass er ihm nur so wenige Informationen gab. Auch deshalb hatte er die Einsamkeit gesucht, nachdem er sich beruhigt hatte. Die Wendeltreppe hatte ihn so weit nach oben geführt wie es ging und die Türe zum Turm war offen gewesen. Nach einiger Zeit war ein Ritter vorbei gekommen, der die Wehrgänge patrouillierte, doch er hatte den Jungen keines Blickes gewürdigt und war einfach weiter gegangen.
    Rak seufzte, legte den Kopf auf seinen Armen in einer Zinnlücke ab und beobachtete eine Weile einen Vogel seine Kreise ziehen. Der Himmel war von einem hellen Blau, vereinzelt mit ein paar Schleierwolken belegt und die Sonne hatte ihren höchsten Punkt bereits passiert. Rak wusste nicht so recht, ob er sich auf das Bankett am Abend freuen sollte. Er war gespannt auf die Speisen, das schon, doch er war nervös wegen der anderen Gäste, mit Sicherheit alle adlige, wohlhabende und wichtige Leute. Was, wenn jemand ein Gespräch mit ihm begann? Würde er nicht sofort als Niederer erkannt werden? Normalerweise hätte er Holon gefragt, wie er in solch einem Fall reagieren sollte, doch er wollte den Mann gerade nicht sehen. Meister… so hatte der Lord ihn genannt. „Meister der Geheimnisse“, dachte Rak. Einerseits war er sehr gespannt, was ihn in diesem Orden, den Holon erwähnt hatte, erwartete, andererseits regte sich ein zorniger Trotz in ihm, ihnen die Tour zu versauen und einfach abzuhauen. Offensichtlich brachten sie ziemliche Mühen für ihn auf und dafür, dass alles genau so ablief, wie sie es sich wünschten.
    Ein neuer Gedanke kam ihm und er grinste bitter. Was, wenn sich herausstellte, dass er gar keine dieser besonderen Fähigkeiten hätte? Würde Holon ihn dann zurückschicken, ihm seinem Schicksal überlassen? Gesteinselementar… was sollte er sich darunter vorstellen? Er richtete sich auf und strich mit den Händen über die Mauer. Kalter, rauer Stein; nichts Ungewöhnliches. Verstohlen blickte er sich um, ob er auch wirklich alleine war, ging mit dem Kopf näher an die Wand heran und lauschte. Nichts… oder? Er schloss die Augen und versuchte ganz angestrengt zu hören. War da etwas wie ein Pochen, ein sanftes Pulsieren? Es klang wie Hammerschläge, doch weit entfernt und gedämpft. Ihm wehte das dunkle Haar ins Gesicht und das ungewöhnlich laute Rauschen des Windes überlagerte die Geräusche, die er zu hören glaubte. Als die Böe nachließ, konnte er auch das dumpfe Klopfen nicht mehr finden. Hatte er es sich nur eingebildet? Verwirrt wandte sich Rak von der Mauer ab und fuhr zusammen. Holon stand direkt neben ihm.
    „Und, was hast du gehört?“, fragte er gerade heraus.
    „Ich… nichts“, antwortete Rak, dessen Herz von dem Schreck laut in seinen Ohren klopfte. „Wie das Geräusch im Stein, der Herzschlag des Gemäuers“, dachte er halb im Spott.
    „Schade“, entgegnete Holon und durchbohrte ihn mit seinen blauen Augen. „Aber ich wollte dich sowieso wegen etwas anderem sehen. Es geht um deine Abendgarderobe.“
    Mit einer Handbewegung bedeutete er Rak, ihm zu folgen und drehte ab. Anstelle die Wendeltreppe hinunter zu nehmen, schritt er den Wehrgang entlang in Richtung eines der anderen Türme. Mürrisch ging Rak hinterher. Auch beim nächsten Turm stiegen sich nicht hinab, sondern bogen auf die andere Burgseite, bis Holon etwa in der Mitte stehen blieb. „Sieh hinunter.“
    Immer so geheimnisvoll…, dachte Rak und blickte ihn etwas trotzig an, bevor er zum Rand ging und hinab lugte. In Bodennähe war ein Holzgerüst aufgebaut, auf dem Arbeiter standen und an der Burgfassade werkelten. Ansonsten gab es nichts zu sehen. „Was soll hier sein?“, fragte Rak.
    „Eine Erklärung… oder nichts. Je nachdem, ob du meine erste Frage richtig beantwortet hast.“ Holon sah ihn ernst an. „Du musst an deinem Ton arbeiten, Junge. Nicht jeder ist so nachsichtig und offen wie ich.“ Während Holon langsam weiter den Gang entlang schritt, die Hände hinter dem Rücken überkreuzt, sah Rak noch einmal die steile Wand der Festung hinab. Ärgerlich darüber, dass Holon ihm dumme Rätsel stellte und er nicht verstand, worauf der Mann hinaus wollte, kniff er die Augen zusammen. „Was zum Teufel soll hier…“, er hielt inne und sah genauer hin. Einer der Arbeiter schwang in langsamem Tempo immer wieder etwas Großes gegen die Mauer. Klopfen, wie von einem Hammer, erinnerte sich Rak an seine eigenen Gedanken. Der leise Ton, der über die Luft zu ihm nach oben drang, klang aber anders. Er war viel leiser und ohne diese Intensität, das Vibrierende und Pulsierende, das er vorher gemeint hatte, wahrzunehmen. Er sah zu Holon, der ihm weiter den Rücken zu gedreht hatte und sich mit langsamen Schritten entfernte. Eilig legte Rak sein Ohr auf den kalten Stein. Dieses Mal brauchte er nicht zu suchen. Sofort erfüllte ihn der dumpfe Klang und die Vibration kitzelte ihn im Gehörgang. Erstaunt wich er zurück und sah instinktiv zu Holon. Die Geräusche waren echt, nicht bloß eine Einbildung. Natürlich wusste er, dass man durch Wände hindurch hören konnte. Immerhin hatte er unzählige Male gelauscht, wenn seine Eltern geheime Dinge besprachen oder die anderen Jugendlichen heimlich etwas ausheckten, doch das hier war anders. Er konnte Laute im Gemäuer hören und das sogar auf der ganz anderen Seite der Burg. Holon war stehen geblieben und blickte Rak mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht an. Dann legte er den Kopf schief und öffnete die Handflächen in Raks Richtung als wollte er sagen: „Siehst du?“
    Sie gingen ein Stück schweigend nebeneinander her. „Frag ruhig“, sagte Holon schließlich. In der Tat hatte Rak schon einige Momente an der Formulierung, wie er die Frage stellen sollte, gefeilt. „Die Steine“, setzte er an, „sind sie lebendig?“
    „Alles ist lebendig, Rak“, antwortete Holon. „Man muss nur lernen zuzuhören.“
    „Ist das, was ein Gesteinselementar macht? Den Steinen zuhören? Lauschen und Spionieren?“
    Holon lachte leise. „Das, mein Junge, ist nur der Anfang. Wenn du gelernt hast, ihnen zuzuhören, wirst du lernen mit ihnen zu sprechen und wenn du geschafft hast, dass sie dir zuhören, wirst du lernen sie zu lenken und zu formen. Sie werden deine treuen Verbündeten, deine Waffe und dein Schutz.“
    Aufmerksam hörte Rak zu. Endlich erfuhr er etwas! „Und wie lange dauert es, bis man das schafft?“
    Holon lächelte matt. „Dein ganzes Leben.“


    Als die Zeit für das Bankett gekommen war, war Raks Laune deutlich besser. Holon hatte ihm ein wenig preisgegeben und er hatte endlich etwas gefunden, das bewies, dass er hier nicht nur in einen schlechten Scherz hinein geraten war. Während ihm seine neuen Kleider präsentiert wurden, war er zusehends unruhig geworden, denn zu gern wollte er durch die Burg streifen und das frisch erworbene Wissen testen. Holon hatte seine Ungeduld mit einem amüsierten Schmunzeln kommentiert und nachdem man dem Jungen gezeigt hatte, wie er was anzuziehen hatte und die letzten Anpassungen festgesteckt worden waren, entließ er ihn auf Erkundungstour.
    „Kurz bevor die Sonne untergeht, wirst du angekleidet sein und in deinem Gemach abgeholt“, hatte Holon nur noch angemerkt und schon war Rak durch die Gänge geflitzt und hatte mal hier, mal dort an Wänden, Fußböden, Säulen und Skulpturen gelauscht. Nicht immer hatte er etwas hören können, doch jedes kleine Klopfen, Summen, Kratzen oder Knacken war dadurch umso mehr ein ganz besonderes Erfolgserlebnis. Es war wie eine Schatzsuche. Fast ein wenig widerwillig war er schließlich in sein Gemach zurück gekehrt und hatte die teure Kleidung angelegt. Damit sah er beinahe aus, wie die feinen Töchter und Söhne aus König Warkas‘ Hof, die er sein Leben lang beneidet hatte. Das Hemd war aus viel feinerem Stoff gewebt als seines und das erste Mal trug er andere Farben als grau, beige oder braun. Abgeholt hatte ihn die Dienerin, die ihn auch schon zum Abendmahl mit Holon geleitet hatte, doch sie führte ihn nicht in denselben Saal, sondern ein wenig weiter ins Burginnere und Rak spürte, wie sein Mund aufklappte. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er niemals geglaubt, sich noch im Innern der Burg zu befinden. Der Saal war riesig und mindestens drei Mal so hoch wie sein Schlafgemach. Er musste sich über mehrere Stockwerke erstrecken. Überall brannten Fackeln und in der Mitte hing ein gigantischer metallener Kronleuchter, bestückt mit einer Armee von Kerzen. Mehrere Reihen von Bänken standen senkrecht zu einem erhöhtem Tisch an der Stirnseite, der des Lords Tafel sein musste und alles war feierlich eingedeckt. Panisch griff Rak an seine Hüfte, doch er hatte das Messer, das Holon ihm geschenkt hatte, zum Glück mitgenommen.
    Sein Platz befand sich an einer der äußeren Reihen, etwa im vorderen Drittel. Nach und nach füllte sich der Saal und Holon setzte sich neben ihn. „Sie erlauben, mein Herr“, sagte er zwinkernd, bevor er sich hinsetzte und Rak merkte, wie er rot wurde. Das Gemurmel wurde stetig lauter und mit einer Mischung aus Neugierde und Schüchternheit sah Rak sich im Saal um. Es war eine bunte Zusammenstellung aus Mann und Frau, jung und alt und er war sehr froh, dass man ihm neue Kleidung organisiert hatte. Einer war hier edler gekleidet als der nächste. Schließlich betrat auch Lord Sarkis den Raum und augenblicklich nahm der Geräuschpegel ab. Begleitet von einem Ritter schritt er zu seinem Platz ganz in der Mitte und hob seinen Kelch zum Gruß, bevor er sich setzte. Mit lauter Stimme richtete er Worte des Willkommens an seine Gäste, aber Rak hörte nicht einen Ton von dem, was er sagte. Er hatte nur Augen für den Ritter, der sich schräg hinter dem großen Stuhl des Lords postiert hatte und ernst den Blick über die Menge schweifen ließ. Bei Rak angekommen, hielt er kurz inne. Das Herz des Jungen schlug wie wild und er begann zu schwitzen. Er konnte nicht aufhören wie versteinert in das dunkle Gesicht von Sir Kartoff zu starren.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Triborin


    Dass Vesperion so etwas wie den Vorgarten von Mildir darstellte, war überall bekannt, auch, wenn es kaum jemand laut aussprach. König Krinkar fraß Sinklar aus der Hand. Aber dass albische Truppen in Vesperion stationiert waren und in Belange der Westmänner eingriffen, waren Neuigkeiten für Triborin und es gab mit Sicherheit einige Personen auf diesem Kontinent, die diese Information nicht stillschweigend aufnehmen würden. „Und scheinbar versuchen sie sogar, Lacharys zu infiltrieren“, dachte er. Konnte es ein Zufall sein, dass er in so kurzer Zeit ein und dieselbe Albe in zwei unterschiedlichen Ländern traf?
    „Ruhig“, flüsterte er seinem Pferd zu, dass er Gott sei Dank unversehrt an Ort und Stelle vorgefunden hatte. Er führte es an den Zügeln nach hinten hinaus, in der Hoffnung, er würde nicht bereits erwartet. Liena hatte ihn gesehen. Hatte sie gewusst, dass er da war? Hatte sie ihn vielleicht wirklich seit Kaachor verfolgt? Unmöglich hätte sie mit ihm mithalten können, ohne aufzufallen. Er war lange Strecken geritten und in hohem Tempo. Andererseits war er stets der großen Straße gefolgt. Es wäre nicht nötig gewesen, dass sie ihn die ganze Zeit im Blick hatte.
    Sanft lenkte er sein treues Ross in eine kleine Seitengasse, in deren Richtung er den schnellsten Weg aus der Ortschaft vermutete. „Sobald wir fern der Siedlungsstraßen sind, reiten wir“, sagte er halb zu dem Tier, halb zu sich selbst. Das Kopfsteinpflaster zwischen den engstehenden Häusern würde zu viel Lärm verursachen.
    „Nicht diesen Weg, schwarzer Reiter“, ertönte eine Stimme von hinten.
    Triborin erstarrte. Liena…
    „Auf dieser Seite ist die Siedlung umstellt. Besser Ihr kommt mit mir.“
    „Wieso sollte ich Euch vertrauen?“, sagte er und drehte sich um.
    „Hm“, sie zuckte mit den Schultern. „Mir fällt kein Grund ein. Ihr könntet nachsehen, ob ich Recht habe, doch dann braucht Ihr keine Hilfe mehr. Eure Entscheidung.“
    „Warum helft Ihr mir?“
    „Unerheblich. Folgt mir oder folgt mir nicht.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Gasse.
    Was nun? Triborin wägte im Eiltempo seine Optionen ab. Wenn sie ihn in eine Falle führte? Immerhin hatte er sie gerade noch in einer Gruppe anderer Alben gesehen. Lüge ist des Alben Sprache, Verrat liegt ihm im Blut.
    Mit erzwungener Entschlossenheit folgte er weiter der Gasse, in die er eingebogen war. Vielleicht hatte sie Recht und eine Horde Ritter erwartete ihn vor dem Ort. Das wäre immer noch besser, als sich freiwillig in das listige Netz der Alben zu begeben. Sich auszumalen, welcher Status ihm verliehen würde, wenn diese Nachricht in seine Heimat gelangte… Die Mission des Leibgardisten Triborin Tochar endete in albischer Gefangenschaft. In Xarchavas bräuchte er sich in diesem Fall nie wieder blicken lassen.
    Die Gasse mündete auf eine etwas größere Straße und Triborin hielt kurz inne und spähte vorsichtig um das Eck. Nichts; die Luft war rein, also führte er sein Pferd hinaus. Es war äußerst still, selbst von dem Tumult auf der anderen Seite des Gasthofes drangen kaum Geräusche herüber. Ob diese Ruhe ein gutes oder schlechtes Zeichen war, vermochte er nicht zu sagen und es würde das Beste sein, diesen Ort so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Ein wenig ärgerte er sich über die Wahl der Straße. Es gab unzählige Abzweigungen, die aufgrund ihrer Enge teilweise nicht einsehbar waren, während man von dort wahrscheinlich einen guten Blick hinaus hatte. Sein Pferd schnaubte leise und drehte die Ohren leicht nach außen. Es hatte etwas gehört. Triborin schärfte alle Sinne auf das Höchste. Ja, er nahm etwas wahr und spürte ein Kribbeln, das ihm die Nackenhaare aufstellte; hinter ihm war ein Mann aus dem Schatten geschlichen. Ruhig wartete er ab, ließ ihn in dem Glauben, er sei unbemerkt. Noch ein wenig näher… jetzt! In einer Bewegung fuhr Triborin herum, zog sein Schwert und schnitt dem Mann die Kehle auf. Er schwang sich auf sein Ross und gab ihm die Sporen. Das war ein Hinterhalt. Weitere Männer drangen aus den Seitengassen und Triborin feuerte mehrmals lautlos seine Armbrust, darauf bedacht, vor allem die Speerträger auszuschalten, bevor ihm eines der Wurfgeschosse im Rücken steckte. Mit den Vorderhufen streckte sein Pferd zwei Soldaten nieder, die mutig genug gewesen waren, in seinen Weg zu laufen. Er ritt nun fast im Galopp durch die enge Straße. Auf keinen Fall durfte er zulassen, dass sie sein Pferd erwischten. Es war nicht nur seine Lebensversicherung, es war ihm auch ein treuer Freund geworden, also stob er an den heraneilenden Männern vorbei, bis er einen Bereich erreichte, in dem die Straße weniger Zuwege hatte und eine scharfe Kurve nahm. Die Angreifer hatte er ein gutes Stück abgehängt. In hohem Tempo fegte er um die Kurve und riss die Zügel hart nach hinten. Hinter der Biegung konnte er den Ortsausgang sehen. Und auch all die kleinen Lichtpunkte, die jenseits davon in der Luft tanzten. Fackeln… Das war nicht bloß eine Horde Ritter, hier wartete ein ganzes Heer. Das Pferd trippelte auf der Stelle, während Triborin weiter die Zügel fest gepackt hatte und in die Nacht spähte, auf das, was ihn vor den Toren der Siedlung erwarten würde. Sie würden ihn töten oder gefangen nehmen und beides würde reichen, Lacharys den Krieg zu erklären, zumal die Alben ihre Finger im Spiel hatten. Lord Xyrius‘ Abwesenheit bei der großen Ratssitzung und ein mordender Irrer aus seiner persönlichen Leibgarde wären genug für Lord Sinklar, die anderen Herrscher von der Notwendigkeit zu überzeugen, gegen die Dunkelelfen vorzugehen. Und lauerten sie nicht schon lange darauf, ihre nördlichen Nachbarn dran zu kriegen? Das durfte auf keinen Fall passieren. Mit einem letzten Blick auf den Ortsausgang, drehte er ab, um den Weg zurück zu nehmen. Er würde ein paar weitere Tote in Kauf nehmen müssen, doch er konnte es schaffen. Im Trab bog er um die Kurve, um anschließend wieder in den Galopp zu beschleunigen, doch dazu kam er nicht. Die Männer hatten sich formiert und erwarteten ihn in einem Halbkreis, geschützt mit Schildern und Speere wie Schwerter bereit zum Angriff. Schnell analysierte Triborin die Situation. Es gab keine Schützen auf den Dächern, doch ihre Formation war strategisch klug gewählt. Einfach durchzubrechen war kaum möglich und doch musste er es versuchen. Seitlich, in der Nähe der Häuser, waren sie schwächer besetzt, dort würde er hineinreiten. Mit einer Hand packte er die Zügel neu, mit der anderen hob er das Krummschwert an. „Lauf mein Freund, so schnell du kannst“, murmelte er und trieb das Ross an. Die Menschen reagierten sofort. Triborin wich einem Speer von links aus, während der zweite Werfer mit seiner Waffe in der Hand und einem kleinen Pfeil im Hals zu Boden ging. Mit dem Fuß trat er gegen einzelne Schilder, um die Männer aus dem Gleichgewicht zu bringen und sein Schwert klirrte gegen gegnerische Waffen und glitt dann und wann ohne großen Wiederstand durch eine Kehle. Im Augenwinkel sah Triborin, wie sie versuchten den Kreis zu schließen, um ihn von beiden Seiten gleichzeitig attackieren zu können. Er musste durchbrechen, bevor es dazu kam. „Lauf Junge, lauf!“, flehte er. Das Ende der Reihen schien in immer weitere Ferne zu rücken, sein linkes Bein schmerzte, wo ein feindliches Schwerter das Leder durchdrungen hatte und ein Wiehern verriet ihm, das auch sein Ross bereits getroffen worden war. Wie in Zeitlupe sah er, dass ein Krieger weiter rechts einen Speer anhob und mit einem kraftvollen Schwung in seine Richtung schleuderte. Er würde genau die Brust seines Pferds treffen und es zu Fall bringen. In Gedanken schon bei seinem harten Aufprall auf dem Boden, nahm Triborin nur undeutlich war, wie zwei Pfeile einschlugen; einer durchbohrte den Hals des Speerwerfers und einer den Schaft seines Geschosses. Das Pferd fiel nicht, Triborin ritt weiter. Neue Pfeile flogen in die Menge und lichteten seinen Weg, sodass der Dunkelelf die Barrikade der Menschen überwinden konnte. Kaum merklich landete jemand hinter ihm auf dem Pferd.
    „Törichter Elf! Ihr seid wahrlich so dumm und arrogant wie Euer Ruf verspricht!“, zischte ihm Liena ins Ohr. „Hier entlang!“
    Sie führte ihn wieder tiefer in den Ortskern und Triborin gehorchte stillschweigend, noch zu aufgewühlt, um zu antworten, geschweige denn, zu widersprechen.
    Die Albe stieß ein trillerndes Pfeifen aus und eine cremefarbene Stute erschien zwischen zwei Häusern. Liena sprang elegant auf ihren Rücken. Selbst in der grauen Düsternis der unbeleuchteten Gasse strahlten ihre Augen hell. Kurz sah sie Triborin wütend an, dann flüsterte sie ihrem Pferd etwas zu, worauf es in einen schnellen Trab verfiel. Vereinzelt drangen noch Geräusche des Tumults aus der Ortschaft, doch je weiter sie sich entfernten, desto leiser wurden sie und bald beschleunigte die Albe ihre Stute. Niemand schien ihnen zu folgen. Der Häuserbestand wurde dünner und schließlich fanden sie sich auf Feldern und Heuwiesen wieder, ohne einer einzigen weiteren Menschenseele begegnet zu sein.
    Triborins Kopf rauschte. Liena hatte ihm die Wahrheit gesagt gehabt. Der Ort war im Süden umstellt. Wie hatten sie so schnell herausfinden können, dass er für die Morde vor ein paar Tagen verantwortlich war? Wie hatte die Mobilmachung so zügig von Statten gehen können? Konnte er der Albe wirklich vertrauen? Fragen über Fragen prasselten auf seinen Kopf ein und er fühlte sich ausgezehrt und schmutzig. Der Hauch des Todes haftete ihm noch an, das Blut unzähliger Menschen klebte an seinem Schwert, das er noch immer verkrampft in der Hand hielt und sein Bein pochte in dumpfem Schmerz.
    Triborin kontrollierte die Position des Mondes. Sie bewegten sich nach Westen. Nach einer Weile des stillen Trabens schloss er zu Liena auf.
    „Wohin reiten wir?“, fragte er leise. „Ich muss nach Süden.“
    „Das geht nicht“, antwortete sie knapp. „Wir reiten nach Mildir.“
    „Was?“, entfuhr es dem Dunkelelfen und Liena blickte ihn ernst an.
    „Ihr habt gesehen, was vor dem Ort los war! Könnt Ihr Euch vorstellen, wie die Grenze aussieht?“
    „Und die Grenze zu Mildir wird besser sein?“, entgegnete Triborin.
    „Wir werden nicht die Straße nehmen.“
    „Ihr werdet mich in Euer eigenes Land schmuggeln?“
    Sie antwortete nicht darauf und sah wieder starr noch vorne.
    „Wieso?“, bohrte Triborin weiter, da fiel ihm plötzlich etwas anderes ein. „Woher wisst Ihr, dass ich die Grenze überqueren möchte?“
    „Das ist nicht wichtig.“
    „Für mich ist es wichtig!“, drängte er. „Woher wisst Ihr das alles? Warum wart Ihr in Kaachor? Für wen arbeitet Ihr?“
    „Ich sagte, das ist nicht wichtig!“
    Wut mischte sich in Lienas Ton. „Ohne mich wärt Ihr jetzt vielleicht schon tot oder schlimmer, ein Gefangener der Westmänner. Was würde Euer Lord mit Euch anstellen, frage ich mich, wenn sie Euch irgendwann auslieferten? Wäre es da nicht besser, sie töteten Euch gleich?“ Herausfordernd sah sie ihn an. „Spart Euch den Atem und behaltet Eure Fragen. Ich bin Euch nichts schuldig.“
    Triborin wollte zu einer Antwort ansetzen, überlegte sich es aber anders. Sie würde ihm keine seiner Fragen beantworten und so sehr es sich einzugestehen auch schmerzte und an seinem Stolz nagte, er schuldete ihr mindestens seine Freiheit.
    „Wenn Ihr alleine losziehen wollt, bitte. Reitet nach Süden und Ihr werdet erneut sehen, dass ich Recht habe. Dieses Mal werde ich aber nicht zu Eurer Rettung eilen.“
    „Schon gut!“, sagt Triborin genervt. „Ich habe verstanden.“
    „Das ging ja schnell“, stichelte Liena weiter, doch der Elf war schlau genug, nicht mehr zu reagieren.


    „Wir rasten hier.“ Liena hielt in einer kleinen Senke, in der es einen Bach und ein paar krumme Laubbäumchen gab. Die Dämmerung kroch bereits über das Land. „Wir müssen das Bein Eures Pferdes versorgen.“
    Sie hatte Recht. Von Meile zu Meile war sein Ross unrunder gelaufen und er hatte immer wieder beruhigend dessen Hals getätschelt. Mit einem angefeuchteten Lappen reinigte der Elf die Wunde. Es war ein großer, dafür zum Glück nicht sehr tiefer Schnitt im Unterschenkel, oberhalb des Sprunggelenks. Liena trat neben ihn. „Darf ich?“, fragte sie und er nickte, sah dabei zu, wie sie Kräuter, die er noch nie zuvor gesehen hatte, auf die Wunde gab.
    „Die Vladisir werden das Fleisch reinigen und Entzündungen vorbeugen“, erklärte sie. „Und jetzt Ihr.“
    „Was?“, Triborin verstand nicht.
    „Euer Bein; es ist ebenfalls verletzt. Setzt Euch.“
    Fast hätte er den Schnitt vergessen, doch als sie es aussprach, setzte der Schmerz wieder ein und so ließ er die Albe nachsehen.
    Er sah zu, wie sie das Blut abwusch, die ganze Stelle vom Schmutz befreite und schließlich auch seine Wunde mit den geheimnisvollen Kräutern behandelte, die noch nicht einmal brannten. Ihr Haar fiel ihr halb vor das Gesicht, als sie sich über das Bein beugte und ihre Handgriffe waren geschickt und sanft. Urplötzlich wurde ihm bewusst, dass er die Frau regelrecht anstarrte und schnell sah er weg. Ihr Abbild aber verblieb vor seinem inneren Auge.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Linu


    Also stimmten Mins Geschichten. Sie waren Gäste im Heim von Gemby, dem Abenteurer, dem Affen, der die Welt erkunden wollte. Neugierig musterte Linu den alten Mann, während sie aßen. Auf dem runden Tisch standen nun hölzerne Schalen und Bretter mit verschiedenen Speisen, die Fekky, der junge Affe, auf Geheiß seines Meisters aus einer kleinen Höhlennische geholt hatte. Viele Wörter hatten sie mit ihrem Gastgeber noch nicht gewechselt. Er hatte sich mühevoll aus dem reich gepolsterten Korbstuhl gekämpft und ohne all die Decken und Kissen war er viel kleiner als erwartet.
    „Kinder, Kinder! Wie schön!“, hatte er ausgerufen, als wäre es das normalste der Welt, dass sie ihn heute besuchten und die Jugend seiner Stimme schuf einen großen Kontrast zu seinem Aussehen. „Ihr seid bestimmt hungrig, nicht?“ Die Worte waren Musik in Linus Ohren gewesen, doch nun, da sie langsam gesättigt war, traten andere Gedanken in den Vordergrund. Sie hatte so viele Fragen. Gemby hingegen schien sich nicht weiter zu interessieren, wer sie waren und warum sie hergekommen waren. Genüsslich und langsam aß er von den verschiedenen Platten, schmatzte laut und summte zwischendurch fröhliche Melodien. Wann immer er den Blick von Linu oder Taal traf, lächelte er und deutete auf eine der Speisen, um sie zu einem Nachschlag zu motivieren. Er hatte den Kopf stets nach unten geneigt und musste mit den Augen nach oben schielen, um jemanden anzusehen, ganz so, als spähe er unter etwas hindurch.
    „Meister Gemby?“, setzte Linu irgendwann an, als die Mahlzeit sich in die Ewigkeit zu ziehen schien. „Ihr scheint gewusst zu haben, dass wir kommen. Woher?“
    „Gesehen habe ich es, ist doch klar“, sagte er fröhlich und gestikulierte in die Richtung des Höhleneingangs. „Hoch über den Bäumen schweben sie!“, bestätigte Fekky eifrig.
    „Wir sind nicht ohne Grund hier“, sagte Taal.
    „Nein. Ihr sucht etwas, nicht wahr?“ Gembys wässrige blaue Augen ruhten auf dem Jungen. „Ihr seid jung und ungeduldig, das spüre ich ganz deutlich. Zuerst müsst ihr lernen abzuwarten.“
    Linu und Taal wechselten einen Blick. „Großvater Min“, fuhr die Aviare fort, ohne auf Gembys Worte einzugehen, „kanntet ihr ihn?“
    „Min?“, er versank einen Augenblick in Gedanken. „Vielleicht kannte ich ihn, ja… aber vielleicht auch nicht. Ich erinnere mich nicht richtig.“ Linu atmete schwer. So hatte sie dich das nicht vorgestellt. Falls es Meister Gemby wirklich gab, so hatte sie gedacht, und sie ihn gefunden hätten, würden endlich all die Fragen beantwortet und sie würden wundersame Dinge über Caertol, die Menschenaffen und ihr eigenes Volk erfahren. Den alten Affen hatten sie gefunden, doch er war merkwürdig, schien verwirrt und vergesslich und es war anstrengend, sich mit ihm zu unterhalten.
    „Fekky“, wandte er sich an den jungen Affen, „ich muss jetzt ruhen. Morgen ist ein aufregender Tag!“ Er zwinkerte Linu und Taal vielsagend zu.
    „Was ist denn morgen?“, fragte die Aviare verwirrt.
    „Na morgen gehen wir auf Forschungsreise!“ Freudig klatschte er in die Hände, dann ließ er sich von Fekky helfen und begab sich ohne weitere Erklärungen zu Bett.
    „Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Linu ihren Freund.
    „Wir warten auf Morgen. Sei nicht verzweifelt Linu, sieh, was wir erreicht haben. Der Mann ist wahrscheinlich einfach nur sehr alt. Lass und sehen, was er uns morgen zeigt.“
    „Morgen, ja. Jetzt müsst ihr schlafen!“ Fekky war wieder zu ihnen hinüber gekommen. „Kommt mit, ich zeige euch euren Platz.“
    An der Höhlenwand fanden sie eine provisorische Bettstatt aus einfachen Flechtmatten und ein paar Decken und Kissen und dennoch hätte sich Linu nach der anstrengenden Reise kaum etwas Gemütlicheres vorstellen können. Taal hatte Recht, sie mussten abwarten.
    „Schlaft gut, kleine Vögel“, sagte Fekky und kicherte wild über den Spitznamen, den er ihnen gegeben hatte. „Ich muss gehen.“
    „Schläfst du nicht hier bei uns?“, fragte Taal, dem der nervöse Kerl leid zu tun schien.
    „Nein, nie! Ich habe ein eigenes Zuhause, dort draußen.“ Er wies in Richtung des Höhleneingangs. „Aber morgen komme ich wieder, keine Sorge, ja?“


    [Platzhalter 2: Kapitel wird noch fertiggestellt.]


    Rak


    Das Herz klopfte so wild, dass er meinte, es müsste ihm jeden Augenblick aus der Brust springen. Er sah zu Holon, der dies zu bemerken schien und den Kopf drehte. Sein Ausdruck deutete die Frage an, ob alles in Ordnung sei. Entweder hatte er den Ritter nicht bemerkt oder nicht erkannt. Konnte Lord Sarkis schon wissen, dass er einen verurteilten Verbrecher in seiner Burg beherbergte? Unruhig rutschte Rak auf seinem Stuhl hin und her und Holon legte ihm eine Hand auf die Schulter. Vermutlich dachte er, seine Nervosität wäre des Banketts wegen. Rufe hallten durch den Saal so laut und plötzlich, dass Rak zusammen zuckte. Der Lord hatte seine Rede beendet und die Gäste hoben ihrerseits die Kelche zum Gruß. „Rak, was ist?“, fragte Holon im Schutz der Geräuschkulisse. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
    Der Junge schluckte. „Siehst du den Ritter hinter Lord Sarkis? Ich kenne ihn. Er ist aus Krinkgard und der Leibwächter der Cousine des Prinzen.“
    Holon kniff die Augen zusammen. „Sir Kartoff?“ Der Ausdruck des Begreifens erfüllte sein Gesicht und er lachte. „Nein, nein! Sir Kartoff ist ein treuer Ritter unseres Lords.“
    „Das kann nicht sein!“, entgegnete Rak. „Seit ich denken kann, ist er der Begleiter von Klara!“
    „Du musst lernen, dass nicht immer alles ist, wie es scheint.“ Rak wartete auf mehr, doch Holon blieb still. Fragen brannten ihm auf der Seele, doch Holon schüttelte den Kopf. Die gute Laune des Nachmittags verflog. Wieso sagte ihm eigentlich nie jemand, was Sache war?
    Diener beluden die Tische mit Speisen, bis sie ächzten und jeder begann eifrig sich zu bedienen, nachdem der Lord das Mahl für eröffnet erklärt hatte. Misstrauisch blickte Rak zu Sir Kartoff, der wie eine Statue hinter der hohen Tafel stand. Der Hunger war ihm vergangen. An seiner statt hatte sich ein Knoten des Unbehagens in seinem Magen breit gemacht und widerwillig musste er sich eingestehen, dass er sich fürchtete. Halbherzig nahm er ein paar Bissen der Vorspeise und ließ sich stattdessen zum zweiten Mal nachschenken. Zu dem feinen Anlass wurde nicht das dickflüssige Bier gereicht, dass er tags zuvor bekommen hatte, sondern feiner, süßlicher Wein, etwas, wovon er noch nie in seinem Leben hatte kosten können. Schnell wurde ihm etwas schwummrig, aber das war ihm egal. Immerhin konnte dies sein letzter freier Abend sein, wenn der Ritter Lord Sarkis die Wahrheit erzählte.
    Das Bankett zog sich in die Länge. Mehrfach nahm man sich Nachschlag, es wurde viel gesprochen, getrunken und gelacht und auch Holon war in eine Unterhaltung vertieft, sodass Rak nicht viel übrig blieb, als sich im Saal umzusehen und mit seinem Messer zu spielen. Der Wein machte ihn müde, ebenso die Wärme und die schweren Düfte des Raumes. Das Gemurmel stieg zu einem allumgebenden Brummen an und Rak wurden die Lider schwer. Vereinzelt drangen Gesprächsfetzen in sein umnebeltes Bewusstsein vor und der Junge konnte kaum entscheiden, ob er die Wörter wirklich hörte oder ob er bereits träumte.
    Südgrenze überwacht… Nein, nein, der König… Noch Wein?... Schon immer… die Alben… Seine Lordschaft?... Gelächter schwoll an und verebbte… auch im Westen… nichts anderes verdient! … wissen wir nicht… „Rak?“ Von weiter Ferne erreichte Holons Stimme sein Bewusstsein. Er stupste ihn an. „Hey! Bist du eingeschlafen? Der Wein bekommt dir wohl nicht gut.“
    Müde sah Rak den Mann an, dessen Gesicht verschwommen neben ihm wankte. Ihm war sehr schwindelig. „Der Nachtisch kommt gleich und danach kannst du zu Bett, wenn du möchtest.“
    Schwach nickte der Junge und setzte sich aufrechter auf seinen Stuhl. Er erinnerte sich an Sir Kartoff und sah schnell hoch zu Tafel. Der Platz hinter dem Lord war leer. Hektisch blickte sich Rak in alle Richtungen um, aber er konnte den Mann nirgends sehen. „Mach dich nicht verrückt, vielleicht hat er sich irgendwo zu einem Gespräch nieder gelassen“, versuchte er sich selbst zu beruhigen.


    Der nächste Morgen begann für Rak mit schrecklichen Kopfschmerzen, als er früh von der Dienerin geweckt wurde. Sein Gemach lag noch im Dunkeln, die Sonne war noch nicht aufgegangen. Dankbar nahm er den Kelch mit Wasser entgegen, denn er war außerordentlich durstig. Bier, so stellte er fest, war ihm wesentlich lieber als Wein.
    Holon wartete mit den Pferden bereits vor der Burg und er war nicht allein. Auf einem gewaltigen grauen Streitross thronte Sir Kartoff in voller Rüstung. Rak blieb an Ort und Stelle stehen. War der Plan geändert worden? Würde er statt zu der geheimnisvollen Akademie zurück nach Krinkgard eskortiert, um seinen Prozess zu erhalten?
    „Rak, komm schon“, drängte Holon. „Sir Kartoff wurde von Lord Sarkis beauftragt, uns zur Akademie zu geleiten. Was ist nur los mit dir?“
    Langsam ging der Junge in Richtung von Willi, dem gutmütigen kleinen Pferd und ließ den Ritter dabei nicht aus den Augen, der ihn seinerseits nicht eines Blickes würdigte, sondern still in die Ferne blickte. Rak wurde bewusst, dass er den Mann noch nie ein Wort hatte sagen hören. Er saß auf. Ob Willi ihm gehorchen würde, wenn er versuchte, abzuhauen? Fast musste er lachen. Das kräftige Ross von Sir Kartoff war fast doppelt so groß. Er würde ihn wahrscheinlich im Trab einholen.
    „Dann los“, sagt Holon und sein Pferd setzte sich in Bewegung, doch nicht in Richtung des Dorfes, sondern an der Burg vorbei auf das Gebirge zu. Willi folgte dem braunen Tier von Holon ohne, dass Rak etwas tun brauchte und Sir Kartoff bildete die Nachhut. Hinter der Festung tauchte kaum sichtbar ein kleiner Pfad auf, der zwischen zwei mächtigen Felswänden in die Berge führte. „Wir werden nicht lange brauchen“, sagte Holon zu Rak. „Ein halber Tagesritt vielleicht, wenn die Pferde den Aufstieg ohne Pause schaffen.“ Erleichterung machte sich in Rak breit. Nach Krinkgard wurde er nicht gebracht, so viel war sicher.
    Der Weg ging zuerst schnurstracks gerade aus. Zu beiden Seiten ragten hoch und steil die Felsen auf. Nach einigen Metern folgte eine scharfe Kurve und fortan bewegten sie sich in Schlangenlinien hinauf. Schon bald waren sie höher als die vordersten Gipfel und ein traumhafter Blick auf das erwachende Land bot sich ihnen, als die Sonne sich direkt gegenüber langsam aus ihrem Bett erhob.
    Rak vermochte weder zu sagen, wie lange sie geritten waren, noch wie weit oben sie sich befanden, als er den Rauch bemerkte. Mehrere Qualmfahnen strebten in den Himmel und hinter der nächsten Biegung kamen die Gebäude in Sicht. Umringt von kleineren und größeren Erhebungen erstreckten sich flache Steinbauten zu beiden Seiten. Nie hätte er hier oben in den Bergen Behausungen vermutet. Er hatte sich immer vorgestellt, die Gebirge beständen aus spitzen Gipfeln und tiefen Schluchten, und nicht, dass dort Platz für ganze Häuser war.
    „Willkommen in der Akademie der Elemente und dem Sitz unseres Ordens“, verkündete Holon feierlich und führte sie zu den Stallungen, in denen einige Pferde und Maultiere dösten. „Dies wird von jetzt an dein Zuhause sein, Rak. Du wirst hier schlafen, essen und lernen. Keine Sorge“, fügte er lächelnd hinzu, „hier gibt es auch andere Jungen und Mädchen.“
    Raks misstrauischer Gesichtsausdruck galt allerdings weiterhin dem stummen Ritter, der klirrend von seinem hohen Ross sprang und es in eine besonders große Box führte. Holon seufzte. „In Ordnung, Rak, ich erkläre es dir.“ Er nickte dem großen Ritter zu und führte den Jungen aus dem Stall und in Richtung der anderen Gebäude. Er bedeutete Rak auf einer kleinen Bank vor dem Eingang Platz zu nehmen. „Du brauchst keine Angst wegen dem Ritter zu haben. Sir Kartoff war seit Jahren der Leibwächter des Prinzen Cousine, das ist richtig, doch nicht das Mädchen war der Grund, warum er nach Krinkgard kam. Du warst es. Der Mann hat dein ganzes Leben lang über dich gewacht und dich beobachtet.“
    Rak zog ungläubig die Augenbrauen zusammen. „Du kannst mir vertrauen. Warum glaubst du, hat er nicht eingegriffen, als ich dich vom Ort des Geschehens wegzerrte, während die anderen Ritter, die Prinzessin hinfort schafften? Denkst du, es war Zufall, dass ich genau an diesem Tag zugegen war?“
    „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, stellte Rak fest.
    „Seit deiner Geburt hat der Signalstein Impulse ausgesandt, mal stärker, mal schwächer, also hat Lord Sarkis einen getreuen Untergebenen nach Burg Kalkstein geschickt, um das Kind zu finden, das der Auslöser ist. Unter dem Vorwand, als Leibwächter der heranwachsenden Cousine zu dienen, hat Sir Kartoff sich eine Stellung in der Hauptstadt beschafft, dich ausfindig gemacht und über dich gewacht.“
    „Und warum wurde ich dann gerade jetzt weggeholt und nicht schon vor einem Jahr oder vor zwei?“
    „Weil die Zeit jetzt reif ist und du das passende Alter hast, in die Geheimnisse der Elementarmagie eingeführt zu werden.“
    Rak versuchte das Gehörte zu verarbeiten, als Sir Kartoff aus dem Stall trat und kurz in ihre Richtung sah. In seinem Blick lag derselbe Ernst und dasselbe Pflichtbewusstsein, mit dem er Tag ein Tag aus scheinbar nicht nur die Umgebung von Klara, sondern auch die seine nach potentiellen Gefahren abgesucht hatte. Kaum merklich nickte der Ritter, dann machte er auf dem Absatz kehrt und schritt zu einem anderen Gebäude.


    Triborin


    Die Rast brachte Entspannung, nicht nur für den Körper, vor allem auch für Geist und Stimmung. Irgendwo in der Nähe mussten Kräuter wachsen, denn ein angenehmer Duft lag in der Luft und die Pferde konnten ausführlich grasen. Auch Triborin und Liena stärkten sich und der Dunkelelf wusch sich gründlich in dem kleinen Bach. Nach ein wenig Schlaf fühlte er sich wie neugeboren und nahm den kleinen Tonbecher mit heißem Tee dankbar von ihr an. Die Verletzung seines Pferds und auch die seine waren ungewöhnlich gut verheilt und so konnten sie schnell wieder aufbrechen.
    Sie sprachen nicht viel, doch wenn, ging es weniger um Aufträge und Ziele, um Geheimnisse und Sticheleien, sondern um alltäglichere Dinge. Nahrung, Natur und Wetter, die eigenen Vorlieben und Geschmäcker und Anekdoten und Geschichten. Immer wieder ertappte sich Triborin dabei, wie er anfing, die Zeit zu genießen und weniger über die äußerst kritische Situation nachdachte, aus der er knapp entkommen war und die trotzdem noch gefährliche Wellen schlagen konnte. Entweder wählte Liena ihren Weg äußerst durchdacht, oder in diesem Bereich des Königreiches gab es nicht viel, denn sie waren seither an keiner Menschenseele und an keiner Ortschaft vorbei gekommen. Triborin sollte das nur Recht sein. Seiner guten Stimmung zum Trotz, drängte sich von Zeit zu Zeit der Gedanke in sein Bewusstsein, dass er noch immer einen wichtigen Auftrag zu erfüllen hatte und jedes Mal erstarb sein Lächeln und ihm wurde schwer zumute. Sein Aufbruch in Xarchavas schien so fern, als sei er schon Jahre unterwegs. Manchmal meinte er bei Liena ähnliche Züge zu entdecken, denn es kam vor, dass auch ihr Lachen schlagartig verblasste und häufig sah sie stundenlang in die Ferne, ohne ein Wort mit ihm zu sprechen. Triborin wusste noch immer nichts über die Frau. Da gab es etwas, das äußerst wichtig für ihn zu wissen gewesen wäre, dessen war er sich sicher, doch er brachte es nicht über sich, erneut zu fragen. Viel zu sehr genoss er die Harmonie, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, als dass er sie schon wieder mit Füßen treten wollte. Geduld war angesagt. Zugegebenermaßen freute er sich sogar schon darauf, Mildir zu sehen. Mythen und Legenden rankten sich um das Land der Alben, das angeblich Heimat der Erdgöttin selbst war. Lebendige Bäume, immergrüne Wiesen, klare Flüsse und goldenes Sonnenlicht; die Natur sei so schön wie der Alb, der es bewohnt und ebenso trügerisch, so sagte man in Lacharys. Einen Besuch war es mit Sicherheit wert. Kenne deinen Feind. Auch dies war ein Grundsatz seiner Ausbildung. Er könnte einer der wenigen Gardisten sein, der jemals einen Fuß in das geheimnisvolle Nachbarland gesetzt hatte, auch wenn es nur eine Momentaufnahme wäre.
    „Wir werden uns nicht lange in Mildir aufhalten“, hatte Liena einmal unvermittelt gesagt. „Es sei denn, Ihr möchtet auf Eurer geliebtes Schwarz verzichten und etwas Unauffälligeres anziehen.“ Triborin verstand; Liena wollte in Begleitung eines Dunkelelfen, noch dazu eines Leibgardisten, den sie heimlich in das Land gebracht hatte, nicht mit anderen Alben in Kontakt kommen. Ihre Erklärung in solch einem Fall wäre allerdings interessant, dachte er bei sich, während seine Worte Zustimmung zu dem Plan bekundeten. Es spielte ihm in die Karten, schnell nach Süden zu kommen. Zu viel Zeit war schon verstrichen und Lord Xyrius wartete nicht gern.


    Je weiter sie in das Landesinnere kamen, desto grüner wurde die Umgebung. An Küstennähe noch rau und felsig, war Vesperion in diesem Bereich durchzogen von Bewaldung und Grashügeln, von Bächen und teilweise sogar von Sümpfen. Als sie eines Tages den Filthri überquerten, schätzte Triborin, dass Mildir nicht mehr fern war und er hatte Recht damit. Bereits am Morgen des nächsten Tages betraten sie albischen Boden. Lienas geflüsterte Worte in einer fremden Sprache und feine Schnitzereien an den umliegenden Bäumen waren das einzige, das einen Unterschied verriet.
    „Ich habe Narma gegrüßt und sie gebeten, mich wieder bei sich aufzunehmen“, beantwortete sie Triborins Frage nach ihrem Gebet.
    „Und was hat sie dir geantwortet?“
    „Sie sagt, ich soll den Eindringling kalt machen, wenn er nicht hört.“ Die Albe lachte. „Das kannst du ja versuchen“, entgegnete Triborin und grinste zurück.
    Sie bewegten sich zunächst weiter nach Westen und der Dunkelelf vermutete, dass Liena ein wenig Abstand zur Grenze gewinnen wollte, wo es wahrscheinlich in regelmäßgien Abständen immer wieder bemannte Stützpunkte gab. Die Sonne stieg höher und verströmte eine angenehme Wärme. Ob es an seiner Erwartungshaltung lag oder tatsächlich der Fall war, konnte Triborin nicht sagen, doch die Lichtstrahlen schienen Substanz zu haben und ergossen einen goldenen Schimmer auf die grünen Wiesen und die Bäume, die größtenteils bereits ihr Herbstkleid angelegt hatten. Sie erreichten ein etwas dichteres Waldstück und folgten einem erdigen, von Wurzeln durchzogenen Pfad. Vögel zwitscherten überall im Geäst und kleine Nagetiere wuselten durch die raschelnden Blätter am Boden. Einmal überquerten sie einen kleinen Bach über eine kunstvoll geschnitzte Holzbrücke und kurz darauf entdeckte Triborin ein Reh mit seinem Kitz. Alles wirkte so friedlich. Schnell könnte man sich in die Landschaft verlieben und vergessen, dass sie gefährlich ist, dachte Triborin.
    Nach einer Weile verließen sie den Pfad, der weiter nach Westen führte und bogen nach rechts in den Wald ab. Lienas Stute trottete mühelos zwischen den Bäumen hindurch, doch er spürte, dass seinem Hengst unbehaglich zumute war. Die vielen Geräusche, die fremden Bäume und die schmalen Durchgänge schienen ihm zu Schaffen zu machen. „Alles gut, Großer“, flüsterte Triborin und klopfe dem Pferd die Seite. „Bald sind wir wieder auf offenem Gelände.“
    „Das ist ein Nachtschatten, nicht wahr?“, fragte Liena.
    „Ja“, entgegnete Triborin knapp, überrascht, dass die Albe die Rasse und auch ihren Namen kannte. „Ich habe ihn bereits als Fohlen bekommen und selbst erzogen.“
    „Hat er einen Namen?“
    „Wir geben unseren Pferden keine Namen.“
    Liena sah auf. „Warum? Fürchtet Ihr, Ihr könntet Gefühle entwickeln?“
    Der Elf antwortete nicht.
    „Das ist Ilsara“, fuhr die Albe fort. „Sie ist…“ – „Ein Wildpferd“, beendete Triborin den Satz für sie. Als er die Stute in der Menschensiedlung das erste Mal gesehen hatte, hatte er es bereits vermutet und der gemeinsame Weg danach hatte ihm Gewissheit beschwert. Eine wilde Freiheit lag im Blick des Tieres und auch die Distanz, die sie zu seinem Hengst hielt, waren eindeutige Zeichen gewesen. „Reitet Ihr sie deshalb ohne Sattel?“
    „Nein; weil ich es möchte. So kann ich sie besser spüren.“
    Triborin beobachtete die Frau und ihr Pferd von der Seite. Gerade und anmutig saß die Albe auf dem Rücken des Tieres, das vollkommen ohne Führung zu gehen schien.
    „Wollt Ihr mir nicht sagen, wer Ihr seid?“, fragte Triborin vorsichtig.
    Liena seufzte. „Jede Information würde neue Fragen auslösen und unweigerlich zu einem Punkt führen, wo ich nicht mehr antworten kann. Oder würdet Ihr mir alles über Euch erzählen?“
    „Ich hab das Gefühl, Ihr wisst schon alles über mich“, gab Triborin zurück.
    „Ich habe lediglich die offensichtlichen Dinge zusammengezählt.“
    Wieder wich sie ihm aus, doch er blieb hartnäckig. „Sagt mir wenigstens Euren vollständigen Namen.“
    Sie lachte ihr schönes Lachen, an das Triborin sich schon so sehr gewöhnt hatte. „Ihr werdet nicht locker lassen, nicht wahr?“ In ihren Augen lag eine Mischung aus Amüsement und Resignation. „In Ordnung, aber nur unter einer Bedingung: Ihr dürft keine weitere Frage mehr stellen.“ Die Albe war gerissen…
    „Also gut, einverstanden.“ Triborin wusste, dass es ein schlechtes Geschäft für ihn war, doch er brannte auf die Information. Liena holte noch einmal tief Luft und als sie sprach, sah sie stur geradeaus. Die Heiterkeit, die zuvor in ihrer Stimme gelegen hatte, war verschwunden. „Ich bin Liena Emira aus dem Hause Sinklar und Salisir ist meine Heimat.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Platzhalter 2



    Mit dem Morgen kam der Regen. Tief in der Höhle war es nicht zu hören gewesen, doch der Geruch lag in der Luft und Linu, die es liebte, wenn es in Strömen goss, war davon aufgewacht und direkt hinaus zum Eingang gelaufen. In endlosen Fäden fiel das Nass vom Himmel, plätscherte auf den Fels und weiter unten auf das grüne Dach der Bäume. Hier vorne bildeten sich am Boden bereits kleine Pfützen und von der Decke tropfte es in regelmäßigen Abständen laut und tief. Linu schloss die Augen und atmete tief ein.
    „Du bist ein ungewöhnliches Kind“, ertönte Gembys Stimme hinter ihr und der alte Affe stellte sich neben sie. „Die meisten mögen kein schlechtes Wetter.“
    „Ich finde, es gibt kein schlechtes Wetter“, sagte Linu. „Ohne den Regen gäbe es kein Leben und auch nicht ohne die Sonne. Ohne den Winde gäbe es keine Bewegung und ohne Wolken keinen Schutz.“
    Gemby nickte und lächelte. „Ein ungewöhnliches Kind, aber klug. Nicht nur das Wetter ist eine Sache unserer eigenen Einstellung, das wirst du noch merken müssen. Manchmal sind wir Lebewesen auch mit den besten Argumenten nicht von einem Standpunkt wegzubewegen, auf dem wir uns gemütlich eingerichtet haben.“ Linu sah ihn an. Er wirkte viel klarer als am Abend zuvor und blickte nachdenklich hinaus. „Jetzt komm, wir sollten etwas essen, bevor wir aufbrechen.“
    Wie ausgemacht huschte in diesem Augenblick Fekky in den Höhleneingang. „Brr, sehr nass!“, sagte er und schüttelte sich das Wasser vom Fell. „Beinahe wäre ich ausgerutscht auf der Treppe, jawohl.“
    Er begleitete sie hinein und auch Taal war mittlerweile erwacht, lümmelte noch schläfrig in den Decken. Sie aßen süße Fladen und tranken Kokosmilch dazu. „Wir werden heute ein wenig hinauf gehen“, erklärte Gemby unterdessen. „Wenn ich mich recht erinnere, gibt es dort eine wichtige Information.“
    „Wenn Ihr euch recht erinnert?“, fragte Linu, den Becher auf halben Weg zum Mund.
    „Es ist ein halbes Affenleben her, dass ich dort gewesen bin, mein Kind. Ist das nicht aufregend? Ich werde das Abenteuer noch einmal erleben.“
    „Die anderen Affen“, setzte Taal an, „wissen die, dass ihr hier lebt? Immerhin suchen sie bestimmt nach uns.“
    „Keine Sorge, sie werden euch nicht finden.“


    Der Weg tiefer in das Gebirge war schwierig. Es ging teilweise steil bergauf oder bergab und der Weg war durch den Regen oft rutschig und voller Pfützen. Nicht wenige Male schulterten Linu oder Taal den alten Mann, um ein Stück im Flug zu überbrücken. Sie waren alle triefend nass und irgendwann konnte selbst Linu den Regen nicht mehr genießen. „Was suchen wir denn?“, rief sie Gemby irgendwann zu, in der Hoffnung, er könne sich daran noch erinnern. „Ein Denkmal“, gab er zurück und seine Augen glitzerten. „Ein altes Denkmal.“ Fekky trottete schweigend mit ihnen mit und hatte seine Freude daran, in die größten Pfützen zu stampfen.
    „Er ist als kleiner Affe vom Baum gefallen“, sagte Gemby leise zu Linu. „Seither hat er es nicht leicht gehabt. Die Simearu sind grausam, was Außenseiter angeht. Alles, das anders ist, stellt eine Bedrohung für sie dar. Zum Glück hat er eines Tages zufällig den Weg zu meiner Höhle entdeckt. Wir können uns gegenseitig sehr helfen.“
    Fekky sah nach hinten, als spürte er, dass sie über ihn sprachen. Kurz lächelte er nervös und drehte den Kopf wieder nach vorn. „Da ist was, ja, gleich dort vorn!“, rief er aus und rannte los. Tatsächlich. Der Weg führte auf eine kleine Ebene, gerade groß genug, dass sie zu viert dort stehen konnten. In der Mitte erhob sich eine Skulptur aus Stein, die einen Menschen und einen Vogel abbildete. „Das ist ein Aviare“, flüsterte Linu und ging eilig darauf zu. „Also waren doch schon welche im Gebirge.“ Mit den Fingern strich sie über das verwitterte Gestein und blickte hinauf in die Gesichter. „Es ist dieselbe Person“, sagte Taal, der an ihre Seite getreten war. „Sie nur, sie haben denselben Gesichtsausdruck.“
    „Und er trägt eine Art… Uniform.“ Linu deutete auf die Brust des Vogels. Sie hatte noch nie gesehen, dass ein Aviare in Vogelgestalt Kleidung trug, doch dieses Abbild tat es. „Eine Rüstung, würde ich sagen.“ Gemby hatte zu den Kindern aufgeschlossen. „Das ist ein Krieger.“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Platzhalter 3: Linus nächstes Kapitel folgt



    Rak


    Sein neues Zuhause hatte selbstverständlich nicht den Standard, den er auf Grauenstein genossen hatte, doch er hatte sein eigenes Zimmer, es gab feste Mahlzeiten und er konnte sich frei durch den Komplex der Akademie bewegen. Vor dem Abendessen am Tage ihrer Ankunft war der Junge den anderen Auszubildenden und den Meistern vorgestellt worden. Außer ihm waren drei weitere Jungen und zwei Mädchen in der Akademie. Sie hatten ein ähnliches Alter, doch er war der Jüngste. Holon erklärte ihm abends, dass viele Meister nur zeitweise hier lebten, da sie andere Pflichten zu erfüllen und sich um ihre Güter zu kümmern hatten. Er würde immer wieder Männer und Frauen ein und aus gehen sehen, so auch treue Ritter, die Kunde brachten oder mit Aufträgen fortgeschickt wurden.
    „Sir Kartoff wird wieder nach Krinkgard gehen“, beantwortete Holon Raks Frage nach dem schweigsamen Riesen. Fast war er etwas enttäuscht darüber. Dass der Ritter scheinbar zeitlebens über ihn gewacht hatte, löste ein merkwürdiges Gefühl in ihm aus. Er war fasziniert, wollte mehr über den Mann erfahren, mit ihm sprechen, Zeit mit ihm verbringen. Immer wieder ertappte sich Rak bei der Vorstellung, Sir Kartoff wäre auch zukünftig sein treuer Beschützer und er ein mächtiger und gefürchteter Mann.
    Der Alltag in der Akademie war gewöhnlicher als er sich vorgestellt hatte. Einen Großteil ihrer Zeit verbrachten sie damit, Arbeiten in und an den Häusern zu verrichten und nur einmal am Tag saßen sie in dem großen beheizten Raum zusammen, wo verschiedene Meister ihnen etwas über die Kunst der Elementarmagie erzählten. Viele der Männer waren bereits ergraut und sprachen langsam und eintönig und Rak hatte oft Schwierigkeiten lange zu zuhören. Es drängte ihn danach, praktische Dinge auszuprobieren, er wollte all das lernen, wovon Holon ihm erzählt hatte. Stattdessen erfuhr er hauptsächlich Vergangenes, staubige Informationen über magische Kriege, über die Verfolgung und Hinrichtung der Elementare und die Gründung der ersten Geheimbunde nachdem, Norgond wieder Unabhängigkeit erlangt hatte, die das Wissen um die Magieform und deren Möglichkeiten teilweise vor dem Aussterben bewahrt hatten. Einzig die Lektionen, die von großen Magiern und deren Fähigkeiten handelten, erweckten Raks ungeteiltes Interesse. Es hatte wohl Männer und Frauen gegeben, deren Macht weit über die Kontrolle von Gestein hinausgegangen war. Die Sehnsucht danach, endlich etwas von all dem zu lernen, verstärkte sich ins Unendliche, wenn er von Helden hörte, die ganze Häuser zum Einsturz bringen konnten, oder solche, die sich neben dem Fels auch an anderen Stoffen versucht hatten, wie Metall, Holz, Wasser oder Luft. Als er eines Nachmittags zur Aufgabe hatte, den Holzboden des großen Saals zu wischen, hatte Rak versucht, auch dort hinein zu hören und zu fühlen, doch es hatte nicht geklappt und der Junge war fast ein wenig enttäuscht gewesen. Mit dem Gemäuer machte er dafür große Fortschritte. Er nutzte jede freie Minute, sein Gespür für die Geräusche im Stein zu trainieren, zu verfeinern und zu formen. Wenn sie ihm schon nichts beibringen wollten, würde er es eben selbst tun. Mittlerweile konnte er die meisten Echos zuordnen, ob etwas an der Wand entlang strich, eine Tür dagegen schlug oder jemand sprach. Wenn er nun noch die Worte würde verstehen können… er ahnte, was sich ihm für Möglichkeiten auftäten.
    Holon sah er recht selten und wenn, war der Mann meist in Eile. Rak hätte ihn gerne nach so vielen Dingen gefragt. Mit den anderen Schülern hatte er noch nicht viele Worte gewechselt und er wollte auch auf keinen Fall seine selbst erarbeiteten Kenntnisse mit ihnen teilen. Wenn sie gemeinsam im Aufenthaltsraum saßen oder im Lehrraum auf den Meister warteten, schwatzte ohnehin meist das Mädchen namens Finni. Sie war schon siebzehn und stammte von der Felsenküste. Ihr Vater war der Kapitän eines Handelsschiffes und sie war selbst auch schon einige Male zur See gefahren, bevor man magische Fähigkeiten bei ihr entdeckt hatte. Finni war ein hübsches Mädchen, doch Rak mochte ihre Art nicht. Da war etwas Überhebliches in ihrem Blick und eine Aura von Wichtigtuerei. Meist unterhielt sie sich nur mit Timm, einem Jungen weit aus dem Norden und Stanna, dem zweiten Mädchen. Es sollte Rak Recht sein. Er hatte ohnehin keine Lust, sich viel zu unterhalten. Umso unangenehmer war es ihm, als Finni ihn beim nächsten Mittagessen plötzlich ansprach.
    „Du“, Timm flüsterte ihr seinen Namen zu, „Rak; wo kommst du eigentlich her?“
    „Aus Krinkgard“, sagte er ohne aufzusehen.
    „Oh! Du bist wirklich aus des Königs Stadt?“ Ohne eine Antwort zu erwarten, sprach sie direkt weiter. „Dann kennst du die Königsfamilie, nicht?“
    „Nur ein bisschen. Ich bin Bäcker gewesen, bevor ich herkam.“
    „Bäcker, ja?“, warf Timm ein. „Angeblich hat ein Bäckerjunge die Prinzessin umgebracht. Warst du das?“ Er lachte laut, um zu zeigen, dass er das selber nicht glaubte.
    „Was redest du da? Die Prinzessin ist doch gar nicht tot.“ Er schluckte und merkte wie sein Herz kräftig schlug. Wie viel von den Geschehnissen konnten diese Jungen und Mädchen kennen, wie viel Information konnte aus Krinkgard entschlüpft sein? Panisch stellte Rak fest, dass er überhaupt keinen Schimmer hatte, was nach seiner Flucht alles geschehen war.
    „Bei uns in Rangord heißt es so“, beharrte Timm. „Wie soll der arme Warkas das nun auch noch wegsteckten, wo ihn doch schon der Selbstmord seiner Frau so aus der Bahn geworfen hat.“
    „Ach was, vermutlich feiert er jeden Tag ein Fest, seit er diese Furie los ist. Stimmt es, was man über die Königin sagt?“ Sie sah Rak fordernd an.
    „Was sagt man denn über sie?“, fragte dieser und Finni stöhnte. „Bist du sicher, dass du aus der Hauptstadt bist? Dass sie durchgeknallt war natürlich!“
    „Ich glaube kaum, dass mit jemandem alles in Ordnung ist, der sich vom Turn einer Burg stürzt.“
    „Und warum hat sie das gemacht.“
    „Woher soll ich das wissen?“ Rak hatte sich tatsächlich noch nie Gedanken darüber gemacht. Es war passiert als er elf oder zwölf Jahre alt gewesen war und in Burg Kalkstein und seiner Stadt war es mehr oder weniger tot geschwiegen worden, um die Königsfamilie, vor allem die Kinder, nicht zu kränken. So zumindest die offizielle Redensart. In Wirklichkeit war jeder bestraft worden, der Gerüchte in die Welt gesetzt hatte. Von Kerker bis zum Verlust der Zunge hatte es alles gegeben. Ein einziges Mal hatte Sara etwas über den Vorfall gesagt, daran erinnerte er sich jetzt ganz deutlich. „Die Königin hat am Ende ständig davon gesprochen, dass irgendwer da sei. Manchmal wurde sie nachts in den Gängen gefunden, an die Wand gesunken und hat nur gemurmelt ‚Er ist da‘. Sie hat sich ganz oft mit dem König darüber gestritten.“
    „Ich glaube, sie ist wirklich verrückt geworden“, wandte sich Rak an Finni, die ihn noch immer erwartungsvoll anblickte.
    „Ich sage, es liegt ein Fluch auf der Familie. Erst die Königin, dann der König, den niemand mehr zu Gesicht bekommt und jetzt die Prinzessin.“
    „Bei uns sagt man, die Prinzessin sei zu Stein erstarrt.“ Alle Köpfe fuhren herum, als Marlo das Wort erhob. Der schmächtige Junge mit den roten Haaren hatte noch kaum ein Wort gesprochen, seit sie hier waren.
    „Gerüchte führen immer ein Eigenleben.“ Finni kräuselte die Lippen. „Die wundersamsten Dinge werden hinzu gedichtet und die langweiligsten weggelassen.“ Marlo schloss den Mund und lief rot an. Vermutlich hatte es ihn viel Überwindung gekostet, überhaupt etwas zu sagen. Rak hingegen traute sich wieder zu atmen. Was für ein Glück, dass Finni Marlos Einwand so verächtlich abgewimmelt hatte. „Dabei hätten sie ihre Gerüchte nur zusammensetzen müssen“, dachte Rak. Es kam ihm so offensichtlich vor, dass er kaum glauben konnte, dass sie ihn nicht genauer zu der Sache befragten.
    Das Gespräch war längst in eine andere Richtung gelaufen, in der Finni nun wieder im Mittelpunkt stand und sich damit sichtlich wohl fühlte, als Rak Stannas Blick auf sich ruhen spürte. Das kleine blonde Mädchen hatte die Augen leicht zusammengekniffen, als versuchte sie ihn zu durchschauen. Schnell blickte er wieder weg und versuchte möglichst interessiert an Finnis ausschweifenden Erzählungen zu wirken.
    Auf dem Weg zurück zu ihren Aufgaben gesellte sich Stanna dann zu Rak. „Du hast etwas mit der Sache zu tun, nicht wahr?“, flüsterte sie und Rak starrte angestrengt weiter nach vorne. „Nein.“
    „Komm schon Rak! Ich werde nicht weiter nachbohren und auch nichts verraten, aber ich denke gerade du könntest einen Freund gebrauchen… oder eine Freundin.“
    Jetzt sah Rak sie doch an, sah, dass sie schüchtern lächelte und ihren direkten Worten zum Trotz auch ein wenig rot war.


    Triborin


    Also war sie eine besondere Albe. Die Worte ließen Triborin so sehr zusammen fahren, dass sein Pferd stehen blieb. Er musste an den Zügeln gezogen oder plötzlich die Knie zusammen gedrückt haben. „Du wolltest es wissen, ich habe es dir gesagt.“ Liena sah ihn noch immer nicht an.
    Triborin trieb sein Pferd wieder an und schloss zu der Frau auf. „Ihr lügt mich nicht an?“ Sie schloss die Augen. Der Drang, ihr weitere Fragen zu stellen, war überwältigend, doch er hatte ein Versprechen abgelegt. Wenn diese Frau in direkter Linie mit dem Lord der Alben, dem wahrscheinlich mächtigsten Mann in ganz Orchaldor, verwandt war, wieso war sie dann hier und half einem Dunkelelfen? Was, wenn alles zu einem großem Komplott gehörte und er die Marionette war? Starr blickte er sie an, den Mund zu einer schmalen Linie geschlossen, als wolle er die Wahrheit mit seinen Augen aus ihr heraus saugen. Langsam drehte Liena den Kopf. Sie sah unfassbar traurig aus und fast schämte sich Triborin für seine Gedanken. „Ihr werdet mir wirklich keine weitere Frage beantworten, oder?“, sagte er stattdessen. „Vielleicht ein anderes Mal“, gab sie zurück. „Jedoch auf keinen Fall, solange wir uns in Mildir befinden.“
    „Dann werde ich wohl nie mehr erfahren. An der Grenze müssen sich unsere Wege trennen.“
    „Nein. Ich komme mit Euch.“ Ihr Ausdruck war entschlossen.
    „Das geht nicht“, sagte Triborin.
    „Es ehrt Euch, dass Ihr mir nach wie vor nicht traut. Sollte ich je die Freude haben, Euren hohen Lord kennenzulernen, werde ich ihm von Eurem vorbildhaften Verhalten berichten. Doch es gibt noch andere Personen auf der Welt, denen etwas daran liegt, dass Ihr Euer Ziel erreicht.“ Ihre Augen funkelten stärker denn je. „Ihr werdet mich brauchen.“
    „Und Ihr tätet gut daran, mich nicht zu unterschätzen.“ Sollte sie ihre Geheimnisse behalten, auch er würde ihr keine weiteren Informationen geben. Am wenigsten, dass er gar nicht wusste, wo genau er im Süden suchen sollte. Vielleicht konnte er Lienas Hilfe wirklich gebrauchen.
    „Das würde ich niemals tun. Ein Gardist in Xarchavas wird man nicht eben über Nacht.“
    „Ihr scheint Euch sehr für unser Volk zu interessieren.“
    „Guter Versuch, Elf“, gab sie hart zurück, doch das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück. „Wie dem auch sei. Ich komme mit, ob Ihr wollt oder nicht. Um mich loszuwerden, müsstet Ihr mich schon umbringen.“
    Triborin fragte sich, ob er das könnte.


    Ihr Aufenthalt im Land der Alben war tatsächlich kürzer, als Triborin erwartet hatte. Gerne hätte er eine Stadt oder zumindest eine Siedlung zu Gesicht bekommen, doch er wusste, dass das nicht ging. Er war hier ein Todfeind und es war besser, wenn sie das Land in den nächsten Tagen schon wieder verlassen konnten.
    So fern der Küste und im Schutz der Bäume war es auch nachts relativ mild. Nicht, dass Triborin der Wind und die Kälte viel ausgemacht hätten, immerhin kam er aus dem hohen Norden, doch in Vesperion war ihm aufgefallen, dass Liena gefroren hatte. Hier schien sie sich wohl zu fühlen, denn sie lag ganz friedlich in ihren Umhang gehüllt auf dem weichen Moos des Waldbodens. Die Hauptstadt Salisir lag Triborins Kenntnissen zu Folge zwar ein ganzes Stück weiter im Osten, doch das Klima mochte ähnlich sein. Eine Haarsträhne war ihr vor das Gesicht gefallen, ansonsten lag es frei und Triborin betrachtete sie lange im zarten Licht des bleichen Mondes und der unzähligen Leuchtkäfer, die in Bodennähe umherschwirrten. Ihren Namen kannte er nun, doch er wusste noch immer nicht, wer sie war. Er würde sie aufmerksam beobachten und nach Hinweisen aller Art Ausschau halten. Irgendwann würde auch ihr einmal ein Fehler unterlaufen, darauf musste er hoffen und bis dahin würde er mit dem Bild leben müssen, das er von ihr hatte. Das Bild einer mutigen und intelligenten Frau, die wusste mit Waffe und Pferd umzugehen… und ein wunderschönes Lächeln hat, fügte er verschämt hinzu. Immer wieder kamen diese Gedanken, doch er versuchte sie zu ignorieren. Konnte es wirklich sein, dass er sich in eine Albe verliebte? „Blödsinn!“, schalt er sich im Stillen und verscheuchte die Frage aus seinem Kopf, eher er sich seufzend auf den Rücken drehte, noch einige Zeit in Grübeleien versunken auf das Blätterdach starrte und schließlich auch in einen erholsamen Schlaf versank.


    Triborin erwachte vom Licht und der Wärme eines Sonnenstrahls in seinem Gesicht. Er öffnete die Augen und sah gerade noch, wie Liena schnell den Blick abwandte. Die Albe saß im Schneidersitz gegenüber und aß etwas. Bis eben musste sie ihn beobachtet haben. Ein kleines Lächeln umspielte Triborins Mundwinkel, als er sich streckte und aufsaß.
    „Heute verlassen wir Mildir“, sagte Liena ohne Umschweife. „Bald werden wir den Wald hinter uns lassen und freies Gelände durchqueren. Wir müssen vorsichtig sein.“
    „Guten Morgen.“ Er zwinkerte. „Werden wir die Grenze dann überhaupt unbemerkt überqueren können?“
    „Wir werden nachts gehen“, sie trank einen Schluck von ihrem kleinen Tonbecher, aus dem der leicht süßliche Duft des Kräutertees drang, denn sie morgens immer kochte. „Und ich muss noch einmal in eine Siedlung. Ich muss Besorgungen machen.“
    Triborin nahm sich ebenfalls von dem warmen Getränk. „Sagt es ruhig: ich werde draußen warten müssen. ‚Elfen müssen draußen bleiben?‘“ Er grinste, doch Liena erwiderte es nicht.
    „Es geht nicht anders.“ Sie stand auf und kam zu Triborin hinüber, nahm einen Stock vom Boden und begann an einer erdigen Stelle etwas auf den Boden zu zeichnen.
    „Hier ist die Grenze und dort das Dorf. Hier werden wir uns trennen und während ich durch das Dorf reite, werden Ihr diesen Weg nehmen. Wir können uns dann bei Einbruch der Dunkelheit hier treffen.“ Sie sah ihn an, die Stirn leicht gerunzelt, das Haar hinter die spitzen Ohren geschoben. „Werdet Ihr den Weg finden? Es gibt dort keine Straßen.“
    Triborin nickte nur. „Wie finden wir uns wieder?“
    „An dieser Stelle,“ sie deutete auf den als Treffpunkt markierten Ort, „gibt es eine Steinformation, die ein wenig aussieht, wie eine Frau. Hier nennt man sie Die Trauernde.“
    „Was soll ich tun, wenn Ihr mit der Dämmerung nicht erscheint?“
    „Dann reitet Ihr ohne mich weiter. Die Grenze ist von dort nicht mehr weit. Und wenn ihr Glück habt, wird Eure Göttin der Nacht Euch ausreichend schützen, dass Ihr es hinüber schafft.“


    Der Plan gefiel Triborin überhaupt nicht. Weshalb musste sie plötzlich in einem Ort Halt machen? Konnten die Besorgungen nicht warten, bis sie im südlichen Kaiserreich waren? Vorräte hatten sie auch noch genug. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob Liena ihm überhaupt schon ein einziges Mal die Wahrheit gesagt hatte. Am liebsten wäre er ihr heimlich in den Ort gefolgt, hätte herausgefunden, was sie dort trieb, wen sie vielleicht traf und was sie vorhatte. Doch auch dies wusste sie geschickt zu unterbinden, indem sie die Siedlung aufsuchte, solange es noch hell war. Es war nahezu unmöglich, unerkannt zu bleiben. Zähneknirschend ließ er sie ziehen und nahm die besprochene Route. Es war noch lange nicht dunkel, als er die Steinformation erreichte, die größer war, als er es erwartet hatte. In einer kleinen Höhle gab es etwas Wasser und er ließ sein Pferd trinken, während er sich stärkte. Die Kontur des Felsen ähnelte tatsächlich dem Körper einer Frau, auf der Seite liegend und mit ein bisschen Fantasie konnte man sich vorstellen, sie hätte ihren Kopf auf den Armen abgelegt. Die Trauernde…
    Da er nichts Besseres zu tun hatte, sah er sich ein wenig um. Der Boden war hier bereits viel sandiger, viel rötlicher als im Bereich des Waldes. Er erreichte das Ende des Gesteins und kniff die Augen zusammen, trat näher heran. Mit der Hand wischte er etwas Sand zur Seite und atmete hörbar ein. Die Frau aus Stein hatte definierte Zehen. Das war keineswegs ein natürliches Gebilde. Eilig suchte er das Gelände ab und tatsächlich: die Trauernde war in den Fels gemeißelt worden, wenn auch vor langer Zeit, denn teilweise waren große Stücke heraus gebrochen und die Oberfläche war verwittert und rissig. Beim bloßen Vorbeireiten hätte man den Unterschied nie und nimmer erkennen können. „Wer bist du?“, fragte Triborin murmelnd. Der Kopf war durch die Jahre absolut unkenntlich geworden. Triborin beugte sich hinab, um in die düstere Lücke zu spähen, die sich unter seinen Resten auftat. Bis auf ein paar rundliche Steine war sie leer. Was hatte er erwartet? Und doch hielt er inne, griff hinein und zog einen der Steine heraus, dann noch einen und noch einen, bis die ganze Kuhle leer war. Ungläubig starrte er auf seinen Fund. Die Steine waren rund und glatt, doch auf einer Seite war auf jedem einzelnen die Gestalt eines Vogels hinein gemeißelt, den Schnabel weit aufgerissen, einen Pfeil im Hals.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Platzhalter 3


    Linu


    „Ein Krieger“, sagte Linu fasziniert zu Taal. „Wie in Mins Geschichten!“ Neugierig inspizierten sie jedes noch so kleine Detail. Gemby hatte Recht. Der Vogel trug ein Gestell auf dem Rücken, das scheinbar zum Abschließen kleiner Pfeile verwendet werden konnte und das Element um die Brust schien eine Art Panzerung sein. Der Schnabel des mächtigen Vogels war ebenso zu einem stummen Schrei geöffnet, wie der Mund des Mannes daneben. Ihr Blick war ernst und stechend. Wie der Vogel die Flügel weit aufgespannt hatte, streckte der Mensch beide Arme weit zu den Seiten.
    „Sieh nur“, sagte Taal, „um die beiden herum scheint Wasser zu sein, oder Wellen.“
    „Wellen? Soll es das Meer darstellen?“
    „Oder die Luft“, sagte Gemby. „Es könnten auch Winde sein und Luftwirbel.“
    „Ja genau! Vielleicht soll es zeigen, wie schnell der Vogel fliegt“, überlegte Taal. „Es beginnt nämlich genau… hier.“ Er zeigte auf die Flügelspitzen des Vogels. „Hm…“, machte Linu. „Der Mensch hat das aber auch.“ Auch von den Händen der menschlichen Gestalt entsprangen Stromlinien. Linu bemerkte, dass Gemby die Augen zusammen kniff, als käme ihm ein Gedanke, doch er sagte nichts. Erinnerte sich der alte Affe nicht oder wusste er mehr, als er verriet?
    „Ich glaube, hier steht etwas.“ Taal war in die Hocke gegangen und schob schlammiges Geröll zur Seite, um den gesamten Sockel frei zu legen. „Zu Ehren… das ist kaum zu erkennen… zu Ehren Is… Isikos? Egal; zu Ehren von irgendwem, dem großen… Nein, unmöglich; mehr kann ich nicht erkennen.“
    Linu trat an seine Seite. Die Schrift war wirklich nahezu unleserlich. Langsam strich sie mit dem Finger darüber, im Versuch, die Buchstaben erspüren zu können, doch ab der Hälfte war der Stein sehr stark verwittert. Wie lange mochte diese Statue hier wohl schon stehen? Ehrfürchtig blickte Linu nach oben. Eines stand fest: Aviare waren in der Vergangenheit hier gewesen und sie hatten ein Denkmal für einen Krieger aufgestellt. Doch wieso? Hatte es in der Vergangenheit Kämpfe gegeben? Vielleicht mit den Affen, die sie deshalb nicht duldeten?
    „Meister Gemby“, sagte sie, „Ihr habt erwähnt, dass es hier vielleicht eine wichtige Information gibt. Könnt Ihr euch jetzt an sie erinnern?“
    „Nein“, Er schüttelte den Kopf. „Doch ich spüre mehr denn je, dass wir damals etwas heraus gefunden haben.“
    „Wir?“, fragte Taal.
    „Mein Freund Min und ich.“


    „Also kannte er Min doch“, flüsterte Linu Taal zu, als sie wieder im Trockenen der Höhle waren. „Wir sollten alle Geschichten durchgehen, die Min uns je erzählt hat. Vielleicht ist irgendetwas dabei, was mit dieser Skulptur zu tun hat.“
    Taal blies die Backen auf. „Min hat unendlich viel erzählt. Ich kann mich unmöglich an alles erinnern und ich befürchte nach wie vor, dass ein Großteil frei erfunden war.“
    „Ja du hast natürlich Recht“, wimmelte Linu den Freund eilig ab, „aber wir haben gesehen, dass er nicht alles erfunden hat und wir müssen es versuchen. Ich bezweifle, dass Gemby uns besser helfen kann, als die Erzählungen.“
    „Und an was hast du gedacht?“
    „Die Krieger… ich erinnere mich an Geschichten über fliegende Helden, die für einen goldenen Herrn in die Schlacht zogen.“
    Der Wind trug sie ganz alleine, welche Richtung sie auch wählten, Pfeile flogen von ihrem Rücken und fanden stets ihr Ziel“, zitierte Taal gedankenverloren.
    „Ja! Genau, die Geschichte von Isiko dem Luftbeschwörer!“ Die Kinder sahen sich aufgeregt an… „Isiko“, sagte Taal, „das stand auf dem Sockel. Um was ging es in dieser Geschichte? Gemby hat gesagt, er hätte gemeinsam mit Min an diesem Denkmal irgendetwas herausgefunden. Wenn das stimmt, dann muss es in dieser Geschichte enthalten sein.“
    Linus Augen juckten wild hin und her, während sie ihr Hirn zermarterte. „Er war ein großer Anführer… er hat nie ein Ziel verfehlt…“ Sie sah auf. „Er konnte die Luft steuern!“ Erkenntnis machte sich in Taals Gesicht breit. „Natürlich! Der Luftbeschwörer… deshalb sind an der Skulptur die Luftwirbel an den Händen und Flügeln dargestellt. In Mins Erzählungen, da hat er Winde erzeugt, konnte ohne Flügelschläge an Höhe gewinnen und seine Pfeile lenken.“
    „Meinst du, das ist wirklich möglich?“, flüsterte Linu. Sie erinnerte sich an die Abenteuer von Isiko, an seine Heldentaten und vollbrachten Wunder. „Hat er nicht ganze Wirbelstürme erzeugt?“
    „Ich weiß es nicht, Linu. Vielleicht hat es tatsächlich einmal Aviare gegeben, die sich den Wind zu Eigen machen konnten. Doch wo die Wahrheit endet und das Erfundene beginnt, kann ich nicht sagen.“
    „So oder so“, seufzte Linu, „jetzt kann niemand mehr die Luft beschwören. Von solchen Fähigkeiten habe ich noch nie gehört.“
    „Mins Geschichte spielte ja auch vor tausend Jahren oder so. Das ist eine lange Zeit.“
    „Warum hat Isiko überhaupt gekämpft? Ich habe auch noch nie von einem Krieg gehört. Und wer soll der goldene Herr sein, dem er diente?“ Sie stand auf und ging zu Gemby, der in seinem Korbstuhl ruhte. „Darf ich etwas fragen?“
    „Natürlich, mein Kind“, gähnte er.
    „Hat es jemals einen Krieg zwischen den Aviaren und den Affen gegeben?“
    Der alte Mann zwirbelte mit den ledrigen Fingern seinen Bart ein. „Einen Krieg? Nein. Es gab Streit, oh ja, den gab es und gibt es noch immer. Doch niemals Krieg.“ Seine Augen musterten Linu traurig. „Wisst ihr denn überhaupt, was Krieg ist?“
    „Der Kampf gegen das Böse?“, überlegte Taal, der sich dazu gesellt hatte.
    „Und was ist das Böse?“
    „Ein jeder, der den Frieden gefährdet, der andere Leute töten und bestehlen möchte.“
    „Schön… und euer Krieger? Tötet er nicht auch andere Leute?“
    „Schon, aber er tut es doch nur, um sein Volk zu beschützen“, sagte Taal kopfschüttelnd, doch Linu verstand, worauf Gemby hinaus wollte. Nicht nur das Wetter ist eine Sache unserer eigenen Einstellung, das wirst du noch merken müssen, das hatte er ihr am Morgen gesagt. „Vielleicht will der Angreifer auch nur etwas schützen“, murmelte sie und sah wie Gemby sie warm anlächelte. „Richtig, mein Kind. Krieg an sich ist etwas Böses und natürlich habt ihr Recht: der Grundkonflikt ruht in einer Person, einem Volk oder eine Ideologie – das sind die gemeinsame Einstellung und gemeinsamen Werte eines Volkes oder einer Gruppe“, fügte er hinzu, als er die fragenden Gesichter der Aviare sah. „Doch einfach eine Seite als das Böse zu bezeichnen, ist nicht genug, um den Krieg zu beschreiben und erst recht nicht, um ihn zu beenden.“
    „Habt Ihr je einen Krieg erlebt?“, fragte Taal.
    „Nein, zum Glück nicht. Auf Caertol hat es noch nie Krieg gegeben.“
    Linus Augen weiteten sich. „Aber auf diesem fremden Kontinent.“ Der Gedanke, dass es mehr auf der Welt gab, als ihre Heimatinsel, war noch immer fremd für sie. „Wenn wir doch darüber etwas herausfinden könnten…“
    Gemby wirkte überrascht. „Hat Min euch nichts darüber erzählt? Lernt ihr darüber noch immer nichts in der Schule?“ Er schüttelte den Kopf. „Dabei war es doch euer Volk, das uns dieses Wissen überhaupt erst mitgebracht hat. Bevor die Aviare vor vielen, vielen Jahren auf Caeron gelandet sind, hat ein jeder Simearu geglaubt, wir wären alleine auf der Welt.“
    „Also lag Min richtig. Wir stammen tatsächlich nicht von Caertol.“
    Gemby lachte. „Wenn man es wörtlich nimmt, würde ich sagen, doch. Euer Volk lebt schon so lange hier, dass ihr mehr von diesen Inseln in euch tragt, als von dem fernen Kontinent, auf dem eure Vorfahren einst lebten.“
    „Was wisst ihr über diesen Ort?“
    „Nun“, er überlegte, schien seine Worte neu zu sortieren. „Ich muss zugegeben, dass auch von unserem Wissen viel verloren gegangen ist. Viele Simearu wollen nichts mit euch zu tun haben. Für sie seid ihr der Schrecken der Lüfte, der die Sonne verdunkelt. Unsere Gottheit ist Mana, versteht ihr? Etwas, das die Sonne verdeckt, jagt uns große Furcht ein, zumindest den meisten von uns.“ Er zwinkerte. „Kaum einer interessiert sich da für eure Vergangenheit und für ein fremdes Land.“
    „Aber was ist, wenn von dort jemand hierher kommt? Dann geht es doch auch die Simari an, oder?
    Simearu“, verbesserte er sie. „Warum sollte jemand kommen? Das ist bis jetzt nicht passiert, warum sollte es sich nun ändern?

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Linu


    Gemby hatte natürlich Recht. Warum jetzt? Und doch schien Min davon überzeugt gewesen zu sein, dass es passieren könnte. War es bloß eine Spinnerei des alten Aviaren, wenn nicht gar ein stiller Wunsch oder hatte er in seinen Forschungen Anhaltspunkte entdeckt, die diesen Fall wahrscheinlich machten? Sie konnten das Rätsel nicht lösen, also erzählte Gemby ihnen stattdessen, was ihm von dem geheimnisvollen Kontinent noch in Erinnerung war. Linu und Taal erkannten einiges wieder, das auch Min in seine Geschichten hatte einfließen lassen, auch wenn er nie direkt darauf zu sprechen gekommen war. Immer neue Rätsel und Fragen formten sich in Linus Bewusstsein. Warum war ihr Volk damals hierhergekommen? Gab es womöglich noch Aviare in der alten Heimat? Und wieso gab es nirgends Aufzeichnungen über die eigene Vergangenheit, mehr noch, wieso war es gar verpönt, Forschung zu betreiben, wie Min es getan hatte?
    „Das ist alles, das mir bekannt ist oder woran ich mich erinnere“, schloss Gemby schließlich seine Beschreibung einer riesigen Landmasse mit den verschiedensten Pflanzen, mit Flüssen und Seen und bevölkert von unterschiedlichen Völkern. Menschen, Zwergen und Spitzohren, die als die schönsten und anmutigsten Wesen auf der Erde galten. „Allerdings gibt es noch etwas, das ich euch zeigen kann, wenn ihr wollt.“
    „Aber natürlich!“, sagte Linu und schlürfte von ihrem heißen Tee. „Wieso sollten wir nicht?“
    „Weil es ein trauriger Ort ist.“


    Sie flogen früh morgens los, denn laut Gemby war es ein weiter Weg. Linu erkannte schnell, dass er sie an die Küste führen würde. Gemby saß auf Taals Rücken und der junge Fekky war tags zuvor schon nach Hause gegangen, um sich um seine Haustiere zu kümmern. „Er züchtet Schmetterlinge“, erklärte Gemby den beiden Aviaren. „Der Junge hat sein Herz am rechten Fleck.“
    Nach Linus Einschätzung flogen sie die Nordküste an, leicht westlich des zentralen Gebirges. Sie hatten viel Proviant dabei, denn sie würden mehrere Tage unterwegs sein. Ein trauriger Ort; Gemby hatte noch nicht mehr verraten und Linu begann sich zu fragen, ob es ihm gefiel sie auf die Folter zu spannen. Der alte Mann war sehr wankelmütig, mal bei klarem Verstand, mal verwirrt und mal kindlich überdreht. Ralon sei Dank musste sie sich nicht allzu lang gedulden, denn noch bei Tageslicht erreichten sie die Küste. Gembys Höhle musste weiter nördlich liegen, als sie geschätzt hatte. Sie überflogen die Küstenlinie und landeten auf dem weichen Sand.
    „Was für ein Ort ist das hier nun?“, fragte Linu.
    „Ein Friedhof. Min und ich haben ihn zufällig entdeckt, als er mir das Meer und seine Schätze gezeigt hat.“
    „Und wo ist dieser Friedhof?“ Taal blickte sich um. In den Dorfgemeinschaften war es Brauch, die Körper der Verstorbenen zu verbrennen und vom Wind hinfort tragen zu lassen, damit sie den Übergang in die ewigen Himmel antreten konnten.
    „Seht euch diese Klippen genau an.“ Gemby ging mit seinen typischen langsamen Schritten näher an die Wand heran und blickte nach oben. Zunächst konnte Linu nichts erkennen, dann, nach und nach, entdeckte sie ein Stück die Klippe hinauf die Bilder, wahrscheinlich gerade so hoch platziert, das auch bei einer Sturmflut das Meer nicht zu sehr an ihnen nagte. Sie waren lange nicht so detailliert und kunstfertig gearbeitet wie die Statue des Kriegers und die Witterung hatten auch sie nicht verschont, doch je länger sie den Blick über die Steilwand schleifen ließ, desto mehr konnte sie deuten. „Es ist eine Geschichte“, flüsterte Taal ehrfürchtig neben ihr. „Oder ein Gebet“, ergänzte Linu. „Siehst du hier?“ Sie deutete auf ein etwas größeres Abbild am Rand. „Das sieht aus wie Ralon. Und wenn Gemby sagt, es sei ein Friedhof…“
    „Wir haben es lange studiert“, sagte der alte Simearu. „Min und ich sind zu dem Schluss gekommen, dass hier die Opfer der Reise über das Meer verewigt wurden.“
    „Und weil man sie nicht verbrennen konnte, versuchte man ihnen auf diese Weise einen Weg zu Ralon zu ermöglichen“, beendete Taal den Gedanken. Gemby nickte. „Das hat Min auch geschlossen.“
    Es stimme. Aus diesem Blickwinkel konnte Linu in den groben Skizzen im Stein das Meer erkennen mit Wellen und Sturm, Aviare die dagegen kämpften und solche, die fielen. Ehrfürchtig und traurig starrte sie auf die Denkmäler und erst als der Wind ihr kalt über die Wangen strich, merkte sie, dass sie weinte. Auch Taal schien es die Sprache verschlagen zu haben. Dies war der Ort, an dem ihre Vorfahren gelandet waren, um ein neues Leben zu beginnen. „Was hat sie nur dazu getrieben, diese gefährliche Reise auf sich zu nehmen?“, sagte Linu leise.
    „Vermutlich werden wir es nie erfahren.“ Taal legte seiner Freundin einen Arm um die Schulter und dankbar ließ sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken.
    „Dafür wisst ihr nun doch etwas anderes, oder nicht?“ Beinahe hätte sie Gemby vergessen und zuckte ein wenig zusammen, als seine Stimme ertönte. „Ihr kennt die Richtung, aus der sie kamen. Der fremde Kontinent liegt im Norden.“
    Er hatte Recht. So weit hatte Linu gar nicht gedacht. Also war sie an dem Tag, an dem Min im Sterben lag, in die falsche Richtung geflogen! Sie drehte sich um und sah auf das Meer hinaus. „Es ist endlos“, seufzte sie und ging an die Wasserkante heran. Wie lange würde es wohl dauern, hinüber zu fliegen? Und was wäre, wenn man den Kontinent verfehlte und immer weit in den Norden flog, bis man irgendwann vor Erschöpfung einfach hinab in die dunklen und kalten Tiefen stürzte? Bei dem Gedanken erschauderte sie. Hier sah das Wasser so freundlich aus und es war die meiste Zeit im Jahr auch angenehm warm, doch sie hatte gesehen, wie es sich fern der Insel veränderte. Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Zuerst hatte sie es für die glitzernde Reflexion der Sonne gehalten, doch auch als sich eine Wolke vorschob, verschwand es nicht. Linu ging in die Hocke und tauchte die Hand ins Wasser.
    „Was machst du?“, fragte Taal. „Hier ist etwas.“ An ihrer Hand hing eine Kette mit einem glitzernden Anhänger. Fasziniert betrachtete das Mädchen ihren Fund. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Sieh nur wie es glitzert!“ Sie zog den Anhänger zu sich heran. „Das muss Gold sein“, hauchte sie. „Genauso hat Min die Kleidung des goldenen Herrn beschrieben.“
    „Wie kommt das hierher?“ Taal war neben sie getreten und begutachtete das Schmuckstück ebenfalls neugierig.
    „Jemand hat es mitgebracht.“
    Linu drehte sich zu Gemby um. „So lange kann das unmöglich hier liegen. Es ist doch schon tausend Jahre her.“
    „Nicht damals“, sagte der Affe ernst. „Vermutlich erst heute.“ Er deutete mit seinem Stock nach unten in den Sand. „Hier sind Fußspuren.“
    Mit dem Schmuckstück in der Hand eilten die Kinder zurück. Die Fußspuren waren frisch und schienen aus dem Nichts zu kommen, da die Flut wahrscheinlich einen Teil weggewaschen hatte. „Könnte ein Aviare hier gewesen sein?“, fragte Linu Taal, der mit den Schultern zuckte „Ich kenne mich hier nicht aus, weiß nicht, ob Dörfer in der Nähe sind.“
    Sie folgten der Spur, die alles andere als gerade verlief. Allem Anschein nach war die Person unrund gelaufen und hin und wieder auf die Knie gefallen. Gemby hatten sie bald abgehängt, doch die Neugierde war zu groß. Wo mochten die Abdrücke hinführen? Ein ganzes Stück ging es so weiter, um einen Felsvorsprung herum und schließlich in das Dunkel einer kleinen Höhle. Die beiden stoppten und sahen sich an. Gemby war noch hinter dem Felsvorsprung verborgen. Taal nickte Linu zu und mit einem tiefen Atemzug wagten sie sich hinein.
    Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Höhle war nicht groß und sehr flach, sodass sie gebeugt gehen mussten. „Dort“, flüsterte Taal Linu zu und zeigte in eine Richtung. Am Boden lag eine Gestalt, zusammengerollt und rührte sich nicht. Mit all ihrem Mut brachten die beiden die letzten Meter hinter sich und betrachteten sie, so gut es das Zwielicht erlaubte. Alles an ihr war fremd. Sie trug Kleidung, wie sie sie noch nie gesehen hatten und zwischen den langen Haaren lugten spitze Ohren hervor. Der Sand um den Körper herum war dunkel vor Nässe. Vorsichtig streckte Linu eine Hand aus und berührte den Rücken der leblosen Person. Sie war nass und kalt. „Das ist auf jeden Fall kein Aviare“, flüsterte sie. „Ob sie noch lebt?“
    „Woher weißt du, dass es eine Frau ist?“
    „Sie hat lange Haare.“ Linu wurde mutiger und tastete weiter. Aus dem Mund strömte Luft – immerhin lebte sie noch. Vorsichtig drehte sie den Körper auf den Rücken. „Vielleicht ist es doch ein Mann“, sagte Linu. Das Gesicht war zwar vollkommen haarlos, doch der Kiefer war markant und die Augenbrauen dicht. Um die Hüfte trug er einen Gürtel, der ein kleines Stilett hielt. Linu sprang vor Schreck auf, als das Husten einsetzte. Der Fremde spuckte Wasser und krümmte sich, dann sah er sie mit großen Augen an.
    „Wo bin ich?“


    Rak


    Rak wachte auf, weil er Stimmen hörte. Sie waren so laut, als spräche jemand direkt neben ihm, doch als der die Augen aufschlug war sein Zimmer leer. Je klarer sein Verstand wurde, je mehr er sich aus den Schleiern des Schlafes löste, desto leiser wurden auch die Worte, die er vorher noch so klar hatte verstehen können. Hatte er geträumt? Die Morgenglocke hatte noch nicht geläutet, also drehte Rak sich noch einmal auf die Seite und schloss die Augen. Da! Ganz deutlich hörte er es; jemand sprach. Der Junge schälte sich aus seiner Decke und ging die Richtung, aus der er das Geräusch vernommen hatte. Es kam aus der Wand. Aufregung befiel ihn und er legte sein Ohr auf das kalte Gemäuer, tastete sich an die Quelle der Geräusche an und versuchte alle anderen Empfindungen und Gedanken auszuschalten.
    „Bald werden wir es sehen“, ertönte eine Stimme.
    „Wann werdet Ihr mit den Unterricht beginnen?“ Rak riss die Augen auf. Das war Holon! Freude machte sich in ihm breit. Sofern Holon keine private Unterredung mit Marlo im Zimmer nebenan hielt, hatte er es endlich geschafft. Er konnte Wörter durch das Gestein hindurch verstehen.
    „Heute. Wieso fragt ihr?“
    „Nur so. Ich bin generell der Meinung, dass es nicht klug ist, die Jungen und Mädchen zu lange warten zu lassen.“
    „Warum nicht? Sie müssen bereit sein. Wenn es zu früh ist, können sie oft nicht damit umgehen.“
    „Und wenn es zu spät ist, werden sie ungeduldig und wir verlieren sie vielleicht.“
    „Auf was wollt ihr hinaus, Meister Brannes? Denkt Ihr, ich weiß nicht, dass ihr jener Fraktion angehört? Es ist nicht unser Interesse möglichst viele Schüler auszubilden oder gar eine Armee aufzubauen! Wir wollen nur unser Wissen erhalten. Wenn Ihr…“
    Laut und schallend ertönte die Morgenglocke und Rak fuhr zusammen. Was hatte der zweite Mann noch sagen wollen? Ob er Holon danach fragen konnte? Vermutlich nicht… immerhin hätte er ihm auch erzählen müssen, dass er weit entfernte Gespräche durch die Wände belauschen konnte und diese neu entdeckte Fähigkeit wollte er keinesfalls gleich wieder aufs Spiel setzen. Widerwillig wusch und kleidete er sich, machte sein Bett und ging zum Unterricht.
    Die Stimme des unterrichtenden Meisters war eine andere, als die, die er belauscht hatte, doch deren Versprechen wurde gehalten. Endlich machten sie etwas Praktisches. Auf einem jeden Tisch war ein Stück Gestein platziert und als sie eintraten, ließ ihr Meister seines vor sich schweben.
    „Guten Morgen“, sagte er lächelnd, während sie sich an ihre Plätze begaben. „Ihr kennt nun die wichtigsten Hintergründe und Regeln für einen Elementar. Nun ist der Tag gekommen, da ihr euch das erste Mal an der Praxis versuchen könnt.“ Mit einer Geste ließ er sein Felsstück auf das Pult sinken. „Setzt euch.“
    Rak war furchtbar aufgeregt. Endlich würde er etwas Neues lernen!
    „Was seht ihr vor euch?“
    „Ein Stück Gestein“, antwortete Finni schnell und der Meister lächelte ihr freundlich zu.
    „Ich möchte, dass ihr es in die Hand nehmt und eure Augen schließt. Versucht euch nur auf den Stein konzentriert. Wie fühlt er sich an? Ist er rau oder glatt, kalt oder warm? Welche Form hat er? Ist er schwer oder leicht? All solche Dinge.“
    Rak hob das Stück vom Tisch. „Nicht schauen!“, ermahnte der Meister. „Ihr müsst es fühlen.“
    Der Klumpen war so groß, dass er die Finger nicht ganz schließen konnte und wog mehr als er erwartet hätte. Er war rau und unrund, es gab spitze Stellen und Vertiefungen und Rak ließ seine Finger darüber gleiten, in dem Versuch der Form ein Bild zuzuordnen. Schnell hatte das Material seine Körpertemperatur angenommen, doch ansonsten konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken. Ein Gedanke kam ihm. Ob die anderen noch ihre Augen geschlossen hatten? Ganz langsam, so als probiere er einfach etwas aus, führte Rak den Stein an sein Ohr. Dies war ein einzelnes Stück, nicht wie eine Mauer, die eine Verbindung zur Erde, zu anderen Steinen und Materialien hatten. Würde er trotzdem etwas hören können? Er erinnerte sich an Holons Worte. Alles ist lebendig, Rak. Man muss nur lernen zuzuhören. Zudem hatte der mit eigenen Augen gesehen, wie sein Lehrer genau solch ein Stück Fels vor sich hatte schweben lassen. Angestrengt presste er sein Ohr gegen das Material, konzentrierte sich nur darauf, doch er konnte nichts hören, eher schmerzte ihn der Druck der spitzen Stellen. Enttäuscht atmete Rak aus und lockerte seinen Griff. Er hatte schon solche Fortschritte gemacht! Erst heute Morgen hatte er ein Gespräch durch Gemäuer belauscht und jetzt? Dabei war er fast noch im Schlaf gewesen… „Ich war frei von Gedanken“, schoss es ihm durch den Kopf, „und entspannt!“ Das konnte des Rätsels Lösung sein; er durfte es nicht erzwingen. Rak lockerte seinen Griff um den Stein, legte sein Ohr ganz sanft auf und verlangsamte seinen Atem. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er seine Ungeduld ausschalten, aufhören konnte, sich selbst zu drängen, doch als es ihm schließlich gelang, nahm er etwas war. Dumpf klopfte ein Herzschlag in dem Klumpen, regelmäßig und leise, dann schneller. Hörte er den Puls seines eigenen Blutes? Andere Schläge mischten sich unter, jemand strich über die Oberfläche… aber niemand stand bei ihm, da war er sich sicher. „Du nimmst die Steine der anderen wahr!“, erkannte er und hatte Mühe, die Aufregung nieder zu kämpfen. Kommunizierten sie über die Luft miteinander oder waren sie gar aus ein und demselben Fels herausgebrochen worden? Eindeutig hörte er Geräusche, die woanders im Raum gemacht wurden. Er wollte mehr; mehr hören, mehr spüren… Wenn du gelernt hast, ihnen zuzuhören, wirst du lernen mit ihnen zu sprechen und wenn du geschafft hast, dass sie dir zuhören, wirst du lernen sie zu lenken und zu formen. Wieder kamen ihm Holons Worte in den Sinn. Das würde er probieren! Aber wie sollte er mit einem Stein sprechen und was sollte er sagen? Er nahm das erste, das ihm einfiel und wiederholte es in Gedanken wieder und wieder. Werde weich. Noch immer nahm er den Herzschlag war, vereinzelte kratzende Geräusche und ein sanftes Surren. Klappte es? Rak konnte es nicht sagen. Seine Finger waren schon etwas taub vom Druck der kleinen Unebenheiten. „Wie lange sollen wir das machen?“ Finnis Stimme durchschnitt lauf seine Gedanken und Rak erschrak, ließ sein Übungsstück sinken und öffnete hastig die Augen. Hatten sie ihn schon beobachtet? Finni blickte nach vorne zum Pult, Timm inspizierte seinen Stein, doch ob die anderen hinter ihm ihn gesehen hatten, konnte Rak nicht sagen. „Solange ihr wollt. Es ist eure Übungszeit.“
    Rak legte den Stein vor sich ab. Ärger machte sich in ihm breit, dass Finni ihn jäh aus der Konzentration gerissen hatte. Nun war der Klumpen vor ihm wieder einfach nur ein Stück graues Material… er sah hinunter, das Wunder des Erlebten verblasste bereits. Dann sah er es und fast wäre er aufgesprungen. Ungläubig hielt er die Luft an, während sein Herz wild klopfte. Der Stein lag still vor ihm auf dem Pult, doch er hatte sich verändert. Dort, wo er ihn gehalten hatte, war sein Handabdruck deutlich zu erkennen. Schnell drehte er ihn auf die Seite, um die Stelle zu verbergen und sah nach vorne. Der Meister blickte ihn direkt an, sein Ausdruck unleserlich.
    Nervös faltete und löste Rak die Hände. Warum er seine Entdeckung so hektisch versteckt hatte, konnte er nicht sagen und schämte sich bereits dafür. Der Meister hatte es bemerkt. Er hatte gesehen, dass Rak etwas verbergen wollte. Wie dämlich! Mit Sicherheit hätte er die Steine aller Schüler ohnehin kontrolliert. Vorsichtig griff Rak sein Exemplar und hob es hoch. Er legte die Hand an die ursprüngliche Stelle und sie passte exakt in die Vertiefung. Das Material musste auf ihn gehört haben; es war kurzzeitig weich geworden. Holon hatte ihm gesagt, dass man zur vollständigen Kontrolle ein ganzes Leben bräuchte. Entweder hatte er übertrieben oder Raks Fortschritte waren ungewöhnlich. Hatte er sein Ergebnis deshalb versteckt?
    „Nun“, sagte der Lehrmeister und beendet damit Raks Grübelei, „ich vermute, ihr seid fertig, da kaum einer mehr mit der Aufgabe beschäftigt ist.“ Timm, der bis eben mit Finni gesprochen hatte, drehte sich nach vorne.
    „Erzählt mir, wie ist euch mit der Aufgabe ergangen?“
    Rak schluckte und überlegte, was er sagen sollte, wenn er dran kam. „Ja, Stanna?“
    „Ich fand die Übung sehr schwierig. Meine Augen waren geschlossen, ich habe mich an alles gehalten, doch ich konnte nichts Besonderes erkennen.“
    „Es muss nichts Besonderes sein. Hast du den Stein erfühlen können?“
    „Ähm, ja, natürlich. Ich fühlte Spitzen und Rundungen, kleine Kratzer und ganz glatte Stellen.“
    Der Meister nickte aufmunternd. „Und mit Sicherheit hattest du schnell ein Bild von dem Felsstück im Kopf nicht wahr, ohne, dass du es vorher genau angesehen hättest?“
    „Ja das schon, aber…“
    „Nichts aber. Damit hast du den Sinn dieser Aufgabe schon erfüllt. Du hast dich auf den Gegenstand in deiner Hand eingelassen, hast dich darauf konzentriert und ihm all deine Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist das Wichtigste, das ein Elementar beherrschen muss.“ Er stand auf und ging vor seinen Tisch. „Wer es nicht einmal schafft, sich in einem geschlossenen, ruhigen Raum auf ein Stück Gestein zu konzentrieren, der braucht an alles, was danach kommt, gar nicht denken.“ Er blickte in Finnis Richtung, die auf ihrem Stuhl zusammensank und eine leichte Schmolllippe zog. „Gut, wer möchte uns noch von seinen Erfahrungen berichten?“
    „Mir ging es ähnlich wie Stanna“, sagte Argus.
    „Ja, mir auch“, pflichtete der schüchterne Marlo bei.
    „Mhm, mhm, sehr gut. Und bei euch? Timm, Finni, Rak? Wollt ihr etwas erzählen?“
    Das Mädchen wurde rot und blickte nach unten. Es war das erste Mal, dass Finni die Worte fehlten, dachte Rak. „Mir ging es auch wie den anderen, nichts Spezielles, aber ein gutes Gefühl für den Stein.“ Timm nickte eifrig beim Sprechen, vielleicht um sich selbst von der Wahrheit seiner Worte zu überzeugen.
    „Es ist nicht schlimm, wenn diese Übung schwierig für euch war oder ihr nicht das gemacht habt, was ihr solltet. Es war immerhin euer erster Versuch und wenn man nicht weiß worauf man zu achten hat, sind Fehler nur natürlich. Beim nächsten Mal wisst ihr Bescheid und könnt es besser machen.“
    „Rak hat auch nicht gemacht, was wir sollten“, sagte Timm plötzlich. „Ich habe gesehen wie er an dem Stein gehört hat.“
    Wie Messerspitzen spürte Rak nun alle Blicke auf sich, bis der Lehrmeister das Wort ergriff und die unangenehme Stille auflöste.
    „Es war nicht verboten, sein Gehör einzusetzen. Das war eine gute Idee. Hast du denn auch etwas gehört?“
    Er schluckte. „Ja. Ich habe meinen eigenen Herzschlag gehört.“
    „Und wie bist du darauf gekommen, an dem Stein zu lauschen? War es eine plötzliche Eingebung?“ Rak nickte zögerlich. „Konntest du sonst noch etwas hören oder gar spüren?“
    „Ich… ich meinte auch Geräusche der anderen zu hören.“
    Aus dem Augenwinkel sah er, wie Finni und Timm einen Blick wechselten und abfällig die Luft ausstießen. „Das stimmt! Ich erfinde das nicht!“, sagte Rak und merkte, wie er wütend wurde. „Aber, aber“, beschwichtigte der Meister. „Natürlich erfindest du das nicht, es ist durchaus möglich, Derartiges wahrzunehmen… doch nach so kurzer Zeit…“ Sein Blick durchbohrte Rak, als prüfe er ihn und der Junge hatte Schwierigkeiten standzuhalten, war mehr als froh, als sein Lehrer schließlich lächelte. „Gut gemacht, Rak!“ Er wandte sich wieder an die ganze Runde. „Ihr werdet dieses Mal eine Aufgabe bis zur nächsten Stunde bekommen: ich möchte, dass ihr jedes Stück Gestein, an dem ihr vorbei kommt, untersucht, es ertastet und, auch, wenn ich das eigentlich erst später mit euch üben wollte, versucht zu lauschen, etwas in einer Mauer oder einem Felsbrocken zu hören. Wenn wir dieses Thema heute schon angesprochen haben, können wir es auch gleich drannehmen.“
    Rak hielt noch immer seinen Übungsstein in der Hand. Vielleicht konnte er ihn mitnehmen und den Abdruck doch vertuschen. Die Art, wie der Meister reagiert hatte, sein Ton und sein Ausdruck und auch das Gespräch von Holon und dem Unbekannten am Morgen, sagten ihm, dass derart schnelle Fortschritte nicht normal waren und dass er besonders beobachtet werden würde, fänden sie es heraus.
    „Nun denn, ich entlasse euch in den Nachmittagsdienst, ihr könnt gehen.“ Stühle quietschten auf dem Boden, als die fünf sich auf den Weg nach außen machten. Rak drehte sich in Richtung Türe, da hörte er noch einmal des Meisters Stimme, ganz leise und direkt hinter sich. „Du nicht, Rak. Du bleibst.“


    Triborin


    „Also habe ich das Vogelvolk doch gefunden“, dachte Triborin, auch wenn sein Lord vermutlich eine lebendigere Version gemeint hatte. Er strich mit dem Finger über die Bilder der Vögel. Sie sahen aus wie Junge. Es war unmöglich zu sagen, ob sie schon immer versteckt unter der Brust der Frau gelegen hatten oder ob sie nachträglich dort abgelegt worden waren. Hatte Liena ihn absichtlich hierhin geschickt? Ihn befiel das Gefühl, dass er eine große Entdeckung gemacht hatte. Gedankenverloren blickte er in Richtung des Ortes.
    Die Dämmerung setzte ein, doch von Liena keine Spur. Triborin wurde nervös. Egal ob ihr nun etwas zugestoßen war oder ob sie beschlossen hatte, ihn sitzen zu lassen, beides schnürte sein Innerstes zusammen. Zu gut wusste er, was ihr Plan für diesen Fall vorsah: es sollte alleine über die Grenze reiten und doch weilte er noch immer an Ort und Stelle, in der Hoffnung, die Albe werde noch erscheinen.
    Die Siedlung war so nah und das Gelände so flach, dass der die Umrisse der Häuser und die vereinzelten Lichter sehen konnte. Die Dunkelheit war seine Verbündete, die Nacht sein Revier und Heimat der Göttin, zu der er betete. Jetzt brauchte er sich vor nichts mehr zu fürchten und zu verstecken. „Warte hier; ganz ruhig.“ Das Pferd schnaubte leise und Triborin schlüpfte aus der kleinen Höhle. Im letzten Rest Dämmerlicht suchte er die Ebene nach Alben und Tieren ab, dann rannte er los. Seine Füße verursachten kaum einen Laut auf dem trockenen Boden, als er leichtfüßig auf die Siedlung zustürmte. Das letzte Tageslicht wurde vom Horizont verschluckt und der Schatten umfing Triborin, machte ihn beinahe unsichtbar, als er die Kapuze seines Umhangs überwarf.
    Der Ort war nicht groß. Es gab eine Hauptstraße, von der ein paar Seitengassen abzweigten sowie einige freistehende Häuser. Die Gebäude waren allesamt aus rötlichem Stein gemeißelt und kunstvoll verziert. Überall gab es Ornamente, kleine Säulen und Skulpturen. Vor einem großen Gebäude war Lienas Stute angebunden. Also war die Albe noch hier… was hielt sie auf? Triborin verharrte in der dunklen Seitengasse. Das Licht, das in einigen Häusern brannte, erhellte die Hauptstraße ein wenig. Sie zu überqueren war riskant, ohne ein Zeichen von Liena würde er dieses Wagnis nicht eingehen. Triborin schloss die Augen und konzentrierte sich einzig auf sein Gehör, schärfte die Sinne bis auf das Äußerste. Er hörte wie der Wind über den sandigen Boden strich, wie irgendwo eine Tür knarzte… und Stimmen. Die Worte wurden mit Nachdruck gesprochen und obwohl er sie nicht verstand, wusste er, dass ein Streit im Gange war. Es kam von einer Parallelstraße. Triborin öffnete die Augen und sah sich um. Die Häuser boten viele Tritt- und Haltemöglichkeiten. Anstelle auf die gut einsehbare Hauptstraße zu treten, würde er nach oben klettern und sich über das Dach heranpirschen. Schnell und vollkommen geräuschlos zog sich der Dunkelelf nach oben, packte ein kleine Säule mit der einen und ein Sims mit der anderen Hand. Den halben Weg hatte er schon geschafft, da brach plötzlich eine kleine Skulptur ab, an der er sich hatte festhalten wollen. Triborin drohte nach hinten zu fallen und konnte sich gerade so mit der anderen Hand halten. Den Rest der steinernen Figur hielt er noch umklammert und seufzte vor Erleichterung, dass weder er, noch das kleine Steinelement laut auf dem Boden aufgeschlagen waren. Eilig erklomm er die letzten Meter, zog sich auf das Dach und robbte auf dem Bauch zur anderen Seite. Unter ihm tat sich eine Sackgasse auf und trotz der immer dichter werdenden Dunkelheit erkannte er sie – Liena. Sie stand mit dem Rücken an der Wand, vor ihr ein Alb. „Ich frage dich noch einmal! Was tust du hier?“ Also waren die drängenden Worte von ihm gekommen. Es klirrte leicht, wenn er sich bewegte. „Das sagte ich bereits, Ralir!“, flüsterte Liena gepresst.
    „Du solltest eigentlich gerade in Vesperion sein! Ich musste dir den ganzen Weg hierher folgen.“
    „Ich habe einen neuen Auftrag.“
    Er lachte leise. „Denkst du, ich weiß nicht, wen du begleitest? Ich konnte seinen Gestank noch Meilen zurückverfolgen.“
    „Albenpack“, dachte Triborin wütend, doch er harrte noch aus. Vielleicht konnte er etwas erfahren.
    „Das geht dich nichts an!“
    „Denk nicht, du wärst etwas Besonderes. Ich weiß, dass du nicht länger unantastbar bist. Komm mit mir, so wie es immer vorgesehen war!“
    „Vergiss es, Ralir.“
    „Soll ich stattdessen allen erzählen, was du hier treibst? Oder soll ich deinen Freund zur Strecke bringen?“, er spuckte auf den Boden.
    Triborin grinste verächtlich. „Das wäre ein interessanter Versuch“, dachte er.
    Liena hatte nicht geantwortet und Triborin konnte ihr Gesicht nicht sehen. Ganz anders als der Alb Ralir, der darin scheinbar etwas gelesen hatte. „Du… magst ihn…“, sagte er kaum zu hören. Dann packte er in einer blitzschnellen Bewegung Liena am Hals und hob die Frau mit einem Arm an. „Er ist ein verdammter Dunkelelf, Liena! Was glaubst du, was du hier tust!“
    Liena wollte etwas sagen, doch er drückte zu fest zu. Sie brachte keinen Ton heraus. Hart schlug er sie gegen die Wand. „Was tust du hier? Sag es mir!“, fauchte er, als Triborin federleicht hinter ihm landete, das Krummschwert in der Hand und ihm den Griff seitlich in den Hals rammte.
    Der Alb sank bewusstlos zu Boden und auch Liena rutsche an der Wand hinab. „Alles in Ordnung? Wer war das?“, Triborin eilte zu der Frau, die nach ihrem Hals tastete und sich auf die Beine kämpfte.
    „Niemand.“ „Liena…“, noch nie zuvor hatte er sie beim Namen genannt. „Er hat dich angegriffen.“ Sie erstarrte und legte einen Finger auf die Lippen. „Psst“, da draußen ist noch jemand“, flüsterte sie, packte Triborin am Handgelenk und zog ihn zu sich an die Hauswand in den Schatten. In der Nähe des Gasseneinganges waren Schritte zu hören. Sie standen dicht an dicht und er war einen ganzen Kopf größer als sie, sodass sie seinen beschleunigten Herzschlag würde hören können und hoffentlich für das Ergebnis der Verfolgungsjagd hielt. Keiner von beiden traute sich zu rühren. Dann entfernten sich die Schritte und Liena seufzte erleichtert. Triborin trat zurück, den Blick weiter auf die Albe geheftet, die langsam den Kopf hob. Einen Moment lang verharrten sie und er suchte in ihren Augen nach den Anzeichen, die der Alb zuvor darin gesehen haben wollte. Ihr Ausdruck war unleserlich und so riss er sich los. „Ich vermute, ich soll den hier am Leben lassen?“ Er gab sich keine Mühe, die Verachtung in seiner Stimme zu verbergen. „Er ist keine Gefahr für uns.“
    „Auch nicht für dich?“, fragte Triborin und fuhr mit der Spitze des Krummschwertes über seinen Haaransatz im Nacken.
    „Lass uns gehen.“ Liena schob sich an ihm vorbei in Richtung der Hauptstraße. „Wenn wir hier raus sind, wirst du mir sagen, wer das war“, sagte der Elf kalt und verstaute sein Krummschwert wieder auf dem Rücken. Dieses Mal würde er sie nicht davon kommen lassen. Nach einem letzten Blick auf den bewusstlosen Alb auf dem Boden, folgte er Liena. Er wäre so einfach gewesen, den Kerl umzubringen. Allerdings hatte er sich gerade schon als hilfreich erwiesen und ihm erste Bruchstücke von Lienas Rätsel beschert. Wer konnte schon wissen, ob er nicht noch von Nutzen wäre?


    Gemeinsam ritten sie auf Ilsara aus dem Ort und zu der trauernden Frau, um Triborins Pferd zu holen.
    „Wer ist dieser Ralir, Liena? Warum wart Ihr in diesem Ort?“
    Liena sah ihn überrascht an. „Wie lange habt Ihr schon auf dem Dach gelauert?“
    „Beantwortet meine Frage!“, drängte der Elf. „Nun habe ich auch Euer Leben gerettet. Gestattet mir eine Antwort.“
    „Ihr habt mein Leben nicht gerettet. Er hätte mich nicht getötet.“
    „Warum seid ihr da so sicher?“
    „Wir kennen uns so lange wir leben. Er ist der Sohn eines reichen Mannes und ein hochrangiger Hauptmann. Schon von Kindesbeinen an sind wir einander versprochen.“
    „Habt Ihr keine Angst, dass er Euch verrät?“
    „Nein“, Liena lächelte bitter. „Ich kenne ihn. Er ist ein riesen Schisser. Niemals würde er ohne Beweise eine Thronerbin beschuldigen.“
    „Also seid Ihr wirklich die Thronerbin von Mildir?“
    „Nein; ich bin eine Thronerbin.“
    „Und sie anzugreifen traut er sich?“
    Liena hob die Augenbrauen und zog die Mundwinkel leicht nach oben. „Ralir war schon immer aufbrausend und… eifersüchtig.“
    Die Worte ließen den Elf innehalten. Wollte sie herausfinden, wie viel er gehört hatte oder bloß seine Reaktion testen? „Eifersüchtig auf Euren Auftrag? Oder auch mich?“
    „Auf beides vermute ich.“ Sie lächelte und sah wieder nach vorne, während ihre Pferde sie Schritt für Schritt in Richtung der Grenze führten. Auch in Triborins Gesicht schlich sich ein Lächeln und sein Fund bei der trauernden Frau geriet zur Nebensächlichkeit.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Linu


    Die beiden Aviare waren im ersten Augenblick zu perplex, um zu antworten. Der Fremde geriet unterdessen in Panik, setzte sich auf, begann sich wild umzublicken und versuchte auf die Beine zu kommen, was ihm aber nicht gelang. Linu löste sich aus ihrer Starre.
    „Schon gut, ganz ruhig! Ihr seid in einer kleinen Höhle am nördlichen Strand.“ Die weit aufgerissenen Augen fixierten das Mädchen. „Nörd… nördlicher Strand?“, stammelte er. „Ja, von der Insel Caeron, der größten Insel von Caertol.“ Sein Kopf sank auf die Brust und er sah zu Boden, murmelte die Wörter nach. „Das kommt mir bekannt vor, doch ich weiß nicht woher“, sagte er schließlich. „Mir ist so kalt.“
    „Wir müssen ihn von hier wegbringen“, sagte Taal an Linu gewandt. „Wir werden ihn mit in meine Höhle nehmen.“ Gemby hatte die Gruppe erreicht und stand im Eingang. „Er braucht Wärme und Nahrung, vielleicht sogar ein wenig Arznei.“
    „Wer seid ihr alle?“ Seine Stimme war schwach und voller Angst und Verwirrung. „Ich bin Linu und das ist Taal“, sagte Linu und lächelte aufmunternd. „Wir sind Aviare, Vogelwandler, und das dort ist Gemby, ein weiser Simari. Wer seid Ihr?“
    „All die Worte, die Ihr sprecht, sind mir fremd. Ich bin Halldor aus dem Hause Nimari und ich stamme aus Salisir, der strahlenden Hauptstadt.“ Linu zuckte mit den Schultern. „Diese Stadt kenne ich dafür nicht.“ Er sah überrascht drein. „Ein jeder kennt die Hauptstadt, den Ort reiner Schönheit, wo das Licht wie flüssiges Gold über die Gebäude fließt und der Wind ein süßes Lied auf ihnen spielt. Mit Sicherheit habt Ihr davon gehört, auch wenn der Name Euch vielleicht entfallen ist.“ Linu merkte, dass von seiner Heimat zu sprechen dem Mann neue Lebensgeister zu geben schien und so verzichtete sie darauf, ihn zu berichtigen und ihm zu sagen, dass sie tatsächlich noch nie von diesem Ort gehört hatte. „Würdet Ihr uns begleiten?“, fragte sie stattdessen. „Wir bringen Euch ins Warme und Ihr könnt etwas essen.“
    Er willigte dankbar ein; kaum zu sagen, wie lange er hier schon bewusstlos gelegen hatte. „Und wie er überhaupt hier gekommen ist“, dachte Linu.
    Gemby nahm auf Linus Rücken Platz, da er leichter war als der Neuankömmling, der nicht schlecht staunte, als die beiden Aviare in ihre zweite Gestalt wechselten und sich in die Lüfte erhoben. Es dämmerte bereits stark und sie würden Gembys zu Hause erst mitten in der Nacht erreichen. An Schlaf war aber ohnehin nicht zu denken. Unzählige Fragen machten sich in Linus Geist breit. Noch tags zuvor hatten sie darüber gesprochen, wie unwahrscheinlich es war, dass jemand vom großen Kontinent hierher reiste und nun war tatsächlich ein Mann angekommen. Linu hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er aus diesem mysteriösen Land stammte. Merkwürdig war hingegen, dass er die Namen der Inseln nicht richtig hatte zuordnen können und wirkte, als wisse er nicht, wo er war. Linu flog so nahe an Taal, wie möglich, um hören zu können, was der Mann sagte. Die meiste Zeit gab er Ausrufe des Staunens von sich, als die über die Klippen stiegen und das Gebirge in Sicht kam, als sie eine Flughöhe erreichten, von der aus Teile der Grasebenen zu erkennen waren und als er sich umdrehte und die ewige Weite des Meeres betrachtete. Spätestens jetzt war klar: dieser Mann hatte nicht die geringste Ahnung wo er war.
    „Er hat einen Teil seiner Erinnerungen verloren“, sagte Gemby, als hätte er Linus Gedanken gelesen. „Ich habe gehört, dass so etwas bei großen körperlichen Belastungen passieren kann.“
    „Körperliche Belastung?“, fragte Linu.
    „Eine Verletzung oder eine Krankheit. Wahrscheinlich ist dieser Mann beinahe ertrunken. Immerhin ist seine Kleidung vollkommen durchnässt“ Sie sah hinüber. „Wie ist er überhaupt hierhergekommen? Fliegen kann er scheinbar nicht.“
    Darauf wusste Gemby auch keine Antwort.


    Sie aßen gemeinsam. Nach dem langen Flug war auch Linu sehr hungrig, doch es war nicht ansatzweise ein Vergleich zum Appetit des Fremden. Schüssel für Schüssel verdrückte er und aß noch immer weiter, als die anderen schon lange fertig waren. „Vielen Dank“, sagte er schließlich. „Das war wundervoll, auch wenn ich so etwas noch nie gegessen habe.“
    „Wie seid Ihr hierhergekommen, Halldor? Wie seid Ihr über das Meer gekommen?“, fragte Linu, die nur gewartet hatte, bis er sein Mahl beendete.
    „Über das Meer?“, er sah wieder verwirrt aus. „Wir sind hier auf einer Insel, Caertol, erinnert Ihr Euch? Wir haben darüber gesprochen. Irgendwie müsst Ihr über das Meer gekommen sein.“
    „Ich würde mich niemals freiwillig auf ein Schiff begeben.“
    „Ein Schiff?“, fragte Taal. „Was ist das? Kann man damit über das Meer gelangen?“
    „Aber ja. Ihr kennt keine Schiffe? Es sind Gefährte aus Holz, mit denen man auf dem Wasser fahren kann. Doch nur ein Narr betritt aus freien Stücken Nēns Reich.“
    „Der Gott des Wassers“, sagte Gemby, worauf der Mann nickte.
    „Am Ende verschlingt er uns alle.“
    „Aber Ihr müsst irgendwie über das Meer gekommen sein! Caertol ist umringt davon, es gibt keinen anderen Weg, außer zu fliegen.“
    Der Mann fuhr sich durch das hellbraune Haar. „Bis heute bin ich noch nie in meinen Leben geflogen.“
    Das machte keinen Sinn. Wenn er weder auf dem Wasser gefahren, noch durch die Luft geflogen war, wie war er dann nach Caertol gekommen?
    „Nehmen wir an, Ihr seid mit einem dieser Schiffe gefahren“, sagte Gemby, „wo wäre es jetzt?“
    „Ich… ich weiß es nicht.“ Nachdenklich starrte er auf den Tisch. „Es ist zwecklos. Ich kann mich nicht erinnern gesegelt zu sein. Vor allem, wenn das stimmt… nein, nein, es kann nicht sein!“
    Fragend wechselte Linu Blicke mit Taal und Gemby.
    „Was kann nicht sein?“, fragte Taal.
    „Seid Ihr sicher, dass wir uns auf einer Insel befinden und nicht auf dem Festland?“ Alle drei nickten. „Falls ich wirklich auf einem Meeresschiff war, so kann ich auf keinen Fall alleine gewesen sein. Mindestens dreißig Mann sind nötig, um ein mittelgroßes Frachtschiff auf einer längeren Fahrt zu handhaben.“
    „Und doch haben wir nur eine Spur im Sand entdeckt“, sagte Taal.
    „Vielleicht hat man mich nur hier abgesetzt“, schlug Halldor mit müder Stimme vor.
    „Ich denke, wir sollten alle zu Bett gehen“, ergriff Gemby das Wort. „Morgen können wir wieder an die Küste fliegen und nach dem Schiff suchen.“ Der Affe bereitete ihnen noch einen Trunk, der ihnen einen ruhigen Schlaf schenken sollte und gemeinsam richteten sie einen Schlafplatz für Halldor.
    Linu wälzte sich in ihrer Bettstatt von einer Seite auf die andere. Immer wieder blickte sie zu dem Fremden hinüber, der sofort eingeschlafen war. Sie zog die Halskette hervor, die sie am Strand gefunden hatte und betrachtete den goldenen Anhänger. Er hatte die Form einen Baumes.
    Irgendwann musste Linu doch weggenickt sein. Sie erwachte von dem Geklapper von Geschirr und sah, dass Gemby und Taal ein kleines Frühstück bereiteten. Halldor schlief noch und das Mädchen ging, um ihn zu wecken. Im ersten Moment schreckte er hoch und griff nach dem Stilett an seiner Hüfte, dann schien er sich zu erinnern, wo er war. „Oh“, entfuhr es ihm. „Entschuldigt, ich habe mich nur erschreckt.“ Linu lächelte, doch sie wurde den Gedanken nicht los, dass er sie gerade genauso gut hätte töten können. Auch wenn sie bis auf das Denkmal noch nie zuvor einen gesehen hatte, sagte ihr ihr Gefühl, dass dieser Mann ein Krieger war.
    Nach dem Frühstück flogen sie zu der Stelle, an der sie die Fußstapfen entdeckt hatten, wo der Mann aus dem Wasser gekommen sein musste. Weit und breit war nichts zu sehen. „Wenn ein Schiff hier wäre, müsste es ein Stück weiter außen vor Anker liegen“, sagte Halldor. „Sie können nicht in zu flachem Gewässer fahren.“
    Weil niemand eine bessere Idee hatte, gingen sie den Strand in beide Richtungen ein Stück ab, doch nirgends war ein Zeichen von dem Gefährt. „Falls ich tatsächlich auf einem Schiff war, müssen sie mich nur abgesetzt haben“, meinte Halldor schließlich Schulter zuckend und sie wollten sich schon auf den Rückflug machen, da erspähte Linu ein gutes Stück weiter östlich etwas im Wasser. Erst langsam, dann immer schneller ging sie darauf zu. Das Meer spülte es auf den Strand, holte es sich wieder und schob es wieder hinauf. „Es ist ein Stück Holz“, rief Linu den anderen zu. Eilig suchte sie den Strand und das Wasser ab. Es war bei weitem nicht das einzige. Die anderen hatten sie erreicht und halfen die am nächsten liegenden Teile einzusammeln. Da waren gebogenen Planken, runde Stangen, die aussahen wie glatte Äste und Taal fand sogar ein großes Stück Stoff, das er alleine gar nicht tragen konnte. Sie zogen es auseinander. In seiner Mitte war mit roter Farbe ein großes Symbol aufgemalt. Halldor sog hörbar Luft ein. „Der rote Turm Vesperions… Da haben wir das Schiff.“


    Rak


    „Zeig mir deinen Stein.“
    Zögern reichte Rak dem Meister sein Übungsstück.
    „Wo hast du das gelernt?“ Er sah Rak in die Augen.
    „Nirgendwo. Es ist einfach passiert.“ Der Meister schüttelte den Kopf. „So etwas passiert nicht einfach, Rak. Man braucht Jahre, bis man einen Stein verformen kann. Also beantworte meine Frage: wo hast du das gelernt?“
    Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. „Ich sage die Wahrheit. Als ich an dem Stein hörte, kam mir die Idee und erst habe ich gar nicht gemerkt, dass es geklappt hat.“ Prüfend kniff sein Lehrer die Augen zusammen. „Und wer hat dir gesagt, dass du an Steinen hören sollst?“
    „Ich bin von ganz allein darauf gekommen“, antwortete Rak und es stimmte. Immerhin war es seine Idee gewesen, es zu versuchen, Holon hatte ihm nur gezeigt, dass es funktionierte.
    „Seit vielen Jahren bilde ich Jungen und Mädchen zu Elementaren aus und noch nie hat eines der Kinder von alleine an dem Übungsstück gehört. Und selbst wenn, dürfte es niemals funktionieren. Die Steine sind voneinander getrennt worden. Geräusche von anderen Teilen wahrnehmen zu können, ist ebenfalls etwas, wofür man eine lange Zeit braucht und viel Übung.“
    Rak wusste nicht, was er sagen sollte, also blieb er still.
    „Hast du zuvor schon versucht, etwas im Gestein zu hören?“
    Langsam nickte er mit dem Kopf. „Und ist es dir gelungen?“
    Wieder nickte er. „Was hast du gehört?“
    „Verschiedenes. Das Zuschlagen von Türen, entfernte Hammerschläge, Schritte… solche Dinge.“ Weiterhin konnte Rak das Misstrauen im Gesicht des Meisters sehen.
    „Auch Stimmen?“
    Der Junge zögerte. „Nein.“
    „Hat Holon dir gesagt, du sollst an Gemäuer lauschen?“ Tapfer hielt Rak dem Blick stand. „Nein.“
    „Hast du ihm erzählt, dass du es tust?“
    Rak schluckte. Wie viel konnte er preisgeben? Worauf wollte der Lehrer hinaus? „Er hat mich bei einem Versuch erwischt und hat mir gesagt, dass es wirklich funktioniert.“
    „Was hat er dir noch gesagt?“ Fragen über Fragen… Rak wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich gehen zu dürfen.
    „Dass Geräusche im Gestein hören zu können, der erste Schritt bei der Ausbildung zum Elementar ist.“
    Der Meister kräuselte die Lippen. „Und der zweite Schritt?“
    Rak schüttelte langsam den Kopf. Mit einem Seufzen nahm sein Lehrer endlich den bohrenden Blick von ihm.
    „Also gut Rak. Du kannst gehen, auch wenn du mir nicht alles sagst, das sehe ich genau. Trainiere weiterhin dein Gehör und versuche nicht, die Steine zu verformen. Die Zeit ist nicht reif. Ein unerfahrener Elementar kann schlimme Dinge anrichten, wenn er keine volle Kontrolle hat und wir haben Gründe dafür, dass wir euch langsam an die verborgenen Kräfte heranführen. Zumindest die meisten von uns.“


    Mit einem furchtbar mulmigen Gefühl ging Rak zur Nachmittagsarbeit. Hatte er Holon womöglich in eine unangenehme Position gebracht? Hätte er anders antworten sollen? Es kam ihm so vor, als hätte sein Lehrer ohnehin schon alles gewusst.
    Dieses Mal war er zum Wäsche waschen eingeteilt, eine Tätigkeit, die er sowieso schon überhaupt nicht mochte und als er Timm am Wäschetrog vorfand, trug das nicht gerade zu einer Besserung seiner Laune bei. „Da bist du ja endlich“, schnauzte dieser direkt los. „Ich dachte schon, ich muss die ganze Arbeit alleine machen, während dir noch der Hintern gepudert wird.“
    Rak überging ihn einfach und schnappte sich das erste Bettlaken aus dem Waschkessel.
    „Sag schon, was wollte der Alte? Hat er dir geheime Tricks gezeigt? Dinge, die zu hoch sind für Trottel wie uns?“
    Mit großer Mühe schloss Rak die Augen und atmete tief durch. „Nein, Timm. Ich wurde dafür gescholten, dass ich mehr ausprobiert habe, als wir sollten.“ Der andere Junge prustete verächtlich. „Das glaubst du ja selber nicht! Ich habe doch genau gehört, wie er dich gelobt hat.“ Seine kleinen Augen fixierten Rak, während er immer und immer wieder dieselbe Stelle an seinem Laken schruppte.
    „Er wollte wissen, woher ich wusste, dass man etwas im Gestein hören kann.“ Rak merkte wie er wütend wurde und sich zugleich um jeden Preis verteidigen wollte. Immerhin war er es gewesen, der eben in einem unangenehmen Kreuzverhör verhaftet gewesen war und nicht dieser dumme Junge. „Du hast doch eh nur so getan! Wieso sollte man in so einem kleinen Brocken etwas hören können?“
    „Hast du nicht gesehen, wie der Meister seinen kleinen Brocken hat schweben lassen?“, konterte Rak.
    „Das ist ja wohl etwas anderes. Das ist Magie! Deshalb sind wir hier, um so etwas zu lernen.“ Timm begann sein Laken auszuwringen.
    Rak konnte sich ein ironisches Grinsen nicht verkneifen. „Du hast gehört, was der Meister gesagt hat: wer nicht sich einmal auf ein Stück Stein konzentrieren kann, der kann es gleich lassen. Vielleicht solltest du freiwillig gehen.“ Zornesröte trat in Timms Gesicht. „Und nur weil du dein Ohr an irgendeinen Klumpen hältst, denkst du, du bist schon ein großer Elementar?“
    „Du kapierst es nicht, oder? Das hängt alles zusammen! Fühlen, hören, steuern.“ Er wusste, dass er prahlte und zu viel verriet, doch er konnte nicht anders. Der Drang, den älteren Jungen vorzuführen, war zu groß. In der Tat zögerte Timm kurz bevor er etwas entgegen setzte.
    „Das hat dir jemand verraten. Der Typ mit dem du her gekommen bist! Ein dummer Bäckersohn weiß so etwas nicht, auch nicht, wenn er aus der hohen Hauptstadt kommt.“
    Der Kiefer zuckte Rak, als er die Zähne aufeinander biss. „Man sagt, ein Bäcker hat so viel Grips, wie die Brötchen, die er backt“, fuhr Timm fort, der offensichtlich gemerkt hatte, dass er Rak damit wütend machen konnte. „Ein Wunder, dass dein Vater überhaupt das richtige Loch in der Mutter gefunden hat, um dich zu zeugen.“
    Eher er sich versah, hatte Rak die kurze Distanz zwischen ihnen überbrückt und den größeren Timm am Hals gepackt. „Spinnst du, oder was?“, presste Timm hervor, doch Rak drückte nur noch fester zu. „Sprech – nie – wieder – von – meinen Eltern!“, sagte er zwar leise, doch mit bedrohlichem Unterton, bevor er von Timm abließ, der sofort seinen Hals abtastete. Wütend starrte er Rak an, dann ging er auf ihn los, versuchte ihm mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, doch verfehlte sein Ziel. Timm war größer und stärker als Rak und eben hatte dem Bäckerjungen bloß das Überraschungsmoment geholfen, das wussten sie beide. „Ich werde dir die Fresse polieren!“, knurrte Timm. „Dann überlegst du dir das nächste Mal zwei Mal, ob du dir einen Gesteinsklumpen an die Backe pressen willst, um die Meister zu beeindrucken.“
    „Versuchs doch!“, gab Rak zurück. Keinesfalls wollte er Schwäche zeigen. Ein Hieb Timms traf ihn im Bauch, doch konnte er mit dem Fuß einen Treffer landen. Die Jungen zerrten sich an den Kleidern und versuchten jeweils des anderen Gesicht zu erwischen. „Ich soll nicht von deinen Eltern sprechen, ja?“, presste Timm im Gerangel hervor. „Warum nicht? Weil ich Recht habe und sie dumm wie Brot sind? Oder hast du vielleicht gar keine Eltern? Haben sie dich ausgesetzt wie einen räudigen Hund?“ „Halt den Mund!“, brüllte Rak. Die schrecklichen Szenen, die seit ein paar Tagen endlich aus seinem Geist verschwunden waren, traten wieder aus der Versenkung. Seine Mutter und sein Vater auf Knien hoch oben auf der Holzplattform, darunter das johlende Volk und dahinter der Schafrichter mit der riesigen Axt. So hatte sich sein gnadenloses Unterbewusstsein das Ende der beiden ausgemalt und ihn immer wieder damit gequält. Er würde nicht erlauben, dass Timm so von ihnen sprach. Rak konnte sich keine besseren und gütigeren Menschen als seine Eltern vorstellen, auch wenn sie freilich einfache Leute gewesen waren. Noch nie da gewesener Zorn erfüllte ihn heiß. „Du sollst nicht von ihnen sprechen, weil ich dich sonst umbringe.“ Rak hatte die Worte ganz leise gesprochen, doch sein Atem ging schnell und schwer. Er war so wütend, dass ihm schwindelig wurde und er wollte nur eines: dem anderen weh tun. Mit zusammengekniffenen Augen sah er Timm an, dessen Gesichtsausdruck sich plötzlich änderte. War das Furcht? Dann geschah alles sehr schnell. Von allen Seiten flogen Gesteinsbrocken herbei und schlugen hart auf Timms Körper auf. Einer davon traf den Jungen am Kopf, worauf er bewusstlos zu Boden ging. Raks Zorn war Entsetzen gewichen. Er blickte sich um. Sie waren allein. Begreifen machte sich in ihm breit und er schlug die Hand vor den Mund. Es gab nur eine Erklärung: er hatte die Steine beschworen.
    Nervös raufte er sich die Haare. Was sollte er tun? Er ging zu Timm und beugte sich zu ihm hinab. Blut sickerte aus einer üblen Platzwunde auf den Boden, doch immerhin atmete er noch. Gerade wollte Rak zum Waschbecken eilen, um das Blut wegzuwaschen, da hörte er schon eilige Schritte auf dem Gang und kurz darauf des Lehrmeisters Stimme. „Was ist hier los?“

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Triborin


    Eine Zeit lang waren sie schweigend nebeneinander her geritten, bis Triborin wieder das Wort ergriff. „Ihr sagtet, Ihr seid eine der Thronerben. Seid Ihr also nicht die älteste Tochter des Lords?“
    Liena sah ihn mit leicht erhobenen Brauen an. „Nein, bin ich nicht.“
    Also hatte sie mindestens einen älteren Bruder und eine ältere Schwester, dachte Triborin. So zumindest der Informationsstand seines Lords. „Seid Ihr deshalb diesem Ralir versprochen?“
    „Wieso sollte das eine etwas mit dem andere zu tun haben?“
    Triborin lächelte. „Weil ein Lord der Alben seinen Nachfolger nicht nach der Alterslinie bestimmen muss, sondern nach seiner persönlichen Einschätzung.“
    „Ihr wisst viel über unser Volk.“ Stolz und aufrecht saß sie auf ihrer Stute und blickte in die Ferne.
    „Ich wüsste gern mehr über Euch“, gab Triborin zurück. „Warum seid Ihr hier? Ralir meinte, Ihr müsstet in Vesperion sein.“
    „Ich bin hier, weil Ihr sonst niemals nach Solterra gelangt, sondern zum Gefangenen der Westmänner geworden wäret.“
    „Und in wie fern hätte Euch das geschadet?“
    „Ein Krieg wäre ausgebrochen“, sagte Liena ernst.
    „Das mag sein, doch auf welcher Seite hätten die Alben wohl gestanden? Kaum auf der unseren, möchte ich behaupten.“
    Als Liena den Kopf wieder zu ihm wandte, erkannte er Kälte in ihrem Ausdruck. „Ist es nicht egal, wer auf wessen Seite steht? Ein Krieg ist in jedem Fall grausam und leidbringend für Unzählige auf allen Seiten.“ Triborins Lächeln verblasste. „Ich versuche nur zu verstehen, denn Antworten erhalte ich keine. Keineswegs bin ich ein Freund des Krieges. Doch ich habe bewaffnete Alben in Vesperion gesehen und frage mich wie das zusammenpasst mit Euch, deren Auftrag wohl ist, den Konflikt zu umgehen.“
    Liena seufzte. „Es gibt Dinge über die können wir einfach nicht sprechen.“
    „Sagt mir wenigstens für wen Ihr“, eine Geste Lienas unterbrach ihn. Mit einem Kopfnicken wies sie in eine Richtung und Triborin sah, was sie meinte. Staubwolken zierten den Horizont, vom Mondlicht geisterhaft erhellt.
    „Gibt es normalerweise Grenzkontrollen nach Solterra?“, flüsterte er und die Albe nickte. „Aber nur auf den Straßen und Wegen, nicht hier. Wir müssen hoffen, dass sie uns noch nicht gesehen haben“, flüsterte sie zurück. „Es gibt noch einen anderen Weg.“
    „Und was, wenn sie uns erspäht haben?“
    „Dann werden wir uns durchkämpfen müssen.“


    Sie schlugen eine östliche Richtung ein. Dass die Grenze belagert war, ließ zwei Rückschlüsse zu: entweder die Männer aus Vesperion hatten Alarm geschlagen oder dieser Ralir hatte eine Truppe im Schlepptau, die versuchte ihnen den Weg abzuschneiden. „Von beiden Varianten kennt nur Ralir unseren genauen Standort“, dachte Triborin und äußerte seine Vermutung gegenüber Liena, die den Kopf schüttelte. „Nein. Er wird sich alleine auf die Suche nach uns machen.“ Ihr Ton war bestimmt. „Ihr habt gesehen, dass mein Volk in Vesperion zugegen war. Das wird der Grund für die Patrouille sein.“
    Der Elf dachte zurück an die Szene in dem Ort, wie die Menschen vor dem Alben mit der Mondklinge zurückgewichen waren, wie sie ihn gefürchtet hatten. Das Machtverhältnis zwischen den beiden Völkern war klar und auch wenn die Alben ihn in dem Ort nicht gesehen hatten, war ihnen mit Sicherheit alles sofort von den Menschen berichtet worden; was auch bedeutete, dass sie wissen mussten, wer ihn gerettet hatte. Triborin blickte Liena an. Für wen arbeitete die Frau? Wofür gab sie ihre Heimat auf, betrog ihren eigenen Vater? Sie würde sich nie wieder in Mildir blicken lassen können. Außer… andere Zweifel kamen ihm. Die Stimme, auf die er nicht hören wollte, deren Worte ihm wie Gift bitter auf der Zunge lagen, meldete sich erneut. Alles gehört zu einem Plan. Sie benutzt dich. Mühsam verdrängte er sie. Selbst wenn? Hatte er eine andere Wahl, als mitzuspielen? Überhaupt, wer wusste, was er auf diese Weise alles würde herausfinden können? Am Ende konnte er seinem Lord weit mehr vorweisen, als Informationen über dieses mysteriöse Vogelvolk. Es hieß lediglich wachsam zu sein.
    Um unauffällig zu bleiben, ritten sie in einem langsamen Schritttempo nebeneinander und Triborins schwarzer Hengst verdeckte die helle Stute der Albe in Richtung der Grenze. Die Dämmerung war nicht allzu fern und das Land endlos weit und offen. Ihre einzige Deckung durch die Schwärze der Nacht würde sie nicht mehr lange schützen. Aufregung machte sich in Triborin breit, nicht, weil er sich fürchtete, sondern der üblichen Anspannung wegen, wenn die Dauer, bis ein erwartetes Ereignis eintritt, sich mehr und mehr in die Länge streckt. Fast hätte er es begrüßt, wenn sie auf direkte Konfrontation gegangen wären, anstatt das Unvermeidliche hinaus zu zögern, doch entweder war Liena überzeugt, dass sie es schafften oder sie wollte das Zusammentreffen so lange wie möglich meiden. Immerhin war es mehr als wahrscheinlich, dass sie dort auf Alben trafen. Würde sie ihre eigenen Brüder und Schwestern niederstrecken, wenn es darauf ankäme? Sie kamen so langsam voran, dass Triborin bald damit rechnete, Ralir würde sie einholen. „Sollten wir nicht lieber hindurch preschen? Es wird bald hell“, fragte er Liena schließlich leise. „Gleich“, antwortete diese nur, während sich das Zwielicht des anbrechenden Tages Meter um Meter hinauf schob und die Nacht verdrängte. Nun wurde Triborin doch nervös. Er konnte sich lebhaft vorstellen, welch gutes Ziel ein schwarzer Fleck vor einem hellen Sandsteinhintergrund abgab, auch ohne das die tiefstehende Sonne ihn direkt anstrahlte. Ein einzelner Langbogenschütze wäre ausreichend und seine Tage wären gezählt. Es war nicht so, dass Triborin den Tod fürchtete, doch er hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie es geschehen sollte. Hilflos niedergestreckt zu werden, passte nicht dazu. Sein Blick glitt nach Süden. Noch immer waren vereinzelt Staubwolken auszumachen, was darauf schließen ließ, dass sie sich fort bewegten; das war deutlich besser als eine Barrikade. Rund herum war das Land weiterhin eben, es gab keine erhöhten Plätze für Bogenschützen oder Verstecke für einen Hinterhalt. Triborin sah zurück zu Liena. Vielleicht war das, was sie dort erwartete tatsächlich für die Albe ein Problem und nicht für ihn. Er musste nur nach Solterra gelangen, dann könnten sie ihn nicht mehr ungestraft vom Pferd schießen. Die südlichen Lande waren viel zu stolz und mächtig, um dem Albenlord die Stiefel zu lecken, wie Vesperion das tat. Kalt breitete sich die Entscheidung in seinem Innern aus. „Ich weiß nicht, worauf Ihr wartet“, sagte Triborin mit einem leichten Zittern in der Stimme, „aber ich reite jetzt.“ Seine Fersen hieben in die Flanken des Nachtschattens und das Pferd reagierte sofort. „Nein!“, rief Liena, doch Triborin donnerte bereits auf die Grenze zu. Wenn sie ihn bis jetzt noch nicht bemerkt hatten, würden sie es jetzt tun. Das Gewitter der Hufe war nicht zu überhören. Tief senkte er den Körper hinab, legte sich fast auf den Hals des Rosses ab, zog das Krummschwert mit einer Hand und hielt mit der anderen die Zügel, die kleine Armbrust bereit zum tödlichen Schuss. Von weitem erkannte er Banner mit dem roten Turm Vesperions um dem goldenen Baum Mildirs. Zumindest diesbezüglich hatte Liena die Wahrheit gesagt: sie mussten aus dem westlichen Königreich kommen. Ein paar waren beritten, doch die meisten gingen zu Fuß und es sah so aus, als patrouillierten sie tatsächlich das Grenzgebiet. Triborin fletschte die Zähne. Er würde leichtes Spiel haben. In aller Eile versuchten die Krieger verzweifelt eine Formation anzunehmen, während das Unheil in schwarz auf sie zustürmte. Ein Pfeil verfehlte ihn nur knapp und der Dunkelelf trieb sein Pferd nochmals an. In vollem Galopp traf er auf die kleine Gruppe. Männer wurden einfach niedergetrampelt, der Bogenschütze fiel wie von Geisterhand von seinem Ross und ein anderer Alb ging mit aufgerissener Kehle auf die Knie. Dann war er auch schon hindurch. Im Osten hievte sich die Sonne gerade mühsam über den Horizont und warf ein rotes Licht über das Land. Triborin verlangsamte sein Pferd ein wenig und sah sich um. Weitere Krieger eilten herbei, nach Westen und Osten hin hatte die Bewegung gestoppt. Die Nachricht, dass der schwarze Reiter erneut entkommen war, würde sich nun die Reihen entlang arbeiten. Sein Blick suchte allerdings etwas anderes. Der Dunkelelf ertappte sich dabei, wie sehr er sich wünschte, die cremefarbene Stute würde angeflogen kommen, doch von dem Tier und seiner Reiterin war keine Spur.
    Was hatte er erwartet? Er hatte diesen Entschluss gefasst, weil es Zeit war, die Zügel wieder an sich zu reißen. Sein Lord hatte ihm einen wichtigen Auftrag gegeben, der nicht beinhaltete, mit einer schönen Frau durch die Landschaft zu spazieren und sich von ihr bevormunden, ja am Ende sogar in eine Falle locken zu lassen. Ein Zurück gab es nun wohl ohnehin nicht mehr. Mindestens zwei Alben waren unter seinen Opfern gewesen. Könnte Liena ihm das verzeihen? Krampfhaft schüttelte er den Gedanken ab. Allein, sich solch eine Frage zu stellen, glich Hochverrat in Lacharys. Seiner Träumereien zum Trotz war nie Hoffnung bestanden. Er war ein Dunkelelf, sie eine Albe, es war als versuche man Feuer und Wasser miteinander zu verbinden. Nun, da er den Schritt gewagt hatte, merkte er aber, dass es ihm doch mehr nachhing als gedacht. Der törichte Impuls zurück zu reiten durchfuhr ihn und er lachte zynisch auf. „Sie hätte dich nie genommen“, sagte er sich. „Du bist ein verdammter Dunkelelf, schon vergessen?“
    Für einige Tage mochte sie sein Leben erhellt haben, nun war es Zeit, sich wieder den wichtigen Dingen zu zuwenden.
    Mit großer Anstrengung nahm er den Blick nach vorne und versuchte die Gedanken und Gefühle wegzusperren.
    In seinem Geiste predigte er, wie um sich selbst zu überzeugen, seinen Schwur rauf und runter.

    Hart wie Obsidian, kalt wie Eis,
    ein Leben für Land und Lord.
    Kraft und Blut und Schmerz und Fleiß
    Auf ewig dien‘ ich, bis zum Tod.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Linu


    Halldor war wie vom Blitz getroffen und starrte auf die Überreste des Schiffes. „Könnt Ihr Euch erinnern?“, fragte Linu vorsichtig, doch der Mann schüttelte langsam, ohne den Blick zu lösen, den Kopf. „Nein; das heißt, als ich den Turm sah, blitzten kurz Bilder einer steinernen Stadt in meinem Geist auf, doch es war sofort wieder weg…“ Gedankenverloren bewegte er erneut den Kopf von Seite zu Seite, als zermartere er sich das Hirn, doch er blieb still.
    „Wir sollten die Küste absuchen“, flüsterte Taal. „Vielleicht gibt es noch weitere Überlebende, die unsere Hilfe benötigen.“ Ihr Gefühl sagte Linu, dass sie niemanden finden würden, zumindest nicht lebendig, doch sie nickte und auch Gemby hielt es für eine gute Idee. Wenigstens einen Versuch war es wert. Sie vereinbarten, dass die beiden Aviare ein größeres Areal aus der Luft kontrollieren, während Gemby und Halldor sich den Strand mit all den Hinterschnitten und Einbuchtungen in den Klippen vornehmen würden.
    Aus der Höhe erkannte Linu noch vereinzelt weitere Teile des Wracks, die über eine große Distanz verteilt auf den Sand gespült wurden, doch von einem Menschen war keine Spur. Sie suchten den ganzen Nachmittag und gaben schließlich auf. Halldor schien der einzige Überlebende der Schiffskatastrophe zu sein.
    „Das ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man Nēns Reich beansprucht“, sagte Halldor ernst. „Möge er sie in Frieden ruhen lassen, wer auch immer sie waren.“ Sie schwiegen einen Augenblick und blickten gen Horizont. Das Meer war ruhig und friedlich und Linu fragte sich, wie es zugleich derart zerstörerische Kraft haben konnte. „Wir sollten heim kehren“, sagte Gemby schließlich. „Lasst uns ein Abendmahl zu uns nehmen und Halldor kann uns von diesem roten Turm berichten. Vielleicht fällt Euch wieder etwas ein, wenn Ihr darüber sprecht.“


    „Es ist das Wappen des Könighauses Krinkar, dem Herrscher von Vesperion“, begann der Mann, nachdem sie sich gestärkt hatten. „Was ist das für ein Ort?“, fragte Taal. „Wir kennen Eure Heimat nicht, nur diese Inseln.“ Halldor wirkte erneut überrascht, doch er fuhr fort. „Vesperion ist ein Land westlich meiner Heimat, das von Menschen bewohnt und beherrscht wird. Ich weiß, dass sie Schiffe haben und zur See fahren, doch ich bin noch nie dort gewesen.“
    „Vielleicht könnt Ihr Euch nur nicht daran erinnern“, sagte Gemby. „Offensichtlich habt Ihr einen beträchtlichen Teil Eures Gedächtnisses verloren.“
    „Aber das müsste ja schon… Wochen her sein. Wie weit sind diese Inseln vom Festland entfernt?“ Als Antwort erhielt er nicht mehr, als fragende Gesichter und zuckende Schultern. „Selbst für kurze Strecken auf dem Wasser braucht man eine lange Zeit.“
    „Es verwundert mich nicht, dass Ihr das nicht mehr wisst. Denn immerhin könnt Ihr Euch an Euren Auftrag und an den Namen dieser Inseln auch nicht mehr erinnern und das muss auf jeden Fall zuvor passiert sein oder nicht?“, sagte Gemby lächelnd.
    Halldor schien kurz zu überlegen. „Vielleicht… es sei denn, das hier war gar nicht mein Ziel. Wir könnten zufällig hier gelandet sein.“
    „Wo wolltet Ihr dann hin?“ Linu war überrascht über Gembys Spitzfindigkeit. Man konnte den alten Affen leicht unterschätzen. Halldor nickte resignierend. Auch ein anderes Ziel müsste ihm nach dieser Argumentation bekannt sein. „Ach, das macht alles keinen Sinn! Wenn ich nicht entführt worden bin und auch daran keinerlei Erinnerung habe, wollte ich diese Inseln wirklich erreichen, wie nennt Ihr sie?“ – „Caertol“, sagte Linu schnell. „Richtig, Caertol…“ Es klang seltsam fremd, wenn Halldor es aussprach. Der Ausdruck des Erkennens trat auf sein Gesicht. „Ist Euch etwas eingefallen?“, fragte Linu aufgeregt, doch er schüttelte schnell den Kopf. „Ich weiß wie ich heiße, wie alt ich bin und wo ich herkomme, nur die kurzfristigen Ereignisse fehlen mir vollkommen. Das heißt“, er hob einen schlanken Zeigefinger, „dass ich von der Existenz C… Caertols, von dieser Inselgruppe, erst vor Kurzem erfahren habe!“ Die Freude über die Schlussfolgerung hielt nicht lange, denn wieder waren sie in einer Sackgasse gelandet. „Erzählt uns über Eure Heimat“, sagte Gemby schließlich. „Im besten Fall könnt Ihr so Euer Gedächtnis weiter anregen.“
    „Nun ja… wo soll ich anfangen?“
    „Wie wäre es mit dieser Hauptstadt, die Ihr erwähnt habt?“, schlug Taal vor. „Salisir? In Ordnung.“ Kurz sammelte er seine Gedanken, dann fuhr er fort. „Ich habe nicht immer dort gelebt, erst als junger Mann bin ich dorthin gezogen, denn ich wollte mich für eine Stellung bei seiner Lordschaft anbieten. Ich kam vom Land, wisst ihr? Wir hatten ein kleines, einfaches Haus, da war die Stadt natürlich eine Offenbarung für mich. Helles Gestein, kunstvoll verzierte Gebäude, überall Brunnen und trotzdem so natürlich, als gehöre sie zur Umgebung, wäre schon immer da gewesen. Die Lage alleine… eine Reise wert! Zu beiden Seiten der Mangalklamm wächst Salisir in die Höhe und streckt sich den Sonnenstrahlen entgegen. Schön und sauber und tugendhaft“, er lächelte ob dieser Erinnerungen in sich hinein und Linu, die nichts als einfache Dorfhütten kannte, versuchte sich etwas Derartiges vorzustellen. „Ganz oben thront des Lords Palast. Säulengänge flankieren die Gebäude auf allen Seiten, es gibt Zimmer über Zimmer für die hohe Familie und ihre Gefolgschaft, und in der Mitte steht der Sansarbaum, der erste Baum der Welt, den Narma persönlich gesät hat. Bei schönem Wetter scheint die Sonne von früh bis spät auf das Anwesen und es erstrahlt so hell, dass man es auch den goldenen Palast nennt - mana milsara.“ Gebannt hing Linu an Halldors Lippen. Der goldene Palast… wenn nicht dort, wo sollte der goldene Herr aus Mins Geschichten dann gehaust haben? „Dieser Lord“, fragte sie mutig, „ist er ein goldener Herr?“ Halldor lachte bei dieser Frage. „Nein. Er ist ein Alb aus Fleisch und Blut, auch wenn er gerne und viel Schmuck trägt. Ansonsten kleidet er sich recht gewöhnlich.“ Linu tastete nach der Kette, die sie seit dem Fund stets bei sich getragen hatte. Goldene Städte, heilige Bäume und Schmuck? Konnte das ein Zufall sein? Langsam holte sie den Anhänger hervor. „Schmuck wie dieser?“, fragte sie.
    „Woher habt Ihr das?“ Von einer Sekunde auf die andere wich der amüsierte Ausdruck aus Halldors Gesicht, es wurde ernst und seine Augen kalt. „Ich habe es am Strand gefunden, kurz bevor wir Euch entdeckten“, entgegnete Linu etwas verschüchtert. „Nein…“, hauchte Halldor und fasste sich an die Stirn. „Das kann nicht, das darf nicht…“ Linu wechselte einen Blick mit Taal und Gemby. „Halldor“, sagte sie sanft und legte dem Mann vorsichtig eine Hand auf die Schulter. „Was ist?“
    Er sah auf, seine Augen voll Entsetzen. „Der goldene Baum ist das Symbol des Hauses Sinklar, meiner Lordschaft. Nur ein Angehöriger seiner Familie ist befugt es am Körper zu tragen.“ Tiefe Bestürzung lag in seinem Blick. „Versteht ihr nicht? Ein hoher Herr oder eine hohe Lady muss ebenfalls auf diesem Schiff gewesen sein und jetzt…“ Ihm versagte die Stimme. „Auf ewig in den Fängen Nēns… Möge Narma ihn um Gnade bitten.“
    Der Alb versank in ein geflüstertes Gebet und keiner der anderen wusste, was es Aufbauendes zu sagen gegeben hätte. Als er das nächste Mal den Kopf hob, war Entschlossenheit in seinem Ausdruck. „Ich muss mich erinnern. Ich muss wissen, warum mich ein Lord oder eine Lady begleitet hat, warum ich hierhergekommen bin. Erzählt mir über diesen Ort und über euch. Vielleicht hilft das.“
    Nach einem kurzen Blickkontakt mit den anderen, übernahm Linu das Wort. Sie erzählte alles, was sie wusste, von den Dorfgemeinschaften, von ihrem Volk, von den Inseln, dem Wald und dem Gebirge. Schnell musste sie feststellen, dass es nicht viel zu berichten gab. Das Leben der Aviare war einfach und einfarbig, ruhig und harmonisch. „Wir haben aber erst kürzlich herausgefunden, dass wir ursprünglich gar nicht von hier stammen“, warf Taal ein, der merkte, dass Linu nicht weiter wusste. „Vor vielen Jahren sind wir nach Caertol gekommen, während die Affen schon immer hier waren. Vermutlich lebte auch unser Volk zuvor auf dem Kontinent, von dem Ihr kommt.“
    „Ihr habt das erst vor kurzem heraus gefunden? Wieso das?“, hakte Halldor nach. Beide Aviare zuckten mit den Schultern. „In unserer Gemeinschaft ist dieses Wissen nicht mehr verbreitet. Warum, weiß ich auch nicht. Wir haben es selbst herausgefunden, mit Gembys Hilfe.“ Er wies auf den alten Affen. „Er hat uns nämlich ein Denkmal gezeigt, dass schon Tausend Jahre alt sein muss.“ Linu lächelte ihren Freund an. Das hatte sie schon immer sehr an ihm gemocht, dass er sich ebenso wie sie für Geheimnisse und Abenteuer begeistern konnte. „Die Skulptur zeigt einen Krieger… Isiko war sein Name.“
    Beim Klang des Namens weiteten sich Halldors Augen. „Ist Euch dieser Namen bekannt?“, fragte Gemby.
    „Ja“, antwortete der Alb geistesabwesend. „Ich kenne ihn, aber ich finde keine Verbindung… und doch fühle ich, dass er bedeutsam ist. Isiko…“ Mehrfach sprach er den Namen vor sich hin, dann sah er ruckartig auf. „Wisst Ihr es wieder?“, fragte Linu hoffnungsvoll. Langsam nickte Halldor. „Der Name hängt auf jeden Fall mit meinem Auftrag zusammen. Ich kann mich erinnern, dass mein Lord ihn erwähnt hat.“ Das war nicht viel. Die junge Aviare blickte enttäuscht zu Taal und dann zu Gemby. Der alte Affe hatte die Augen leicht zusammen gekniffen und grübelte offensichtlich über etwas. Er ließ Halldor dabei nicht aus den Augen. Linu verstand: Halldor hatte ihnen nicht alles gesagt.


    Rak


    Schon eine gefühlte Ewigkeit saß Rak in dem kleinen Raum auf einem der schweren Stühle, die den runden Tisch in seiner Mitte flankierten. Die Eichentüre war abgeschlossen, doch er wäre ohnehin nicht weggelaufen. Wo sollte er schon hin? Meister Lanon hatte Timm in sein Zimmer bringen lassen und alle möglichen Anweisungen gegeben, die Rak kaum wahrgenommen hatte. Wie paralysiert war er in der Waschküche gestanden, hatte die Blutlache und die Steinbrocken am Boden und die Löcher in der Wand angestarrt und versucht zu verstehen, was gerade passiert war. Dann war Holon aufgetaucht. „Ihr wolltet mich sehen, Meister Lanon?“, dann: „Oh.“ Er hatte einen der Brocken aufgehoben und betrachtet, ebenso die Wände und dann hatte Rak seinen Blick auf sich gespürt und sich mühsam aus seiner Trance befreit. Das Gesicht des jungen Meisters war unleserlich gewesen, doch immerhin hatte er keine Wut darin erkennen können. „Wir müssen reden“, war Lanons Stimmt ertönt und ehe Rak sich versah, war er in das kleine Ratszimmer gesperrt worden und die beiden Meister waren irgendwo anderes hingegangen, um zu reden. Die Mühe hätten sie sich auch sparen können, denn Rak hörte jedes Wort. Dabei war er sich gar nicht sicher, ob er das wirklich wollte, es flog ihm einfach so zu, er musste sich nicht einmal mehr anstrengen, die Geräusche aus der Wand wahrzunehmen.
    „Der Junge ist eine Gefahr für sich und die anderen.“ Meister Lanons Stimme war fest und bestimmt. „Was habt Ihr ihm alles gezeigt, Meister Brannes?“
    „Gar nichts. Ich habe ihn nur ermutigt, weiter zu üben, als er nach einem gescheiterten Hörversuch aufgeben wollte – bei dem ich ihn im Übrigen zufällig erwischt habe.“ Holon hingegen klang fast ein wenig amüsiert oder sogar spöttisch.
    „Das hat mir der Junge auch gesagt!“
    „Habt Ihr ihn ausgequetscht?“ Nun mischte sich Ärger mit hinein. „Ich musste ihn fragen! Er hat seinen Übungsstein verformt!“
    „Wirklich?“ – „Holon! Das ist kein Spiel! Ich weiß nicht, ob wir ihn weiter ausbilden sollten.“ Etwas klatschte, als schlage jemand mit der Hand auf einen Tisch. „Und was sonst? Wollt Ihr ihn etwa auf die Straße setzen und seinem Schicksal überlassen? Was glaubt Ihr denn, dass er dann keine Gefahr für sich und die Umwelt ist, wenn ihm keiner sagt, wie er es beherrschen kann?“ Holon war laut geworden.
    „Aber noch nie… niemals hat jemand so schnell so viel beherrscht…“
    „Das stimmt nicht. Es gab schon einmal jemanden.“ Kurz war es still, dann sprach wieder Holon. „Ihr wisst von wem ich spreche. Der Junge bleibt hier und wir werden ihn weiter ausbilden.“ Ruhe kehrte ein. „Er muss eine Strafe erhalten; für das, was er dem anderen Jungen angetan hat.“
    „Jungen prügeln sich nun einmal… Schon gut, schon gut! Dann soll er bestraft werden.“ Rak hörte, wie sie zur Tür gingen und die Klinge gedrückt wurde. „Ich werde ihn nicht aus den Augen lassen und Euch ebenso wenig“, sagte Meister Lanon. „Großmeister Hangol hat mir von Eurer Unterredung heute Morgen berichtet.“ Mit einem Klicken fiel die Türe ins Schloss. „Wir werden nicht zulassen, dass Ihr und die Euren diesen Ort als Rekrutenschule missbraucht.“


    Zusammengesunken wartete Rak, wie die Schritte die beiden Stück für Stück näher brachten. Sein Kopf dröhnte, die allgegenwärtigen Geräusche vermischten sich mit seinen eigenen lauten Gedanken. Vielleicht hatte Meister Lanon Recht und er konnte all das, was aus ihm hinaus strömte noch nicht kontrollieren und weil er sich trotzdem zu weit hinausgewagt hatte, ergriff es nun Besitz von ihm. Holon hingegen, schien alles nicht sonderlich tragisch zu sehen. Die Meinungsverschiedenheiten waren unverkennbar. Seine Gedanken wanderten zu Timm und er merkte, dass er es ihm nicht einmal leid tat. Der Junge hatte keine Ahnung, was Rak durchgemacht hatte und war schlicht und ergreifend neidisch. Niemals würde er zulassen, dass jemand schlecht über seine Eltern sprach, das war das Mindeste, das er ihnen schuldig war, wenn er schon die Schuld an ihrem Schicksal trug. Doch was machte das aus ihm, wenn es ihn kalt ließ, einen anderen Menschen böse verletzt zu haben? Ein wenig schämte sich Rak für seine Wut. War er vor nicht allzu langer Zeit nicht selbst neidisch auf andere gewesen, die bessere Voraussetzungen hatten, als er? „Nein!“, sagte er sich im Versuch den Kreisel der Gedanken zu unterbrechen. Das war etwas anderes gewesen. Der Junge ließ den Blick auf das Gemäuer schweifen. In dem Moment in der Waschküche hatte sich etwas in ihm verändert. Selbst jetzt aus der Ferne konnte er die Struktur der Steine auf seinen Händen spüren, ihren Kontakt zur Erde und eben auch all die Geräusche hören. Es war, als wäre die Verbindung zwischen ihm und dem Element in dem Augenblick eingerastet, in dem die Wandstücke seiner Wut gefolgt und auf Timm geflogen waren. Rak rieb die Finger aneinander. Schwach regte sich noch die Furcht in ihm, von seiner eigenen Macht beherrscht zu werden, doch sie wurde bereits von etwas anderem verdrängt. Stolz.


    Noch am selben Abend begann Raks Strafe, doch eigentlich war er ganz froh darum, da er dadurch das gemeinsame Abendessen verpasste und den Moment, in dem er den anderen gegenüber treten musste, noch vertagen konnte. Selbst den bissigen Geruch des Pferdestalls, den er nun tagtäglich ausmisten musste, stellte er sich angenehmer vor, als die Blicke seiner Mitschüler und vor allem die Gegenwart von Timm, falls er sein Zimmer schon verlassen konnte. Rak hätte gerne noch mit Holon gesprochen, doch es hatte keine Möglichkeit gegeben und der Mann hatte Rak seither auch nicht aufgesucht. Verwundern tat das den Jungen nicht. Holon war nicht der fürsorgliche Typ, auch wenn er ihn vor Meister Lanon verteidigt hatte.
    Ein weiterer Vorteil seiner Strafe, so stellte sich ein paar Tage später heraus, war, dass Rak einen guten Überblick hatte, wer aus und ein ging. Die Pferde wechselten fast täglich. Es gab große, stolze Schlachtrösser und kleine rundliche Packtiere und jedes einzelne trug mit einer Ladung dampfender Äpfel dazu bei, dass er nicht arbeitslos wurde. Rak machte es sich zum Spiel zu raten, wie viele Boxen besetzt waren, bevor er den Stall betrat. Als er dann eines Tages den grauen Riesen von Sir Kartoff entdeckte, war er sofort aufgeregt und freute sich darauf, den Ritter wieder zu sehen. Gut gelaunt schnappte er sich die Mistgabel und ging in Richtung des Hengstes, der ihn mit seinen kleinen schwarzen Augen musterte.
    „Ich an deiner Stelle, würde nicht dort hinein gehen.“ Die Stimme klang tief und grollend, wie ein Erdrutsch. „Er kann ungemütlich werden.“ Mit klirrender Rüstung überbrückte Sir Kartoff die Meter zwischen dem Eingangstor und dem Jungen. Rak konnte ihn nur anstarren. Das war das erste Mal, dass er die Stimme des Ritters hörte. Der große Mann griff die Zügel des riesigen Tieres und führte es aus der Box hinaus. Mit einer Geste bedeutete er Rak, dass er nun sauber machen konnte. „Reist Ihr schon wieder ab?“, fand der Junge seine Stimme wieder. Zur Antworte schüttelte Kartoff bloß den Kopf und blieb mit dem Ross an Ort und Stelle stehen. Zögernd begann Rak die Box auszumisten. Es kam ihm komisch vor, dass der Hüne ihn schweigend dabei beobachte. Als er fertig war, nahm Rak seinen ganzen Mut zusammen. „Ich wollte noch sagen… danke“, stammelte er. „D-dass Ihr über mich gewacht habt.“ Der Ritter führte das Pferd zurück und klopfte ihm hart auf die Flanke. „Ich tue, was man mir aufträgt, Junge“, grollte er und verließ ohne ein weiteres Wort oder einen weiteren Blick den Stall. Ehrfürchtig blickte Rak ihm nach und fragte sich, warum Sir Kartoff gekommen war. Lächeln stellte er sich vor, dass es seinetwegen war.


    Auf dem Weg zu den Waschräumen, kam Stanna ihm nachgerannt. Das Mädchen war seit dem Vorfall die einzige, die Kontakt zu ihm suchte und mit ihm sprach. Alle andern stellten sofort die Gespräche ein, wenn er den Raum betrat oder begannen zu tuscheln und warfen ihm argwöhnische Blicke zu. In Timms Zügen saß blanker Hass, doch Rak vermutete, dass er ihn fürchtete und deshalb nicht wagte, auf Konfrontation zu gehen. In den Unterrichtsstunden bemühte er sich, nur das zu tun, was Meister Lanon und die anderen Lehrer ihnen auftrugen, auch wenn jede Übung ihn unterforderte und langweilte. Die anderen machten nur langsam Fortschritte. Mehr freute sich Rak auf die freie Zeit, in der er heimlich selbst übte.
    „Rak!“, rief Stanna, als sie ihn fast erreicht hatte. „Meister Brannes möchte dich sehen. Du sollst in sein Studierzimmer kommen, wenn du fertig bist.“ Sie lächelte ihn an. „Alles in Ordnung?“
    Rak nickte. „Ja, alles wunderbar.“ Unsicher sah er sie an, da sie keine Anstalten machte, gleich wieder zu gehen. „Du, äh, du hast heute gut geübt“, sagte er, da er das Gefühl hatte, sie wartete darauf.
    „Oh, danke!“, rief sie aus. „Es war das erste Mal, dass ich etwas gehört habe. Ein wunderbares Gefühl.“ Unangenehmes Schweigen folgte. „Also gut“, sagte sie schließlich. „Du willst hier rein, nicht?“ Sie waren bei den Waschräumen angelangt. „Ja, ich… ich rieche noch nach Pferd.“ Stanna lachte. „Dann lasse ich dich alleine. Denk an Meister Brannes!“ Kurz fasst sie ihm an die Schulter, dann ging sie schnellen Schrittes zurück.
    Auf keinen Fall würde er Holon vergessen, dafür war er viel zu aufgeregt. Er hatte den Meister seit Timms Verletzung nicht mehr gesehen. Was konnte er nun von ihm wollen?


    Triborin


    Seit dem Vorfall an der Grenze war nicht viel passiert. Der Dunkelelf ritt seit einigen Wochen durch das große südliche Kaiserreich und versuchte Informationen zusammen zu treiben. Wegen der Hitze, die hier auch zu dieser Jahreszeit noch allgegenwärtig war, reiste er viel in der Nacht. Weder sein Körper noch seine Kleidung waren für solch ein Klima gemacht. Die Motivation, die er bei der Trennung von Liena noch verspürt hatte, war schon lange verebbt, als ihm bewusst wurde, dass er wirklich gar keinen Anhaltspunkt für seine Suche hatte. Solterra war riesig und ein großer Teil des Landes bestand aus Wüste. Der Dunkelelf hatte sich an die Küste gekämpft, doch weniger, weil er sich dort mehr Informationen erhoffte, sondern der größeren Dichte von Städten und Ortschaften und der milderen Luft wegen. Die Südmenschen waren freundlich und großzügig und so kam er zumindest jede Nacht an ein weiches Bett und gute Verpflegung. Seine Vorstellung von Solterra war nicht falsch gewesen. Die Luft in den Orten war würzig und süß zugleich, denn überall gab es große Märkte und die Frauen waren schön. Irgendwann war der Elf schwach geworden und hatte eines der Tanzhäuser aufgesucht. Noch immer beherrschte Liena seine Gedanken. Er hatte gehofft, sich so ein wenig Ablenkung zu ermöglichen, doch selbst als die dunkle Schönheit auf ihm saß, hatte er nur ihr Gesicht gesehen. Es blieb ihm nichts übrig, als die Augen zu schließen und sich damit abzufinden.
    Noch mehr nagte ihn der Gedanke an Lord Xyrius. Ob sein Herr ihm bereits jemanden hinterher geschickt hatte? Ob er noch überzeugt war, Triborin würde den Auftrag wie gewünscht erfüllen? Höchstwahrscheinlich nicht. Xyrius vertraute und schätzte nur eine einzige Person auf der Welt und das war selbst.
    Seine letzte Chance war die Hauptstadt. Duwalara lag ziemlich im Osten und verfügte über eine der umfangreichsten Bibliotheken auf dem Kontinent, womöglich nur übertroffen von der der Alben. Insgeheim war man sich sogar in Lacharys einig, dass kein Volk mehr Wissen gesammelt und erhalten hatte als sie, die es in den Tiefen Salisirs verwahrten wie einen heiligen Schatz. Es gab nicht wenige auf der Welt, die alles für einen Blick hinein gegeben oder sich am besten gleich über Jahre dort eingeschlossen hätten. Unwahrscheinlich gering war hingegen die Anzahl Leute, die dieses Privileg jemals ihr Eigen nennen durften. Triborin musste sich mit den Geheimnissen Duwalaras begnügen und hoffen, dort etwas zu finden. Falls nicht, würde er mit leeren Händen nach Hause zurückkehren müssen, falls er überhaupt so weit kam. Kein Weg konnte ihn mehr nach Lacharys bringen, ohne dass Jagd auf ihn gemacht würde. Vermutlich war es gar besser, in solch einem Fall hier zu bleiben. Er könnte sich eine Frau nehmen und sesshaft werden. Sonderlich schwierig wäre das nicht, da er ein besonderes Interesse beim hiesigen weiblichen Geschlecht zu erwecken schien. Sie liebten seine helle Haut, sein Haar und vor allem die spitzen Ohren. In seinen Tagträumen war es allerdings wieder keine der ihren, die an seiner Seite auf der hauseigenen Terrasse stand und auf das Meer hinausblickte. Liena… So weit unten im Süden würde sich niemand über ihre Verbindung scheren. Auf den langen Ritten ersann er sich ihr gemeinsames Leben. Zuerst hatte er sich noch gegen die Gedanken gesträubt, doch sie erfüllten sein Herz mit Wärme und etwas anderes hatte er ohnehin nicht zu tun, sodass er ihnen schließlich freien Lauf ließ. Er stellte sich vor, wie er morgens die Augen aufschlug und Liena nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet am großen Fenster ihres Schlafzimmers stehen sah. Zu beiden Seiten wurden die seidenen Vorhänge in das Zimmer geweht und die Albe blickte hinaus auf das Meer, ihren Kopf wie immer stolz erhoben und aufrecht, wie eine Königin. Seine Königin… Er ließ sie den Kopf drehen und sah direkt in die grünen Augen. Das Haar fiel ihr locker über eine entblößte Schulter, sie lächelte und ging mit langsamen Schritten zurück ins Bett. Triborin spürte fast ihre schlanke Hüfte, auf die er in seiner Fantasie seine Hände legte, während sie sich über ihn beugte und ihre Lippen sich trafen, bevor sie sich erneut zärtlich und langsam liebten. Hundertfach, tausendhaft malte er sich Szenen wie diese aus und bald wurden sie zum wichtigsten Teil seines Tages. Alles, was ihn davon abhielt, machte ihn unruhig und fahrig. Der Elf ging so sehr in seinen Hirngespinsten auf, dass er, als er in der Hauptstadt angekommen war, selbst den Besuch der großen Bibliothek noch drei Tage hinauszögerte. Am Morgen des vierten Tages erwachte er mit einem besonders schweren Kopf, denn die Abende verbrachte er immer häufiger in Tavernen, um das innere Chaos zu beschwichtigen. Mit der Übelkeit kam endlich das schlechte Gewissen. Mühsam quälte er sich aus dem Bett und als er sein Spiegelbild in der Waschschüssel erblickte, erschrak er. Das Gesicht auf der Wasseroberfläche sah furchtbar aus! Wo war der stolze und kühle Elf, der in Xarchavas voller Tatendrang los geritten war? „Du bist eine Schande für Lacharys“, schalt er sich. „Reiß dich gefälligst am Riemen, du Narr!“ Sorgfältig wusch er sich, ölte sein Haar und pflegte sein Leder. Es war Zeit zu prüfen, was die Schriften Duwalaras über dieses verfluchte Vogelvolk hergaben.


    Die Bibliothek befand sich in einem großen, stolzen Gebäudekomplex unweit des Kaiserpalastes und war wie die meisten Bauwerke weiß gestrichen. Zusätzlich war die Fassade überall mit vergoldeten Stuckleisten und anderen Strukturen verziert und zu skulpturhaftem Aussehen gezüchtete Palmen säumten die Wege. Am Empfang musste der Elf einige Fragen beantworten und wurde von einem stämmigen Mann mit kupferfarbener Haut und dichter Körperbehaarung durchsucht, doch anschließend gewährte man ihm Einlass. Die Stille in der großen Halle wurde nur durch das Geflüster von Papier unterbrochen, wenn jemand eine Seite umblätterte oder ein Pergament entrollte. Die Aura war so anders als in den dunklen Gewölben von Xarchavas‘ Schriftenkeller, wenn auch nicht weniger mystisch. Die Luft flirrte golden und es war warm und trocken. Man hatte Triborin eine kleine Karte mit einer groben Übersicht der Bestände gegeben. Schnell überflog er die Kategorien. Geschichte Solterras, Geschichte Orchaldors, Astronomie und Sternenforschung, Architektur und Kunst, Götter und Mythen, Märchen und Sagen und noch vielerlei mehr. Wo sollte er anfangen? In der Geschichte wühlen? Einer Sage vertrauen? Es war einerlei. Er würde viele Stunden hier verbringen müssen, zumal er sich nicht traute, jemanden nach dem Gegenstand seiner Recherche zu fragen. Lord Xyrius hütete sein Wissen über das begehrte Volk wie seinen Augapfel und verlangte dasselbe von ihm. Irgendetwas Wichtiges musste an dieser Legende hängen, etwas, dass nicht in die falschen Hände geraten durfte. Er schlenderte die Regale entlang, die historische Berichte und Chroniken führten. Der Bestand war sehr gut katalogisiert und beschriftet worden. Neugierig flog Triborins Blick über die Titel und Bereiche. Das ein oder andere Mal zog er ein Exemplar heraus. Viele waren unsagbar alt, das Pergament knisterte und roch staubig. Er erreichte die Ära der großen magischen Kriege. Xyrius, sparsam mit Information wie eh und je, hatte ihm zumindest gesagt, wo die Legenden zeitlich zugeschrieben wurden. Nach und nach durchblätterte er einige Berichte, zog einen dicken Wälzer aus den Reihen und entrollte die ein oder andere Landkarte. Leider gab es nicht viel. Solterra war kaum in die Schlachten involviert gewesen, lediglich auf Gebietserhaltung bedacht, sodass auch die Aufzeichnungen eher oberflächlich waren. Triborin fand wenig, was er nicht schon wusste. Der Überfall der Nordmänner auf Mildir, die Entwicklung zum Zweifrontenkrieg, als sein Volk die Gunst der Stunde nutzte, um frühere Gebiete von den südlichen Nachbarn zurück zu gewinnen, und schließlich der Sieg Mildirs über Norgond, nachdem die Zwerge den Alben zur Hilfe geeilt waren. Alles wurde grob umrissen, besonders hervorgehoben wurde nur Solterras Beitrag zu den Friedensverhandlungen, die man in die richtigen Bahnen gelenkt hatte, obwohl man selbst gar nicht direkt beteiligt war. In allen Berichten, die er je gelesen hatte, war die führende Rolle beim Friedensschluss den Alben zugerechnet worden. Entweder sprachen sich die Südmenschen hier mehr von den Lorbeeren zu als sie verdienten oder auch dieses Wissen war über die Jahre verwischt worden. Er wollte das Buch schon zuklappen, da erweckte etwas seine Aufmerksamkeit.
    Ein Ende des Krieges war nicht abzusehen, alle Seiten verzeichneten weiterhin große Verluste und als die Streitmacht der Alben ihrer stärksten Waffe beraubt wurde und der Himmel wieder sicher war, glich es einem Einschreiten der Götter persönlich und die Gunst der Stunde war da, um endlich die Waffen nieder zu legen und Frieden zu schließen. Doch war es der große Kaiser Ephrasian, der sie zur Vernunft bewegen musste…
    Und so führte der Text die Rolle der Südmenschen fort, während Triborins Augen weiterhin dem vorherigen Satz anhafteten. … und der Himmel wieder sicher war… ihrer stärksten Waffe beraubt … War dieses Vogelvolk womöglich ein Teil der Alben gewesen? Den Kopf schüttelnd kniff er die Augen zusammen. Die stärkste Waffe im schlimmsten und grausamsten Krieg, den die Geschichtsschreibung hergab, konnte doch unmöglich in Vergessenheit geraten sein. Selbst wenn jemand gewollt hätte, dass sie in der Versenkung verschwanden, es war ein Ding der Unmöglichkeit. Die Menschen aus West und Nord mochten keine großen Geschichtenschreiber sein, doch mit Sicherheit gab es auch hier Mythen im Volksmund und spätestens in Lacharys und Mildir musste es Informationen darüber geben. Ein Elf vergaß ebenso wenig die Verbrechen eines Alben wie umgekehrt. Er dachte an Xyrius‘ private Aufzeichnungen. Warum hatte man diesen Teil der Geschichte weggesperrt, hatte zugelassen, dass er wirklich zu Mythen und Legenden wurde? Das Buch konnte ihm dabei nicht weiter helfen und er stellte es zurück. Womöglich hatte er in dem Drang unbedingt etwas über das Vogelvolk zu finden zu viel hinein interpretiert und der Text sprach gar von etwas gänzlich anderem.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Triborin


    Triborin schlenderte durch Duwalaras Straßen. Sein Kopf rauchte und er hatte frische Luft gebraucht und deshalb beschlossen die Suche für den heutigen Tag zu beenden. Er konnte jederzeit wieder kommen, da machte es keinen Sinn, sich nun noch weiter zu mühen. Die Anzahl der Bücher und Schriften, die er aus den Regalen gezogen hatte, hatte er längst nicht mehr verfolgt gehabt und weitere Hinweise waren nicht darunter gewesen. Auch in anderen Bereichen, wie dem der Sagen und Mythen hatte er nichts Handfestes finden können. In Solterra schien sich der Volksmund hauptsächlich mit Sandgnomen und Windgeistern, vergrabenen Schätzen und entlegenen Inseln mitten im Meer zu beschäftigen. Viele der Geschichten ließen die Vermutung zu, dass die Welt nördlich der großen Ebene des Landes endete. Der Elf kam ins Grübeln. Was, wenn er hier wirklich zu weit im Süden suchte? Der Blick der Alben mochte sich nach Süden richten, ja, doch wie weit? Sein Fund bei der Steinformation der trauernden Frau kam ihm in den Sinn. Auch dies war ein südlicher Ort, wenn man ihn relativ sah, es war der äußerste Süden von Mildir. Und letztlich war dies die erste und einzige Entdeckung gewesen, die direkt mit dem vergessenen Volk zu tun hatte. Seine heutige Recherche hatte den Verdacht nahegelegt, dass das Vogelvolk ein Teil des albischen Heeres gewesen und dass es von einem auf den anderen Tag verschwunden war. All das hatte während der magischen Kriege stattgefunden, die das Ende der Magieformen in Orchaldor besiegelt hatten, ein Krieg, in den die Südmenschen nicht involviert gewesen waren. „Ich bin am falschen Ort“, schoss es ihm durch den Kopf. War Xyrius‘ Misstrauen und seine Abneigung gegen die Alben am Ende so groß, dass er für diese Möglichkeit blind gewesen war? „Wenn ich doch nur wüsste, was er weiß“, dachte Triborin. Konnte es wirklich sein, dass die Aufzeichnungen der Dunkelelfen unerwähnt ließen, dass das Vogelvolk zu den Alben gehört hatte? Der Elf grinste gequält. Wenn einem nicht mal der eigenen Auftraggeber alles sagte, wie konnte man das dann von einer mysteriösen Albe erwarten. Seine Gedanken waren wieder bei Liena gelandet, wie sie es immer taten, egal, was ihm zuvor durch den Kopf gegangen war. Ob sie gewusst hätte, war zu tun war? Ob sie womöglich schon alle Informationen hatte? Als Tochter des Lords war es durchaus möglich, dass sie Zugang zu Salisirs Bibliothek hatte. Die Grübelei strengte Triborin an und er war dankbar, dass seine Füße ihn zu seiner Unterkunft getragen hatten, vor der er sich unvermittelt wieder fand. Trotz der heutigen Bewölkung begann die Wärme ihm zuzusetzen, eine kleine Ruhepause wäre nicht schlecht. Er ging auf die Eingangstüre zu, da löste sich eine Person, die zuvor an der Hauswand gelehnt hatte, aus ihrer Starre und ging auf ihn zu. Möglicherweise lag es daran, dass sie ihn in seinen Gedanken ohnehin ständig begleitet hatte, dass das Erstaunen nicht sofort einsetzte und er sie zunächst einen Augenblick ansah, als sei es das Normalste auf der Welt, dass sie hier auf ihn wartete. „Was treibt ein Elf so weit im Süden?“, fragte Liena. Wider seinen Willen breitete sich Freude in Triborin aus und er kämpfte den Drang nieder, die Frau in seine Arme zu schließen. Er durfte nicht so schwach sein! Viel wichtiger war doch zu wissen, wie sie ihn erneut gefunden hatte und warum sie ihn noch immer verfolgte. „Ich sehnte mich nach einem wärmeren Klima“, scherzte er, „doch auch Alben sieht man hier nicht oft.“ Die Frau erwiderte sein Lächeln, doch er erkannte die Kälte in ihrem Blick. Es war nicht echt. „Ich verfolge die Spur eines Mörders“, sagte sie ernst. Triborin atmete hörbar aus. „Liena, ich…“
    Nennt mich nicht so! Die richtige Anrede ist Mylady oder Euer Hoheit.“ Sie versuchte es zu verbergen, doch er bemerkte das Zittern in ihrer Stimme, sah die leichten Rötungen auf ihren Wangen. Liena war wütend und aufgewühlt. Letztlich hatte er ihr also doch eine Gefühlsregung entlocken können. „Ich bin weder Euch noch Eurem Lord zur Treue verpflichtet. Ich bin kein Untergebener.“
    „Wieso habt Ihr Euch mir widersetzt? Wieso konntet Ihr nicht abwarten, bis es so weit war?“ Ohne Umschweife kam sie auf den Moment ihrer Trennung zu sprechen. „Ich bin kein Untergebener! Wie kann ich mich da widersetzen? Was hattet Ihr überhaupt vor? Wir waren kurz davor entdeckt zu werden.“ Triborin blickte ihr direkt in die Augen und versuchte darin zu lesen. Ihr Ausdruck und ihre Worte waren wütend, doch die Augen passten nicht dazu. Er meinte dort eine tiefe Traurigkeit zu erkennen. „Können wir woanders sprechen?“, fragte die Frau und er nickte, führte sie in sein Zimmer. Als er die Türe aufsperrte, fielen ihm die leeren Weinflaschen wieder ein und er versuchte sie unauffällig zu verstecken, während Liena ans Fenster ging und hinaus spähte. „Das ist eine schöne Unterkunft. Führt Ihr so viel Geld mit Euch?“ Sie drehte sich um und hastig schob Triborin die letzte Flasche unter das Bett. Liena zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. „Die Preise sind nicht sonderlich hoch“, sagte er. Der Wunsch nach Antworten war bereits am Abklingen. Wochenlang hatte er es sich ausgemalt, nun stand sie tatsächlich am Fenster seines Zimmers. Der Drang sich an sich zu ziehen war überwältigend. „Ihr habt drei gute Männer auf dem Gewissen“, sagte Liena. „Wisst Ihr, dass das ausreicht, um Lacharys den Krieg zu erklären?“
    „Was – und all die armen Westmänner sind es nicht?“, gab Triborin zurück. Vorwurfsvoll sah sie ihn an. Natürlich wussten sie beide, dass Vesperion sich niemals alleine trauen würde, einen Angriff zu starten und dass sie sich ebenso scheuten, Mildir ohne handfeste Beweise um Beistand zu ersuchen. Dass die Alben aber keine großen Gründe brauchten, um einen Konflikt mit den Dunkelelfen vom Zaun zu brechen, das wollte Triborin Liena zu gern vorhalten. So gern er sie hatte, nie würde er die Arroganz ihres Volkes vergessen und deren Selbstverständnis der eigenen Vorherrschaft. „Und ist der Angriff auf meine Heimat bereits erfolgt?“
    „Nein. Obwohl sich schon ein jeder fragt, was ihr dort oben im Norden treibt. Euer Lord ignoriert den Aufruf zur Ratssitzung und schickt stattdessen einen törichten Mörder in die Welt hinaus?“ Triborin konnte nicht umhin, sie zu bewundern, selbst in dem Moment, in dem sie ihn bis aufs Mark beleidigte. Diese Beherrschtheit, die sie ausstrahlte, und ihre selbstsichere, ja fast ein wenig arrogante Art zu sprechen, da sie sich allem Anschein nach auf einen umfassenden Wissensstand stützen konnte, fachten seine Zuneigung ironischerweise nur noch mehr an. „Sieh an, nach Wochen, nein gar schon Monaten kommen wir doch auf das Wesentliche zu sprechen“, sagte er und grinste. Nie hatte er angezweifelt, dass sie damals zufällig in Kaachor war. Alles musste mit Xyrius‘ bewusstem Fernbleiben bei der Ratssitzung zu tun haben. „Doch wieso gab es diese Ratssitzung überhaupt? Die Einberufung war absolut willkürlich. Ist es wirklich der Norden, der die Konflikte vorantreibt? Ihr sitzt an der Quelle, Eure Hoheit, was bezweckt Euer ehrenwerter Vater wirklich?“ Er sah wie sie seines Sarkasmus‘ wegen die Lippen kräuselte. „Lasst mich raten“, setzte er nach, bevor die Albe sich eine Antwort zurechtgelegt hatte. „Es ist die Magie, die Ihr fürchtet. Wie Ihr es schon immer getan habt. Feuer, Tod und Sturm, nichts vermag einem Alben die Fassung zu rauben, doch das kleinste Anzeichen von magischem Wirken lässt Euch in Panik verfallen.“ Es war ihm erst mit der Zeit gekommen, als die Ereignisse sich langsam gesetzt hatten. Die an einen Bürgerkrieg anmutenden Verhältnisse in Vesperion und die wenigen Aussagen, die er dort aufgeschnappt hatte, ließen eigentlich keinen anderen Schluss zu. Sinklar musste fürchten, dass die alten Magieformen sich von Neuem regten und er versuchte sie im Keim zu unterdrücken. Dass er Liena dies nun an den Kopf warf, war einer spontanen Regung geschuldet. Er hatte das erste Mal das Gefühl, dass sie angreifbar war, dass er ihr womöglich etwas entlocken konnte. Hinzu kam, dass ihm die Auseinandersetzung mit ihr auf seltsame Art und Weise gefiel. Er begehrte sie und dagegen anzukämpfen war er leid. Was hatte er noch zu verlieren? Vielleicht konnte er sie durch seine Stichelei und indem er ihr zeigte, dass auch er mit einer guten Auffassungsgabe und dem nötigen Bisschen Intellekt gesegnet war, in eine Position bringen, die ihm erlaubte, sie endlich zu durchschauen. „Für einen Dunkelelfen seid Ihr gar nicht so dumm“, sagte Liena schließlich. „Und doch seid Ihr mit allem was Ihr sagt immer auf der Suche nach Konflikten, nach Kriegstreiberei. Ist Euch je in den Sinn gekommen, dass Frieden zu erhalten auch drastische Maßnahmen erfordern kann?“
    „Dann kann man aber doch kaum mehr von Frieden sprechen“, sagte Triborin. Lange sahen sie sich in die Augen und schwiegen. Die aufgeladene Atmosphäre entspannte sich langsam „Warum musstet Ihr die Männer an der Grenze niederstrecken?“, sagte Liena schließlich leise. „Das war dumm.“
    „Ich konnte Euch nicht vertrauen. Ihr habt mir von Anfang an zu wenig gesagt.“ Seine Stimme war sanfter. Er ging einen Schritt auf sie zu und instinktiv wich die Frau zurück. Ganz kurz blitzte Erstaunen in ihrem Gesicht auf, als wäre ihr Handeln vollkommen unwillkürlich geschehen. Triborin nahm all seinen Mut zusammen und überbrückte fest entschlossen die kurze Distanz zu ihr. Wenn er alles zusammen nahm, ihr Handeln, die Worte von Ralir und das, was ihm ihre Augen verrieten, war er nicht der einzige, der mit einer verbotenen Zuneigung zu kämpfen hatte. Sie versteifte sich, als er dicht vor ihr stehen blieb, doch wich nicht zurück. Sanft legte er ihr die Hände auf die Hüften und zog sie ganz an sich heran. Er war ein gutes Stück größer als er und sie musste zu ihm aufblicken. Noch immer haftete ihren Augen diese tiefe Traurigkeit an, die er darin zu erkennen meinte. Die Zeit schien still zu stehen, der Raum um sie herum, sich in Luft aufzulösen, als der gemeinsame Gedanke zwischen ihnen Form annahm. Zu lange waren sie in der Position verharrt, zu auffällig hatten sie auf den Mund des anderen geblickt und zu deutlich die Lippen leicht geöffnet, als dass noch ein Zweifel an ihrem geteilten Wunsch bestehen konnte. Als Liena dann endlich ihre Hände an seine Wangen legte, seinen Kopf ein Stück hinunter zog und ihre Lippen zu einander fanden, entlud sich die ganze Spannung in Triborin und er zog sie fest an sich, steckte die ganze Leidenschaft, die ihn seit ihrer Trennung verfolgt hatte in den Kuss und wünschte sich, er müsse sie nie wieder loslassen.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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  • Einschub vor das zuletzt gepostete Triborin-Kapitel



    Linu


    „Könnt Ihr mir dieses Denkmal zeigen?“, fragte Halldor und sah sie auffordernd an. Linu vermochte den Mann noch nicht richtig einzuschätzen. Stets versuchte er freundlich und zuvorkommend zu sein und lächelte häufig, machte kleine Scherze, doch mehr und mehr beschlich die junge Aviare das Gefühl, dass das nicht echt war. Immer wieder blitzte Kälte in seinem Blick auf und eine Dringlichkeit stahl sich in seine Stimme, die ihn berechnend erscheinen ließ. Ihre Gedanken wanderten zum ersten gemeinsamen Morgen, als er instinktiv seine Waffe hatte greifen wollen. Sie würde vorsichtig sein.
    Das Denkmal würden sie ihm auf jeden Fall zeigen. Nicht nur, dass es keinen offensichtlichen Grund gab, es nicht zu tun, vielleicht konnte Halldor auch ihren Kenntnisstand erweitern. Bislang wussten sie nur, dass es früher Krieger in ihren Reihen gegeben hatte, dass sie nicht von hier kamen und dass viele Aviare bei der Übersiedlung ihr Leben gelassen hatte. Durch den Alben hatten sie etwas über das ferne Land erfahren, doch warum sie damals die gefährliche Reise auf sich genommen und ein neues Zuhause gesucht hatten, lag weiter im Dunkeln. Linu ließ die Gedanken schweifen, während sie sich an den Aufstieg machten. Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Halldor, darf ich etwas fragen?“ Der Mann nickte. „Gibt es in Eurer Heimat keine Aviare? Ihr sagtet, dass Ihr den Namen nicht kennt, als wir uns trafen.“ Seine grünlichen Augen musterten sie. „Nein, nicht dass ich wüsste. Noch nie habe ich einen der Euren gesehen, ja ich habe noch nicht einmal von Euch gehört. Mir fällt kein Märchen, keine Geschichte ein, die von einem Aviaren handelt.“ Linu nickte. Das musste bedeuten, dass damals ihre gesamte Sippe aufgebrochen war oder nur so wenige zurück geblieben waren, dass sie schließlich ausgestorben waren. „Oder umgebracht wurden“, fuhr es ihr in den Kopf. Was konnte ein gesamtes Volk dazu bringen, seine Heimat zu verlassen, wenn nicht die Angst vor Verfolgung oder gar einer vollkommenen Auslöschung? Sie riss die Augen auf. Wieso war ihr dieser Gedanke zuvor nie gekommen? Sie musste mit Gemby und Taal darüber sprechen und sie wollte nicht, das Halldor es hörte. Womöglich war er geschickt worden, um das Werk zu vollenden? War sein Gedächtnisschwund das einzige, das sie am Leben hielt? Sie spürte Halldors Blick. Dieses Mal war es an ihm, jemanden mit zusammengekniffenen Augen abzuschätzen. Schnell lächelte sie. „Das ist erstaunlich, nicht?“, sagte sie nervös. „Als hätte man uns komplett vergessen, wenn wir tatsächlich auch einmal dort gelebt haben.“
    „Erstaunlich, ja“, murmelte er, doch seine Augen bohrten sich weiter in das Mädchen. Linu ärgerte sich über ihre auffällige Reaktion. Er wusste, dass ihr ein Gedanke gekommen war.


    Ausführlich untersuchte Halldor das Denkmal, fuhr mit dem Finger darüber und legte sich das ein oder andere Mal die Hand auf das Kinn, tief in Gedanken versunken. Keiner wagte ihn zu unterbrechen und so nahm Linu nach einiger Zeit die Umgebung in Augenschein, um auch etwas zu tun zu haben. Im Gegensatz zu ihrem letzten Besuch, erstreckte sich heute ein strahlend blauer Himmel über ihnen und der Blick war frei bis zum Meer und den fernen Grasebenen. Das Mädchen erklomm einen kleinen Felsen am Rande des Plateaus und blickte nach Norden. Wasser über Wasser, mehr gab es nicht zu sehen, bis Himmel und Meer schließlich zueinander fanden und die dünne Linie des Horizontes bildeten. Die Sonne schien hell auf das Gestein hinab und an manchen Stellen glitzerte es regelrecht. Langsam ging Linu ein bisschen auf und ab und suchte den Boden nach besonders schönen Stellen ab, als sie plötzlich etwas entdeckte. Sie ging in die Hocke. Auf einer ungewöhnlich ebenen Steinplatte waren zarte Linien zu erkennen, die vielleicht vor langer Zeit einmal tief gewesen waren, bis Wind und Wetter Stück für Stück das Material abgetragen hatten. Vor Ehrfrucht stockte Linu der Atem. Es war Schrift. Auch hier war vieles unleserlich, doch es gelang ihr ein paar Zeilen zu entziffern. Das waren nicht bloß irgendwelche Wörter, es war ein Gebet. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sich Linu, dass Halldor noch an dem Denkmal zugange war und sah, dass er in eine Diskussion mit Gemby vertieft war, während Taal sich zum Sockel der Statue hinab gebeugt hatte.


    An Isikos Grab, ehrenwerter Ralon
    Übergebe – den Rest der Zeile konnte sie nicht erkennen,
    unseres großen Leids
    mögest Du, oh Herr
    - die nächste Reihe war vollkommen unleserlich
    endlich in Frieden leben.

    In Linus Kopf hämmerte es. Sie erhob sich eilig und schritt weiter auf und ab, suchte möglichst unauffällig den Boden ab und blickte dabei immer wieder in die Ferne, um eine Ausrede für ihr Tun zu haben. Also war dies nicht bloß ein Denkmal, dies war der Ort, an dem man Isikos Asche in die ewigen Himmel geleitet hatte. Er musste ein großer Mann gewesen sein, dass man sich die Mühe gemacht hatte, hier hinauf zu gehen und ihn näher an Ralons Reich zu bringen. Doch nicht nur Körper und Geist des Kriegers hatte man in die Hände des Gottes gegeben. Um hundert prozentig sicher zu sein, war nicht genug erhalten, doch Linu meinte trotzdem zu wissen, um was es sich handelte. Hier oben hatte ein Aviare vor langer Zeit das Wissen um die eigene Vergangenheit begraben, um seinem Volk Frieden zu schenken.
    „Ich würde gerne mit Eurem Lord sprechen“, sagte Halldor unvermittelt. „Ist das möglich?“
    Linu sah auf und sprang eilig vom Felsen, um sich zu den anderen zu gesellen. „Bei uns gibt es keinen Lord“, sagte Taal. „Es gibt nur den Dorfrat.“
    „Und hat der das Sagen?“
    „Gewissermaßen. Er entscheidet, welche Felder bestellt werden und was angepflanzt wird, wo ein Brunnen ausgehoben wird und wie viel Holz wir schlagen sollen.“
    Linu musterte Halldor. „An was habt Ihr Euch erinnert?“, fragte sie mit zusammen gekniffenen Augen, doch der Mann überging sie.
    „Dann möchte ich zu diesem Rat gebracht werden, sofern Euch das möglich ist.“
    „Jetzt sofort?“, fragte Taal etwas überrumpelt. „Wir werden mehrere Tage brauchen.“
    „Dann sollten wir nicht zu lange warten, bis wir aufbrechen.“
    „Bevor Ihr uns nicht sagt, was Ihr herausgefunden habt und warum Ihr zum Dorfrat wollt, werden wir gar nichts tun!“ Überrascht stellte Linu fest, dass es ihre Stimme war, die bestimmt und stark ertönte.
    Halldors Kopf schwang herum und einen kurzen Augenblick stand ihm der Zorn ins Gesicht geschrieben, bevor es ihm gelang eine gelassene Miene aufzusetzen. „Natürlich“, sagte er, neigte leicht das Haupt in Linus Richtung, und bedeutete allen, sich zu setzen. „Ich habe mich an Euer Volk erinnert oder besser: an das, was mein Lord mir berichtet hat. Meinen Auftrag habe ich von ihm persönlich erhalten, das ist ungewöhnlich. Es muss ihm ein äußerst wichtiges Anliegen sein. Und vielleicht hat mich aus diesem Grund auch jemand aus seiner hohen Familie begleitet, wegen der Dringlichkeit des Auftrages. Wer das war, davon fehlt mir noch immer jede Kenntnis…“ Einen Moment lang hielt er inne und sah zu Boden. Das Verhältnis von Halldor zu dieser Lordfamilie erschien Linu zusehends wie eine Vergötterung. Sie verstand nicht viel von Herrschern und hohen Leuten wie diesen. Das gab es hier nicht und Linu fragte sich auch, warum es nötig war. Das Miteinander, mit dem in ihrem Dorf und den umliegenden wichtige Fragen geklärt wurden, funktionierte wunderbar und die einzige Person, die über allem stand und verehrt und beschenkt wurde war Ralon, ihr Gott. Dieser Lord musste ein sehr mächtiger Mann sein.
    „Doch ich weiß nun wieder um Euch“, griff Halldor seinen Faden auf. „Tatsächlich seid Ihr vor vielen, vielen Jahren von Orchaldor verschwunden und lange war nicht klar wohin. Meinem Lord ist es nun gelungen, das herauszufinden und deshalb bin ich hier. Wusstet Ihr, dass Ihr einst eine Kriegerelite wart?“ Er wies aus Isiko. „Wie dieser Mann. Gewaltig, loyal und stark.“ Kurz blickte Linu zu Taal und Gemby. Vor ein paar Wochen hätte sie vermutlich noch alles angezweifelt, was dieser Fremde da erzählte, doch nun fügte sich alles nahtlos in ihrer eigenen Funde. „Krieger? Warum?“, fragte sie leise. „Es hat früher viel Krieg gegeben. Und Ihr wart schon seit je her ein Teil unserer Streitkräfte, unsere Geheimwaffe. Im Gegenzug gaben wir Euch einen zurückgezogenen Ort zum Leben, wo Ihr Euch vor der Welt verstecken konntet.“
    „Wieso?“, hakte Linu nach. „Ihr bevorzugtet es, abgeschieden und versteckt zu leben. Nur wenige Fremde haben Euch zu Gesicht bekommen und wenn, dann war es oft das letzte, das sie sahen.“ Ein freudloses Lächeln breitete sich auf Halldors Gesicht aus. Auch die Information über die Abgeschiedenheit fügte sich wundersam in das große Ganze. Nicht nur ihr eigener Vater war sehr bedacht auf Sicherheit gewesen und misstrauisch gegenüber allem, was jenseits des eigenen Dorfes lag. Es war gewissermaßen eine Charaktereigenschaft ihres Volkes. „Mich ausgeschlossen“, dachte Linu, als sich Taal zu Wort meldete. „Aber was ist dann passiert? Warum haben wir diese Heimat aufgegeben?“ Halldor blickte sie ernst an. „Man hat Euch betrogen."


    Rak


    Rak fand Holon am Schreibtisch sitzend. Als die Türe ins Schloss fiel, sah der Mann auf und lächelte. „Rak! Schön, dass du kommst. Wie kommst du mit dem Üben voran?“ Rak öffnete den Mund, aber stockte dann. „Komm schon, Rak“, sagte Holon. „Denkst du, du bist der einzige, dem unser liebes Gemäuer Informationen liefert?“
    „Du kannst durch die Wände sehen?“, fragte Rak erstaunt. Holon lachte. „Natürlich nicht, aber fühlen. Hast du im Unterricht etwa nicht aufgepasst? Die Grundlage der Elementarmagie ist doch, sich die Bilder zu erfühlen.“ Machte sich der Mann lustig über ihn oder nahm er den Unterricht aufs Korn? Rak entschied sich, es nicht zu kommentieren. „Du wolltest mich sehen?“, sagte er stattdessen. „Ja. Wie ergeht es dir mit deiner Strafe?“
    „Ganz gut. Ich bin gern allein.“ Rak sah sich im Raum um. Bis auf den großen Holzschreibtisch gab es nur zwei kleine Regale mit in Leder gebundenen Büchern und Stapeln loser Zettel.
    „Du kannst nicht auf ewig den Kontakt zu allen andern scheuen. Ein Einzelgänger hat es nicht leicht.“
    „Aber ich mag die anderen nicht.“ Wieder brachte er Holon zum Lachen. „Es wird der Tag kommen, da wirst du eine Freundschaft noch wertschätzen. Aber ich wollte dich nicht sehen, um über solche Dinge zu sprechen. Setz dich bitte.“ Er wies auf den Stuhl vor dem Tisch. „Ab morgen wirst du nicht mehr abends im Stall arbeiten. Stattdessen kommst du zu mir. Es wurde beschlossen, dass ich dich zusätzlich zu den normalen Stunden unterrichte.“
    Ein Grinsen stahl sich auf Raks Gesicht, ohne, dass er es hätte verhindern können. „Von wem wurde es beschlossen?“, fragte er. Kaum konnte er sich vorstellen, dass Meister Lanon und die anderen auf einmal ihre Meinung geändert hatten.
    „Das soll dir egal sein. Und ich möchte auch nicht, dass du mit den anderen darüber sprichst.“
    „Werden sie es nicht sowieso wissen?“ Mit Sicherheit waren die Fähigkeiten der anderen Meister ebenso ausreichend, um solche Dinger herauszufinden.
    „Natürlich, Rak. Aber es ist nicht deine Aufgabe, das zu klären und die anderen Schüler sollen nicht wissen, dass du eine Sonderbehandlung erhältst. Das streut nur böses Blut.“
    „Werden Meister Lanon und dieser Großmeister es denn überhaupt erlauben?“ Die anfängliche Freude wich der Sorge, dass es ebenso schnell wieder vorbei sein könnte.
    „Sie müssen. Es gibt immer eine Meinung, die sticht und das soll für heute genügen. Geh zu Bett.“
    „Hat es mit der Ankunft von Sir Kartoff zu tun?“, fragte Rak neugierig.
    „Wir treffen uns morgen nach Sonnenuntergang vor den Stallungen“, überging Holon die Frage und Rak wusste, dass das letzte Wort gesprochen war, zumindest für den Moment.


    Der kommende Tag zog sich unendlich in die Länge. Rak war so gespannt auf den Unterricht mit Holon, dass ihm alles andere noch langweiliger und grauer erschien als sonst und als die Sonne endlich hinter den Gipfeln verschwand, eilte er sofort hinaus zum vereinbarten Treffpunkt. Der Meister traf kurz nach ihm ein. „Guten Abend, Rak, Sir Kartoff“, er nickte in Raks Richtung und ein zweites Mal leicht zur Seite. Schnell drehte der Junge den Kopf und tatsächlich kam der hünenhafte Ritter mit großen Schritten auf sie zugelaufen. Er trug keine Rüstung, hatte sein Schwert jedoch trotzdem um die Hüfte geschnallt und auch ohne das schwere Metall war seine Statur massig. „Schön, wir sind vollzählig. Lasst uns gehen.“ Holon warf sich die Kapuze seines dunklen Umhangs über den Kopf und führte sie an den Gebäuden vorbei auf einen Pfad, der tiefer ins Gebirge führte. Eine Weile gingen sie schweigend. Bis auf das Mondlicht war es bald stockfinster und als die Gebäude aus dem Blickfeld waren, entzündete Holon eine Fackel. „Keine Sorge, wir gehen nicht weit.“
    Rak widerstand dem Drang, sich zu Sir Kartoff umzudrehen, dessen Blick er im Rücken zu spüren meinte. Er fragte sich, warum der Ritter sie begleitete. „Womöglich nur, um uns vor Berglöwen oder sonstigen Nachtjägern zu schützen“, dachte er. Oder konnte Holon gar fürchten, sie würden verfolgt?
    Nach der nächsten Wegbiegung blieb Holon stehen. „Hier sind wir“, sagte er. Erstaunt sah Rak, dass in der kleinen Felsenbucht eine flache Holztribüne aufgebaut war, auf der ein länglicher Tisch stand. Mehrere Gegenstände waren dort drapiert. Es gab verschiedene Gesteinsbrocken, eine Holzleiste, einen kleinen eingetopften Baum und dreierlei verschieden Waffen aus Metall. „Schließ die Augen, Rak“, sagte der Meister. „Was siehst du?“
    Augenblicklich baute sie die Szene um Rak herum auf. Er nahm die umliegenden Felsen, den Weg und sogar den Druck wahr, den die Holzplattform durch ihr Gewicht auf den Boden ausübte. „Ich sehe das Gebirge“, sagte der Junge, „und die Unterbrechung durch das Holzgerüst.“
    „Was noch?“ Langsam tastete Rak sich weiter. „Ich spüre die Regung der Steinklumpen auf dem Tisch… und daneben… daneben ist Leben.“ Er drehte den Kopf. „Es fühlt sich warm an.“
    „Sehr gut“, sagte Holon leise. „Was erkennst du noch?“
    Rak strengte sich an, versuchte die gesamte Umgebung abzutasten, doch es zog ihn immer wieder zurück zu der Quelle des warmen Flusses. „Es ist der kleine Baum, oder? Ich kann sehen, wie Energie in ihm fließt.“
    Holon antwortete nicht gleich, also öffnete Rak die Augen, um zu sehen, was sein Meister tat. Der Mann stand rechts neben ihm und blickte auf ihn herab. Von Sir Kartoff war nichts zu sehen. Das Licht der Fackel tauchte Holons Gesicht in rote Farbe und in seinem Ausdruck meinte Rak etwas wie Stolz zu erkennen, Staunen und vielleicht sogar ein wenig Furcht. „Verstehst du, wozu diese Übung gut war?“ Der Junge nickte. „Du wolltest testen, ob ich ebenso das Holz und das Metall erspüren kann.“ Ein Lächeln huschte über Holons Gesicht. „Exakt.“
    „Werden alle Schüler auf diese Weise getestet?“, fragte Rak, obwohl er die Antwort schon kannte. „Dieser Test ist soweit ich weiß seit hunderten von Jahren nicht mehr durchgeführt worden. Und du darfst niemandem davon erzählen. Es ist streng verboten.“
    „Warum ist er verboten?“ Deshalb hatte sie der Ritter also begleitet. „Aus Furcht“, entgegnete Holon. „Mit Sicherheit haben Meister Lanon und die anderen euch von den Multielementaren erzählt? Gut. Doch es gibt Einiges, was nicht gelehrt wird.“ Gespannt folgte Rak Holons Worten. „Multielementarismus bedeutet vor allem eines: Macht. Und wo Macht ist, da entstehen bald Konflikte. Sie ist wie eine bösartige Krankheit, die sich langsam durch den Körper frisst und auch alle anderen im Umkreis ansteckt. Irgendwann bricht sie durch und der Mensch geht zugrunde. Multielementare strebten häufig nach der Vorherrschaft, während die anderen Elementare sie eindämmen wollten und so bekriegte man sich Jahrhunderte lang gegenseitig, bis in der Zeit der großen Schlachten schließlich alle Multielementare ausgelöscht wurden. Seither ist keiner mehr aufgetaucht und aus Angst, es käme zu neuen Konflikten, hat man auch nicht nach Kindern mit diesen Veranlagungen gesucht.“
    „Und ich habe diese Veranlagungen?“
    Holon lachte. „Offensichtlich!“
    Grübelnd blickte Rak zu dem Tisch. „Ich habe aber nur das Bäumchen wahrgenommen. Weder das Stück Holz noch die Waffen konnte ich erspüren.“
    „Das hast erst einmal nichts zu sagen. Selbstverständlich brauchst du auch dafür Übung wie beim Gestein. Diese Holzplanke wurde schon vor längerer Zeit aus ihrem Baum geschlagen. Natürlich ist es viel schwieriger, sie zu ertasten. Und was das Metall angeht, kann es durchaus sein, dass dir dafür die Veranlagung gänzlich fehlt. Wer weiß…“
    Rak verstand. Deshalb war sein kläglicher Versuch, etwas im Holzfußboden zu hören, vor ein paar Wochen fehlgeschlagen. Die Bodenleisten waren viel schwächer als lebendiges Holz, das noch Kontakt zur Erde hatte. „Kannst du das Metall fühlen?“, fragte er Holon, der den Kopf schüttelte. „Ich kann nichts dergleichen und ich kenne auch niemanden, der es kann.“
    „Woher weißt du dann so viel darüber?“
    „Ich habe darüber gelesen und in der Schule aufgepasst.“ Er zwinkerte.
    „Warum hast du den Test mit mir gemacht, obwohl er verboten ist?“
    Holon seufzte. „Ich hatte befürchtet, dass du das fragst. Mit Sicherheit hast du schon gemerkt, dass nicht alle Meister der gleichen Meinung sind, wenn es um die Richtung und Geschwindigkeit der Ausbildung geht. Dieser Streit bezieht sich nicht natürlich nicht nur darauf, sondern auch auf die Stellung der Elementare in der Gesellschaft allgemein. Nun ja und ich gehöre jenen an, die der Meinung sind, wir sollten mutiger und präsenter sein, aufhören uns zu verstecken und uns den Stellenwert sichern, der uns zusteht. Dazu gehört auch, junge Talente zu finden und zu fördern.“
    Alles, was Holon sagte, klang gut in Raks Ohren. Eine besondere Position inne zu haben, angesehen und gefürchtet zugleich, das stellte er sich auch geeigneter für Leute mit derartigen Fähigkeiten vor. „Warum erst jetzt?“
    „Mein Herr wollte sichergehen, dass du der Richtige bist.“
    Offenbar war die Frage ihm derart deutlich im Gesicht gestanden, dass er sie noch nicht einmal stellen brauchte, denn Holon schmunzelte und fügte an: „Der Multielementar auf den wir schon lange warten, mit dessen Hilfe wir endlich etwas bewegen können.“
    Nun war sich Rak doch nicht mehr so sicher, ob er alles verstand oder zumindest konnte er nicht gänzlich verarbeiten, was er hörte. „In meinem Orden hat man nie daran gezweifelt, dass diese Fähigkeiten eines Tages zu uns zurück kehren“, fuhr Holon fort, seine Stimme gewichtig und entschlossen. „Dann können wir die Spielregeln in Norgond endlich neu schreiben und wenn das erst vollbracht ist, unsere Brüder und Schwestern rächen. Viel zu lange warten wir bereits darauf.“
    „Ich verstehe nicht so recht…“, gab Rak zu. „Du wirst es. Und bis dahin, halte dir einfach Folgendes immer vor Augen, Rak: ist es gerecht, dass unsereins hier in dem Land, das auch wir unsere Heimat nennen, gejagt, geächtet und beim kleinsten Verdacht hingerichtet wird? Ist es gerecht, dass man in der Hauptstadt schon seit jeher lieber den fremden Alben glaubt, als uns, den eigenen Leuten? Ist es gerecht, dass Verräter auf dem Thron sitzen und ehrliche Leute mit Füßen getreten und für nichts und wieder nichts verurteilt werden? Denk an deine Eltern. Das ist nicht gerecht, ganz und gar nicht. Wenn du diese Überzeugung teilst, kannst du ein Mitglied unseres Ordens werden. Überleg es dir und bis dahin, übe fleißig. Fang gleich jetzt damit an.“
    Dann drehte er ab, marschierte von der Plattform und ließ einen aufgewühlten und verwirrten Rak zurück.

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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