Schwärmereien eines Reisenden [Oneshot]

  • Xash'ir ist ein Ort der Stille. An manchen Tagen ist es so still, dass man das Eis knarzen hört, das sich unter der Last der Sonne windet. Man sagt, nicht einmal die Vögel wagen zu schreien, wenn sie über die stolzen Dächer der Hauptstadt fliegen.
    Dringt man aber tiefer in ihre Gassen hinein, entdeckt man dann und wann die unterschwellige Geräuschkulisse geschäftigen Treibens. Werkzeuge klopfen und klacken, Füße pochen, Stoffe rascheln, Wasser plätschert, Tiere stöhnen und schnauben und der Wind singt sein Lied an den Wänden und Zinnen der Stadtmauer. Gesprochen wird in Xash'ir hingegen so gut wie nie und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Die Frostalben sind per se ein schweigsames Volk, doch man ist geneigt zu glauben, dass das Schweigen aus der Andacht um die Schönheit der Stadt geboren wird, aus Ehrbietung und Respekt und Staunen. Xash'irs Antlitz ist von einer Erhabenheit geprägt, wie nur Eis sie versteht. Kompromisslos und kalt, dabei ebenso furchteinflössend wie einladend, und zutiefst geheimnisvoll. Schon wenn man durch das große Tor schreitet, durch die zwei Flügel, die beinahe bis in den Himmel reichen, mit ihm verschmelzen und ihn tragen, trifft einen der Zauber wie eine Offenbarung und es bleibt einem nichts, als mit offenem Mund nach oben zu blicken und zu erahnen, wo die gigantische Pforte wohl endet. Zu beiden Seiten spannt sich von dort in pinibler Symmetrie der Eiswall aus, schließt Xash'ir in seinen eisigen Griff und schützt seine Gebäude und Bewohner. Wagt man die ersten Schritte hinein zu gehen, findet man sich auf einem kleinen Platz wieder, dessen Wege von Eisskulpturen gesäumt und von unterirdischen Wasserläufen flankiert werden, in denen verschiedenste Fische ihre Bahnen ziehen. Dahinter eröffnet sich ein Labyrinth aus Gassen und Häusern, die immer höher wachsen, sich zunehmend edler und prächtiger hervortun und schließlich nur noch von den nahen Gipfeln des Taiwenggebirges übertrumpft werden, die bedrohend und behütend zugleich ihren Schatten werfen. Wenn man in Xash'ir geht, fürchtet man, die eigenen Schritte könnten die heilige Stille stören, das eigene Aussehen das Stadtbild beschämen und der Atem die Luft verschmutzen. Umso unglaublicher erscheint es, dass dieser Ort Schauplatz der grausamsten Ereignisse ist, die man sich vorstellen kann, dass das Überleben hier keine Selbstverständlichkeit darstellt, dass die Bewohner, so herrlich ihr Schaffenswerk auch sein mag, in ihren Herzen kalt und verkümmert sind.
    Aber ich schweife ab... Ihr habt mich nach dem beeindruckendsten Ort gefragt, den ich auf meinen Reisen sah und ich habe viel gesehen! Dutzende Städte habe ich auf der ganze Welt besucht und doch ist es Xash'ir, die mich am meisten in ihren Bann gezogen hat. Ob es an ihrer Aura liegt, als Sitz der großen Magierakademie und als Heim des unsterblichen Regenten oder bloß an der mystischen Schönheit, die sich in all den unzähligen Bauwerken und Eispalästen manifestiert, kann ich nicht sagen. Sie nimmt einen mit allen Sinnen in Beschlag und versteht es zu überraschen und zu faszinieren wie kaum ein anderer Ort auf der Welt. In wessen Vorstellung Xash'ir nach der ersten Beschreibung zum Beispiel hell und strahlend ist, der ist weit gefehlt. Es gibt zwar Tage im Sommer, an denen das Licht auch in die dunkelsten Ecken dringt, wo es an den Gebäuden in alle Facetten des Regenbogens bricht, glitzert und funkelt, doch an diesen Tagen ist in Xash'ir niemand auf der Straße anzutreffen und dies sind die Stunden, von denen Albenkinder sich gruselige Geschichten erzählen. Solche Augenblicke sind ebenso gefürchtet wie selten. Die Stadt ist bewusst so gebaut, dass das Licht im Zaum gehalten wird, dass es jederzeit Zuflucht gibt vor der entblößenden Helligkeit und Schutz vor der Wärme der Sonne. Nicht weniger schön ist Xash'ir dadurch. Die Magie der Schatten strebt hier zu Perfektion, Formen bekommen eine ganz andere Gestalt und Kunst ein anderes Gesicht. Xash'ir ist seinem hellen Baumaterial zum Trotz eine düstere Stadt, die ihr Antlitz fast trotzig gen Himmel reckt und bei Nacht mehr strahlt als bei Tage.


    Wie es dazu kam, dass ich die große Hauptstadt des Frostkönigreiches besuchte? Das eine Geschichte, die ich euch ein anderes Mal erzähle.

    Unbekannter Autor

    ~ Die größte Offenbarung ist die Stille ~


    Laotse

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