Prolog Patrice - Die Lotosspinne

  • Kindheit und Jugend eines Jungen im Orden des Stählernen Lotos, bevor er die Maske des Patrice Vertcuis anlegte.


    Die Lotosspinne
    Noel
    Souvagne, Jahr 177 nach der Asche. Lehen la Grange.


    Im Jahr 177 nach der Asche erblickte im Osten des almanischen Großherzogtums Souvagne, in den Ausläufern der Wüste Sundhi, ein Junge das Licht der Welt. Sein Haar war so hellbraun wie die trockene Erde, die großen und fast mädchenhaften Augen so grün wie das harte Gras seiner Heimat. Noel Blanchet sollte er in den ersten Jahren seines Lebens heißen. Das Meer lag nur eine Tagesreise von seinem Heimatort entfernt, doch wuchsen trotz der Nähe des Wassers nur wenige Pflanzen, welche dem Salz trotzen konnten. Niederschläge gab es selten in dieser Halbwüstenregion und wenn, dann fielen sie als Schnee im Winter. Die Vegetation war zähblättrig und strauchig. Die braungelbe, sandige Erde lag zwischen den Teppichen stacheligen Grases blank und der Wind schob sie vor sich her. Wo sie von Pflanzen gehalten wurde, sammelte sie sich und türmte sich zu Hügeln auf. Die Sundhi war nur während der Sommermonate heiß, im Winter herrschte ganztägiger Frost. Im Frühling und Herbst jedoch erwachte die Halbwüste zum Leben. Der Sanddorn erblühte, die Grasteppiche wurden weit und saftig. Die Viehzucht lohnte sich unter den wechselhaften Bedingungen allerdings kaum für die sesshaften Souvagner, dafür gab es in Almanien geeignetere Regionen, denn während der langen Trockenperioden war die Ernährung der Tiere mühsam. Dafür war die Jagd mit Windhunden vielversprechend zu jenen Monaten, in denen die Wildpferde und Antilopen sich am frischen Gras labten, um weiterzuziehen, sobald es erneut verdorrte. Ganze Karawanen trugen ihre zerlegten Leiber in die Stadt hinein, damit das Volk in der kommenden Zeit gut versorgt war. Der Rest des Bedarfs wurde dem Meer abgerungen oder importiert. Das Lehen gehörte aufgrund seiner Kargheit zu den ärmsten Regionen Souvagnes, war nur dünn besiedelt und stellte somit einen guten Standort für das geheime Kinderheim des Stählernen Lotos dar.


    Noel sah durch das Fenster die Karawane der Jäger auf ihren hochbeinigen Pferden im Morgennebel verschwinden, begleitet von einer Meute Windhunde. Die einzige große Stadt des Lehens war La Grange, in deren Randbezirk das Heim lag. Offiziell war es ein normales Kinderheim, inoffiziell nahm es jedoch keine Kinder von außerhalb auf, angeblich wegen ausgeschöpfter Kapazitäten. Versuchte jemand ihnen ein fremdes Kind aufzudrücken, und ließ nicht locker, wurde dieses angenommen und dann sofort in ein anderes Heim gebracht, ohne je die Schwelle des Ordensheimes übertreten zu haben. Den Schützlingen des Stählernen Lotos mangelte es hier an nichts, denn dem Orden standen genügend finanzielle Mittel zur Verfügung. Auch waren die Kinder keine Waisen, sondern wurden hier abgegeben, damit sie bestmöglich auf ihr späteres Leben als stählerner Lotos vorbereitet werden konnten.
    Noel wurde manchmal von seinen Eltern Yann Vandeau und Myriam Blanchet besucht, die freundlich zu ihm wahren. Doch herrschte eine gewisse Distanz und sie blieben nur selten länger bei ihm. Meist schauten sie nur, ob es ihrem Sohn gut ging, fragten ihn, was er so mache und gingen wieder. Sie kamen stets allein zu Besuch, denn sie waren weder verheiratet noch ein Paar. Noel freute sich zu ihren Besuchszeiten vor allem auf die Süßigkeiten, die sie mitbrachten. Wenn seine Mutter ihn umarmen wollte, entwand er sich und ging spielen.


    Die Halbwüstenlandschaft war der Spielplatz der Kinder zu jenen Zeiten, in denen sie unter freiem Himmel spielen durften. Man ließ sie völlig allein herumstromern, denn sie sollten früh lernen, ohne Hilfe und ohne Gesellschaft zurechtzukommen. Menschen, die den Kindern gefährlich werden konnten, gab es in dieser entlegenen Gegend nicht. Nur selten geschah es, dass man eines von ihnen in suchen musste, das sich verirrt hatte. Das Haar vom Ostwind zerzaust erkundete Noel am liebsten einen besonders windigen Bereich, wo sich ein Labyrinth aus sandig-weichen Senken zwischen den von vergilbtem Gras bewachsenen Dünen gebildet hatte. Dort spielte er in Gesellschaft von Schlangen, Skorpionen und Spinnen, vergrub Schätze aus Knochen und Steinen und merkte sich jedes Einzelne seiner Verstecke. Er kontrollierte sie regelmäßig, denn irgendetwas musste er tun, wenn er allein da draußen spielte. Sich selbst zu genügen, hatte er von Anfang an lernen müssen, indem man ihn nur ohne seine Spielgefährten hinausgehen ließ.
    War er im Heim, lernte Noel Arbeiten, die sonst weibliche Bedienstete ausübten, wie Wäsche waschen, kochen, putzen und sich um die jüngeren Kinder kümmern. Er konnte Schuhe flicken und Möbel reparieren, beherrschte das Nähen, Stricken und Häkeln und wusste, wie man ein Kleinkind versorgt. Nichts davon konnte er sonderlich gut, dafür beherrschte er von allem die Grundlagen. Man bereitete ihn darauf vor, völlig ohne Diener, Knechte und Mägde zurechtzukommen. Ihn erwarteten, abgesehen von der Hausarbeit, viele geleitete Spiele, die eine Pflichtveranstaltung waren. Damals wusste er noch nicht, dass auch sie bereits Bestandteil seiner Ausbildung waren.
    Theaterstücke einzustudieren und Rollenspiele zu improvisieren war Alltag. Neben Puppen und Marionetten nannte jedes Kind einen umfangreichen Verkleidungskoffer mit unterschiedlichen Kostümen sein Eigen. Auch Perücken und Schminke gehörten dazu, so dass sie sich gegenseitig oder allein verkleiden konnten. Im Gegensatz zu anderen Haushalten durften die Jungen des Stählernen Lotos mit Puppen spielen, sie wurden sogar dazu ermutigt. Sie sollten sich Märchen um diese Figuren ausdenken, um sie zum Leben zu erwecken. Die Kinder für Tagträumereien zu rügen, kam hier niemandem in den Sinn.


    Und in einer weiteren Besonderheit unterschied sich die Erziehung der Ordenskinder in der von anderen Kindern. Lügen wurde nicht bestraft, sondern durch reichhaltige Verlockungen herausgefordert. Man sorgte dafür, dass es sich lohnte, wenn man die Kinder nicht erwischte. Mit dem Lügen aufzuhören kam ihm nicht in den Sinn, denn er erlebte, dass jeder in diesem Heim den anderen andauernd belog. Die Ammen logen genau so wie die Erzieher. Es schien, als taten sie es absichtlich in einer Weise, dass die Kinder herausfinden konnten, ob jemand ihnen eine Unwahrheit auftischte. Es gehörte zum Alltag dazu, Lügengeschichten zum Besten zu geben und wenn Noel von der Klapperschlange erzählte, mit der er sich in der Sundhi angefreundet hatte, tat sein Erzieher so, als würde er es glauben - nicht wissend, dass der Junge unter dem Geräteschuppen tatsächlich eine Klapperschlange hielt, die er mit selbst gefangenen Mäusen fütterte. Und nicht ahnend, dass Noel die Geschichte bewusst so erzählte, dass sie wie erfunden klang, damit man ihm sein Haustier nicht erschlug.


    Mit sechs Jahren wurde jedes Kind des Heimes von einem Mitglied des Ordens adoptiert, das war etwas, worauf Noel sich freute. Er würde reiten und kämpfen lernen. Die Hausarbeiten und die Schauspielerei langweilten ihn immer mehr, je älter er wurde und er sehnte sich nach Spielen, die wilder waren und gefährlicher. Neben der Klapperschlange unter dem Geräteschuppen hielt Noel verschiedene Giftspinnen und Skorpione in hölzernen Dosen, die er unter seinem Bett versteckte, bis sie starben. Nur seine Klapperschlange, die nach wie vor frei wohnte, überlebte seine Fürsorge.


    So vertrieb er sich seine Freizeit bis zu dem Tag, an dem er seinen Mentor kennenlernen würde. Man sagte Noel, er würde bei dem Mann, der ihn einst adoptierte, Dinge lernen, mit denen er später sehr viel Geld verdienen konnte, ohne dass man ihm offenbarte, welche dies sein würden. Noel wollte von seinem Geld eine Meute der braunen, stehohrigen Windhunde kaufen und mit ihnen in der Sundhi jagen gehen. Er wusste damals noch nicht, dass diese edlen Geschöpfe dem Adel vorbehalten waren, genau wie die Hochwildjagd und dass er in seinem Leben nie auch nur einen einzigen Windhund besitzen würde.

  • Der Mentor
    Souvagne, Jahr 183 nach der Asche. Lehen la Grange.


    An seinem sechsten Geburtstag bekam Noel einen seiner sehnlichsten Wünsche erfüllt. Er hatte die Nacht kaum schlafen können und sich in Vorfreude in seinem Bettzeug hin und her gewälzt. Als endlich die ersten Sonnenstrahlen durch die Luftschlitze der hölzernen Fensterläden fielen, stand er auf, wusch sich und zog sich an. Als sein Erzieher in wecken wollte, war Noel bereits fertig angezogen. Im Speiseraum gab es ein großes Geburtstagsfrühstück mit frischem Brot, gekochten Eiern, einer großen Schüssel Weintrauben und exotischen Früchten, die es auf keinem Markt zu kaufen gab. Das beste war die große Schokoladentorte, denn Schokolade war ein Luxus, den sich sonst nur Adlige leisten konnten. Als Noel durch die Tür trat, sangen die Kinder im Chor. Ihr Gesang wurde untermalt von den Musikinstrumenten der Erzieher und Ammen, von denen jeder mehrere Instrumente beherrschte. Danach wurde zusammen gegessen und jedes Kind erhielt einen Sahnekakao. Es war nicht nur eine Geburtstagsfeier, sondern auch ein Abschied. Es flossen keine Tränen, es wurde gescherzt und gelacht, denn alle wussten, dass sie sich wieder sehen würden.


    Timothée Mauchelin wartete bereits im Arbeitszimmer des Heimleiters. Noel war die Treppe hinaufgerannt, weil er es nicht mehr aushalten konnte, den Mann zu sehen, bei dem er fortan wohnen würde. Bei dem er reiten und kämpfen lernte. Er stellte ihn sich vor als einen edlen Recken, so wie die Chevaliers, die durch den Morgennebel auf die Jagd ritten in ihren schicken Jagdröcken. Als Noel in den Raum stürmte, saß sein Mentor auf einem Stuhl und wartete auf ihn. Der Heimleiter Valentin Rignon erhob sich hinter seinem Schreibtisch.


    »Ich lasse euch beide allein, damit ihr euch in Ruhe kennenlernen könnt. Wenn alles passt, setzen wir nachher den Ausbildungsvertrag auf und die Adoptionsurkunde.« Er nickte beiden freundlich zu und verließ das Arbeitszimmer.


    Noel schaute sich seinen Mentor an - und war enttäuscht. Hätte er ihn auf der Straße getroffen, wäre er vermutlich an ihm vorbeigegangen, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen. Der Mann war etwa 30 Jahre alt, sein Haar unter einem Hut verborgen. Er besaß ein ebenmäßiges, aber nichtssagendes Gesicht mit großen grauen Augen. Seine Kleidung war ordentlich und unauffällig, so wie man sie von einem Buchhalter erwarten würde. Auf dem Schoß hatte er eine Ledertasche für Akten, die mit einer Schnalle verschlossen wurde. Und das, wo sie doch während ihrer Ausbildung derart fantasiereiche Rollenspiele durchführten. Sollte das seine Zukunft sein, als Zögling eines Buchhalters in einer muffigen Schreibstube zu versauern? War es das, worauf sie ihn vorbereitet hatten?


    »Hallo Noel. Ich bin Timothée Mauchelin. Du kannst Timo zu mir sagen und mich mit Du ansprechen.« Der langweilige Mann reichte dem Jungen die Hand. Der nahm sie und drückte sie. Sie fühlte sich weich und kalt an, wie seine Klapperschlange.


    »Hallo Timo«, sagte Noel.


    Es klopfte, die Haushälterin stellte ihnen ein Tablett mit Tee hin, schenkte ihnen ein Lächeln und ließ sie wieder allein. Timothèe wartete, bis sie das Arbeitszimmer verlassen hatte, ehe er das sich gerade anbahnende Gespräch fortsetzte.


    »Dein Heimleiter Monsieur Rignon hat mir berichtet, dass du ein guter Lügner wärst.« Weder seiner Stimme seinem Blick war zu entnehmen, was er von dieser Information hielt.


    Noel nickte. »Das stimmt«, sagte er stolz.


    »Warum gibst du das so freimütig zu? Nun weiß ich es und du wirst es künftig schwer haben, mich an der Nase herumzuführen. Du hast dir damit keinen Gefallen erwiesen.«


    Der Junge zuckte mit den Schultern. »Du hast es ja sowieso schon gewusst. Du hast nur gefragt, um zu schauen, was ich sage. Hätte ich gelogen, hättest du es mir ja doch nicht geglaubt.«


    Sein Mentor nickte kaum merklich. »Ich möchte, dass du es trotzdem weiterhin versuchst. Es ist wichtig. Was bedeutet Lügen für dich?«


    »Es ist nützlich«, antwortete Noel, nachdem er eine Weile überlegt hatte.


    »Mehr als das«, antwortete Timothèe ernst. »Lügen ist die wichtigste Fähigkeit eines Stählernen Lotos. Das wird künftig mehr sein als nur ein Spiel, um Süßigkeiten zu ergaunern oder sich vor der Hausarbeit zu drücken. Lügen sind Grundlage deiner Arbeit als erwachsener Mann und deine spätere Lebensversicherung. Wie gut du es beherrschst, wird darüber entscheiden, ob du lebst oder stirbst. Wenn man dich beim Lügen erwischt, wird das in einigen Jahren in deinem Tod enden. Darum werde ich sehr streng mit dir sein. Ich werde es dir viel schwerer machen, als du es bisher gewohnt bist. Wenn ich dich beim Lügen erwische, werde ich dich hart bestrafen. Also sorge dafür, dass du nicht erwischt wirst.«


    Noel besah sich seinen Mentor. Er fand nicht, dass Timothèe aussah, als würde er einer gefährlichen Arbeit nachgehen. Er nickte. »Ich habe keine Angst«, sprach er mit seiner piepsigen Kinderstimme.


    »Ich werde dafür sorgen, dass sich das ändert, Noel«, sprach sein Mentor kühl. »Nicht sofort, du darfst dich erst einmal eingewöhnen, aber bald. Du musst lernen, in Furcht zu leben und trotzdem klar zu denken. Immer handlungsfähig zu bleiben und nie in kopflose Panik zu verfallen. Denn der Tag wird kommen, da Angst dein Leben bestimmt.«


    »Kannst du kämpfen?«, fragte Noel, der das, was sein Mentor erzählte, weder verstand noch sonderlich ernst nahm.


    »Ja«, antwortete Timothèe. »Und du wirst es auch lernen. Du hast die beste Veranlagung dazu. Der Heiler hat dich untersucht, du bist gesund, schnell und stark. Auch bist du bereits in der Lage, die unterschiedlichsten Personas darzustellen. Du bist ein guter Schauspieler. Nur die Abgrenzung deiner Rollen voneinander muss noch schärfer werden, habe ich deiner Akte entnommen. Einige Personas ähneln sich zu sehr, das solltest du vermeiden. Insgesamt stehen jedoch die Chancen gut für dich, dass du später als Stählerner Lotos in vorderster Front arbeiten wirst.«


    »Heißt das, ich darf kämpfen?«, fragte Noel mit kindlicher Begeisterung.


    »Mein lieber Noel«, antwortete Timothèe. »Als Krieger kämpfen zu wollen bedeutet, jemanden töten zu wollen. Ist dir das bewusst? Weißt du, was die Chevaliers im Kampf tun, von denen ich weiß, dass du gern einer von ihnen wärst? Weißt du, wofür sie ausgebildet werden? Dafür, Menschen zu töten, um unser Land zu beschützen. Familien ihre Männer zu rauben, ihre geliebten Söhne, Brüder oder Onkel. Die Kunst eines Chevaliers ist die Kunst eines professionellen Mörders, ist dir das klar?«


    »Die Chevaliers lernen noch viele andere Dinge«, wandte Noel spitzfindig ein, der immer gern die Rolle eines Chevaliers in ihren Theaterstücken übernommen hatte. Seinem Erzieher hatte er dazu Löcher in den Bauch gefragt. »Sie sind auch Gelehrte und beherrschen die schönen Künste. Sie haben einen Kodex, damit sie keine Mörder werden, sondern Chevaliers bleiben. Und sie kenne sich mit Büchern aus, mit Rechnen und Schreiben.«


    Timothèes strenger Blick verwandelte sich in Zufriedenheit, er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte das erste Mal.
    »Schau einer an. Monsieur Rignon hat nicht übertrieben. Du bist schlau und lässt dich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Du hast dich gut über deine Lieblingsrolle informiert. Zu allererst muss ich dir sagen, dass du nie ein Chevalier sein wirst. Es sei denn, der Duc beschließt, dich zu adeln, was sehr selten vorkommt, oder ein Chevalier möchte dich aus irgendeinem Grund heiraten. Ansonsten ist man in seinen Stand hineingeboren und bleibt dort bis zu seinem Tod. Wir vom Orden des Stählernen Lotos sind dem Stand nach Freie und tragen damit mehr Verantwortung für uns als ein Leibeigener, genießen andere Privilegien, haben aber auch andere Verpflichtungen. Dem Adel, wie die Chevaliers, gehören wir aber nicht an. Ein Freier wirst du bleiben, wenn du keinen fatalen Fehltritt begehst, doch ein Chevalier wirst du niemals werden. Das musst du realistisch sehen und ich mache dir keine falschen Hoffnungen.
    Aber ich wäre nicht hier, wäre mir nicht ein Zögling angeboten worden, der das Zeug zu einem Krieger hat. Auch als Freier kannst du dich im Kampf verdient machen. Du könntest zum Beispiel Büttel werden und für die Sicherheit in den Städten sorgen, Soldat oder Gardist. Das wäre eine Persona, die zu dir passen würde. Doch zu allererst möchte ich dir etwas Grundlegendes über das Kämpfen erklären, damit wir uns nicht falsch verstehen. Hörst du mir zu?«


    Noel nickte eifrig und Timothèe fuhr fort.


    »Der beste Kampf ist der, den du vermeiden kannst. Du weißt noch nicht, welche Besonderheit in dir schlummert, die dich so wertvoll macht, dass du die Ausbildung zu einem Stählernen Lotos der vordersten Front genießen darfst. Es ist auch noch nicht an der Zeit, dich darüber in Kenntnis zu setzen, das wäre zu viel auf einmal. Aber ich verrate dir, wie deine Taktik künftig funktionieren wird. Weißt du, was ein Lotos ist?«


    »Eine rosa Blume«, antwortete Noel.


    »Es ist genau genommen eine Wasserpflanze mit herrlichen Blüten. Sie lädt zum Pflücken ein, doch sollte man genau hinschauen, bevor man das tut. Denn in einigen Blüten lauert der Tod. Die Lotosspinne ist wunderschön, mit einem glatten, rosa schimmernden Körper. Sie duftet sogar, weil sie sich ihr Leben lang in Blüten aufhält. Sie kann Netze bauen, tut dies jedoch nur zum Formen eines Nestes für den Nachwuchs. Darüber hinaus ist sie eine schnelle Lauerjägerin, die ihre Beute mit einem Sprung aus dem Verborgenen heraus packt. Sogar ihre Ausscheidungen sehen aus wie Nektar und riechen süßlich und sie setzt sie dorthin, wo es ihr passend erscheint. Alles an diesem Tier ist perfekt. Sie bewegt sich wippend, wenn der Wind die Blätter ihrer Blüte bewegt, so dass man sie nur sieht, wenn man gezielt nach ihr sucht. Wenn sich Falter und Schmetterlinge in der Blüte niederlassen, um vom falschen Nektar zu naschen, zeigt die Spinne ihre wahre Natur. Sie gehört zu den gefährlichsten Giftspinnen überhaupt. Ihr Biss tötet kleine Tiere augenblicklich und einen Menschen innerhalb von Minuten. Wir nehmen uns dieses wunderbare Tier zum Vorbild.
    Nach außen hin zeigen wir eine harmlos wirkende Fassade, in der unerkannt der Tod lauert. Wir bewegen uns unter den Menschen, als wären wir einer von ihnen, so wie die Lotosspinne sich als Teil einer Blüte ausgibt. Mimikry nennt man das. Wir beobachten, was sie tun, lernen ihre Stärken und Schwächen kennen, ihre Ängste und Sehnsüchte, gaukeln Freundschaften vor und nutzen diese aus, um noch mehr herauszufinden. Und wenn das, was wir herausfinden, uns geeignet erscheint, einen Menschen als Beute zu betrachten, halten wir zunächst alles wie immer. Wir spielen das Schauspiel weiter. Tun so, als seien wir Buchhalter, Schneider oder, wie es dir gefallen würde, ein Krieger. Jedoch ist dein wahrer Gegner nicht auf der anderen Seite der Schlachtlinie zu finden, sondern auf deiner eigenen. Wir warten geduldig, manchmal Monate, auf einen günstigen Augenblick, bis es so weit ist, zuzuschlagen. Der Zeitpunkt, zu dem jemand begreift, wer wir wirklich sind, ist der Augenblick seines Todes.
    Das ist die Art wie wir kämpfen - die Form des Kampfes, die ich dich lehren werde. Wir spielen unsere Rollen, lügen und lächeln. Das ist die Natur eines Stählernen Lotos. Aber«, Thimothèe lächelte, »den Kampf mit Schild und Schwert wirst du dennoch erlernen, genau wie den Umgang mit weiteren Waffen zu Fuß und zu Pferd. Denn vielleicht werden die Umstände es einmal erfordern, dass du eine Persona anlegst, welche diese Kunst beherrscht. Momentan spricht ja alles dafür, dass du eine solche Persona erwählen wirst. Bist du bereit, deine richtige Ausbildung anzutreten?«


    Das war sehr viel auf einmal und Noel war traurig, dass er kein Chevalier sein konnte. Auch verstand er nur einen Teil von den vielen Erklärungen. Aber er würde zu kämpfen lernen und zu reiten, so wie er es sich immer gewünscht hatte. Und darauf freute er sich. Er nickte eifrig.

  • Das Ende von Noel


    Valentin Rignon war zurückgekehrt und bereitete die Dokumente auf seinem Arbeitstisch vor.
    »Hast du dir einen Namen für dich überlegt?«, fragte Timothèe währenddessen. »Es ist üblich, dass der Lotos ihn selbst wählt, um eine reibungslose Immersion zu gewährleisten. Ich kann ihn dir darum nicht geben. Es muss sich auch im Herzen wie dein Name anfühlen.«
    Der Junge blickte ihn verständnislos an. »Na, ich heiße doch Noel.«
    »Aha«, gab sein Mentor von sich.
    »Oder nicht?«, fragte der Junge nach.
    Timothèe sah ihn mit einem schwer zu deutenden Blick an. Noel konnte Mimik sehr gut deuten, doch nicht die dieses Mannes, es sei denn, dieser ließ es zu und das war momentan nicht der Fall. Das Gesicht war so ausdruckslos wie das eines Fisches und die grauen Augen wirkten wie leblose Steine. Dann lächelte er unvermittelt. »Du trittst nun einen neuen Lebensabschnitt an, mein Kleiner. Du bist kein Kleinkind mehr, sondern ein großer Junge. Deine Ausbildung als Stählerner Lotos beginnt. Das, was du hier intuitiv an Schauspielkunst und Manipulationstechniken erlernt hast, war nur Vorgeplänkel, damit es dir von Anfang an in Fleisch und Blut übergeht, fest in deinem Sein verankert ist und du später keine Hemmungen hast, das Gelernte umzusetzen. Nun aber erfolgt die bewusste Aneignung dieser Techniken auf Basis der Verhaltenslehre. Hinzu kommt eine medizinische Ausbildung, damit du lernst, einen Organismus präzise auszuschalten. Du erhältst bald die ersten einfachen Aufträge, mit denen du dir Taschengeld verdienen kannst. Ich werde deine Fortschritte überwachen, dich zur Perfektion bringen und ich bilde dich nicht nur aus, sondern ich habe dich adoptiert. Du bist rechtlich mein Sohn, wir gehören zusammen. Ist das nicht Anlass genug, die alte Haut abzustreifen und zu schauen, welche neue, glänzende Hülle sich darunter verbirgt?«
    »Aber ich bin doch immer noch ich?«, wandte Noel ein.
    »Nein. Ab heute bist du ein völlig anderer Mensch, mit einem anderen zu Hause, einem neuen Vater. Ein neuer Name gehört auch dazu. Noel ist Geschichte, es gibt ihn nicht mehr, verstehst du das?«
    Noel nickte, damit Timothèe zufrieden war. »Noel gibt es nicht mehr«, bestätigte er. »Und ich bin bald ein Krieger.«
    »Und der junge Krieger braucht einen Namen«, fuhr Timothèe fort. »Irgendetwas muss schließlich in die Adoptionsurkunde eingetragen werden.«
    »Steht da nicht Noel?«, fragte der Junge irritiert.
    Timothèe gab ein verächtliches Geräusch von sich. »Ich adoptiere kein Kleinkind, das mit Püppchen spielt und die Babys des Ordens bespaßt. Das sind Tugenden, die jemand wie du nun wahrlich nicht braucht. Das mögen die schlafenden Lotos übernehmen, die sich nie entfalten werden. Für dich wäre es nichts anderes als Vergeudung und wenn es nach mir ginge, wärst du viel eher schon in deinen wahren Stärken gefördert worden. Es gibt keine Puppen mehr, keine Kindereien, sondern ich bereite dich schrittweise auf das Leben als erwachsener Mann im Einsatz für die Krone vor. Du bist nicht mehr Noel, keine Knospe mehr, sondern der Lotos, der seine Blätter zu entfalten beginnt. Und eines Tages wird sich die Spinne darin offenbaren. Was ich adoptiere, ist ein Werkzeug des Todes. Ein junger Todbringer.«
    Noel fand das übertrieben. Außerdem mochte er seinen Namen. Er verstand nicht, warum Timothèe dermaßen darauf pochte. Aus seiner Sicht war er immer noch der Selbe. Warum durfte er seinen Namen nicht behalten?
    »Wenn ich ein junger Todbringer bin«, sprach der Junge, »dann will ich Pascal heißen.«
    Timothèe zuckte zusammen. Er erschrak dermaßen, dass sein Gesicht kreidebleich wurde. Dann verzogen sich seine Brauen. »Oh, das findest du witzig?«, fragte er böse.
    Noel fragte sich, woher sein Adoptivvater von der Klapperschlange wusste, die so hieß. Er hatte geglaubt, niemand wäre dahintergekommen, welch Haustier er sich unter dem Geräteschuppen hielt. Den Namen hatte er schön gefunden für die Schlange und wenn er sich schon umbenennen musste, dann wollte er genau so heißen wie sie.
    »Was stimmt nicht mit dem Namen?«, fragte er vorsichtig zurück.
    Timothèe funkelte ihn an. »Für solche Spielchen bist du eigentlich zu jung und wenn du sie schon beginnst, dann mit Gegnern deiner Kragenweite. Aber gut. Wenn du spielen willst, sei es so. Ich nehme die Herausforderung an. Aber überlege dir gut, wie weit du es treibst. Denn ich werde das Spiel bis zum bitteren Ende mit dir mitspielen, Pascal.« Er sprach den Namen voller Ironie aus, spie ihn regelrecht in das Gesicht des Jungen. »Valentin, darf ich bitten.«
    Monsieur Rignon griff nach der Feder und trug den Namen in die Adoptionsurkunde ein. Der Junge las mit. Pascal Mauchelin. Auch der Heimleiter schien wenig begeistert von seiner Wahl, sagte jedoch nichts dazu. Da ohnehin scheinbar jeder von seinem Haustier wusste, obwohl er niemandem davon erzählt hatte, fragte er: »Darf ich meine Klapperschlange mitnehmen?«
    »Was, eine echte?«, wollte Timothèe wissen.
    »Ja. Sie wohnt unter dem Geräteschuppen. Ich habe sie immer gefüttert und weiß, was sie gerne isst. Ich würde mich gut um sie kümmern.«
    Pascal rechnete mit einem Nein und einer langen Moralpredigt. Mit noch mehr Schimpfe. Stattdessen legte sein neuer Vater die Maske der Feindseligkeit ab und grinste. »Wenn du sie allein in einen Transportbehälter verfrachten kannst, sei sie dein. Du hast dich oft genug mit ihr beschäftigt, du wirst wissen, wie du mit ihr umzugehen hast, ohne dass ihr Biss dich trifft.«
    Das hatte Pascal nicht erwartet. So unangenehm Thimothèe im ersten Moment gewesen war, diese Geste fand er sehr nett von ihm. Vielleicht würden sie sich doch noch miteinander anfreunden und nicht nur auf dem Papier Vater und Sohn sein, sondern eine richtige Familie bilden. Während die beiden Männer die Unterlagen fertig ausfüllten, begab der Junge sich mit zwei gegabelten Stöcken und einem geflochtenen Transportkorb für Hühner auf die Jagd nach seinem geschuppten Namensvettern. Es dauerte nicht lange, und der Korb mit der Klapperschlange war transportfertig. Timothèe sah nun richtig glücklich aus, seinen Schützling zu sich nach Hause holen zu dürfen und fand dessen geheimes Haustier offenbar witzig. Sein Zorn war verflogen. Er strich ihm mit seiner kalten, weichen Hand durch das wuschelige Haar, als sie sich vor der Schreibstube trafen.
    »Nun sind wir offiziell Vater und Sohn. Du wirst ein guter Lotos, mein Kleiner. Bevor wir fahren, möchte ich dir etwas zeigen, damit du mich besser verstehst. Folge mir noch ein letztes Mal hinein.«
    Der Heimleiter war noch dabei, die Papiere einzuräumen. Timothèe nahm eines der Dokumente und hielt es Pascal hin, der schon lesen konnte. Es war eine Sterbeurkunde, fertig ausgefüllt mit Datum und mehreren Unterschriften. Eine davon erkannte er als die des Heilers, bei dem er manchmal gewesen war. In der Zeile mit dem Namen stand ›Noel Blanchet‹ eingetragen. Als Sterbeursache Typhus, weswegen der Leichnam zur Verbrennung vorgesehen war. Pascal sah seinen Vater entsetzt an.
    Timothèe drückte seine Schulter. »Siehst du, Noel ist tot. In meinem Koffer trage ich alle Dokumente von Pascal, der als Waisenjunge auf der Straße aufgegriffen und an mich vermittelt wurde, da ich, selbst kinderlos, schon lange darauf warte, ein Kind aus dem Heim zu mir nehmen zu dürfen.«
    Gemeinsam gingen sie zu der wartenden Kutsche. Pascals Klapperschlange wurde zusammen mit seinem Koffer eingeladen und dann stiegen sie in das Innere. Die Fensterscheiben waren aufgeraut, so dass er nicht hinausschauen konnte. Die Peitsche knallte und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Das Klappern der Pferdehufe drang gedämpft hinein.
    »Nun beginnt das Leben, dass du dir immer gewünscht hast. Die Ausbildung zu einem Krieger. Freust du dich?«, fragte Timothèe, der seinem Sohn im Inneren der Kutsche gegenüber saß.
    »Und wie ich mich freue«, antwortete Pascal glücklich und umklammerte den Korb mit der Klapperschlange, über dem ein Tuch hing, damit das Tier sich nicht unnötig aufregte. Er hielt sie ganz fest, so als ob er sie beschützen würde. Ein Rasseln drang unter dem Tuch hervor.

  • Beaufort


    Die Kutschfahrt dauerte mehrere Tage. Pascal und Timothèe übernachteten in guten Gasthäusern, wobei dem Jungen auffiel, dass sein Vater einen völlig anderen Namen angab, als er die Zimmer mietete.
    »Alte Gewohnheit«, antwortete er, als sein Zögling nachfragte und blinzelte ihm zu.
    »Wohin fahren wir überhaupt?«, wollte Pascal wissen.
    »Nach Beaufort, in die Hauptstadt von Souvagne. Dort habe ich Arbeit und eine Wohnung.«
    Pascal fiel auf, dass Timothèe nicht von einem zu Hause, sondern nur von einer Wohnung gesprochen hatte. Er fragte sich, ob das eine willkürliche Wortwahl war oder ob mehr dahinter steckte.
    Beaufort kündigte sich schon lange vor der Stadtmauer an. Die Gehöfte standen in immer kürzeren Abständen zueinander. Wenn Pascal zum Fluss hinab blickte, war dieser von Feldern gesäumt wie von einem Kachelmuster. Auf den Hügeln, die er aus dem anderen Fenster der Kutsche erblickte, sah er Weinberge und Obsthaine, zu denen mit flachen Mauern begrenzte Wege führten. Pascal, der aus der Halbwüste des Lehens La Grange stammte, war begeistert von so vielen Pflanzen. Ackerbau gab es in La Grange so gut wie gar nicht, nur die kargen Gärten für den Eigenbedarf um die Gehöfte herum. Es war zu mühsam, der Sundhi das Nötige abzuringen, damit die Pflanzen gut gediehen und ertragreicher waren die Jagd und der Fischfang an der Küste.
    »Wie eine riesige Oase«, schmachtete Pascal, während er sein Gesicht durch das offene Kutschenfenster hinaus streckte. Die Luft duftete nach Frühling. Und was für ein frischer und süßer Frühlingsduft es war!
    »Beaufort ist eine Oase der Fruchtbarkeit, aber auch der Bildung und Zivilisation. Sie ist nur leicht befestigt, das wirst du bald sehen. Der Fluss trägt die fruchtbare Erde aus den Bärenbergen hinab zu uns ins Tal«, erklärte Timothèe. »Es ist der Draken. Im Frühling und Herbst tritt er über die Ufer und hinterlässt fruchtbaren Schlamm. Nahe seiner Quelle liegt die berühmte Stadt Drakenstein. Vielleicht hast du schon von ihr gehört. Innerhalb ihrer Mauern steht die größte Magierakademie von Souvagne.«
    »Kann ich dort auch lernen?«, fragte Pascal, während er sich den Wind um die Nase wehen ließ.
    Timothèe lachte. Warum er das tat, verstand Pascal nicht. »Nein«, antwortete sein Vater. »Unsereins beherrscht keine Magie.«
    »Könnten wir es nicht lernen, wenn wir uns genug anstrengen?«, bohrte Pascal nach, der immer alles ganz genau wissen wollte, damit er verstand, wie die Welt funktionierte.
    »Also schön«, antwortete Timothèe. »Ich wollte es dir erst später erklären, aber wenn du so neugierig bist, warum nicht gleich? Du bist etwas Besonderes, Pascal. In dir schlummert eine Gabe, die dich sehr viel wertvoller macht als einen Magier - von denen gibt es ungefähr 10% der Bevölkerung, jene mitgerechnet, die nichts davon wissen, dass sie überhaupt den Funken in sich tragen. Sagen wir, 5% der Bevölkerung sind aktive Magier, 10% könnten es sein, wenn sie ausgebildet werden würden. Du und ich aber - wir sind Menschen, die nicht in das Schema von Magier und Nichtmagiern hineinpassen.«
    Er ließ eine bedeutungsschwere Pause, damit Pascal sich vom Fenster losriss und wieder ordentlich hinsetzte, den Blick aufmerksam auf seinen Mentor gerichtet.
    »Was ich dir nun sage, unterliegt absoluter Geheimhaltung. Dass du niemandem von der Existenz des Stählernen Lotos erzählen darfst, weißt du bereits. Im Heim war das einfach, nun aber gehen wir unter Menschen. Wenn dir auch nur ein falsches Wort herausrutscht, dass auf die Existenz unseres Ordens verweist, wirst du in ein Sanatorium gebracht, einer Heilanstalt für Geisteskranke. Und dort wirst du nicht geheilt, sondern du wirst sterben. Den Orden zu verraten, bedeutet deinen Tod. Und nun verrate ich dir auch, warum.«
    Pascal nickte aufgeregt. Angst hatte er keine, er verspürte nur unendliche Neugier, um zu verstehen, warum er dieses Leben führte, was sich so von dem Leben anderer Kinder unterschied.
    »Unser Orden heißt nicht nur wegen der Giftspinne, die in der Blüte lauert, Stählerner Lotos«, fuhr Timothèe fort, »sondern auch wegen der Eigenschaft der Laubblätter, Wasser und Schmutz von sich abperlen zu lassen. Nichts bleibt daran haften. Und das ist der entscheidende Punkt. Nicht nur, dass wir keine Magie beherrschen, wie sie jedem normalen Menschen verschlossen bleibt, uns hat es noch viel besser getroffen: Wir sind gegen Magie vollkommen immun. Sie perlt von uns ab, ohne unser Inneres zu erreichen. Kein Magier kann uns beeinflussen. Und das macht uns zur effektivsten Waffe gegen die Verseuchten. Wir sind Antimagier. Wir bringen Magiern den Tod. Wir sind die Spinnen des Duc, die sich im Gewand gewöhnlicher Menschen verbergen, um ihn vor der magischen Brut zu schützen, auf die deren Dienste er angewiesen ist. Der Stählerne Lotos ist vor ihm die letzte Instanz. Wir sind jene, die über die Wächter wachen - über uns wacht niemand mehr, als Duc Maximilien Rivenet de Souvagne Höchstselbst. Der Tag wird kommen, da du vor ihm kniest und ihm deine Treue schwörst.«
    Pascal dachte eine Weile darüber nach, während ein blühender Apfelhain an dem Fenster der Kutsche vorbeizog. Er warf einen verstohlenen Blick nach draußen. Ein Meer von duftendem Rosa und Weiß. Unter den Kronen standen Bienenstöcke und überall summte und brummte es.
    Timothèe schlug das Kutschenfenster zu. »Du hast gefragt, jetzt höre mir auch zu!«
    »Ja, Timo«, antwortete Pascal versöhnlich. »Darf ich dich was fragen? Sind alle Stählernen Lotosse Antimagier?«
    »Zunächst eine Korrektur deiner Sprache. Ich will nicht, dass du sprichst wie ein Bauer. Die Mehrzahl heißt nicht Lotosse, sondern Lotos. Ein Lotos - viele Lotos. Ganz einfach zu merken. Nun zu deiner Frage. Nur ein Drittel aus unserem Orden sind Antimagier. Die anderen sind Träger dieser wunderbaren Eigenschaft, ohne dass sie sich in ihnen entfaltet. Sie sind die Frauen und Männer, mit denen wir Nachwuchs zeugen. Denn wenn zwei Antimagier ein Kind bekommen, stirbt dieses noch im Mutterleib, spätestens aber nach der Geburt. Zu verhindern, dass wir aussterben, ist ein schwieriges Unterfangen. Das aber ist nichts, womit du dich schon beschäftigen musst. Es ist ein Thema für Erwachsene.«
    Er öffnete das Fenster wieder, was wohl bedeutete, dass der geheime Teil des Gesprächs vorüber war. Die Fassaden mehrgeschossiger Stadthäuser zogen vorbei. Nun waren sie wirklich in Beaufort angelangt. Pascal streckte erneut den Kopf hinaus. Der Untergrund war überall mit viereckigen Steinen gepflastert, auf dem die Räder der Kutsche ratterten und die Pferdehufe unangenehm laut klapperten. Er sah weder Gras noch Erde. Die Fachwerkhäuser standen eng beieinander, die Dächer waren mit roten Dachschindeln gedeckt und ragten wie spitze Zacken in den Himmel.
    »Die Dächer sind so steil, damit der Schnee im Winter herunter rutschen kann. Sonst würde sein Gewicht den Dachstuhl eindrücken. In La Grange fällt auch im Winter nur wenig Schnee, so dass die Dächer flacher gebaut werden können, so dass die obere Etage besser nutzbar ist«, erklärte Timothèe.
    Er zeigte Pascal auch den Palast des Ducs, dessen weiße Mauern sie im Vorbeifahren von weitem sahen, den botanischen Garten, den Stadtpark und benannte seinem Zögling die wichtigsten Straßennamen.
    »Wir folgen gerade der Hauptstraße nach Norden. Würden wir sie in entgegengesetzter Richtung fahren, würden wir Beaufort wieder verlassen und irgendwann auf die Salzstraße stoßen. Die Salzstraße ist die weltweit größte und längste Handelsstraße. Sie führt quer durch gesamt Asamura. Sie reicht von Naridien über Almanien bis nach Rakshanistan. Wenn du dich irgendwann einmal verirrst, wo auf der Welt du auch sein wirst, frage nach dem Weg zur Salzstraße und du wirst den Weg nach Hause finden - egal, wo der Ort sein wird, den du einst zu Hause nennst. Souvagne selbst hat keinen direkten Anschluss an die Salzstraße, aber im Süden von Almanien führt sie durch Drakenstein und das Großherzogtum Ledwick, von wo aus sie in die Wüste Rakshanistans führt.«
    »Ledwick kenne ich«, rief Pascal stolz. »Das liegt auf der Karte unter La Grange.«
    »Du bist ein schlauer Kopf und sehr wissbegierig. Es wird Spaß machen, dich auszubilden.«
    Die Kutsche hielt. Timothèe bedankte sich beim Kutscher, bezahlte ihn und sie trugen ihr Gepäck eigenhändig noch einige Nebenstraßen weiter.
    »Er muss nicht die genaue Adresse wissen«, beantwortete Timothèe die unausgesprochene Frage. Vor einem Haus, das Pascal zwischen den Baumkronen einer verwilderten Hecke und dem wuchernden Efeu fast übersehen hätte, kramte sein Mentor den Schlüssel heraus. Der Garten war vollständig zugewuchert wie ein kleines Stück Wald. Als sie eintraten, quietschte die Tür. Das Haus war eng und dunkel, mit sehr alten Möbeln bestückt und das Haus verschwand hinter dem ganzen Grün. Pascal gefiel es. Als er zum Fenster in den Hinterhof blickte, erspähte er hinter der Gartenmauer den Friedhof. Jetzt bei Tag sah er aus wie ein Park, mit alten Bäumen, im Schatten verborgenen Steinbänken und vielen Blumen.
    »Hier stört uns niemand, die meisten halten das Haus für verlassen. Das ist Absicht, darum ist der Garten auch so verwildert. Achte darauf, dass die Fensterläden vorn zur Straße hin stets verschlossen bleiben. Nach hinten zum Friedhof hin kannst du sie auch mal öffnen, aber nur bei Nacht, wenn niemand mehr auf dem Friedhof unterwegs ist. Heute machen wir eine Ausnahme, damit du alles gut siehst.«
    Timothèe führte ihn herum. Der Boden war bedeckt von einem dicken, braun gemusterten Teppich, der die Schritte dämpfte. Darunter knarrten alte Dielen.
    »Hier ist meine Schreibstube.«
    Eine Vielzahl von Kerzen sorgte für Licht, wenn die Fensterläden geschlossen waren. Momentan waren sie natürlich nicht entzündet. Auf dem Schreibtisch stand eine Öllampe mit einem drehbaren Helligkeitsregler, der die Dochtlänge einstellte. An der Wand prangte ein Ölgemälde. Es zeigte einen Mann in Kettenhemd, der ein breites Gesicht besaß, das trotz des jungen Alters schon zerbeult und vernarbt wirkte. Ein Krieger, stellte Pascal begeistert fest. Das Kettenhemd war nicht nur Zier. Der weiße Wappenrock zeigte auf seiner Brust eine stilisierte Lotosblüte, die mit Silbergarn gestickt war.
    »Wer ist das?«, wollte der Junge wissen und musste sich zusammenreißen, das Bild nicht anzufassen. Gemälde litten, wenn man sie berührte, das wusste er von den kleinen Landschaftsbildern im Heim.
    »Das«, antwortete Timothèe, während er seinen Koffer vor dem Schrank abstellte und die Kleider einzuräumen begann, »ist Pascal. Dein Zimmer ist ganz oben im Dachstuhl. Der Schlüssel steckt in der Tür.«
    Pascal stutzte, traute sich aber im Moment nicht, weiterzufragen. Er fühlte sich abserviert, wollte aber nicht mit seinem Meister streiten. Er wuchtete den Koffer mit seinen Habseligkeiten in den Spitzboden, wo er seine Kammer hatte. Dann holte er auch seine Schlange hinauf. Sie hatte sich zu einem festen Knoten zusammengedrückt und war mit Ausscheidungen beschmiert. In dem Korb konnte sie nicht ewig bleiben. Pascal würde morgen nach einem Versteck im Garten Ausschau halten, wo sie künftig wohnen konnte. Sein Namensvetter auf dem Gemälde ging ihm in all der Zeit nicht aus dem Kopf.

  • Das Ende der Kindheit


    Seine weitere Kindheit verbrachte Pascal zu gleichen Teilen als Gehilfe in Timothèes Schreibstube und in dessen Unterricht. Sein Mentor brachte ihm alles bei, was er als Lotos wissen musste. Das betraf nicht nur das Beobachten aus dem Verborgenen, sondern beinhaltete auch alle wissenschaftlichen und künstlerischen Lehren, so dass sein Schüler im Laufe der Jahre ein enormes Allgemeinwissen anhäufte. Pascal hatte Zugriff auf Karten in einem Detailgrad, wie sie sonst nur Generäle und Admiräle besaßen. Bald konnte er die Hauptstädte und Staatsoberhäupter aller bekannten Länder benennen, ebenso die Regierungsform, die Religion und Besonderheiten aller möglichen Kulturen aufzählen. Die Flüsse von Asamura offenbarten ihm auf den Karten ihre Namen, ebenso wie die Seen und die Weltmeere. Alles war bennant, auch die Gebirge, Wüsten, Steppen, Wälder und Sümpfe. Pascal merkte sich jeden einzelnen Namen. Timothèe lobte sein außerordentliches Gedächtnis sowie seine Fähigkeit, logische Zusammenhänge zu begreifen und nahm sein Desinteresse in den künstlerischen Disziplinen ohne einen Tadel hin. Den Versuch, ihm das Spielen auf der Lyra beizubringen, brachen sie nach einigen Wochen ab. Timothèe half seinem Schüler, die Schauspielerei an den Rand der Perfektion zu treiben, so dass Pascal in alle möglichen und unmöglichen Rollen schlüpfen konnte und dafür immer weniger Zeit für den flüssigen Übergang benötigte. Bald konnte er von einem Augenblick zum Nächsten ein anderer sein, etwas, das sie oft übten. Timothèe unterrichtete ihn auch in der Alchemie, wo Pascal sich als überaus talentiert erwies, was den Umgang mit Formeln betraf.
    Doch in einer Disziplin weigerte Timothèe sich, seinen Schüler in zu unterweisen: Die Kunst des Kampfes. Pascal musste als Lotos eigentlich hundert Weisen beherrschen, jemanden um sein Leben zu bringen, sei es mit Giften, verschiedenen Fallen, Todesstößen mit dem Dolch oder den Umgang mit dem Würgedraht, doch er konnte noch nichts davon. Von der Kampfkunst eines Kriegers Mann gegen Mann ganz zu schweigen.
    »Ich bin nicht gut darin«, erklärte Timothèe. »Es ist wichtig, dass du es richtig lernst und sich keine Fehler einschleichen. Du wünschst dir, später eine Persona als Krieger anzunehmen. Wenn du nicht als Schwertfutter an der Front enden willst, und das möchte ich nicht, musst du richtig gut werden, ja, hervorragend. Dann kommst du vielleicht bei einem Adligen in der Leibgarde unter. Und darum wirst du es bei einem der besten Lotos in diesem Bereich lernen.«
    Pascal hatte gehofft, nun dürfte er eine Kaserne besuchen, wo es auch Unterrichtsstunden für Kinder gab, doch er wurde enttäuscht. Stattdessen kam jemand zu Besuch, der fortan in ihrem Haus wohnte: Ein stählerner Lotos aus Ledwick, der ihm unter dem Namen Vittorio Pollarotti vorgestellt wurde.
    Vittorio arbeitete als einfacher Soldat, doch seine Fähigkeiten gingen weit darüber hinaus. Wäre er adlig gewesen, hätte er es als Offizier zu Großem bringen können. Narben durchfurchten sein gerötetes Gesicht und von einem Hieb auf den Mund fehlte ihm die Hälfte seiner Zähne. Sein kurzes Stoppelhaar war weiß. Er sprach nicht viel und wenn, dann bellte er kurz angebunden herum. Im Sprechen war er schlecht, sehr schlecht. Seine Stärken lagen im körperlichen Bereich und dort machte ihm so schnell niemand etwas vor. Pascal war begeistert, bei einem echten Soldaten Unterricht nehmen zu dürfen, der im Krieg gegen die Naridier gewesen war.
    Die Kampfausbildung war sehr hart. Im Keller des Hauses lag ein großes Trainingsareal, wo Pascal täglich etliche Male über einen Hindernisparcours laufen musste. Der Kampf erfolgte zunächst gegen Übungspuppen, doch sehr bald schon auch mit Holzschwertern und Rüstung im Vollkontakt. Vittorio schonte seinen Schüler nicht, sondern schlug ihn während der Übungsstunden grün und blau.
    »Der Schmied härtet das Schwert mit den Schlägen seines Hammers«, erklärte er mit hoher Stimme, die an ein wütendes Hündchen erinnerte. »Harter Stahl ist guter Stahl!« Oder: »Schmerz adelt!«
    Derlei Weisheiten waren lange Zeit das Einzige, was er Pascal an verbalen Erläuterungen zukommen ließ. Alles andere sollte der Junge durch praktische Übungen erlernen. Nach manchen Übungsstunden konnte Pascal nicht mehr gehen, sondern schleppte sich auf allen vieren seine Treppe hinauf.
    »Ich schmeiß den Kerl hochkant raus«, knurrte Timothèe, als es ihm zu bunt wurde.
    »Mach das nicht«, bat Pascal. »Ich halt das aus! Du hast gesagt, er ist einer der Besten. Und ich muss es lernen!«
    »Ein guter Soldat, aber ein schlechter Lehrer.«
    Dennoch durfte Vittorio vorerst bleiben und Pascal weiter mit Holzwaffen durch den Keller prügeln, bis es seinem Schüler endlich gelang, seinerseits die ersten Treffer zu landen. Das machte Pascal unwahrscheinlich stolz. Danach aber erhielt er eine dermaßen schlimme Tracht Prügel, dass Pascal eine Woche lang nicht mehr zur Arbeit gehen konnte. Er sah aus, als wäre er unter einen Ochsenkarren gekommen.
    Einen Tag hütete er artig das Bett. Als zwei Tage rum waren, wollte er trotz der Schmerzen das Training erneut aufnehmen. Er dachte sich, dass es im Feldeinsatz schließlich auch hart zur Sache ging und wenn er dann nicht durchhielt, starb er. Drum musste er sich durchbeißen und weitermachen. Vielleicht keinen Vollkontaktkampf mit Vittorio, aber er konnte seine Bewegungsabläufe im Schattenkampf trainieren oder einfach ein wenig seine Muskeln stärken.
    Die Tür stand unten offen, aber es war still. Keine Schritte, kein Keuchen, kein Klacken und Knallen. Zaghaft folgte Pascal dem schmalen Gang, der wie ein unterirdisches Labyrinth unter dem Hause entlang führte. Als er in den Übungskeller trat, fand er Vittorio. Mit gespreizten Armen und Beinen hing er nackt an eine Maschine geschnallt, die zum Trainieren der Muskelkraft diente. Die Gewichte zogen ihn in alle Richtungen auseinander und in seinem Hinterteil steckte das Holzschwert, mit dem er Pascal verprügelt hatte. Seine blassen Augen starrten ihn an, doch er bewegte sich nicht.
    Entsetzt wich Pascal zurück. Er keuchte und wusste einen Moment nicht, was er machen sollte, trat hilflos an der Stelle und stürmte dann aus dem Raum. Die Backsteinwände flogen an ihm vorbei, hastig erklomm er die Kellertreppe, die ihm endlos erschien.
    In der Schreibstube saß derweil Timothèe, mit einem weißen Hemd, das um den Hals mit einer langen schwarzen Schleife zusammengehalten wurde. Auf dem Schreibtisch dampfte eine Tasse Tee. Er war damit beschäftigt, seine Unterlagen abzuheften. Er hatte sich freigenommen für die Zeit, in der sein Schützling krankgeschrieben war.
    »Na, du warst wohl im Keller?«, fragte er belustigt, als ihn Pascal mit offenem Mund anstarrte, unfähig, ein Wort herauszubringen.
    Pascal riss sich zusammen. »Warst du das?«, fragte er voller Entsetzen.
    »Ich? Aber nein. Du weißt doch, dass ich nur ein einfacher Buchhalter bin.« Er zwinkerte ihm zu.
    »Ist Vittorio ... tot?« Pascals Herz schlug ihm bis zum Hals. Das erste Mal in seinem Leben spürte er eine Ahnung dessen, was Angst wirklich bedeuten konnte. Seine Augen wurden heiß und zwei Tränen bahnten sich ihren Weg über seine Wangen.
    Timothèe lochte einen Stapel Blätter. »Finde es heraus. Ein regloser Körper darf dich nicht schrecken. Lebt er noch, so verarzte ihn. Tut er es nicht, bette ihn in Würde. Beides musst du beherrschen. Rufe mich dann herzu, damit ich sehe, wie du deiner Aufgabe nachgekommen bist.«
    »Aber ich habe Angst«, wimmerte Pascal und weitere Tränen liefen über seine Wangen, woraufhin Timothèe mit den Schultern zuckte.
    »Wovor? Vittorio ist vollfixiert. Selbst wenn er noch leben sollte, wäre er ungefährlich. Schalte deinen Kopf ein, dann erkennst du, dass es für dich keinen Grund gibt, sich zu fürchten. Es ist ein stinknormaler Keller.«
    »Bitte hilf mir«, flehte Pascal und noch mehr Tränen rannen seine Wangen hinab.
    Timothèe klopfte den Stapel Blätter zurecht, so dass sie ordentlich übereinanderlagen. »Du siehst doch, ich habe zu tun. Ich werde dich allerdings nicht zwingen, hinabzusteigen. Es ist deine Entscheidung. Tust du es nicht, musst du mit deinem Gewissen zurechtkommen, dass du einen Lotos vielleicht hast sterben lassen, weil du zu feige warst, ihm zu helfen. Dann solltest du deinen Berufswunsch noch einmal gründlich überdenken.«
    Vittorio saß einige Stunden später gewaschen und bekleidet bei ihnen in der Küche und trank Tee, den Timothèe ihm eingeschenkt hatte. Der Soldat sah ein wenig blass aus, wirkte aber gefasst. Zu Pascals Verblüffung unterhielten die beiden Erwachsenen sich miteinander, als sei nichts geschehen. Der einzige Unterschied bestand in Vittorios plötzlich ausgesprochen respektvoller Art und Weise gegenüber den beiden Gastgebern. Was auch immer er in Timothèe gesehen hatte - er hatte sich getäuscht. Und auch Pascal war neugierig, was genau sich da unten abgespielt hatte und wie. Der Denkzettel hatte jedenfalls gesessen.
    Das Training verlief fortan sehr viel weniger destruktiv. Pascals Fortschritte waren rasant, denn er liebte es, die Kampfkunst zu üben. Wie der Schatten des alten Soldaten tänzelte er neben ihm. Ihre Drehungen erfolgten fast zeitgleich. Hieb und Stich. Schritt, Finte, Riposte. Hieb, Drehung, drei schnelle Schritte, Ausgangsstellung. Es war wie ein Tanz, als Pascal endlich jede Bewegung flüssig und ohne Zeitverzögerung beherrschte. Im Laufe der Zeit verformte sich sein Körper. Muskeln wölbten sich unter der Haut, sein Kreuz wurde breiter. Tagsüber war Pascal weiterhin der Gehilfe des bescheidenen Buchhalters Timothèe Mauchelin. Abends wurde abwechselnd gelernt oder gekämpft. Aus den Monaten wurden Jahre und alles Kindliche wich aus Pascals Körper. Er bekam Halsweh und das Sprechen fiel ihm schwer, als seine Stimme sich veränderte. Vittorio zeigte ihm, wie man sich rasierte und erklärte, dass ein Soldat immer ordentlich aussehen müsse. Alles in allem war es eine glückliche Zeit und auch wenn sie nicht miteinander verwandt waren, fühlte es sich für ihn an, als seien sie eine Familie. Dass er die beiden Erwachsenen einmal beim Küssen in der Küche erwischte, trug sein Übriges dazu bei. Pascal tat, als hätte er es nicht gesehen und ging auf sein Zimmer.
    Freizeit hatte er nur selten, doch Timothèe hatte eine Art, seinen Unterricht so zu gestalten, dass es Pascal kaum erschöpfte. Es gab viele Pausen und da sein Schüler von sich aus großen Ehrgeiz an den Tag legte, musste Timothèe ihn öfter ausbremsen als zum Fleiß ermahnen.
    »Deine Jugend rauscht an dir vorbei, Pascal«, sprach er besorgt. »Geh raus und triff dich mit Gleichaltrigen. Geh tanzen, es ist Kirmes. Du bist alt genug dafür und es ist ein anderer junger Lotos hier in der Stadt, mit dem du zusammen hingehen könntest. Ihr kennt euch doch schon.«
    »Ach, nö. Caillou ist dumm. Ich rede lieber mit dir.«
    Viattoro, der gerade an der Feuerstelle ein Abendessen für sie briet, feixte. Timothèe hingegen war nicht zum Lachen zumute. Er stützte sich auf dem Küchentisch auf und musterte seinen Schüler besorgt. »Ich freue mich über deinen Fleiß. Aber du kannst dich nicht nur mit der Lehre von der Zusammensetzung der Stoffe und mit Mathematik beschäftigen in deinem Alter. Meinetwegen hole deine Puppen wieder aus der Kiste.«
    »Timo, ich bin fast 14«, lachte Pascal. »Ich kann nicht mehr mit Puppen spielen und Volksfeste langweilen mich. Ich will mit dir reden oder mit Vittorio kämpfen.«
    »Und abends unter der Bettdecke heimlich Matheaufgaben lösen«, klagte Timothèe. »Junge, deine Zeit als Junglotos endet noch früh genug! Dann beginnt der Ernst des Lebens.«
    »Kindheit ist langweilig«, fand Pascal. »Ich will endlich erwachsen sein.«
    Nun wurde Timothèe böse. »Zieh jetzt deine Schuhe und deine Jacke an! Rauche, betrink dich bis du kotzt und klau mein Geld, damit du ein Mädchen bezahlen kannst«, schimpfte Timothèe. »Und das ist kein Vorschlag und keine Bitte. Geh zur Kirmes!«
    »Na schön«, murrte Pascal, zog sich oben an, packte ›Formeln und Tabellen‹ in den Rucksack - ein Nachschlagewerk der höheren Alchemie - dazu ein Notizbuch und einen Bleistift. Als er gehen wollte, fing Timothèe ihn an der Haustür ab, durchwühlte seinen Rucksack und nahm die Unterrichtsmaterialien heraus. Stattdessen stopfte er ihm eine Flasche mit Schnaps, eine pralle lederne Tabaktasche und eine gefüllte Geldkatze hinein.
    »So. Das hätten wir. Passe nicht auf dich auf. Treibe Unfug. Lebe, Pascal, genieße die letzten Wochen, bevor du volljährig wirst«, flehte er. »Denn dann wird man dich deinem ersten Ziel zuweisen.« Mit den Fingern brachte er Pascals Haare durcheinander, zerriss seinen Ärmel und schmierte ihm Eigelb aus der Pfanne auf die Jacke.
    Pascal guckte ihn böse an, sagte aber nichts. Missmutig stapfte er davon, während die Flasche ihm bei jedem Schritt gegen den Rücken schlug.

  • Caillou


    Pascal konnte die Kirmes schon von weitem hören. Die Trommeln und Flöten tönten durch die Straßen, der Geruch von Feuer drang in die Nase. Der Festplatz von Beaufort lag am Stadtrand. Außerhalb der Festzeiten lag die Wiese brach, damit das Gras nachwachsen konnte, beweidet von einer kleinen Gruppe von Schafen. Heute drängten sich die Wagen des fahrenden Volkes und die Buden der Schausteller zu einer eigenen Stadt aus bunten, flatternden Zeltplanen. Mit zunehmender Dämmerung mehrten sich die Besucher. Zwischen dem gemeinen Volk leuchteten hier und da wie Farbtupfer die schmucken Gewänder von abenteuerlustigen Adligen. Pascal erspähte die Hofgarde des Palasts, die eine Gruppe Menschen abschirmte und mit Hellebarden darauf achtgab, dass sich ihnen niemand näherte. In Anbetracht der Menge schaulustigen Volks war das kein leichtes Unterfangen gelegentlich schlugen sie mit dem langen Griff der Waffe nach Leuten oder drängten sie damit zurück. Pascal wollte stehenbleiben und die Gardisten bei der Arbeit beobachten, doch der Strom der Gäste schob ihn weiter.
    Er kam an einer Bude vorbei, vor der ein Mann mit einem dressierten Äffchen seine exotischen Tiere anpries, die man im Zelt bewundern konnte. Es war eines der größten Zelte, die Pascal bislang gesehen hatte, breit und tief wie ein Haus.
    »Ihr werdet entzückt sein von dressierten Äffchen, die am Trapez und auf dem Hochseil ihre Kunststücke vorführen. Sprechende Papageien in allen Farben und Größen! Seht die gestreiften Pferde aus der fernen Tamjara und den goldenen König der Katzen!«
    Die Tiere wollte Pascal sich später auf jeden Fall ansehen. Aber erst, wenn das Gedränge sich etwas aufgelöst hatte. Er mochte es nicht, von allen Seiten von fremden Menschen berührt zu werden und beneidete den Hofadel, der sich von der mitgebrachten Garde abschirmen ließ.
    Eine kleinere Bude bot ein Sammelsurium von Glücksbringern aus den Sümpfen von Alkena an, mit garantierter Wirksamkeit. Von der Decke des Zeltes baumelte ein Vorhang von getrockneten Vogelfüßen, kleinen Tierschädeln, winzigen Fläschchen zum Umhängen oder eine Kombination dieser Dinge. In manchen schwammen Augen oder Käfer. Pascal ging weiter, ohne stehenzubleiben. Er vertraute in solchen Dingen lieber der Alchemie, das war eine exakte Wissenschaft.
    Bald stieß er auf einen Süßigkeitenstand, der sein Interesse weckte. Das Angebot war interessant. Er kaufte einen roten Lutscher, in dem ein toter Skorpion eingeschmolzen war. So etwas kannte er noch nicht. Es gab auch welche mit Spinnen, die ihm zu haarig waren und kleine Schlangen, die zu essen sich von selber verbot, wenn er an seinen schuppigen Freund dachte, der den Sommer über im Garten unter dem Brennholzstapel lebte, ganz wie in La Grange und im Winter den Keller von Mäusen freihielt.
    Der Strom schob ihn einmal quer durch das Fest und entließ ihn am anderen Ende wieder in die Freiheit. Endlich hatte er mehr Raum zum Atmen. Mit seinem Lutscher setzte er sich an eines der großen Feuer, das außerhalb brannte. Im aufkommenden Dunkel war es hier gemütlich und Pascal beschloss, hierzubleiben, bis Timothèe ihn wieder ins Haus ließ. Das Knistern der Flammen übertönte die meisten anderen Geräusche, wenn man nah dran saß. Heiß legte sich die erhitzte Luft auf seine Wangen. Gestapelte Strohballen bildeten einen Kreis von Sitzgelegenheiten. Er suchte sich eine, bei der er sich anlehnen konnte, machte es sich im Stroh bequem und genoss seine ungewöhnliche Delikatesse. Ob er sich trauen würde, den Skorpion mitzuessen, würde sich zeigen, wenn er ihn freigelegt hatte. Manche Dinge musste man einfach ausprobieren. Er nahm die Süßigkeit in den Mund.
    Ganz in der Nähe des Feuers befand sich der Verladeplatz, wo die Händler ihre Fuhrwerke abstellten und die Waren in Empfang genommen wurden. Auch ein Löschwagen der Feuerwehr stand dazwischen, beladen mit einem Wasserfass und etlichen Ledereimern. Diese waren billiger herzustellen als Holzeimer und leichter zu transportieren. Einer der Feuerwehrmänner kam mit offenen Schnürsenkeln nähergeschlendert. Seine Kleidung bestand aus Leder, damit sie kein Feuer fangen konnte. Er nahm die Lederkappe vom Kopf, die sein Haar schützte. In braunen, verschwitzten Stacheln stand es nach oben und er kämmte einmal mit den Fingern hindurch, so dass es aussah wie ein Igel. Vom Tragen der Kappe waren seine abstehenden Ohren knallrot. Er war nur wenig älter als Pascal und grinste frech.
    »Abend, Calli«, grüßte er und setzte sich neben ihn. Er zog seinen Tabakbeutel aus der Tasche und drehte sich eine Rauchstange, die er genüsslich qualmte.
    Pascal äugte ihn von der Seite an. »Louis«, korrigierte er. Es war der Name, unter dem er als Gehilfe in der Schreibstube arbeitete.
    Der andere winkte ab und entzündete sich eine Rauchstange. »Wer soll uns hier hören? Lass uns einfach normal reden. Ich kann Lionel nicht mehr hören und dir geht Louis garantiert auch auf den Sack.«
    Pascals Augenbrauen verzogen sich. Er mochte diese derbe Sprechweise nicht. Viel lieber war ihm Timothèes förmliche Art zu sprechen.
    »Caillou und Calli«, fuhr Caillou unbeirrt fort. »Klingt auch viel schöner und passt sogar zusammen. Regeln gut und schön, aber man kann es auch übertreiben. Entspann dich, du hast Feierabend und ich Pause. Sag mal, was ist das für ein widerlicher Lutscher?«
    Pascal hielt ihn Caillou hin, damit der ihn sich anschauen konnte. Der nahm ihn in den Mund und lutschte einmal komplett drüber. »Hagebuttengeschmack«, stellte er fest.
    »Ja, danke! Du solltest nur schauen! Behalte ihn, ich hol mir dann einen neuen.«
    Vermutlich war das Caillous Absicht gewesen. Zufrieden schob er sich den Lutscher in den Mund, löschte die angefangene Rauchstange an der Schuhsohle und steckte den Rest zurück in seinen Tabakbeutel für später.
    »Ein rauchender Feuerwehrmann«, sinnierte Pascal.
    »Hey, besser als Buchhaltergehilfe, oder? Ich würde an Langeweile zugrunde gehen.«
    »Es ist eigentlich ganz entspannt mit Timo«, fand Pascal. »Der ist ganz locker drauf, auch wenn er nicht so aussieht.«
    »Tse, da hast du es besser getroffen als ich. Ich bin froh, dass ich den vierzehnten Geburtstag hinter mir habe. Endlich kann ich alleine mein Ding machen.«
    »Und bei der Feuerwehr macht es dir Spaß?«
    Caillou grinste sehr breit, so dass seine abstehenden Ohren sich bewegten. »Reich wird man damit nicht, aber darum müssen wir zwei uns ja keine Gedanken machen. Es ist ehrlich verdientes Geld und man tut etwas Gutes.«
    Pascal beobachtete er das Gesicht des Feuerwehrmannes. Er fand, dass das Grinsen nicht zu dem passte, was er danach gesagt hatte.
    Caillou bemerkte es nicht. »Und was machst du, wenn du volljährig bist?«, fragte er unbeschwert.
    »Hast du die Hofgardisten gesehen?«
    »Ja klar. Mit denen hatte ich vorhin das Vergnügen. Sie wollten, dass wir den Löschwagen umparken, damit die Kutsche von den Herrschaften auf den Platz passt. Ich hab ihnen die Brandschutzverordnung runtergebetet, da wurden sie ungehalten. Die meinen, für sie gelten die Gesetze nicht. Kommen ja vom Hof. Sind was Besseres, haben was zu melden - glauben sie. Hab dem Typen gesagt, wo er sich seine Kutsche hinparken kann.«
    »Und dann?«
    Caillou lachte. »Hab die Hellebarde in den Bauch bekommen. Zum Glück nur die Stange.« Er rieb sich eben jenen. »Umgeparkt hab ich trotzdem nicht, das haben die anderen Feuerwehrleute dann gemacht. Aber wie sind wir jetzt eigentlich gerade auf die Hofgarde gekommen?«
    »Du hattest mich gefragt, was ich machen will.«
    »Ach so, stimmt. Du willst zu denen?«
    Pascal nickte ernst.
    Caillou zuckte mit den Schultern. »Irgendwie überrascht mich das nicht. Na ja, da kannst du mich dann mit der Hellebarde vermöbeln.«
    »Du könntest auch einfach gehorchen. Die machen auch nur ihre Arbeit.«
    Caillou spuckte aus. Der Batzen landete auf einem Stück Holzkohle und begann zu kochen. Der Feuerwehrmann starrte in die Flammen. Die Dämmerung senkte ihren schwarzen Schleier über Beaufort. Die zwei jungen Lotos schwiegen und betrachteten das orange leuchtende Lodern. Die Minuten vergingen und wurden zu einer Stunde. Caillou lutschte an der ergaunerten Süßigkeit, Pascal kaufte sich bei einem herumgehenden Händler ein Stück Teig aus einem Eimer, das er auf einen Spieß steckte und grillte. Schicht für Schicht röstete und knabberte er das Stockbrot. Lange Zeit beobachteten sie das Treiben um sie herum, lauschten der Musik und Caillou plauderte mit den vorbeigehenden Leuten, da Pascal deutlich zeigte, dass er mit ihm nicht weiter reden wollte. Irgendwann kam jemand vorbei, den Caillou kannte. Pascal roch ihn schon, bevor er ihn sah. Der Mann, der offensichtlich obdachlos war, wie Pascal anhand seiner Lumpen und des Pflegezustandes vermutete, war etwa zehn Jahre älter als sie. Haar und Bart waren blond, das Gesicht von der Sonne gebräunt. Untypisch für so hellblonde Menschen hatte er braune Augen.
    »Louis, das ist Antoine«, stellte Caillou den Mann vor. »Toni, das ist Louis, ein Freund.«
    Der Kerl streckte eine schmutzige Hand aus und lächelte, ohne dabei die Zähne zu zeigen, die vermutlich nicht gut waren. Pascal griff zu und nickte mit kühlem Lächeln zurück. Er spürte, wie die Persona den Platz an der Front einnahm. Pascal hätte nicht gelächelt. Der Wechsel war etwas, dass er körperlich spürte. Er war Louis. Louis war eine Kopie von Timothèe, verfeinert mit einigen Abwandlungen, Spiegel seiner Verehrung für diesen Mann. Er hatte Louis zusammen mit seinem Mentor entworfen. Timothèe hatte ihn darauf hingewiesen, dass es Personae realistisch machte, wenn man sie für den Anfang nach realen Vorbildern gestaltete. Eine Persona völlig frei zu erfinden, war eine größere Herausforderung, die Pascal sich für später aufsparen sollte. Dass er selbst allerdings die Referenz bilden sollte, hatte seinem Mentor nicht so gut gefallen und es war einiges Zureden nötig, um ihn von der Idee zu überzeugen. Louis war etwas offenherziger als Pascal. Verschlossen waren allerdings die meisten Lotos, das brachte die Mitgliedschaft in diesem Orden mit sich. Die einzige ihm bekannte Ausnahme war Caillou - und der übertrieb es mit seiner Offenheit bisweilen maßlos.
    Während Caillou und Antoine miteinander plauderten, plagte Pascal die Langeweile. Antoine erzählte von seinem Leben auf der Straße, von dem es nicht viel zu erzählen gab, außer, dass er den nahenden Winter fürchtete, wer von seinen Obdachlosenfreunden sich zu Tode gesoffen hatte oder einfach verschwunden war und wie unfair das Leben ihm mitspielte. Pascal kramte in seinem Rucksack herum.
    »Hilft dir das?«, fragte er und hielt Antoine die Flasche vor die braungebrannte Nase.
    Antoine lächelte. »Behalte deine Flasche nur. Ich trinke nichts«, antwortete er zu Pascals Erstaunen. Er kannte nur Obdachlose, die andauernd betrunken waren.
    »Ich schenke sie dir trotzdem. Du könntest sie zum Tauschen verwenden«, schlug Pascal vor.
    »Ach nein. Wenn, dann verschenkt man was. Man tausch nix mit jemandem, der nichts hat«, erklärte er freundlich.
    Caillou streckte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und mischte sich ein. »Obdachlose sind die freigiebigsten Menschen, die ich kenne. Je weniger einer hat, umso eher teilt er mit anderen. Umso reicher, umso geiziger. Naturgesetz.«
    »Das kann man so nicht sagen«, fand Pascal.
    »Doch, so ist das«, bestätigte Antoine. »Rate mal, wer beim Betteln am meisten in den Becher tut.«
    »Es gibt aber auch nette Adlige und nicht jeder von denen ist geizig.«
    Caillou schubste ihn leicht an der Schulter. »Ist ja auch nicht jeder Adliger reich, oder?«
    Pascal nervten solche Binsenweisheiten und darum sagte er nichts mehr dazu. Antoine würde seine Gründe haben, es so zu sehen und Caillou war einfach niemand, mit dem zu diskutieren ihm Spaß machte. Wie viel angenehmer waren die niveauvollen Gespräche mit Timothèe. Bei jeder einzelnen Diskussion lernte er etwas Neues und auch Timothèe war bereit, sich von seinem Schüler eines Besseren belehren zu lassen.
    »Wie kommt es eigentlich, dass du dich auf der Kirmes blicken lässt?«, fragte Caillou.
    Pascal schlucke einen Bissen Stockbrot herunter. »Timo und Vittorio haben mich rausgeschmissen.«
    Caillou sah den anderen Lotos neugierig an. »Wie, rausgeschmissen?«
    »Timo hat meine Jacke zerrissen, mir Ei drauf geschmiert, haufenweise Geld eingesteckt und mich vor die Tür gesetzt, obwohl ich nicht wollte.«
    »Das macht er doch sonst nicht«, überlegte Caillou. »Das ist irgendwie komisch.«
    Pascal schüttelte den Kopf. »Nein, so was macht er nie. Hat gesagt, ich soll mein Leben genießen und mich betrinken. Dabei weiß er, dass ich auf so was keine Lust habe.«
    Eine Weile sah ihn Caillou mit hochgezogener Augenbraue an. »Hast du mal daran gedacht«, fragte er langsam, »dass er dich loswerden wollte?«
    »Ja klar wollte er das«, murrte Pascal. »Vittorio läuft ihm dauernd hinterher und wenn sie denken, dass ich es nicht sehe, knutschen sie. Darum sollte ich raus.«
    »Sie knutschen?« Caillou grinste breit. »Denkst du echt, dass sie nur knutschen? Das sollten wir uns ansehen.«
    »Musst du nicht arbeiten?«, fragte Pascal.
    »Mach ich doch. Ich gehe herum und kläre jeden, der es nicht hören will, darüber auf, wie er mit den Lagerfeuern umzugehen hat.«
    Pascal sah ihn missmutig an. »Das kauft dir keiner ab, wenn man dich nicht auf der Kirmes sieht.«
    »Ich bin ja nur ganz kurz weg. Toni, du kannst leider nicht mit. Louis und ich müssen was klären.«
    Sie verabschiedeten sich. Pascal schenkte Antoine das gesamte Geld, was Timothèe im mitgegeben hatte. Der Obdachlose war dermaßen gerührt, dass er sich kaum wieder beruhigen konnte. Tränen glitzerten in seinen Augen, als er den Jungen drückte und klopfte. Caillou warf derweil den restlichen Skorpionlutscher ins Feuer. Er hängte seine Kappe an den Hüftgurt, damit er sie nicht tragen musste und begleitete Pascal zu seinem Haus. Dabei schlurfte er, denn seine Schnürsenkel waren noch immer offen, so dass die Stiefel auseinanderklafften und man seine gestrickten Ringelsocken sah. Für einen Feuerwehrmann war das sehr nachlässig. Inzwischen war es vollständig Nacht geworden und alle Fensterläden waren wie immer geschlossen.
    »Wo ist die Klapperschlange?«, fragte Caillou besorgt.
    »Im Keller, es wird nachts schon zu kalt.«
    Erst jetzt wagte der Feuerwehrmann es, den verwilderten Garten zu betreten. Pascal ging voran und versuchte, den Schlüssel in der Tür herumzudrehen. Nach einigem Probieren gab er es auf. »Timo hat von innen seinen Schlüssel reingesteckt und ihn umgedreht. So wird das nichts. Wir müssen klopfen.«
    »Du kapierst auch gar nichts«, motzte Caillou. »Das hier«, er machte eine umfassende Geste, »ist kein Verbot. Es ist eine Herausforderung. Du sollst dir etwas einfallen lassen.«
    »Glaubst du? Vielleicht will er einfach mit Vittorio allein sein.«
    »Blödsinn! Das Haus ist so was von riesig und verschachtelt. Es ist ja nicht so, als ob man da nicht seine Ruhe voreinander haben könnte, oder? Komm, wir schauen mal nach den Fenstern.« Sie schlichen um das Haus herum, doch wie zu erwarten waren alle Fensterläden von innen verriegelt.
    »Wieso willst du dich überhaupt anschleichen?«, wollte Pascal wissen.
    Caillou feixte. »Gönn mir den Spaß, ja? Leise jetzt.«
    Er verharrte vor jedem Fenster, um zu lauschen. Vor dem Küchenfenster hob er den Zeigefinger und nickte. Er holte ein ledernes Etui aus der Gürteltasche, wie auch Pascal eines besaß. So wusste er, dass sich darin eine große Zahl unterschiedlicher Miniaturwerkzeuge befand. Sie waren winzig, aber von hoher Qualität und oftmals sogar den großen Werkzeugen überlegen. Caillou arbeitete langsam, leise und konzentriert. Dann hatte er eine der Lamellen aus dem hölzernen Rahmen des Fensterladens gelöst. Der freigewordene Sehschlitz leuchtete einladend. Von innen würde man das Fehlen nicht bemerken, wenn man nicht genau auf diese Stelle schaute, da von draußen kein Licht hindurchfiel. Der Garten war stockfinster bei Nacht und die hohen Bäume verdeckten die Sterne und die beiden Monde.
    Caillou winkte Pascal zu sich heran und beide schauten durch den Spalt, die Köpfe dicht nebeneinander. Pascal konnte den Ledergeruch von Caillou riechen, gemischt mit ein wenig Schweiß und über allem den scharfen Geruch von Rauch, der sich in seiner Kleidung und seinem Haar festgesetzt hatte.
    In der Küche brannte der runde Kamin vor sich hin, auf dem gekocht wurde. Es war die einzige offene Feuerstelle im Haus, der Rest wurde mit Kachelöfen beheizt. In der Küche brannte das Feuer Tag und Nacht, so dass sie auch als Aufenthaltsraum genutzt wurde. Eine große Eckbank mit einem Holztisch diente als Sitzecke zum Essen oder gemütlichem Beisammensitzen. Pascal las dort gern, wenn ihm nach Gesellschaft war. Vittorio lebte mehr in der Küche als in seinem eigenen Zimmer, wenn er nicht gerade im Keller zugange war. Nie war ihre Küche so sauber und ordentlich gewesen und nie hatten sie so vielseitig und gut gegessen, seit der Soldat in ihrem Haus lebte. Momentan jedoch wurde der Küchentisch anders genutzt.
    Timothèe saß darauf und Vittorio stand zwischen seinen Beinen. Sie waren in einen tiefen Kuss versunken. Ganz langsam und ruhig bewegten sie sich, als Vittorio Timothèe das Haar hinter das Ohr strich und seine Ohrmuschel liebkoste.
    »Süß«, spottete Caillou. »Die küssen wie Mädchen.«
    »Sie mögen sich eben«, verteidigte Pascal die beiden. »Ist doch besser, als wenn sie streiten würden.«
    »Viel besser, das stimmt. Hoffentlich kommen die bald zur Sache.«
    Pascal war etwas nervös von dem, was er sah. Ihm gefiel, wie liebevoll Vittorio mit Timothèe umging. Es war so ganz anders, als wenn er seinen Schüler mit dem Holzschwert durch den Keller prügelte oder ihn so lange anbrüllte, bis er den Parcours auch das zehnte Mal hintereinander noch fehlerfrei schaffte, obwohl ihm die Muskeln brannten und die Finger zitterten. Jetzt war der alte Soldat ganz still, er sagte überhaupt nichts. Er strich mit der Nase über Timothèes Wange und tastete mit der Zunge nach seinen Lippen. Timothèe öffnete seinen Mund.
    Caillou öffnete seine Hose.
    Das leise, rhythmische Geraschel neben ihm begann Pascal ziemlich schnell zu stören. »Geh jetzt«, befahl er.
    »Was? Die haben ja noch gar nicht richtig angefangen«, murrte Caillou.
    »Ich will nicht, dass du ihnen zusiehst. Die lieben sich und du machst dich lustig.«
    Caillou brachte seine Kleidung in Ordnung und stützte sich mit der freigewordenen Hand an der Hauswand ab. Bedrohlich lehnte er sich über Pascal. Der blieb stehen, wo er war und sah ihm unbeirrt ins Gesicht.
    »Kleiner Pascal«, sprach Caillou, »das sind zwei Lotos. Sie lieben sich nicht. Wenn es so wirkt, dann weil sie wollen, dass der andere das glaubt. Es ist ein Rollenspiel. Ihre Personae mögen sich vielleicht, mehr aber auch nicht.«
    »Ihre ... Personae?«
    Caillou grinste mit nur einem Mundwinkel. Sein herablassender Blick traf Pascal bis aufs Mark. »Ihre Personae«, wiederholte er. »Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben. Die zwei spielen miteinander. Es ist nur ein Spiel, was du da siehst, Pascal. Unser ganzes Leben ist es.« Er schob seine Hand hinter Pascals Hals und küsste ihn auf die Stirn. »Ich respektiere deinen Wunsch. Dein Revier, deine Regeln. Ich werde zurück zur Kirmes gehen.«
    »Du hältst dich freiwillig an meine Regeln?« Pascal lachte leise und wischte seine Stirn ab.
    »Die Regeln des Ordens sind eine Sache. Ich habe mir nie ausgesucht, ein Stählerner Lotos zu sein, habe nie irgendwas unterschrieben. Warum sollte ich das Spiel nach ihren Regeln spielen? Ich mache mir meine Eigenen, wenn sie mich schon zwingen, mitzuspielen. Und das andere sind die Regeln zwischen normalen Menschen. Zwischen dir und mir. An diese halte ich mich gern, denn meine Freunde suche ich mir selbst aus.«
    Caillou ließ von ihm ab, tippte sich zum Abschied an die Schläfe und schlurfte davon.
    Pascal sah ihm kurz nach und widmete sich dann wieder seinen Beobachtungen. Timothèe horchte gerade auf und blickte in Richtung der Tür. Vittorio wartete, um ihn nicht beim Lauschen zu stören, bis Timothèe sich wieder entspannte. Sie mussten Caillou gehört haben, der mit seinen offenen Stiefeln über die Pflasterstraße zurück zur Kirmes trottete. Der Weg war nicht weit, er würde in wenigen Minuten bereits dort sein.
    Die beiden Lotos versanken wieder in eine tiefe Umarmung. Timothèe hlegte seine Wange auf das kurze graue Haar von Vittorio. Beide hielten die Augen geschlossen. Es gefiel Pascal, sie so friedlich beieinander zu sehen. Sollte Caillou über andere Paare spotten und sich an denen vergnügen. Timothèe und Vittorio beschützt zu haben, gab Pascal ein gutes Gefühl. Er würde ihnen sagen, dass sie ihn nicht auszusperren brauchten, um ihre Ruhe zu haben, sondern dass es genügte, ihn auf sein Zimmer zu schicken oder einfach die Tür hinter sich zuzumachen. Er baute die Lamelle wieder ein.
    Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren, ähnlich einer Musik, doch angsteinflößend. Ein Rhythmus, tief und durchdringend, ein Klang, der noch das letzte Haus in Beaufort erreichte. Die Menschen rannten auf die Straße. Die Feuerglocke hallte durch die Nacht und von der Kirmes aus stieg ein heller Schein in den Nachthimmel.

  • Fluch und Segen der Volljährigkeit
    Souvagne, Jahr 191 nach der Asche. Beaufort.


    Eine Säule aus Licht fiel durch die Dachluke auf den Fußboden. Winzige Staubflocken tanzten darin. Timothèe hatte ihn ausschlafen lassen. Offenbar gönnte er ihm einen freien Tag. Ob er noch weitere Überraschungen für ihn bereithielt? Der Mann, der ab heute kein Junge mehr war, erhob sich aus dem Bett, geweckt vom Morgenlicht der 31. Sonne des 8. Mondes im Jahr 191 nach der Asche. Es war sein 14. Geburtstag, der Tag, an dem Pascal nach almanischem Recht volljährig wurde. Ab heute war er ein erwachsener Mann. Er schob die Füße in die Filzpantoffeln und stieg im Nachthemd die Holztreppe hinab, die Kleider zusammengelegt unter dem Arm. Das Badezimmer war im Erdgeschoss.
    Guter Dinge wusch Pascal sich an der Waschschüssel. Der Spätsommer war heiß und das kalte Wasser tat gut. Vor den Spiegel begutachtete er sich. In dem noch immer zarten Gesicht wirkte sein Bartflaum ein bisschen unpassend, aber er hätte sich trotzdem gern einen Bart stehen lassen, damit er älter aussah. Timothèe hatte es ihm leider untersagt, damit er diese einfache wie effektive Möglichkeit, sein Gesicht zu verändern, nicht unnütz verspielte. Das war einleuchtend. Pascal probierte zum Spaß ein bisschen mit unterschiedlichen Partfrisuren herum, ehe er sich glattrasierte und den verbliebenen Schaum abwusch. Er zog sich an, bevor er auch sein Haar vor dem Spiegel in Ordnung brachte. Er trug es nach der Mode der jungen Freien dieser Zeit, an den Seiten kurz geschnitten und oben und hinten länger. Als volljähriger Lotos würde er dem Nennadel angehören und der Adel trug sein Haar in der Regel lang, doch das brauchte niemand zu wissen. Mit dem Kamm raute er seine Frisur auf, so dass sie wuschlig wurde. Ansonsten hielt er es wie sein Mentor, kleidete sich in ein schlichtes weißes Hemd und eine braune Hose mit dazu passendem Schuhwerk. Ordentlich und unauffällig, so mochte es Louis, Timothèes Gehilfe in der Schreibstube. In den scheinbar einfachen Halbstiefeln, die er trug, verbargen sich Stahlkappen zum beherzten Zutreten und eine durchstichsichere Sohle, in der ein kleiner Dolch verborgen lag. Ab heute hatte er das Recht, einen vergifteten Dolch zu tragen.
    Pascal kontrollierte noch einmal den Sitz seiner Kleidung, zog seinen Gürtel fest und suchte die Küche auf. Der süße Duft gebratener Pfannkuchen stieg ihm bereits im Flur in die Nase. Vittorio balancierte einen ganzen Stapel vom Ofen zum Tisch, der bereits fertig gedeckt war. Der alte Soldat bot in seiner Kochschürze einen bemerkenswerten Anblick. Timothee saß schon mit einem Kaffee am Tisch. Als Pascal eintrat, unterbrachen die beiden ihr Gespräch.
    Vittorio stellte die Pfannkuchen ab und drängelte sich vor. Er sagte nichts, sondern lächelte breit. Er klapste Pascals Wange und setzte sich, damit Timothèe seinem Schüler gratulieren konnte.
    Sein Mentor legte die Hände auf Pascals Schultern. Entgegen seiner sonstigen Art wirkte er sentimental.
    »Alles Gute zum Geburtstag. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Iss nicht zu viel, für dein diesjähriges Geschenk musst du dich sportlich betätigen.« Er hielt Pascals Gesicht in den Händen, um ihn zu betrachten. Es war fast, als suche er das Kind in diesem Gesicht, als hielte er noch einmal Ausschau nach dem Jungen, den er adoptiert hatte. Doch vor ihm stand Pascal, ein erwachsener Mann, mit der Befähigung zu töten und seit heute auch mit der Lizenz dazu.
    Pascal lächelte. »Was ist es denn für ein Geschenk?«, fragte er. Insgeheim hoffte er, dass er ein Pferd geschenkt bekam und es probereiten durfte.
    Timothèe strich ihm das Haar aus dem Gesicht. »Das sage ich dir nach dem Frühstück. Trink deinen Sahnekakao, ich habe vorhin extra noch Kakaopulver gekauft, während Vittorio gebrutzelt hat.«
    Darüber freute sich Pascal, denn Kakao war ein seltenes Luxusgut, seit in Tamjidistan der Wind nur noch durch verwaiste Ruinen pfiff. Die Tamjid waren das erste Volk gewesen, welches den Rakshanern zum Opfer gefallen war. Wie ein immerhungriger Heuschreckenschwarm waren die Hyänenreiter hernach weitergezogen und inzwischen waren sie auch an der Nordgrenze von Souvagne angelangt und überfielen dort die Bauern. Im Norden focht auch Prince Ciel mit seinen Truppen und baute einen Wall, um der Plage Einhalt zu gebieten. Hier in Beaufort war von den Scharmützeln an der Grenze noch nichts zu spüren.
    Sie frühstückten zu dritt und wie immer hatte Vittorio Berge von Essen zubereitet. Sie ließen sich Zeit und aßen genüsslich. Vittorio war in Plauderstimmung und beglückte sie mit Anekdoten aus seinem Soldatenleben. Mit welcher Kreativität die Soldaten ungeliebten Offizieren das Leben schwermachen konnten, war erstaunlich - und die Bemühungen der Offiziere, die Disziplin zu wahren, kaum weniger übel. Soldaten hatten einen eigenwilligen Humor, das hatte Pascal schon nach wenigen Tagen mit Vittorio festgestellt. Anders überlebte man vermutlich nicht an der Front. Seit ihre eigenen Fronten im Haus geklärt waren, zeigte Vittorio jedoch auch eine andere Seite, die Pascal sehr mochte.
    Pascal folgte Timothèe nach dem Frühstück in sein Arbeitszimmer. Sein Mentor setzte sich heute nicht hinter den Schreibtisch, sondern zusammen mit Pascal auf das grüne Sofa und drehte sich zu ihm um, so dass sie sich beim Sprechen ansehen konnten. Timothèe legte die Fingerspitzen aneinander, wie er es stets tat, wenn er seine Worte mit besonderem Bedacht wählte. Von der gegenüberliegenden Wand starrte der Lotos aus seinem Gemälde auf sie herab. Pascal wusste noch immer nicht, was dieses Bild hier zu suchen hatte. Nach wie vor schwieg sein Mentor sich dazu aus. Der Lotos in Öl dominierte das gesamte Arbeitszimmer und er war keine angenehme Gesellschaft.
    „Du bist also nun ein erwachsener Mann“, begann Timothèe bedächtig. „Und dazu gehören nicht nur die Privilegien des Daseins als Volljähriger – Geschäftsfähigkeit, das legale Abschließen von Verträgen und so weiter – und die Pflichten, wie das Zahlen von Steuern, sondern auch das Erlernen und Anwenden von all den Kenntnissen, die zum Dasein eines Erwachsenen dazugehören. Ich spreche gerade nicht von der Gesetzeslage oder von Konventionen der Höflichkeit, sondern auch von zwischenmenschlichen Dingen, die nur Volljährige etwas angehen, wie den Beischlaf.“
    Timothèe war vermutlich der einzige Mensch in Souvagne, der dieses Thema dermaßen trocken klingen lassen konnte. Es war ihm sichtlich unangenehm, mit Pascal darüber zu sprechen und er wollte es wohl so schnell und unaufgeregt wie möglich hinter sich bringen.
    Pascal hingegen war in einem Alter, in dem er sich für diese Dinge ziemlich interessierte. „Ich wurde schon aufgeklärt“, half er seinem Mentor aus und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
    „Ach ja? Und von wem, wenn ich fragen darf?“
    „Von dir, ich habe dich und Vittorio gesehen. Und von Kunst der Verführung. Das habe ich in einem Bücherregal gefunden. Mir hatte der Titel gefallen, drum habe ich mal reingeschaut. Ich wusste nicht, dass du auch interessante Bücher hast.“ Er zwinkerte seinem Mentor zu.
    „Es ist ein Sachbuch“, stellte Timothèe klar. „Die Illustrationen dienen der Veranschaulichung verschiedener Techniken. Auch solche Dinge muss ein Lotos wissen, da auch das eine Waffe sein kann. Er muss sie ebenso anwenden wie als Waffe erkennen können, um dagegen gewappnet zu sein. Es dient nicht der kurzweiligen Unterhaltung, sondern muss gewissenhaft durchgearbeitet werden wie jedes andere Arbeitsmaterial.“
    „Falls wir es brauchen, es liegt in meinem Nachttisch. Ich habe es mir ausgeborgt.“
    „Und es hoffentlich aufmerksam gelesen, dir Notizen gemacht und dir nicht nur die Bilder zu Gemüte geführt.“
    Pascal nickte. »Bist du nicht böse, weil ich euch manchmal zugeschaut habe?«
    »Warum sollte ich? Das ist schließlich, wofür ich dich ausgebildet habe. Ich wäre böse, hättest du es so stümperhaft gemacht, dass ich es bemerkt hätte. So erfüllt es mich mit Zufriedenheit. Dann hast du den theoretischen Teil ja bereits hinter dich gebracht und bist nun bestens auf die praktische Anwendung vorbereitet.« Er blickte ihn ernst an. »Du wolltest vorhin wissen, was du zu deinem heutigen Ehrentag bekommst. Mein Geschenk an dich ist, dass ich dir keine Dirne anschleppe, sondern dich selbst wählen lasse, mit wem du dein erstes Mal verbringst, so es noch nicht geschehen ist. Wie sieht es aus?«
    Pascal starrte ihn entgeistert an und schüttelte den Kopf.
    Timothèe fuhr fort. »Es mag nicht viel erscheinen, aber in einigen Jahren wirst du den wahren Wert dieses Geschenkes begreifen. Es ist mehr, als mir zugestanden wurde. Darum wähle weise. Für diesen Tag gibt es nur eine einzige Gelegenheit. Und wie oft du später auch mit jemandem das Bett teilst, an diesen Tag wirst du dich bis an dein Lebensende erinnern. Vielleicht voller Sehnsucht, vielleicht mit einem Schmunzeln, vielleicht auch ein wenig schamvoll, aber in jedem Falle nicht in Angst oder Schmerz oder an das demütigende Gefühl, alle Würde zusammen mit deiner Kleidung vom Leib gezogen zu bekommen.« Timothèe blickte unverändert ernst drein. »Hast du schon jemanden im Blick? Vielleicht ein Mädchen vom Orden? Ansonsten können wir auch in ein Freudenhaus gehen. Offiziell gibt es in Souvagne keine, aber mit den richtigen Kontakten schon. Ein mir bekannter Lotos ist auf Ermittlungen in diesem Milieu spezialisiert und würde uns Zutritt verschaffen. Es ist deine Entscheidung.“
    „Ich möchte es mit dir ausprobieren, Timo.“
    Der Meister ließ seine Hände mit den aneinandergelegten Fingerspitzen sinken. „Die Antwort lautet natürlich Nein.“
    Pascal legte den Kopf schräg und musterte ihn. So leicht würde er nicht aufgeben. „Aber warum nicht? Wir sind nicht verwandt. Du hast mich nur adoptiert, weil du es als mein Mentor musstest. Es spricht nichts dagegen.“
    „Ich habe dich adoptiert, weil ich es wollte. Darf man fragen, wie du auf deinen Vorschlag kommst?“
    „Weil es eben so ist, Timo“, sprach Pascal. »Weil wir uns nahe sind und ich dir vertraue.«
    Timothèes Gesicht wurde streng. „Was habe ich dich gelehrt?“
    „Man kann niemandem vertrauen.“
    „Und hast du mir damals zugehört? ›Niemand‹ bedeutet, dass es keinen einzigen vertrauenswürdigen Menschen auf dieser Welt gibt. Keinen! Ich stelle dabei keine Ausnahme dar. Dass du mir vertrauen könntest, ist demnach kein Argument, dass einer näheren Überprüfung standhält. Was also sollte dich an mir reizen? Ich bin ein langweiliger Buchhalter und zweiundzwanzig Jahre Älter als du.“
    „Du bist kein langweiliger Buchhalter“, antwortete Pascal ernst. „Du spielst nur einen. Du bist ein Stählerner Lotos, der dafür sorgt, dass die Magier zuverlässige Werkzeuge der Krone bleiben. Du bist kein Buchhalter, du bist ein ausgebildeter Spion, gewissenhaft und sehr geschickt. Du hast Vittorio besiegt. Ein Buchhalter hätte das wohl kaum geschafft. Und ich mag dich sehr, Timo.“
    Einen Moment lang schien sein Mentor tatsächlich sprachlos zu sein. Dann lächelte er. „Eine bessere Antwort als die üblichen Äußerlichkeiten. So charmant formuliert hat es schon fast etwas Putziges. Trotzdem bleibt es bei einem Nein. Jeder Versuch, mich umzustimmen, wäre Zeitverschwendung, also belasse es bitte bei dem einen. Im Übrigen habe ich Vittorio nicht besiegt, indem ich mich ihm entgegengestellt habe. Das wäre eins zu null für ihn ausgegangen.“
    „Erklärst du mir wenigstens, warum du es nicht möchtest?“, erkundigte Pascal sich, nicht bereit, sich ablenken zu lassen. Er beobachtete Timothèes Körpersprache noch genauer als sonst. Sein Mentor schlug die Beine übereinander und eine Schuhspitze wippte. Nervosität war erst einmal neutral festzustellen. Noch war nicht zu erkennen, welche Form der Nervosität gerade in Timothèe vorging.
    „Na schön. Ich werde es dir erklären“, antwortete er schließlich. „Wie du richtig festgestellt hast, bist du nicht mein Sohn. Die Adoption ist ein Dienst an der Fassade, die es zu wahren gilt. Für mich als Privatmann bist du mein Auszubildender. Mein Schützling, meine Pflicht dem Orden gegenüber. Daran liegt es also nicht. Ich setze alles daran, meine Aufgabe so gewissenhaft wie möglich umzusetzen. Dafür benötige ich einen klaren Kopf. Den kann ich während des Beischlafs durchaus behalten. Ein Lotos darf nicht über sein Verlangen beeinflussbar sein. Aber für dich würde das bedeuten, dass du mit einem berechnenden Eisklotz das Bett teilen würdest. Das möchte ich nicht, Pascal. Du wirst später noch oft genug selbst der Eisklotz sein müssen, der lächelt und schmust und in Gedanken seine weiteren Möglichkeiten auslotet. Vielleicht untersuchst du den Körper unter deinen Händen bereits im Hinblick auf die Stelle, in die du den Dolch jagen wirst. Ehe es dazu kommt, sollst du erfahren, wie es richtig geht, bevor es Teil deiner Arbeit wird. Wie es sich anfühlt, ohne all die Lügen.«
    Pascal schenkte ihm einen sanften Blick. „Du machst dir solche Gedanken um mich. Es kann gar nicht schlecht werden. Ich möchte es trotz allem mit dir versuchen, Timo. Auch, wenn du dabei den Eisklotz spielst.“
    „Ich spiele nicht den Eisklotz“, erwiderte Timothèe. „Es ist, was ich bin. Verwechsle Verantwortungsbewusstsein nicht mit Zuneigung. Du wärst nicht der Erste, der diesen Fehler macht. Gerade du als Lotos solltest diesen Fallstrick der Psyche kennen.“
    „Es ist überhaupt nicht, was du bist“, antwortete Pascal. „Du bist auf deiner Arbeit als Timothèe Mauchelin gemeldet. Auch zu Hause trägst du diesen Namen. Du benimmst dich in deiner Schreibstube genau wie hier. Ich sehe keinen Unterschied. Hier der Buchhalter, da der Buchhalter. Warum trägst du auf Arbeit keine Persona? Wäre das nicht unverantwortlich? Natürlich wäre es das. Nie würdest du einen solchen Fehler begehen und dich mit deinem wahren Namen ansprechen lassen. Was bedeutet, dass du deine Persona schlichtweg überhaupt nicht mehr ablegst. Du trägst sie nicht nur auf Arbeit, sondern immer. Du bist nicht Timo. Ich kenne dich überhaupt nicht. Timo ist nur eine Maske.“
    Sein Mentor sah ihn lange an. „Gut“, sagte er und seine Lippen zogen sich zu einem Lächeln auseinander. „Sehr gut. Du bist schneller dahinter gekommen, als erwartet. Es ändert sich durch diese Erkenntnis aber nichts zwischen uns. Für dich bin ich weiterhin Timo, der Buchhalter, der dich adoptiert hat und dich zwar irgendwie mag, aber doch unfähig ist, tiefere Gefühle zuzulassen und dich mit staubtrockenen Erklärungen langweilt. Und nun verrate mir endlich die Antwort auf meine anfängliche Frage. Wen wählst du?“
    „Ich möchte zuerst wissen, wer du wirklich bist“, antwortete Pascal ruhig. »Wenn du mir was zum Geburtstag schenken möchtest und mir meinen anderen Wunsch verweigerst, dann wünsche ich mir diese Information von dir.«
    „Ich bin Timothèe Mauchelin, dein Ziehvater und Mentor.“ Sein Gesicht blieb neutral.
    „Das bist du nicht, das ist nur deine Persona!“ Pascal wurde langsam wütend. „Sag mir doch bitte deinen richtigen Namen.“
    Timothèe sah ihn mitleidig an. „Mein lieber Pascal. Du hast noch immer nicht das Wesen unseres Ordens verinnerlicht, ebenso wenig begriffen, was einen Stählernen Lotos ausmacht. Du bist so naiv, dass es weh tut.«
    Timothèe lachte und nun sah er überhaupt nicht mehr aus wie der Mensch, als der er sich sonst gab. Die Verwandlung seiner Mimik war verschreckend, verstörend, beängstigend.
    »Ich erspare dir das langsame Zusammensetzen der Puzzleteile und präsentiere die die Lösung des Rätsels in ihrem hässlichen Ganzen. Die Wahrheit ist, dass es für einen Stählernen Lotos keine Wahrheit gibt. Unsere Welt ist eine Kulisse und unser Schauspiel endet nie, auch dann nicht, wenn wir es uns wünschen. Hinter unseren Kulissen finden wir weitere Kulissen, ein endloses Labyrinth auf Pappaufstellern. Du hast die Kunst der Verführung gelesen. Das ist das Leben, was die anderen führen. Eine Ahnung davon können wir durch diese und ähnliche Lektüre erhaschen. Für uns aber sieht das Leben völlig anders aus. Ich verrate dir, wie unsere Wirklichkeit aussieht, wie ein neuer Lotos entsteht, wenn du so begierig darauf bist, zu erfahren, wer ›ich‹ bin.
    Wie bei einem Zuchtprogramm für Gebrauchshunde existiert für alle Lotos ein Stammbaum. Diesen kennt nur die oberste Leitung. Wir sind selten und unser Erbgut ist wertvoll. Es muss dorthin, wo es gebraucht wird.
    Das heißt, dir wird mitgeteilt, mit wem du wann zu verkehren hast. Völlig egal, ob du die Person liebst oder aber tiefen Ekel empfindest. Du hast dich mit ihr zu mehren, damit der Orden bestehen bleibt oder sogar wächst. Nun kann es natürlich sein, dass manch einer sich trotzig stellt oder ein Schwächeln seiner Manneskraft vorschiebt.
    Dann kommt ein Mann zu dir. Er gibt dir ein verschließbares Glasröhrchen und eine Stunde Zeit, um es zu befüllen. Du bist darauf nicht vorbereitet und aller Wahrscheinlichkeit nach auch gerade überhaupt nicht in der notwendigen Stimmung, aber er klappt seine Taschenuhr auf und erinnert dich daran, dass die Zeit läuft. Du wendest ein, dass es gerade ganz ungünstig ist, woraufhin er darauf hinweist, dass er auch wieder gehen kann. Aber wenn er das tut, kommt er mit Verstärkung zurück, um dir gewaltsam zu nehmen, was der Orden haben will. Zähneknirschend stimmst du also zu und ziehst dich in dein Schlafzimmer zurück. Er folgt dir. Wenn du ihn wütend herauswerfen willst, erinnert er dich daran, dass man niemandem vertrauen darf und er folgerichtig darauf achten wird, dass es auch tatsächlich der gewünschte Inhalt ist, der in dem Röhrchen landet. Es hat wohl mal einen Lotos gegeben, der dem Orden geschlagenes Eiweiß angedreht hat.
    Mit Mühe presst du das Gewünschte aus deinen Lenden. Der Mann bedankt sich und steigt in seine Kutsche, um das Röhrchen einem der Heiler des Ordens auszuhändigen. Dieser führt den Inhalt dem Leib der erwählten Frau zu, die auf dich vielleicht genau so wenig Lust hatte wie du auf sie. Ich sagte dir ja bereits, dass es sehr schwierig ist, die Antimagie zu erhalten, da es so wenige von uns gibt und man uns nicht untereinander verpaaren kann, ohne eine Totgeburt zu besiegeln. Dein Kind wird die Gabe so wenig zur Entfaltung bringen wie seine Mutter, aber es wird sie in sich tragen. Und wenn es alt genug ist, wird man es mit einem Antimagier verpaaren, wie du es bist. Auf die gleiche Weise, wie es selbst einst entstanden ist, wird es weitere Lotos in die Welt setzen. Man wird ihm den Samen rauben oder, wenn es eine Tochter ist, ihr den Samen eines fremden Mannes in den Leib bringen. Nichts daran ist fair, Pascal. Gar nichts. Alles, womit du allein zurückbleibst, sind deine Gedanken. Denn dein Kind gehört dir nicht. Es gehört dem Orden.“
    Timothèe tat Pascal leid und er hätte ihn gern in den Arm genommen, doch er wagte es nicht.
    „Wie oft war der Mann bei dir?“, fragte er.
    „Ein Mal. Damals habe ich erkannt, wie zwecklos Widerstand ist. Es zögert das Unvermeidliche nur hinaus und macht es noch schlimmer.“
    „Also hast du Kinder, irgendwo da draußen.“
    „Ja.“ Timothèe ließ die Finger in seinen Schoß sinken, wo sie eine schützende Schale um seinen Schritt formten und starrte über Pascal hinweg an die Wand. „Aber ich weiß nicht, wie sie heute heißen oder wo sie arbeiten. Und darum wünsche ich, dass du, bevor du an der Reihe bist, erfährst, wie sich Nähe und vielleicht sogar Zuneigung wirklich anfühlen. Eine Ahnung der Wahrheit da draußen. Zu naschen von dem Traum, der für uns unerreichbar bleibt. Liebe und Lotos, das passt nicht zusammen.“
    Pascal rutschte auf dem Sofa zu ihm herüber. »Vielleicht ja doch.« Sanft schloss er die Arme um Timothèe und küsste ihn auf die Wange. Timothèe tat nichts. Er wartete vermutlich darauf ab, dass Pascal wieder von allein von ihm abließ, indem er dasaß wie eine Statue und versuchte, sich möglichst unbequem anzufühlen. Pascal war jedoch nicht gewillt, so rasch aufzugeben. Er war ein introvertierter Mensch, aber ehrgeizig, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er mochte Timo und wollte ihn, jetzt mehr denn je. Er hatte seinen Wunsch ernst gemeint. Wie er es in dem Buch gelesen hatte, schwang er ein Bein über Timothèe, so dass er auf seinem Schoß zum Sitzen kam, fasste sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn liebevoll auf den Mund.
    In einer fließenden Bewegung packte ihn sein Mentor an der Kleidung, riss ihn von sich herunter und knallte ihn rücklings auf das Sofa, so dass Pascal die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Bleich und mit aufgerissenen Augen starrte Pascal zu ihm hinauf.
    „Ich habe Nein gesagt“, schnauzte Timothèe und holte aus. Pascal hob schützend die Hände, um die kommende Ohrfeige abzuwehren, doch sie kam nicht. Mitten in der Bewegung erstarb der Schlag und sein Mentor ließ von ihm ab. Er setzte sich zurück auf seine Sofaecke und starrte vor sich hin.
    Pascal hustete, damit seine Atmung wieder in Gang kam. »Was nun?“, fragte er, als er sich aufrappelte.„Du hast gerade nicht als Timo zu mir gesprochen, sondern als der Lotos dahinter. Als der Vater ohne Kinder. Timo wurde schließlich nicht beraubt, da er kein Lotos ist. Nur du wurdest das. Du! Wer bist du?“
    Er sah den Mann an, so als ob es ihm dadurch gelingen könnte, in seinen Kopf hineinzuschauen. Der rückte seine Kleidung wieder zurecht, die bei dem kurzen Gerangel ein wenig durcheinandergekommen war.
    „Ich habe dich soeben einen Blick hinter die Oberfläche werfen lassen, ja. Aber versuche nicht, noch tiefer zu schauen. Es ist dunkel dort unten und in den Tiefen findest du nichts, was zu sehen sich lohnt. Es ist die Persona namens Timo, die du magst, was auch immer an ihr deinen Gefallen erweckt haben mag. Ich dachte, ich hätte sie öde genug gestaltet, um jedwede Interessenten abzuschrecken. Erst meldete Vittorio Interesse an und jetzt auch noch du. Aber reden wir nicht weiter von mir. Ich bin unwichtig. Vergiss einfach, wer gerade zu dir gesprochen hat. Vergiss ihn, ich bin Timo. Und heute ist dein Geburtstag, widmen wir uns deinem Geschenk. Möchtest du mir einen Namen nennen, der nicht Timo lautet, oder brauchst du noch Zeit zum Überlegen?“
    „Ich wähle Vittorio“, antwortete Pascal.
    Timothèe zog die Brauen hoch. »Willst du mich testen?«
    Pascal nickte.
    »Frage ihn. Wenn er zustimmt, sei er dein. Suche ihn nicht im Keller, er ist in seinem Zimmer. Du kannst gehen.«
    Pascal stand auf und schaute Timothèe an. Er wollte gern noch etwas sagen, da er das Gefühl hatte, die Situation entspannen zu müssen. Sein Mentor aber beachtete ihn nicht mehr sondern widmete sich seiner Mineraliensammlung.

  • Vittorio


    Geräusche drangen aus der offenstehenden Tür. Neugierig, was Vittorio wohl treiben mochte, trat Pascal ein. Eine Regel dieses Hauses besagte, dass man ein Zimmer ungefragt betreten durfte, wenn die Tür offen stand. Vieles hatte er erwartete, aber das nicht. Zu seinem Entsetzen lag ein offener Kleiderkoffer auf Vittorios Bett, fast fertig eingeräumt. Die Übungsrüstung des alten Soldaten lag in Einzelteilen verschnürt auf dem Tisch. Vittorio schob die schweren Eisenbündel gerade in einen Reisesack aus stabilem Leinen, wie sie bei Seeleute üblich waren.
    »Na, Großer«, grüßte Vittorio den jungen Mann, ohne in seinem Treiben innezuhalten.
    »Was machst du da?«, fragte Pascal misstrauisch.
    Vittorio war mit der Rüstung fertig und sortierte einige Sockenpakete eng wie Sardinen in den Koffer. »Du bist volljährig. Meine Aufgabe hier ist erfüllt.«
    »Du gehst also weg?«
    Vittorio lächelte unter seinem silbernen Bart, während er weiter packte. Es war das erste Mal, dass er dem jungen Lotos gegenüber so ungezwungen seine Gefühle zeigte. »Ich kehre nach Hause zurück, heim ins sonnige Ledvicco mit seinen Palmen und Stelzenhäusern, die im warmen Wasser des Dhunischen Ozeans erbaut wurden. Wer in Ledvicco geboren wurde, kehrt früher oder später immer wieder dorthin zurück. Es ist ein Naturgesetz, so wie auch das Meer bei Ebbe nie wirklich fort ist, sondern stets zurückkehrt. Man fährt in meiner Heimat mit Gondeln statt mit Kutschen, wusstest du das? Wir haben Wasserstraßen anstelle von solchen aus Stein. Bei der Seefestung Fortezza liegt unsere Kriegsflotte vor Anker, dort wartet meine Einheit auf mich.« Er bemerkte Pascals Blick. »Guck nicht so. Sei nicht traurig«, sprach der alte Soldat und wuschelte ihm kurz durch das Haar.
    Noch nie hatte Pascal ihn so lange reden gehört und noch nie in solch schönen Worten. Vittorio musste seine Heimat sehr lieben. Was Menschen betraf, fand er nie solche Worte.
    »Bin ich aber«, antwortete Pascal. »Warum hast du mir nichts davon gesagt, dass du heute abreist? Wir hätten eine Abschiedsfeier für dich organisieren können. Oder wenigstens etwas Besonderes zu essen. Stattdessen hast du allein in der Küche gestanden und den ganzen Morgen gekocht.«
    »Ach weißt du, am schönsten finde ich es immer, wenn bis zur letzten Minute alles so bleibt, wie es ist. Für uns drei das Essen vorzubereiten macht mir Spaß. In der Küche ist es warm und duftet und einer nach dem anderen trudelt ihr ein und wir essen zusammen. Ich bin hier glücklich und genieße das so lange wie möglich. Hätte ich es dir gesagt, wärst du nur traurig gewesen und dann läge ein Schatten über unseren letzten Tagen. Kopf hoch. Abschiede gehören zum Leben dazu. Ein Lotos wechselt sein Umfeld öfter als jeder andere. Wenn ich in Fortezza angekommen bin, schreibe ich dir einen Brief. Oder noch besser, eine Postkarte mit einem Schiff darauf wie jenes, das mich nach Naridien bringt. Es ist ein Truppentransporter, einer von der kleinen, schnellen Sorte, die unbemerkt anlanden und dann wieder verschwinden, während die Soldaten sich in die Wildnis durchschlagen und ihre Operation vorbereiten. Ich bin kein Seemann, musst du wissen, auch wenn wohl jeder Ledvigiano ein kleines Segelboot fahren kann. Das ist dort so normal wie das Reiten in Souvagne.«
    Pascal setzte sich auf einen Stuhl, während Vittorio erzählte, und sah ihm beim Packen zu. Leerer und leerer wurde das Zimmer. Alles, was an Vittorio erinnerte, verschwand Stück um Stück im Koffer. Bald war der Raum so kahl wie vor seinem Einzug.
    »Timo schickt mich zu dir«, sprach Pascal betrübt. »Darum bin ich hier.«
    »Worum geht es denn?«
    »Um mein erstes Mal.«
    »Aha. Ist es nicht Timos Aufgabe, dich aufzuklären?«
    »Das ist ihm zu spät eingefallen, ich weiß schon alles. Ich soll jetzt stattdessen die Praxis erlernen.«
    Vittorio warf ihm einen amüsierten Blick zu und zog die Schnallen des Koffers fest. »Und Timo hat sich überlegt, dass ein alter Soldat genau das Richtige für dich ist. Das kann ich mir nicht vorstellen.«
    »So war es auch nicht«, stellte Pascal richtig. »Ich wollte es mit Timo ausprobieren, aber er möchte nicht. Ich sollte mir jemand anderes aussuchen und so nannte ich deinen Namen.«
    Vittorio zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu dem jungen Lotos. »Aber ich bin nicht deine erste Wahl. Du willst es nicht wirklich mit mir.«
    »Will ich, sonst hätte ich dich nicht ausgesucht. Aber eigentlich wollte ich Timo.«
    Ernst musterte der Soldat ihn. »Junge, ich bin ein alter Mann. Ich werde es für dich tun, wenn du es dir wünschst. Aber lieber wäre es mir, du würdest dir jemand anderen suchen. Einen, der in deinem Alter ist und den Krieg noch nicht kennt. So etwas verändert die Menschen, nicht nur äußerlich durch Narben und Verstümmelungen, sondern auch ihre Seelen werden hart oder liegen in Scherben darnieder. Oder beides zugleich, eine schroffe Burg aus Glas, an der man sich bis aufs Blut schneidet und die doch stets auseinanderzubrechen droht. Du bist noch so jung und gesund. Es gibt wahrlich bessere Gefährten für dich.«
    »Du sprichst, als wären deine Narben ansteckend. Ich bin nicht dumm, auch wenn ich jung bin. Ich habe gesehen, wie du sein kannst. Zu Timo warst du zärtlich, ich habe euch beobachtet. Es gefiel mir und hätte das auch gern gehabt.«
    »Wir waren zärtlich, weil wir einander verstehen. Wir wissen voneinander, was wir wissen müssen und keiner von uns beiden macht sich eine Illusion. Aber du, Pascal, du machst sie dir. Sonst würdest du Timo nicht lieben. Du liebst ihn doch, wenn ich dich richtig einschätze, oder?«
    Pascal nickte, sein Gesicht war ernst. »Was soll das heißen, dass ich ihn nicht lieben würde?« Er mochte es nicht, wenn jemand schlecht über seinen Mentor sprach und wappnete sich dafür, ihn verbal zu verteidigen.
    Vittorio lachte. »Du verstehst mich falsch. Körperlich kann ich dir alles mit auf den Weg geben, was du lernen musst. Die Frage ist, ob ich das auch sollte? Timo hatte einen guten Grund, deinen Wunsch abzulehnen. Meinst du nicht, dass auf mich der selbe Grund zutreffen könnte?«
    »Er sagte, er will nicht, dass ich mit einem berechnenden Eisklotz das Lager teile. Und du sagst, du bist eine Glasburg, an der man sich schneidet. Aber ich verstehe nicht, warum ihr beide dann so gut miteinander umgeht, mich aber verschmäht.«
    Vittorio lächelte mitleidig. »Nicht jeder steht auf so junges Gemüse, weißt du? Ich finde meine Befriedigung sonst in den fleckigen Armen von Huren oder im versifften Arsch eines Kameraden, der vor ungezählten Wochen das letzte Bad gesehen hat. Die Wirklichkeit ist noch hässlicher, da ist das noch geschmeichelt. Ich habe mir oft genug schon etwas eingefangen und irgendwann werde ich vermutlich an einer Seuche krepieren, wenn die Naridier mich nicht kriegen. Ich tue es trotzdem auf diese Weise, weil es keinen besseren Trost gibt im Krieg. Und nun sitzt du hier vor mir.«
    »Timo ist auch glattrasiert und sauber«, murrte Pascal.
    »Der Mann, den du für Timo hältst, ist ein Krieger.« Vittorio packte ihn an der Schulter und drückte so stark zu, dass es schmerzte. »Mache nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Den Fehler habe ich begangen und die Lektion war schmerzhaft. Dass man ihm seinen Beruf nicht ansieht und er keine offensichtlichen Narben trägt, sollte dir Beweis genug dafür sein, wie gut er ist.«
    »Ist ja schon gut, ich habe es verstanden. Ihr seid die erfahrenen Kämpfer und ich bin irgendwas darunter. Ihr nehmt mich nicht ernst und ihr meint, dass ich dumm und naiv sei, weil ich noch nie im Krieg war. Ihr haltet mich noch immer für ein großes Kind und darum wollt ihr mich nicht im Bett haben.« Mürrisch blickte Pascal zu Seite. Vittorio rutschte näher und legte ihm die Hand auf die Wange.
    »Warum zieht es dich überhaupt zu uns alten Kriegern?«, fragte er sanft, ohne Pascals Behauptung abzustreiten. »Was genau ist es, dass dich an uns reizt? Gibt es da überhaupt etwas oder trifft es nur zufällig uns, weil wir gerade hier sind, hm? Du musst mir die Frage nicht beantworten, Pascal. Aber für dich solltest die Antwort kennen. Der Tag mag kommen, da du selbst dein größter Feind sein wirst. Und es ist wichtig, den Feind zu kennen.«
    Er streichelte Pascals Gesicht, seinen Hals und seinen Hinterkopf. Pascal schloss die Augen und genoss die Berührung. Ihm fiel ein, was Caillou gesagt hatte. Sie lieben sich nicht, sie spielen nur. Vittorio und Timothèe spielten. Stimmte das? Wenn ja, konnte es ihm vielleicht nützen, den alten Soldaten aus der Reserve zu locken, der zwar nicht abgeneigt schien, aber Begeisterung sah anders aus. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er Pascal lediglich einen Gefallen tat. Das wiederum provozierte dessen Ehrgeiz. Timothèe hatte es geschafft, Vittorio für sich zu gewinnen. Er würde Vittorio beweisen, dass auch er nicht das Dummchen war, für das er ihn hielt. Er war ein erwachsener Lotos, der sein Handwerk verstand.
    »Lass uns spielen«, schlug Pascal vor. »Nehmen wir an, ich bin nicht Pascal, sondern ich bin dein Kamerad. Du hast auch junge Soldaten in deiner Kompanie und ich bin einer von ihnen.« Er stand auf und band sein Haar oben zu einem kleinen Zopf, damit er anders aussah. Er wusste, dass sein Gesicht nun älter und strenger wirkte, denn er hatte es oft genug vor dem Spiegel ausprobiert. »Mein Name ist Patrice Vertcuis und wir sind gemeinsam an der Front«, begann er, seine Geschichte zu weben, wie während seiner tausend Übungsstunden. Es fiel ihm leicht, da dies die Rolle war, die er sich seit jeher wünschte. »Es ist kalt und die Soldaten zittern in den Gräben, die sie für die Armbrustschützen ausgehoben haben. Der Geruch von nasser Erde liegt schwer in der Luft. Du bist mein Ausbilder und gerade ist Wechsel. Durchgefroren und mit tauben Füßen komme ich in dein Zelt, um einen Bericht abzuliefern. Wir sind gut vorangekommen mit den Schanzarbeiten, aber du siehst mir an, dass ich kaum noch stehen kann vor Kälte. Du erbarmst dich und rufst mich zu dir in das Bett, um mich zu wärmen. Aber wie wir da liegen, spüren wir noch eine andere Wärme zwischen uns. Draußen hören wir die Geräusche des Feldlagers und wir wissen nicht, wie viel Zeit uns bleibt. Aber wir wissen, dass uns kalt ist, außen wie innen und das es morgen schon zu spät sein könnte.«
    Vittorios Gesicht rötete sich, während Pascal erzählte und der alte Soldat erhob sich langsam. Er stellte den Koffer auf dem Boden ab, damit das Bett frei wurde. Pascal erwartete, dass er nun etwas sagen würde, doch er riss zunächst das Fenster auf und ließ die Kälte des Spätherbstes hinein. Zwischen den Baumkronen jagten tiefhängende graue Wolken und ein paar feuchte Laubblätter wehten in das Zimmer.
    »Sie sehen durchgefroren aus, Patrice«, sprach Vittorio mit veränderter Stimme und kehrte zu ihm zurück. »Kommen Sie in mein Bett und wärmen Sie sich.«
    Volltreffer. Er ging auf das Spiel ein. Pascal spürte, wie seine neue Persona in ihm erwachte. Patrice hob den Blick. »Wird man uns nicht bestrafen?«, fragte er.
    »Wir sind allein mit den Soldaten, weil unser Hauptmann auf dem Feld der Ehre geblieben ist. Uns kann es bald genau so ergehen, Patrice. Lassen Sie uns keine Zeit verschwenden, mein Angebot steht.«
    Er griff nach Patrices Hand und führte sie zwischen seine Schenkel. Patrice spürte, wie hart und heiß es dort unten war. Zögerlich strichen seine Finger über die Hose, erkundeten die feste Beule und spielten mit dem Verschluss. Er wagte jedoch nicht, die Hose zu öffnen.
    Ein kalter Wind fuhr durch das offene Fenster herein, ein Schauer schüttelte Patrice durch. Vittorio machte keine Anstalten, mit ihm unter die schützende Bettdecke zu kriechen. Stattdessen öffnete er seine Hose. Er ließ Patrice Gelegenheit, ihn zu betrachten. Patrice gefiel, was er sah. Vittorio zog ihm das Hemd über den Kopf und mit nacktem Oberkörper stand Patrice im eisigen Wind des beginnenden Herbstes. Seine Brustwarzen waren hart von der Kälte und Vittorio strich mit seinen warmen Handflächen darüber, rau wie Schmirgelpapier. Vittorio zog ihm die Hose samt Unterhose über die Beine hinab und ließ ihn splitternackt inmitten des immer kälter werdenden Zimmers stehen. Patrice begann am ganzen Körper zu zittern. Langsam wich seine natürliche Scheu dem Wunsch, sich an dem Soldaten zu wärmen. Er verstand nun, warum er auskühlen sollte. Es machte das Spiel authentischer und die Sehnsucht nach Wärme würde ihn ganz von selbst in Vittorios Arme treiben.
    Vittorio zog sich in aller Ruhe selbst vollständig aus und legte sich mit aufgestelltem Bein in das Bett. Dem Veteranen schien die Kälte nichts auszumachen. Sein muskulöser Bauch war bis hinauf zur Brust von kurzen, silbernen Haaren überzogen, die im Licht glitzerten. Patrice konnte sich kaum auf den Anblick konzentrieren, weil ihm immer kälter wurde. Vittorio beobachtete zufrieden, wie erbärmlich der junge Mann zitterte, während er sich selbst in aller Ruhe streichelte.
    »Was ist nun?«, fragte er schmunzelnd. »Sie sind auf meiner Pritsche willkommen.«
    Patrice folgte rasch der Einladung. Er kroch ganz nah an Vittorio heran und klammerte sich an ihn. Dessen Haut war wunderbar heiß. Er drückte sich noch fester an ihn heran. Vittorios warme Hände strichen über Patrices schmale Flanken. Vittorio ließ sich Zeit. Er zog die Decke über sie beide und wartete geduldig, bis Patrices Körper deutlich zeigte, dass er es wirklich wollte.
    Vittorio unterrichtete ihn sanft. Es war anders, als das, was im Trainingskeller zwischen ihnen abgelaufen war. Kein Bellen, keine Kommandos. Der alte Soldat gab sich Mühe, es schön für seinen Schüler zu machen und machte ganz den Eindruck, als würde er ihre Zweisamkeit ebenso genießen. Patrice fühlte sich geborgen und sicher. Vittorio nahm sich den ganzen restlichen Tag für ihn Zeit, zwischendurch machten sie Pausen. Er schloss das Fenster wieder, da die Scheu nun überwunden war. Sie tranken etwas oder aßen eine Kleinigkeit, ehe Vittorio seinen Spielgefährten erneut in die Arme nahm.
    Als die Lehrstunde vorbei war, schien draußen der Mond. Gemeinsam stiegen sie hinab in den Waschraum, reinigten sich und legten frische Kleidung an. Ihre Zeit war vorbei. Vittorio ging wieder völlig normal mit ihm um, als sei überhaupt nichts passiert. Patrice bedauerte dies zutiefst, bis Pascal ihn herunterschluckte. Es war nur ein Spiel gewesen und jedes Spiel musste einmal enden. Manche erst nach Jahren, manche schon nach wenigen Stunden. Patrice hatte es genießen dürfen, für Pascal war es nur eine Lehrstunde in seinem Werdegang als Stählerner Lotos.
    Vittorio trug trotz der späten Stunde um diese Uhrzeit noch in Reisekleidern seinen Koffer hinaus, die beiden schweren Säcke mit der Rüstung gleichzeitig über den breiten Schultern. Betrübt trug Pascal ihm seine Handschuhe hinterher, denn alles andere buckelte der Soldat mühelos allein.
    »Mach`s gut, Großer«, sagte Vittorio freundlich. Timothèe stand schon unten und hielt ihm die Tür auf. Seine Augen begegneten denen Vittorios.
    »Timo...«, begann der alte Soldat, offenbar unsicher, was er sagen sollte.
    Der Buchhalter nahm ihm die Entscheidung ab. »Gute Reise«, antwortete er und reichte ihm die Hand. Vittorio betrachtete sie, nahm sie, drückte sie einen Augenblick länger als nötig und stapfte hinaus in die Dunkelheit, wo noch immer seine Kutsche wartete. In Anbetracht des schweren Gepäcks hatte er sie ausnahmsweise direkt vor das Haus bestellt. Timothèe sah anscheinend keinen Anlass, ihm beim Tragen zu helfen. Pascal rannte ihm noch hinterher und stopfte ihm die Handschuhe in die Tasche.
    »Halten Sie hier die Stellung für mich, Patrice«, raunte Vittorio ihm zu und zwinkerte, ehe er sein Gepäck mithilfe des Kutschers einlud. Pascal war nach diesem Satz noch unglücklicher als zuvor und trottete lustlos zurück ins Haus.
    Timothèe schloss hinter ihm die Tür und drehte den Schlüssel herum. Dann schob er Pascal einfach beiseite, da er ihm im Weg stand und ging in seine Schreibstube, um zu arbeiten. Draußen klapperten die Hufe der Pferde am Haus vorbei. Immer leiser wurde das Geräusch. Pascal konnte nicht einmal aus dem Fenster sehen, da die Läden wie immer verschlossen waren.
    Da Timothèe offenbar in Ruhe gelassen werden wollte, zog Pascal sich in seine Kammer auf dem Dachboden zurück. An Schlaf war nach diesem Tag nicht zu denken. Immer, wenn er die Augen schloss, spürte er wieder Vittorios Hände auf seiner Haut. Er fragte sich, warum Timothèe dem Mann, mit dem er so zärtlich umgegangen war, nicht einmal auf Wiedersehen hatte sagen wollen. Gute Reise, das war fast schon eine Aufforderung, endlich zu gehen. War er beleidigt, weil Vittorio Pascal in dieser besonderen Sache unterrichtet hatte? Oder weil Pascal ihnen beiden die letzten Stunden geraubt hatte? War er überhaupt beleidigt?
    Leise stieg Pascal die Holzstiege hinab und spitzte aus dem Dunkel des Flures durch das Schlüsselloch der Schreibstube, um zu sehen, ob sich nicht etwas herausfinden ließ. Er hatte Glück, der Schlüssel steckte nicht und die Sicht war frei.
    Timothèe saß nicht auf seinem Stuhl. Er stand, und zwar in merkwürdig anmutender Pose, den Rücken der Tür zugewand, die Stirn gegen den Bauch des Lotos auf dem Bild gelehnt. Dabei wusste er mit Sicherheit, welchen Schaden Hautschweiß an einem Gemälde anrichten konnte. Seine Arme hingen hinab. Und so stand er, schweigend, still. Pascal lauschte, doch Timothèe gab kein Geräusch von sich. Er verharrte all die Zeit über, als würde er im Stehen vor dem Wandbild eingeschlafen sein. Als er sich nach geraumer Zeit immer noch nicht rührte, wandte Pascal sich ab, um wieder in seine Kammer hinaufzusteigen. In dem Moment krachte etwas Schweres mit voller Wucht gegen die Tür. Pascal machte einen Satz.
    »Du neugierige kleine Ratte«, brüllte es aus der Schreibstube.
    Er musste auf eine knarrende Diele getreten sein. So hatte er Timothèe noch nie erlebt! Nie war Timo je ausfällig geworden oder laut, geschweige denn, dass er randalierte. Im ersten Moment wollte Pascal instinktiv in sein Zimmer flüchten, doch das war eine Sackgasse. Seine Ausbildung ließ ihn die entgegengesetzte Richtung nehmen, einen Fluchtweg, der offen stand. Nichts war so dumm, wie sich ausgerechnet in seinem Bett zu verstecken. Er rannte zur Ausgangstür. Es krachte ein zweites Mal, Holz splitterte. Er rannte schneller, gedanklich flehend, dass der Schlüssel noch steckte. Er hatte Glück. So schnell er konnte, fummelte er das Schloss auf, behielt den Schlüssel in der Hand und flüchtete nach draußen.
    Nach einigen Metern des Rennens merkte er, dass Timothèe ihm nicht folgte. Pascal blieb stehen und drehte sich um. Er war allein auf der Straße. Sein Mentor brüllte ihm nichts vom Haus aus hinterher. Er zog nur die Tür zu und dann bewegte sich nichts mehr. Das Haus stand schwarz und schweigend wie ein Mausoleum zwischen den Bäumen. Und draußen, in der Kälte, stand Pascal und begriff die Welt nicht mehr.

  • Das Netz der Lotosspinne


    Pascal wandte sich ab und ging in Richtung des Festplatzes, um die Nacht nicht zu erfrieren. Je dunkler es wurde, umso mehr biss der Frost in die Haut. Die Kirmes war längst vorbei, doch manchmal waren andere Feuer dort zu finden. In der Nähe standen die Fuhrwerke der fahrenden Händler und diese scharten sich oft dort zusammen.
    Was er fand, war Toni, der blonde Penner mit den braunen Augen. Er war in mehrere Lagen von Kleidung gehüllt, so dass er kaum die Arme bewegen konnte. Über der Mütze trug er noch eine Kapuze und über Mund und Nase einen Schal. Antoine erkannte Pascal sofort wieder und begrüßte ihn so herzlich, dass es Pascal unangenehm war. Er lud ihn ein, die Nacht an seinem sogenannten Kesselofen zu verbringen. Das war ein gusseiserner Kessel, in dem ein kleines Feuer brannte. Drumherum hatte er sein Lager drapiert, das aus Rücksäcken und Taschen bestand. Sie setzten sich jeder auf eine Tasche.
    »Man muss sehr nah herangehen im Winter, damit man von der Wärme überhaupt etwas merkt«, erklärte Antoine. »Der Kesselofen genügt gerade so, um zu verhindern, dass einem die Hände und Füße abfrieren. Aber er ist dafür klein, so dass ich ihn immer bei mir tragen kann, im Gegensatz zu einem Eisenfass. Wenn ich weiterziehe, hole ich die großen Holzstücken heraus und lasse unten nur das Glutbett. So kann ich mich auch unterwegs wärmen. Wenn ich einen Platz gefunden habe, wo ich bleiben möchte, dann suche ich neues Holz. Manchmal geben mir die Leute Geld dafür, dass sie ihre Rauchstange an meiner Glut entzünden oder sich die Hände wärmen dürfen.«
    Antoine war ein kreativer Kopf. Auch heute roch er nicht nach Alkohol. Tatsächlich wirkte er selbst jetzt, zu einer Jahreszeit, in der fast jede Nacht den Frost mit sich brachte, zufrieden mit seinem Dasein. Das wiederum sorgte dafür, dass die Leute seine Gesellschaft suchten, anstatt einen Bogen um ihn zu machen. Antoine hatte in ganz Beaufort unwahrscheinlich viele Bekannte und, wie er freimütig erzählte, auch in anderen Städten. Er war sogar schon in Naridien gewesen, wo er sich allerdings nicht wohl gefühlt hatte und die Sprache nicht verstand, denn in Naridien sprach man Rakshanisch, das während der Ära des Chaos zur weltweiten Handelssprache geworden war. Nur die Urvölker sprachen noch Asameisch. Naridien als Mischnation zählte nicht dazu.
    Pascal blieb bei Antoine. Der Obdachlose bemerkte recht schnell, dass es ihm nicht gut ging und versuchte, ihn mit Anekdoten und Rauchstangen aufzumuntern. Die Rauchstangen lehnte Pascal dankend ab, die Anekdoten erreichten sein Herz nicht. Alles, was er wollte, war nach Hause zu gehen und dort Timothèe und Vittorio in der Küche vorzufinden.
    Als der Abend zur Nacht wurde, gesellte sich Caillou zu ihnen, heute nicht in Feuerwehrkluft, sondern in jener Stoffkleidung, in der er sich im Alltag bewegte. Er trug eine braune Hose mit kaputten Knien und eine viel zu kurze Jacke, so dass sein schwarz-weiß-gestreifter Strickpullover von hinten zu sehen war. Von vorn erst recht, denn er trug die Jacke trotz der Kälte offen, dazu einen riesengroßen orangefarbenen Schal und ebensolche Handschuhe. Die Stiefel waren wieder offen, so dass er schlurfte. Dezent sah anders aus und kein Lotos sollte so aussehen, nicht einmal als Persona.
    »Du verkühlst dir noch die Nieren«, murrte Toni.
    »Dir sollte die Jacke gefallen, so was trägt man dieses Jahr in Naridien.«
    »Was kümmern mich die Naridier, nur weil ich einmal da war? Die sollen mal schön ihr Ding machen.«
    Sie umarmten sich. Erst danach begrüßte Caillou auch Pascal.
    »Na? Was verschlägt dich denn hierher?« Er zog eine Flasche heraus und setzte sich dazu.
    »Timo«, antwortete Pascal.
    »Was, zwingt er dich wieder, mit mir zu feiern?«, fragte Caillou in gespieltem Mitleid. Ein Grinsen verzog seinen Mund.
    »Er schmeißt mit Möbeln nach mir«, antwortete Pascal.
    Caillous Gesichtsausdruck veränderte sich. »Oh ... verstehe.« Er nickte betreten und reichte ihm die Flasche. Pascal trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Das war der hochprozentigste Schnaps, den er je probiert hatte. Danach brannte ihm der Rachen.
    »Das hält schön warm«, erklärte Caillou und nahm selbst einen großzügigen Schluck.
    »Du könntest auch einfach nach Hause gehen, wenn du frierst«, empfahl Pascal.
    Caillou schüttelte den Kopf. »Ich bin lieber hier draußen, bei Toni und dem anderen freien Volk.«
    »Du bist doch selbst ein Freier«, wandte Pascal ein.
    »Nur auf dem Papier, das weißt du so gut wie ich«, murrte Caillou. »Aber lass uns das Thema nicht vertiefen.« Er warf einen kurzen Seitenblick in Richtung von Antoine. »Warum war Timo so wütend?«
    Pascal zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Er hat mich kleine Ratte genannt und wenn er mich getroffen hätte, hätte er mir alle Knochen gebrochen. Ich verstehe es nicht.«
    »Ist an dem Tag vorher schon irgendwas anders gewesen als sonst?«, erkundigte sich Caillou. »Ein Streit, irgendwas passiert?«
    »Vittorio hat uns verlassen. Er ist zurück nach Ledwick gefahren. Und vorher hat er mich im Bett angelernt.«
    »Ah«, antwortete Caillou gedehnt und nickte weise. »Das erklärt doch alles. Du hast die beiden doch zusammen gesehen. Timo ist keineswegs wütend. Manche Menschen weinen ohne Tränen. Ihr Spiel hat nun ein Ende gefunden. Offenbar war das zu viel für ihn. So etwas passiert dem besten Lotos. Gib ihm seine Zeit, dann ist er bald wieder der Alte.«
    Pascal blickte zu Antoine, doch der kramte gerade in einer seiner Taschen und hatte nichts gehört. »Pscht«, zischte Pascal verärgert. »Du kannst nicht öffentlich vom Orden sprechen!«
    »Nix pscht«, antwortete Caillou grantig. »Was wollen die machen? Wir sind selten, wir sind wertvoll. Sie werden sich zwei Mal überlegen, ob sie uns etwas antun. Wir sind immun. Scheiß Orden des Stählernen Lotos«, brüllte er die beiden Monde an, als ob sie etwas dafür könnten.
    Pascal packte ihn an der Jacke und zog ihn mit sich. Offenbar war heute nicht nur Timothèe an einem Punkt angelangt, wo er die Beherrschung verlor. Caillou war größer und stärker, aber er ließ sich von Pascal quer über den Platz schleifen, auf dem die Fuhrwerke parkten. Die angeleinten Hunde, welche die Wagen vor Dieben bewachten, bellten wütend, als die beiden vorbeieilten. Dahinter standen nur noch wenige Häuser in großen Abständen und Pascal zog Caillou zu einer abgelegenen Bank, die unter einem hölzernen Wegweiser stand.
    »Sie haben keine Macht über mich«, grollte Caillou, als sie dort nebeneinander saßen.
    »Was ist denn auf einmal mit dir los?«, fragte Pascal besorgt. »Warum bist du plötzlich so wütend? Du hast doch gar keinen Grund. Ich wurde vorhin aus dem Haus gejagt, was soll ich denn sagen?«
    Caillou zitterte vor Anspannung und kramte sein Feuerzeug hervor, um etwas für seine Finger zu haben. Er schlug Funken und kleine Flammen, ohne eine Rauchstange anzuzünden. Dann schüttelte er den Kopf.
    »So wird das nichts, ich muss es dir erklären. Hör mal. Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass es falsch ist, was der Orden uns antut? Wir werden gezüchtet wie Hochleistungsvieh. Wie man Mastochsen züchtet, die immer weniger laufen können vor lauter Muskeln, so werden wir auf Antimagie selektiert. Nicht einmal der letzte Leibeigene wird so behandelt wie wir! Schon nach unserer Geburt raubt man uns unsere Eltern und sperrt uns in ein Heim, wo man uns drillt. Dann, wenn wir genügend indoktriniert wurden, gibt man uns eine Eins-zu-Eins-Betreuung durch einen Mentor. Die Adoption ist absolut geschmacklos, ein Vorgaukeln von falschen Gefühlen, damit wir den Eindruck haben, irgendjemand wäre für uns da. Ist es aber nicht, ein Lotos ist immer allein. Denn sobald er volljährig ist, gibt ihm auch der Mentor einen Arschtritt. Meinst du, wir beide dürften uns kennen, wenn es nach dem Orden ginge? Das wird geduldet, da du bislang ein Kind warst. Nur darum darf ich dir zeigen, dass Lionel eine Persona ist, hinter der sich Caillou verbirgt und du mir, dass du gar nicht Louis heißt, sondern ein Pascal bist. Aber spätestens, wenn du deine erste vollwertige Persona anlegst, wird sie Caillou vergessen. Und ich vergesse den Pascal, der darunter schläft. Lionel kennt so viele Menschen und Caillou kann nur dich sein eigen nennen, wenn ich von meinem Brüderlein absehe. An dem Tag, an dem du deine Persona als erwachsener Mann anlegst, wird mein letzter Freund aus meinem Leben verschwinden.«
    »Aber wir sehen uns doch zu den Ordenstreffen«, versuchte Pascal ihn zu trösten.
    »Die einmal im Jahr stattfinden«, fauchte Caillou. »Ich bin es so dermaßen leid! Ich möchte einfach leben, wie die anderen Souvagner auch leben dürfen! Und wenn es das ärmste Bauernleben wäre oder ich als Penner mein Dasein fristen müsste wie Toni. Alles wäre besser als das hier! Ich wäre einfach so gerne ich selbst. Verstehst du das?«
    »Aber du bist du selbst«, wandte Pascal ein. »Ich kenne keinen anderen Lotos, der dermaßen freimütig seine innerste Schale preisgibt. Und Lionel ist dir doch gar nicht so unähnlich. Er ist einfach du, nur ohne den ganzen Ordenshintergrund.«
    »Die innerste Schale ...« Caillou grinste böse. »Woher willst du wissen, dass Caillou die innerste Schale ist, hm? Und das deine innerste Schale wirklich der Junge aus dem Heim ist, als den du dich zu kennen glaubst? Hast du je deine Geburtsurkunde gesehen?«
    »Du meinst ...« Pascal stutzte. »Du meinst, ich bin gar nicht der Junge, als den man mich im Heim kannte?«
    Caillou zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wie kannst du sicher sein, dass die zwei Typen, die angeblich deine Eltern sind, dich nicht belogen haben? Woher willst du wissen, dass ich dich nicht verarsche? Ich sage es dir! Du kannst es nicht wissen! Ich auch nicht, niemand von uns kann es. All das, was uns eine Familie sein könnte, wird systematisch auseinandergerissen. Für uns gibt es keine Familie und Freunde sowieso nicht, nur den Orden. Nur die Pflicht. Sie haben uns das Leben geraubt, jedem Einzelnen Lotos. Und ich wette drum, dass dies der wahre Grund dafür ist, warum man uns die Seelenlosen nennt!«
    Er stand auf, ging ein paar Schritte und wirkte einen Moment so, als ob nun der Moment gekommen sei, in dem er gehen musste. Pascal griff nach Caillous Hosenbund, hakte die Finger ein und zog ihn wieder neben sich. Caillou ließ sich widerstandslos auf die Bank plumpsen.
    »Tut mir leid«, murrte er. »Du bist auch nur ein weiteres Opfer der Lotosspinne. Du kannst nichts dafür. Wusstest du, dass dieses kleine Mistbiest sehr wohl Netze weben kann, ganz entgegen zu dem, was man uns als Kinder lehrt? Sie kann es. Unser Orden kann es. Und die Fäden sind nahezu unsichtbar. Man bemerkt sie erst dann, wenn man versucht, daraus zu entkommen. Aber genug davon. Ich sollte dich nicht mit meinem Kram belasten. Es ist meine eigene Schuld, dass ich nicht damit fertig werde.«
    Pascal warf ihm einen ernsten Blick zu. »Du belastest mich nicht. Aber du bringst dich in Gefahr. Sei vorsichtig, mit wem du solche Worte teilst. Wenn über unseren Orden etwas an die Öffentlichkeit kommt, werden sie dich zur Verantwortung ziehen. Du kannst nicht wissen, ob du mir vertrauen kannst. Genau so gut könnte ich ein Spitzel sein, eingeschleust, um dich auszuhorchen.«
    »Du hast ja Recht, vertraue niemandem und bla. Hast du eine Ahnung, wie gern ich genau das würde? Denn ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Ich kann es, aber ich darf einfach nicht. Wir sind Freunde, so was spürt man ganz tief hier drin.« Er tippte auf sein Herz. »Keine Sorge, ich höre nun damit auf. Kümmern wir uns lieber um dich, das ist im Moment wichtiger. Timo hat dich also aus dem Haus gejagt, sagst du. Was willst du nun tun? Du kannst nicht ewig hier draußen bleiben bei dieser Witterung. Im Notfall kann ich dich eine Weile bei uns unterbringen, aber das wird nicht ewig möglich sein.«
    »Nein, nein.« Pascal winkte ab. »Wenn Timo sich wieder beruhigt hat, gehe ich nach Hause. Das wird ja hoffentlich nicht so lange dauern.«
    »In Ordnung. Ich bringe dich dann zurück zu ihm. Besser, wir sind im Notfall zu zweit. Komm, lass uns erstmal wieder ans Feuer gehen. Keine Sorge, ich habe mich wieder beruhigt.«
    »So was darf dir nicht passieren«, mahnte Pascal eindringlich.
    Caillou lächelte mitleidig. »Ach, Calli.«
    Er legte den Arm um seine Schulter und so gingen sie zurück zu Aintoine, der inzwischen nicht mehr allein war. Zwei weitere Obdachlose hatten sich eingefunden, ein Mann und eine Frau. Beide waren spindeldürr. Die Frau hatte sich zu Antoine gesetzt und malte mit einem langen Stock etwas in die dünne Schneeschicht. Offenbar versuchte sie auf die Weise, mit ihm zu sprechen, denn anschließend reichte sie ihm den Stock und er kritzelte eine Antwort in Bildersprache. Sie schienen sich gut miteinander zu verstehen. Der männliche Neuankömmling, ein Bursche mit tief eingefallenen Wangen, sprach die Passanten mit Handzeichen an. Die meisten gingen sofort weiter, andere kamen kurz näher und flüchteten dann. Er ließ sich davon nicht beirren und ging auf den Nächsten zu.
    »Das sind Naridier«, erklärte Caillou. »Ich kenne die zwei über Toni. Sie sprechen kein Asameisch. Der Mann heißt Gizmo, die Frau ist Lizzy. Auch bekannt als Liz und Giz. Sie ist ganz nett und unterhaltsam, aber mit ihm kann ich nicht viel anfangen.«
    »Sind sie ein Paar oder Geschwister?«, erkundigte sich Pascal mit Blick auf Antoine.
    »Weder noch. Die hängen einfach zusammen rum. In Naridien ist es nicht unüblich, andersgeschlechtliche Freunde zu haben. Hier in Souvagne springt ja sofort der Vater oder Bruder einer Frau hinter dem nächsten Gebüsch hervor, wenn du dich anfängst, regelmäßig mit ihr zu treffen und verprügelt dich wahlweise oder hält dir einen Ehevertrag unter die Nase. Solche Dinge würdest du wissen, wenn du dich nicht immer im Haus verstecken würdest.«
    »Ich verstecke mich nicht. Ich bin einfach gern zu daheim.« Traurig blickte Pascal in die Richtung, in der das Haus stand, wo er mit Timothèe wohnte.
    Als Gizmo seinen betrübten Blick bemerkte, schlenderte er auf Pascal zu. Er war ungefähr so alt wie Caillou, sah aber schlimm aus. Entweder er war todkrank oder er übertrieb es mit irgendwelchen Drogen. Pascal erwartete, dass Gizmo nun irgendeine tröstliche Geste machen würde, ihm vielleicht mit der Hand auf die Schulter klopfen oder dergleichen. Stattdessen formte er mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und schob seine Zunge hindurch. Angewidert schüttelte Pascal den Kopf. Gizmo änderte seine Geste und schob sich einen Zeigefinger in den Mund.
    »Nein, hau ab«, schnauzte Pascal. Selbst wenn der Kerl die Worte nicht verstand, war der Tonfall eindeutig. Gizmo zuckte mit den Schultern und trollte sich, um weiter die Passanten zu belästigen. Eine Truppe angetrunkener Gestalten fand sich in der Zwischenzeit in der Nähe ein. Pascal begann sich hier unwohl zu fühlen. Nachtschwärmer waren etwas, das er mied.
    Caillou stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Trink was, dann wirst du sehen, dass die Leute hier gar nicht so übel sind«, empfahl er, während er die neu hinzugekommenen Betrunkenen mit einem Handzeichen grüßte.
    »Sind das alles Naridier?«, fragte Pascal misstrauisch.
    »Ach was. Nur Giz und Liz. Der Rest ist bunt gemischt. Die meisten sind Souvagner, aber der eine da kommt aus der Hohen Mark und wir hatten auch schon jemanden aus Ehveros dabei.«
    »Wir«, wiederholte Pascal. »Das sind alles deine Freunde?«
    »Freunde, Bekannte, alles Mögliche. Und wen man noch nicht kennt, den lernt man eben kennen. Der da drüben könnte zum Beispiel aus Ledwick sein, schau mal, seine Klamotten. Vermutlich gehört er zu den Händlern, macht aber nicht viel Gewinn, so wie er aussieht. Du könntest ihn wegen Vittorio fragen.«
    »Ja klar, ich kann ihn auch gleich zum nächsten Ordenstreffen einladen. Ich will mit betrunkenen Leuten nichts zu tun haben und auch nicht mit deinem Gerede. Du hast schon wieder jemanden vom Orden mit seinem Klarnamen erwähnt und das in einer Lautstärke, das ist so was von leichtsinnig. Ich weiß echt nicht, warum Timo dich so nett findet.«
    »Was?« Caillou lachte laut. »Timo findet mich nett? Wieso sollte er?«
    »Das frage ich mich auch gerade.«
    »Danke für die Blumen. Und wie kommst du darauf, dass er so denkt?«
    Pascal überlegte kurz, ob er das sagen sollte. Aber warum eigentlich nicht? »Er wollte, dass du mich im Bett anlernst und nicht Vittorio.« Langsam wurde ihm das alles zu viel. Erst der Abschied von Vittorio, dann Timothèes Ausbruch und Caillous schamloses Gebrüll und sein Gejammer, dass der Orden sie nur ausbeuten würde. Und nun diese abgewrackten Gestalten. Pascal konnte nicht mehr, er hatte seine eigenen Sorgen. Er wollte sie alle nicht mehr sehen.
    »Ich gehe jetzt nach Hause«, murrte er. »Lieber lass ich mir einen Stuhl an den Kopf donnern, als mir das hier anzutun. Ich habe mich geirrt, dein Kram belastet mich doch. Und du fängst immer wieder mit deinem Geheul an, ohne Rücksicht darauf, wie es mir geht. Außerdem riskierst du damit nicht nur dein Leben, sondern auch meins. Meine nächste Persona wird dich nicht kennen.«
    »Dann geh doch«, fauchte Caillou ihn an. »Hau ab!«
    »Mach ich auch! Sauf dich doch mit den Pennern hier zu Tode!«
    »Du kannst mich mal kreuzweise!«
    Wütend stapfte Pascal davon. Er merkte, dass er immer wütender und verzweifelter wurde und auch ungerecht in seinen Äußerungen. Es war besser, wenn er nun ging. Er drehte sich nach einigen Metern noch einmal um, wobei er sich einredete, dass er es tat, um zu sehen, ob Caillou ihn von hinten angriff. In Wirklichkeit wollte er sich davon überzeugen, dass dieser sich ebenfalls wütend abgewandt hatte und sich nun zu den Naridiern und dem anderen Pack gesellte. Pascal wollte seine schlechte Meinung bestätigt wissen, das war es. Doch Caillou stand noch an Ort und Stelle, mit seinem gestreiften Pullover, der kurzen Jacke und dem riesigen orangeroten Schal.
    »Was noch?«, fauchte Caillou. »Geh und bastel an deiner neuen Persona. Vielleicht mach ich mir ja auch eine Neue, eine für den Auslandseinsatz. Damit du mich nicht mehr sehen musst, du Vorzeigelotos.« Er sagte das in so einer Lautstärke, dass es weithin zu hören war. Pascal wurde es zu viel. Er ging wieder zu ihm, packte ihn plötzlich am Hals und würgte ihn.
    »Still«, zischte er und schüttelte ihn. »Wenn das raus kommt, wie du hier redest, bist du tot!«
    Caillou befreite sich, indem er seine Arme zwischen Pascals nach oben schob und sie dann nach außen wegschlug.
    »Gerade hast du dir noch gewünscht, dass ich sterbe. Bitte, dann bin ich halt tot. Ob durch die Flasche oder die Scheiß Lotosspinne, wen juckt das!« In seinen Augen spiegelten sich Zorn und Verachtung. »Dich wohl kaum, also lass die Heuchelei.« Er stieß Pascal von sich. Der stolperte ein paar Schritte rückwärts, ehe er sich fing. Einen Moment starrten sie sich noch an. Dann schüttelte Pascal den Kopf und wandte sich endgültig ab.
    Er hatte sein zu Hause noch nicht erreicht, da läutete die Feuerglocke. Wenigstens würde Caillou nun beschäftigt sein.

  • Feuer


    Brüllend peitschte das Feuer hinauf in den Nachthimmel, funkenspeiend, ein Tanz zu einer göttlichen Musik, für menschlichen Ohren nicht zu hören. Aufrecht stand Rakshors Jünger, das Gesicht in Licht getaucht, den Rücken in Schatten liegend. Er hielt die Hände vor dem Bauch verschränkt, das Gesicht ein Ausdruck tiefer Ehrfurcht und blickte starr in die Feuersbrunst. Durch das Tosen hörte Caillou das Schreien von verbrennenden Pferden. Vor seinen Füßen lag die leere Schnapsflasche. Die Tiere - sein Opfer. Das Inferno - sein Gebet. Caillou war eins mit seinem Gott.
    Jemand packte ihn von hinten an der Schulter. Er erschrak nicht, er wusste, wer es war. Mit dem Lächeln eines Mannes, der unter dem Einfluss tiefen Rausches stand, drehte er seinem Zwillingsbruder das Gesicht zu.
    »Cami«, grüßte er und seine Stimme war vom heißen Rauch heiser geworden.
    »Was stehst du hier noch rum«, keuchte Camille. Er war gerannt und außer Atem, um vor dem Löschwagen hier einzutreffen. Er entdeckte die Flasche, ein mögliches Beweismaterial und schleuderte sie in die Flammenwand, geradewegs hinein in das lodernde Maul des offenen Scheunentores. Camille war ein weißblondes Abbild seines Zwillingsbruders. Feuer und Wasser, so nannten sie sich selbst. Caillou zog ihn am Ärmel an sich heran und legte den Arm um seine Schultern. Gemeinsam starrten sie auf das, was er angerichtet hatte, er glücklich, sein Bruder in ohnmächtiger Wut.
    »Ist es nicht wunderschön?«, fragte Caillou.
    »Wunderschöne Sachbeschädigung und Tierquälerei«, entgegnete Camille.
    Caillou konnte diese Sicht nicht verstehen. »Du musst es doch auch spüren, Cami. Ainuwar gab uns keine Seele, sagen sie uns immer wieder. Doch wer sagt denn, dass wir wirklich von ihm stammen? Ich habe lange darüber nachgedacht. Unsere Antimagie ist keine Gabe von Ainuwar. Wir sind die Söhne Rakshors, Cami. Unsere Seele liegt unter einem Schutzschild, wie das Herz einer Schildkröte. Unantastbar. Doch sie ist da, egal, was sie sagen. Ich weiß es.«
    Er tippte auf sein Herz, wie er es kurz zuvor noch im Gespräch mit Pascal getan hatte.
    »Rakshor ist der Gott des Krieges und der Zerstörung«, entgegnete Camille. »Du wirst in seinen Armen keine Liebe finden.«
    »Nein, aber Leben. Wir gehören ihm allein. Das ist der Schlüssel, um Antimagie zu begreifen.« Caillou spürte die Hitze auf seinem Gesicht. »Das Leben, es ist hier! Spürst du es nicht, Cami? Spürst du es nicht?« Er ließ seinen Bruder los, breitete die Arme aus und trat so nah an das Feuer heran, dass die Hitze unerträglich war. Jeder Atemzug schmerzte und seine Augäpfel schienen zu kochen. »Siehst du mich, Rakshor?«, brüllte er nach oben in die aufsteigenden Funken. Wie zur Antwort ließ ein Wind das Feuer so heftig in seine Richtung wehen, dass Caillou nach hinten stürzte. Er landete rücklings auf dem Boden und lachte, wälzte sich in einer fließenden Bewegung auf den Bauch und kam auf die Füße.
    Camille packte seine Jacke und zog ihn daran fort, weg von der Hitze, bis er wieder vernünftig atmen konnte. Sie beide keuchten, die kalte Luft war wie Balsam.
    »Du bist nicht Herr deiner Sinne«, schnauzte Camille. »Du hättest auf Marius hören und einen Heiler zu Rate ziehen sollen. Irgendwann werden sie dich erwischen, wenn du nicht vorher verbrennst. Jetzt lass uns gehen, der Löschwagen muss gleich kommen. Ich kann dir nicht immer deinen Hintern retten, Caillou!«
    »Habe ich dich je gebeten, mir zu den Flammen zu folgen? Es ist kein Zufall, dass ich die Flammen loslasse, wenn wir beide keine Schicht haben. Ich habe es im Griff! Und ich kenne das Feuer besser, als ihr es je kennen werdet, denn ich verstehe seinen Zorn!«
    Camille hatte genug. Er packte seinen Bruder und zerrte ihn davon. Caillou grinste berauscht vor sich hin, während er durch die Stadt gezogen wurde, zurück in Kälte und Dunkelheit.

  • Louis
    Souvagne, Jahr 191 nach der Asche. Beaufort, Nobelviertel.


    Vom 1.5. des Jahres 191 nach der Asche an hieß der Junge 24 Stunden am Tag nur noch Louis. Diese Persona hatte er schon vor Jahren gemeinsam mit seinem Mentor entwickelt und nun würde sie sein erster Langzeitauftrag werden. Unter Timothèes Obhut würde er nun selbstständiges Arbeiten lernen. Es erfolge einige Zeit eine Krankschreibung, damit er sich ganz der Verinnerlichung der Persona widmen konnte. Er schlief auch nicht mehr in Pascals Zimmer, sondern in einem anderen. Mit einer strengen Diät und einer Unterbrechung aller Übungen zum Muskelaufbau, erschien er bald optisch anderthalb Jahre jünger, als er eigentlich war. Den Rest erledigte die Alchemie. Pascal war nach souvagnischem Recht volljährig, doch trug er nach der mehrmonatigen Vorbereitung ein Knabengesicht, dessen Bartflaum leicht ohne sichtbare Stoppeln zu entfernen war. Und als die Zeit gekommen war, nahm er nach vorgeschützter langer Krankheit wieder die Arbeit in der Schreibstube auf. Der Gewichtsverlust und die Gesichtsveränderung war mit dieser Geschichte gut zu erklären und nach einiger Zeit hatten die Kollegen sich daran gewöhnt und hörten auf, besorgte Kommentare zu machen. Und wie der Zufall es wollte, von dem Timothèe im Rahmen seiner Aufgabe als Lotos natürlich längst gewusst hatte, wurde bald ein gewisser Jemand in die selbe Abteilung versetzt. Louis hatte fortan eine besondere Aufgabe, die über seine Arbeit als Gehilfe in der Schreibstube hinausging und ihre Erfüllung würde ihn zu einem vollwertigen Lotos machen - einem Lotos, der erblüht war.
    Sein Ziel war ein Mann namens Henri Tousseur, ein Kollege, mit dem Timothèe sich schon einige Male auf sehr vertraulicher Ebene unterhalten und privat getroffen hatte. Vorgeblich teilten sie einige Interessen, die man in der Regel für sich behielt, doch Timothèe kannte die geheimen Signale, um sich zu erkennen zu geben. Er hatte lange genug recherchiert. Henri Tousseur war jener, den er im Auge zu behalten hatte und nach Kenntnisnahme der Akte war der Befehl zur Exekution eingetroffen. So vermittelte Timothèe den jungen Louis als Köder. Diskret und unter der Hand wechselte der Junge seinen vermeintlichen Eigentümer, als Timothèe ihn an den älteren Mann verkaufte. Die Lotosspinne wurde überreicht in einer zarten rosa Blüte, die noch geschlossen war.
    Zart war Louis wahrlich geworden, fast zerbrechlich und unter dem Einfluss von Nahrungsmangel und entwicklungshemmender Alchemie alterte er körperlich seit Monaten eher rückwärts als vorwärts. Er zog als Dienstbursche bei Henri ein, erledigte alle Aufgaben zu dessen vollster Zufriedenheit, denn natürlich hatte er sich informiert, beobachtet und geübt, um genau zu wissen, was ein Dienstbursche alles können und wie er sich benehmen musste. Zu seinem Auftrag gehörte auch, Monsieur Tousseur wohldosierte Komplimente zu machen und ihn anzulächeln, denn dieser Herr hatte seine Freude an Jungen vor der körperlichen Reife. So stand es in der Akte, die Timothèe über Jahre über diesen Mann zusammengestellt hatte und in die sein Schüler vollen Einblick erhalten hatte. Mehr noch: Pascal würde am Ende die letzten Eintragungen vornehmen.
    Louis gab sich besondere Mühe, seinen Haarflaum vollständig zu entfernen und badete in Wasser, das mit Eselsmilch versetzt war, um seine Haut auch in dem neuen Haushalt weich zu halten. Nach wie vor aß er wenig und nahm seine ›Medizin‹, damit seine Muskeln für diesen Auftrag weich blieben und seine Schultern schmal. Louis war seiner körperlichen Erscheinung indes geistig um Jahre voraus. Er spürte Verlangen und ein Sehnen nach Nähe zu seinem Herrn, das sehr tief ging, ganz so, wie er konzipiert war. Henri Tousseur ging jedoch nie zu weit und die entscheidende Schwelle überschritt er nicht. Er drückte seine Hände zum Dank und dies war alles. Das war nicht gut, denn es war die Aufgabe des Jungen, zu beweisen, dass dieser Mann sich in seinen dunklen Stunden an Minderjährigen verging. Also musste Louis, angeblich erst 12 Jahre alt, deutlicher werden in seinen Verheißungen.
    Gut sichtbar platzierte er eine seiner Puppen in seinem Bett und tat, als würde er mit dem Daumen im Mund schlafen. Henri verstand es so, wie er sollte, kam abends stets noch einmal nach dem einsamen Kind sehen und zog seine Decke über die Schultern. Louis merkte, wie Henri ihn lange betrachtete, ehe er seiner Haushälterin auftrug, das Licht nicht ganz zu löschen, damit Louis nicht stürzte, wenn er noch einmal raus musste. Je mehr Louis sich mühte, ihm zu gefallen, umso näher kam er ihm, Schritt für Schritt, doch eine letzte Grenze blieb zwischen ihnen, bis er alle Bedenken beiseiteschob und sich ganz der Persona hingab, die er trug. Louis verschluckte Pascal und vergaß das Leben außerhalb dieses Hauses. Er vergaß sein wahres Alter und die hohe Mathematik, zu der er fähig war, um stattdessen wie ein Mädchen seine Puppen zu wickeln. Es gab keinen Orden mehr, keinen Timothèe, keinen Caillou und es hatte nie einen Vittorio gegeben. Er war nicht mehr Pascal, der die Rolle Louis spielte, sondern er war Louis, leibhaftig und kompromisslos nur noch Louis. Und Louis liebte den schönen, fein gekleideten und freundlichen Henri mit dem schmalen Schnurrbart.
    Louis suchte die Gesellschaft seines Herrn und seine zurückhaltenden Liebkosungen. Er spürte das Sehnen in den braunen Augen des Mannes und die gleichzeitige Scheu, zu viel von sich preiszugeben. Die Liebe, die Henri empfand, war nicht verboten. Verboten war jedoch, sie mit körperlichem Verlangen zu vergiften, wenn der Wunschpartner minderjährig oder nicht willens war. Louis war weder das eine noch das andere, aber woher sollte Henri Tousseur es wissen? Doch als das Sehnen unerträglich wurde und Louis die Liebe so deutlich zu erwidern schien, ließ Henri Tousseur seine Vorsicht fallen. Er ging abends nicht mehr in die Hinterhöfen abgelegener Herrenhäuser, wo die Tür keineswegs in den Kohlekeller hinab führte. Er nahm ihn auch nicht dorthin mit, sondern blieb bei ihm. Als Henri sich geliebt fühlte, schien eine Wandlung in ihm vorzugehen und er empfing manchen Besuch nicht mehr - auch nicht Timothèe, dem er einen schönen Tag wünschte, eher er ihm die Tür vor der Nase zuknallte. Stattdessen widmete er sich Louis in der Weise eines Mannes, der um die Hand einer Dame anhalten würde.
    Louis träumte abends in seinem Bett noch von der gemeinsamen Bootsfahrt zwischen den grünen Schleiern der Trauerweiden hindurch, von den heißen Küssen auf seinem Nacken im Schutz des Blättervorhangs. Davon, wie er sich zu seinem Herrn umgedreht hatte und die Luft zwischen ihnen dahinschmolz wie das Eis am Ufer zwischen dem Schilf. Louis war glücklich, als sie küssten. Doch wie gut sie sich auch vor fremden Blicken meinten verborgen zu haben - die Augen des Ordens sahen, dass Louis sein Ziel erreicht hatte. Und Timothèe erinnerte ihn mit einem codierten Schreiben an den zweiten Teil des Auftrags, den er im Boot versäumt hatte, zu erfüllen.
    Es war, als würde Louis aus einem Traum erwachen, als er das Schreiben las und die doppelte Bedeutung all der Worte erkannte. Er konnte im ersten Moment nicht begreifen, dass all das nicht real sein sollte, dass er nicht real sein sollte - dass Louis nur eine Maske war. Dass sein Name in Wahrheit Pascal lautete, der seine erste Exekution auszuführen hatte. Seine erste große Liebe - sie musste sterben.
    Pascal war es, der Henri in seinem Schlafgemach besuchte und Angst vor einem Unwetter vorschützend zu ihm unter die Decke kroch. Und als Henri Tousseur die erlösende Umarmung um den Jungen schlang, der ihm wochenlang Komplimente unterbreitet hatte, der süß wie Honig lächelte und sich für jede Aufmerksamkeit mit glühenden Wangen bedankte, da spürte er einen kleinen Stich in seiner Flanke. Kälte breitete sich von dieser Stelle aus und er schien ihn innerlich zu vereisen, das Eis seinen Organismus zum Stillstand zu zwingen. Seine Lungen wollten nicht mehr arbeiten. Sein Herz wollte nicht mehr schlagen. Sein Kopf wurde ihm schwer.
    Die gläserne Spitzampulle mit dem Gift noch in der Hand haltend wartete Pascal, bis Henris Herzschlag endgültig verstummt war. Er wand sich unter ihm hervor und überprüfte anhand der erloschenen Vitalfunktionen, dass der Tod auch wirklich eingetreten war. Er zog sich an und lautlos huschte er von dannen. Er verließ das Haus, rannte hinaus in die Kälte, folgte der Straße dorthin, wo die Kutsche wartete. Der Stählerne Lotus empfing ihn. Nie hatte Timothèe so fremd auf ihn gewirkt. Nie Pascal sich selbst so fremd gefühlt.
    Pascal reichte seinem Mentor die abgebrochene Spitzampulle.
    »Gut gemacht«, sagte Timothèe. »Du hast deinen Auftrag erfüllt und die Büttel haben heute Nacht den ganzen Ring ausgehoben. Unsere Zuarbeit hat ihnen das ermöglicht, darauf kannst du stolz sein. Du hast dafür gesorgt, dass um Henri Tousseur kein Aufheben gemacht wurde, sondern er still und leise an einem Herzanfall verschied. Das erspart seinen Verwandten die Schmach eines Prozesses und die öffentliche Hinrichtung. Es gibt Familien, bei denen ist das wichtig. Zum Beispiel dann, wenn ihre nahen Verwandten selbst zum Stählernen Lotos gehören.«
    Pascal konnte nicht antworten, denn Louis in ihm wand sich vor innerer Qual. Louis hatte Henri geliebt. Pascal versuchte, seiner Persona die Schuld an der Exekution zuzuschieben. Er selbst konnte nichts dafür, Louis war es gewesen! Er selbst hatte Henri auch nicht geliebt oder dieser ihn. Pascal war unschuldig, mit ihm hatte das nichts zu tun, alles war die Schuld von dem heuchlerischen Louis! Mit nassen Wimpern sah Pascal zum Fenster der fahrenden Kutsche hinaus. Egal, was er sich einredete, die Quintessenz war ernüchternd. Henri Tousseur hatte den Tod gefunden, der sich in Gestalt eines hübschen Jungen zeigte, bis die Maske fiel und das grauenhafte Wesen zum Vorschein kam, was sich dahinter verborgen hatte, ausgebildet, um zu lügen und zu töten. Die Exekution durchgeführt hatte nicht Louis, denn dieser war nur ein Dienstbursche. Pascal war der Henker. Mit vierzehn Jahren hatte er seinen ersten geplanten Mord durchgeführt. Was auch immer Henri sonst verbrochen hatte, all die Dinge, die Timothèe zusammengetragen hatte - Pascal trieb der naive Gedanke um, dass er ihn davon hätte heilen können.
    Als er weinte, drückte Timothèe ihm eine dicke Mappe in die Hand - die Akte Louis, die heute mit seinem Abschlussbericht geschlossen wurde und in den geheimen Archiven des Ordens verschwand. Genau wie die von Henri Tousseur, deren letzter Eintrag noch zu machen war.
    »Glückwunsch.« Timothèe küsste ihn auf die Schläfe.
    Pascal hatte seine praktische Prüfung bestanden. Er war nun ein Stählerner Lotos, der sich zu voller Blüte entfaltet hatte, süßen Nektar in sich trug und eine Giftspinne, die zwischen zartrosa Blättern lauerte.

  • Lämmer jagen keine Wölfe


    Das Nobelviertel, in dem das Herrenhaus von Henri Tousseur stand, lag außerhalb von Beaufort auf einem Berg. Timothèe wies den Kutscher an, eine ruhige Strecke zu wählen und sich Zeit zu lassen. Anstelle von lautem Rumpeln, wenn die Räder über die gepflasterten Hauptstraßen rollten und alles an der Kutsche klapperte, tönte nur das leise Knirschen von getrampelter Erde, als sie über die Feldwege zurück in Richtung Stadtzentrum fuhren. Die Hufe der beiden Pferde klopften dumpf wie schlagende Herzen. Erst am Ende der Fahrt erklang wieder das charakteristische Geklapper, als sie über die gut ausgebauten Straßen der Innenstadt fuhren.
    Bei Sonnenaufgang kamen sie zu Hause an und Timothèe verabschiedete den Kutscher, während Pascal schon zur Tür ging. Der Garten empfing ihn mit dem Geruch feuchter Erde, aus der sich zu beiden Seiten der moosigen Gehwegplatten die Frühblüher schoben. Weiße Schneeglöckchen öffneten unter den kahlen Büschen ihre porzellangleichen Kelche. Vom Dach hingen tropfende Eiszapfen, die in der Morgensonne schmolzen und vom Friedhof her erklang der Gesang einer Amsel. Für Henri Tousseur war es der letzte Frühling gewesen und der Sommer würde ohne ihn Einzug halten. Es war seltsam, wie ungerührt das Leben weiterging, wie wenig es die Welt kümmerte, dass soeben ein Mensch umgebracht worden war. Sie drehte sich weiter, als wäre nichts geschehen.
    Timothèe zog den Schlüsselbund aus der Tasche, die Türangeln quietschten, die verwaisten Spinnweben streckten sich. Der vertraute Geruch alter Teppiche stieg ihnen aus dem Korridor entgegen. Sie gingen in die Küche und Timothèe deckte den Tisch. Pascal war inzwischen wieder vollständig er selbst. Das Bewusstsein, dass Louis nur eine Persona gewesen war, die nun für immer ad acta lag, war ganz in ihm angekommen. Aber das Erlebte zu verarbeiten, würde dauern. Keine noch so gute Ausbildung konnte ihn auf das Gefühl vorbereiten, einen Menschen getötet zu haben.
    Feindselig musterte er seinen Mentor, als sie am Frühstückstisch saßen. Vieles war ihm während der Fahrt durch den Kopf gegangen und er war zu Schlussfolgerungen gelangt, die ihm ganz und gar nicht schmeckten.
    »Wie fühlt man sich als erblühter Lotos?«, fragte Timothèe leichthin und säbelte eine Scheibe frisches Schwarzbrot ab, das er unterwegs beim Bäcker gekauft hatte.
    »Das müsstest du doch am besten wissen«, antwortete Pascal patzig. Sein Brettchen war leer, er hatte keinen Appetit.
    Timothèe legte ihm die Brotscheibe darauf. »Dann frage ich konkreter. Wie fühlst du dich, nachdem du Henri Tousseur um die Last seines Daseins erleichtert hast?«
    Die Last seines Daseins. Henri hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde er sein Leben als Belastung empfinden. Pascal ließ das Brot unangetastet und wollte auch nichts trinken. »Traurig und wütend.«
    Timothèe nickte. »Das passiert. Trauer ist ein Zeichen dafür, dass Persona und Person nicht strikt genug voneinander getrennt wurden. Die emotionale Spaltung ist dir noch nicht abschließend gelungen, sie muss besser werden.« Er säbelte eine zweite Scheibe ab, die er mit weißem Frischkäse bestrich. »Was die Wut betrifft, kann ich dir nicht ganz folgen. Auf wen bist du wütend? Auf dich, den Mörder, oder auf Henri, der seine Finger nicht von dir lassen konnte und darum starb?«
    Pascals Blick blieb hart. »Auf dich.«
    »Auf mich!« Timothèe gluckste und biss von seiner Schnitte ab. »Du erkennst das Gefühl hoffentlich als das, was es ist: eine Projektion. Dein Verstand kann den Gedanken nicht ertragen, einen Menschen exekutiert zu haben. Darum weist du alle Schuld von dir und schiebst sie einem anderen zu. Es ist ein Schutzmechanismus, ein Resultat deiner schlechten Trennung. Wenn, dann hätte Henri deinen Zorn verdient oder meinetwegen Louis. Dass es irrationalerweise mich trifft, sollte dir zu denken geben. Aber unerklärlich ist es nicht, wenn man die Fallstricke der Psyche kennt. Oft trifft eine Projektion jene, denen wir am nächsten stehen. In dem Fall mich. Liebe und Hass liegen näher beieinander, als viele glauben, auch wenn manche behaupten, sie seien zwei Enden einer Skala. Ich sage, sie liegen auf dem selben Ende, dem der Affekte - und auf dem anderen liegt die Vernunft.«
    »Ich habe durchaus vernünftige Gründe, ausgerechnet wütend auf dich zu sein.«
    »Weil ich die Schuld daran trage, dass Henri Tousseur geisteskrank war?«, fragte Timothèe amüsiert. »Und daran, dass man als Stählerner Lotos eine Prüfung zu absolvieren hat? Alles meine Schuld?«
    »Ich bin nicht dumm, Timo, behandle mich nicht wie einen Narren. Wenn ich sage, meine Wut hat vernünftige Gründe, dann hat sie das auch.«
    »Dir ist also bewusst, dass ich nichts für das kann, was heute Nacht geschehen ist. Dass ich keine Schuld an der Beseitigung des Mannes trage.«
    »Richtig. Das sind Interna des Ordens. Nichts dergleichen ist der Grund meiner Wut auf dich.«
    Timothèe ignorierte den lauernden Blick seines Schülers, legte seine halb verzehrte Schnitte auf sein Brettchen und schenkte sich ein Glas frischer Ziegenmilch ein. Pascal wartete darauf, dass Timothèe fragen würde, warum er also auf ihn wütend sei, doch das tat er nicht. »Wie war es, Henri Tousseur zu töten?«, fragte er stattdessen.
    Der Stich saß. Geradezu beiläufig und in den Deckmantel väterlicher Sorge verborgen, ein verbaler Dolch. Pascal hatte die Herausforderung ausgesprochen und wurde nun als Gegner behandelt. Mit einer einzigen Frage bekam er demonstriert, wie sehr Timothèe zu verletzen verstand und dass er sich dazu nicht anzustrengen brauchte. Die mitschwingende Botschaft in dieser Frage war mehr als nur Hohn - sie war eine Warnung. Das Spiel mit den Waffen der Rhetorik würde sein Schüler verlieren. Wenn Timothèe das wollte, würde er Pascal binnen weniger Minuten in einen Nervenzusammenbruch hineinreden.
    Während Timothèe ihn bewusst verletzt hatte, konzentrierte Pascal sich auf die Sachebene, seine bevorzugte Taktik, wenn es um verbale Auseinandersetzungen ging. Alle Emotionen außen vor zu lassen und sich auf den Inhalt zu fokussieren, anstatt den Stich mit gleicher Waffe zu erwidern.
    »Ich bin als erblühter Lotos nicht länger dazu verpflichtet, deine Fragen zu beantworten«, informierte er Timothèe. Ihm fiel auf, dass er den Vergleich mit einer blühenden Blume abstoßend fand. ›Als erwachsene Lotosspinne‹ würde es besser treffen.
    Timothèe nickte. »Sobald du deine Urkunde vorliegen hast, bist du das nicht mehr. Sie liegt dir allerdings noch nicht vor und du hast auch noch nicht deinen Diensteid vor dem Duc geleistet. Aber seit wann reden wir auf diese Weise miteinander, Pascal? Seit wann kommst du mir mit Formalien, wenn es um ein privates Gespräch geht und seit wann versuchst du dich in solchen Spielchen? Wir haben uns immer gut verstanden. Also, was liegt dir wirklich auf der Seele? Du wolltest mit mir deine erste Nacht verbringen.«
    Und noch ein Dolch, der seine Wirkung nicht verfehlte, verpackt im Mantel väterlicher Fürsorge. In diesem Moment wurde Pascal bewusst, wie leicht Timothèes die Kunst der Manipulation von der Hand ging.
    »Wir haben keine Seele.«
    Timothèe ließ sich von Pascals halbherzigem Gegenschlag nicht verunsichern. »Was liegt dir auf dem Herzen?«
    »Eine Frage, Timo.«
    »Nur zu«, ermunterte Timothèe ihn und trank einen Schluck Milch. Er leckte sich die weißen Lippen. Der Mann speiste, als sei es ein Morgen wie jeder andere, während sein Schüler mit einer Exekution klarkommen musste. Pascal wurde seine eigene Machtlosigkeit vor Augen geführt, die Routiniertheit seines Mentors, seine eigene Schwäche. Vermutlich, weil Timothèe genau wusste, worauf sein Schüler in seinem Zorn hinauswollte. Die Natternzunge hatte es von Anfang an gewusst, wie die Frage lauten würde und warum Pascal zornig war.
    »Was hast du eigentlich mit diesem Ring zu schaffen gehabt?«, fragte Pascal daher ohne weitere Umschweife. Die beiden Akten - jene der Persona Louis und jene ihres Ziels - lagen auf der Ecke des Esstischs. Er wies mit dem Kopf in ihre Richtung. »Das sind Unmengen an Daten über den Ring, in dem Henri Mitglied war. Woher weißt du das alles, wie hast du diese Informationen beschafft?«
    Timothèe schenkte sich Milch nach. »Auf dem üblichen Weg, durch Recherche«, antwortete er. »Sprechen wir offen miteinander, von Lotos zu Lotos. Es war eine Operation der Kategorie E, sehr anspruchsvoll und auf eine Zeitdauer von circa zehn Jahren ausgelegt. Keine schnelle Symptombekämpfung, sondern nachhaltige Ermittlungsarbeit. Eine vollständige Zerstörung der Organisation bis auf den letzten kleinen Informanten war das Ziel. Und ich war erfolgreich. In den nächsten Wochen wird eine öffentliche Massenhinrichtung stattfinden. Der gesamte Ring, das war mein Ziel - und deine darin integrierte Prüfungsaufgabe war das Mitglied Henri Tousseur. Hoffentlich nicht überfordernd, aber anspruchsvoll genug, als dass die Leitung unseres Ordens mit Respekt auf dich blicken wird. Du warst in der Höhle des Löwen und hast ihn allein geködert und die notwendige Exekution ohne Hilfe durchgeführt. Es war eine sehr gute Arbeit, Pascal. Das hält dir in Zukunft viele Möglichkeiten offen, was deine Karriere im Orden anbelangt.«
    »Es ging bei meiner Frage nicht um mich, sondern um dich. Recherche also, Infiltration. Du bist dort gewesen. Seit Beginn deiner Ermittlungen hast einen der ihren gespielt. Solche detaillierten Informationen hier«, Pascal nickte erneut in Richtung der Mappe, »bekommt man nicht anders. Du hast eine etliche Seiten lange Liste mit Namen und Adressen erstellt, mit Decknamen und Klarnamen, mit individuellen Vorlieben und sogar Zeichnungen ihrer Gesichter angefertigt, Grundrisse, Skizzen der Geschehnisse. Du warst selbst ... ein Teil des Ringes.«
    Endlich hörte Timothèe auf, sich seinem Frühstück zu widmen. Er schob das Brettchen und das Glas beiseite. Vor sich auf dem Tisch verschränkte er seine Finger und beugte sich etwas nach vorn.
    »Mein lieber Pascal«, sprach er ernst. »Die Aufgaben eines Stählernen Lotos sind Infiltration, Informationsbeschaffung und gegebenenfalls Exekution, wenn es unauffällig geschehen soll anstelle eines Großeinsatzes der Büttel. Um Wölfe zu jagen, kann man kein Lamm sein.«
    »Du hast es also getan«, hakte Pascal nach. »Die Verbrechen, für die andere auf einem Pfahl landen. Auch du hast sie begangen. Verstehe ich das richtig, du bist also keinen Deut besser als Henri Tousseur oder seine Spießgesellen?«
    »Falsch verstanden«, antwortete Timothèe. »Du hast mir nicht zugehört. Ich bin nicht wie sie, ich bin noch schlimmer. Henri war krank im Kopf. Ich hingegen handelte im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, plante jeden Schritt und wurde Teil des Ringes, um ihn schlussendlich zu sprengen. Das ist nicht das Werk eines Irren. Ich war einer der führenden Köpfe des Ringes, habe die Treffen geplant und die Lokalitäten dafür organisiert. Und selbstredend erlangt man diese Position nicht, wenn man den Zuschauer mimt. Es hat Jahre gedauert, bis sie mir vertrauten. Und dass sie es am Ende taten, hat ihnen das Genick gebrochen.«
    Pascal starrte ihn an wie vom Donner gerührt. »Du bist ein Kinderschänder, Timo.«
    Timothée zeigte nicht das geringste Zeichen von Erschrecken, Scham oder Reue. »Ich sagte dir doch, dass es sich für dich nicht lohnt, den Mann hinter der Maske kennenzulernen. Es ist kalt und dunkel dort, das waren meine Worte. Hast du sie beherzigt? Nein, das hast du nicht. Was hast du geglaubt, meinte ich mit Kälte und Dunkelheit? Depression, Selbstzweifel, Schlafstörungen und ähnliche Wehwehchen der Schwachen?« Timothèe lachte. »Nichts davon plagt mich. Warum auch? Der Stählerne Lotos ist kein Orden von Bettelmönchen. Und ich bilde dabei keine Ausnahme. Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt. Möchtest du immer noch mit mir schlafen?«
    Pascal schloss einen Moment die Augen, als er versuchte, seine Fassung zu wahren.
    »Wirst du Timothèe nun sterben lassen?«, fragte er. »Dein Auftrag ist erledigt, der Ring ist Geschichte. Es wäre Zeit für eine neue Persona. Und Zeit dafür, dass du den Lotos unter der Maske einmal wieder zu Atem kommen lässt. Seit zehn Jahren bist du zu jeder Stunde, jeder Minute, nur Timothèe. Ein Mann, der Schreckliches tat. Du wolltest von Lotos zu Lotos mit mir sprechen, aber ich kenne ihn noch immer nicht.«
    Sein Mentor schüttelte den Kopf. »Ich brauche Timothèe weiterhin. Der Ring ist gesprengt, aber seine Aufgaben sind damit noch nicht erledigt.«
    Pascal dachte sich seinen Teil. Für ihn sah es eher so aus, als ob Timothèe sich ein wenig zu wohl in seiner Rolle fühlte.
    »Hast du je versucht ... diesen Auftrag abzulehnen?«, fragte Pascal so ruhig wie möglich.
    »Nein, warum sollte ich? Dank meiner Arbeit ist ein Ring von Kinderschändern ausgehoben worden bis auf den letzten Mann und die letzte Frau. Ja, auch Frauen waren unter den Tätern. Die noch lebenden Mädchen und Jungen werden in diesem Moment in einem geheimen Tempel medizinisch versorgt. Es geht ihnen so gut, wie es ihnen nach solchen Erfahrungen gehen kann. Sie erhalten eine zweite Chance und dieser Ring wird keine Kinder mehr quälen. Das ist sicher nichts, wofür ich mich zu schämen brauche.«
    »Werden die Kinder anschließend zurück zu ihren Eltern gebracht?«
    »Eltern? Wo denkst du hin. Das sind Heimkinder oder Straßenkinder, die niemand je vermisst hat. Von der Sache her wäre es völlig gleichgültig gewesen, ob sie leben oder sterben. Niemand braucht sie, niemand vermisst sie. Solche Kinder enden als Obdachlose, als Säufer und Drogenabhängige, als Freudenmädchen und Lustknaben, bestenfalls als Tagelöhner. So sieht die Realität aus. Das Leben im Ring ist kaum schlimmer das Elend, was sie ohnehin erwartet hätte. Sie zu retten war ein zwiespältiger Akt der Wohltätigkeit, beileibe keine Notwendigkeit. Und einige Mitglieder, wie Henri Tousseur, waren doch richtig lieb, nicht wahr? Oder hatte es dir nicht gefallen in seinen Armen? Die väterliche Wärme zu spüren, die du von mir nie bekommen hast?«
    Pascal gab sein Bestes, seine Fassung zu wahren, doch Timothèe machte es ihm nicht leicht. »Du hast also kein schlechtes Gewissen«, hakte Pascal nach. »Nicht mal ein bisschen.«
    »Pascal, wie naiv bist du eigentlich. So ein schlauer Kopf, aber doch reicht es nicht für die simpelsten Schlussfolgerungen, kaum dass sie deinen Moralvorstellungen widersprechen. Moral ist die Mauer, die vor der Wahrheit steht. Um die Wahrheit zu erkennen, musst du darüber stehen. Hätte ich den Auftrag nicht angenommen, hätte es ein anderer Lotos. Und meinst du, die Aufträge, die ansonsten für uns ausstehen, sind harmloser, moralischer, in irgendeiner Form besser? Man kann solche Randerscheinungen der Gesellschaft natürlich ignorieren, könnte so tun, als wäre die Welt in Ordnung, wenn man ihre Schmutzecken gekonnt übersieht. Der Orden des Stählernen Lotos tut das nicht. Und wir taten gut daran, genau hinzusehen, wo andere betreten wegschauen. In Obenza gibt es einen Zirkel von Menschenfressern. Was glaubst du, müsste man tun, um ein solches Übel an der Wurzel zu packen? Einer unserer Lotos hat es getan. Er lebt dort als Arbogast, entbeint die Geschlachteten, schneidet sie in die Pfanne und hat die Ehre und Freude, mit den Menschenfressern von ihnen speisen zu dürfen. Oder was glaubst du, tut Vittorio an der Front? Mit den Naridiern Tee trinken und einen netten Plausch halten? Er spießt sie auf, ballert ihnen Armbrustbolzen in die Eingeweide, bringt die Kriegsgefangenen zum Reden. Es kann nie schaden, auch seine Verbündeten im Blick zu behalten; er beobachtet die Heeresleitung der Ledvigiani für die souvagnische Krone. Das erfolgreiche und regelmäßige Töten von Menschen verschafft ihm die Legitimation, stets dort dabei zu sein, wo der Krieg am heftigsten tobt, ungefiltert von beschönigenden Berichten durch hochrangige Offiziere. Und im Gegensatz zu dir, der einem verurteilten Kriminellen einen sanften und geradezu genüsslichen Tod verschaffte, muss Vittorio Soldaten umbringen. Männer, die nichts anderes tun, als für ihr Land zu kämpfen. Mehr noch, durch seine Arbeit verrät er Ledwick, das Land, das er von ganzem Herzen liebt. Da fällt mir ein - war das nicht der Beruf, den du ergreifen wolltest? Krieger? Immer noch erpicht darauf, nachdem du das erste Mal Blut vergossen hast?«
    »Ich will überhaupt kein Stählerner Lotos mehr sein«, sprach Pascal mit brüchiger Stimme.
    Timothèe schmunzelte. »So ist das Leben. Schau in den Spiegel und denk über meine Worte nach. Was hättest du an meiner Stelle getan? Würdest du all die Verbrecher da draußen weiter ungestört ihren Machenschaften nachgehen lassen? Würdest du sie ignorieren und wissentlich zulassen, dass weitere Menschen leiden? Oder würdest du deine Moralvorstellungen beiseiteschieben und die Zähne zusammenbeißen, um für das Richtige einzustehen? Welcher Weg ist hier wirklich der Moralischere, Pascal?«
    »Es muss einen besseren Weg geben. Einen anderen Weg, auf dem man nicht zu einem Monster werden muss, um die Wölfe zu jagen.«
    »Nein, den gibt es nicht, Pascal«, antwortete Timothèe. »Den haben andere vor dir schon gesucht.«
    »Und wer? Du etwa? Das ich nicht lache! Ich möchte aus dem Orden austreten, ich will damit nichts mehr zu tun haben!«
    Timothèe nickte. »Wie du wünschst. Das Austreten aus dem Orden geht ganz schnell und unbürokratisch. Du hast Zutritt zu unserem Alchemielabor. Such dir eines der Gifte aus.«
    Pascal starrte ihn an. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht?«
    »Nein«, antwortete Timothèe. »Tu, was getan werden muss, oder sterbe. Es war ein anstrengender Tag. Du solltest Louis nun vernünftig zu Grabe tragen zusammen mit der Schuld, die auf ihm lastet. Schließe mit ihm ab und fülle seine Sterbeurkunde aus. Sie liegt in der Akte. Ich habe sie für dich bereits unterzeichnen und beglaubigen lassen, es fehlt nur noch das Datum. Jeder beendete Auftrag bringt seine Verluste mit sich, Pascal. Du wirst diese Persona nicht mehr tragen müssen. Geh auf dein Zimmer und weine dich aus, gönn dir einen Schuss aus dem Labor oder geh in die Stadt und lenke dich ab.«
    »Ich hatte keine Ahnung, mit wem ich unter einem Dach wohne«, sprach Pascal mit bebender Stimme. »Meine Klapperschlange im Keller ist noch die beste Kreatur in diesem Haus!«
    Mit Pascals Selbstbeherrschung war es endgültig vorbei. Er stürmte weg vom Tisch, zog sich Jacke, Mütze und Schal über, holte seine Geldkatze und rannte hinaus in die Nacht.
    Pascal fand Caillou, wo er immer war, wenn er nicht arbeitete, am Umschlagplatz für die Fuhrwerke, wo er am helllichten Tage mit einer Schnapsflasche in der Hand inmitten der Obdachlosen stand. Optisch war er inzwischen kaum noch von ihnen zu unterscheiden, sein Gesicht war voll roter Bartstoppeln, sein Haar ungewaschen und er stank auf mehrere Meter Entfernung bereits nach Alkohol, Rauch und Schweiß. Er bemerkte Pascal zunächst nicht, da er gerade mit Antoine herumblödelte. Pascal packte ihn am Arm und zog ihn mit sich zu der einsamen Bank unter dem Wegweiser. Caillou ließ es wie immer ohne Gegenwehr geschehen und setzte sich.
    »Was ist denn los, Calli?«, fragte er. »Du siehst ja grauenhaft aus.«
    Pascal nahm ihn ohne zu antworten in die Arme und heulte in seinen orangefarbenen Schal hinein. Es war ihm egal, ob Caillou stank, es war ihm egal, ob er schlechte Manieren hatte. Caillou hatte schon vor Jahren verstanden, was ihm erst heute bewusst geworden war. Er ließ seine Tränen laufen.
    »Hey, ist ja gut«, brummte Caillou und streichelte seinen Rücken. »Ist ja gut.«

  • Sichtwechsel


    Caillou wohnte zusammen mit seinem Zwillingsbruder Camille in einer kleinen Villa. Von außen war sie, wie das Haus von Timothèe, heruntergekommen, um den Wohlstand der Zwillinge zu verbergen. Nur sehr viel bunter war es und Pascal konnte sich vorstellen, wie Caillou und Camille sich über die mintgrünen Wände, die dunkelroten Fensterrahmen und die bunten Säulen freuten, als sie ihr Quartier zugewiesen bekommen hatten. Das würde gut zu den beiden lebensfrohen Gemütern passen. Während Caillou in seiner Hosentasche nach der Schlüsselkette wühlte, schaute Pascal sich weiter um. Schriftzüge und Krakeleien waren in die blaue Farbe der Tür geritzt, meist Jahreszahlen oder irgendwelche Abkürzungen, die nur ihr Schöpfer zu deuten vermochte. Der Putz der beiden bunt bemalten Säulen neben dem Eingang bröckelte ab, als er ihn berührte. Das Glasfenster der Tür war von innen zugenagelt worden, so wie die Fenster des Erdgeschosses, um neugierigen Augen keinen Einblick zu gewähren und den Eindruck der Verwahrlosung zu unterstreichen.
    Caillou zog den Schlüssel an der Kette hervor und öffnete die Tür.
    »Komm rein, hier kannst du erstmal ausruhen«, sagte er und schloss hinter ihnen sorgfältig die Tür ab. Im Gegensatz zu ihrer Optik hörte die Tür sich beim Zuschließen sehr solide an und das Schloss war wohl nicht ohne weiteres zu knacken, auch nicht für jemanden von ihrer Zunft. Mit geübter Hand entzündete Caillou anschließend zwei Kerzen, die auf von Wachs tropfenden Wandhalterungen befestigt waren, um den düsteren Flur zu erhellen. Der Flur mit der bunt geblümten Sitzgruppe, die vom Sperrmüll geholt worden zu sein schien, war gesäumt von Unrat.
    »Die obere Etage gehörte Camille, in der unteren habe ich mich häuslich eingerichtet«, erklärte Caillou, während er den Schlüssel wieder in die Hosentasche stopfte und die Stiefel gegen Hausschlappen tauschte. Anschließend schubste er mit dem Fuß auch zwei Schlappen zu seinem Gast hinüber. »Die Wohnküche im Erdgeschoss nutzen wir gemeinsam, so wie den Balkon unter dem Dach. Aber jeder hat seine eigene Wohnung mit einem eigenen Badezimmer samt Klo. So können wir zusammen wohnen, aber gehen uns nicht gegenseitig auf den Zeiger. Willkommen.«
    »Danke, Caillou. Ich wüsste sonst nicht, wohin ich gehen soll.«
    »Hey, dafür sind Freunde da.« Er zwinkerte ihm zu und ging voran.
    Auch die Wohnhäuser der Lotos spiegelten das Schichtensystem ihrer Persönlichkeiten wieder. Es gab eine Fassade für die Passanten und einen darauf abgestimmten Flur, falls doch mal jemand an der Tür klingelte. Derjenige sah dann in der Regel einen Flur, der nach einem Haus voller Schaben und Flöhe aussah, so dass er es normaler Weise von sich aus nicht betreten wollte. Diese äußerste Schale war das Haus der Persona.
    Wenn man aber die Türen öffnete, die vom Flur abzweigten und die Persona daheim abstreifte, zeigte sich, wie der Lotos lebte. Die Zwillinge ließen es sich hinter ihren Türen gut gehen. Wären sie wirklich nur Feuerwehrleute, hätte diese nobel eingerichtete Villa mit ihren hohen Decken und den farbigen Fresken ihren Ruin bedeutet. Nichts passte zusammen, zumindest nicht in Caillous Wohnung, aber teuer sah es trotzdem aus. Teuer, bunt, unordentlich und gemütlich, das war der Eindruck, den seine Wohnung auf Pascal machte.
    Der Keller jedoch war Privatbereich des Menschen, der unter all den Schichten noch irgendwo lebte, noch unter dem offiziellen Lotos. Jeder von ihnen hatte seine Geheimnisse, seinen Rückzugsort nur für sich, sobald er ein eigenes Quartier besaß. Pascal vermied es, auch nur in Richtung der Treppe zu blicken, die hinabführte. Was man da unten aufbewahrte oder trieb, blieb auch für die Gäste aus dem Orden geheim. Pascal kannte nicht einmal den vollständigen Keller von Timothèes Haus.
    Caillou brachte ihn zu dem Sofa in seinem Wohnzimmer, wo er ihn hinsetzte, so wie sonst Pascal ihn auf die Bank unter dem Wegweiser gesetzt hatte. Anschließend verschwand er in der Wohnküche, um etwas zu Trinken zu holen.
    Pascal zog die Schlappen aus und legte sich hin. Da niemand es sah, wischte er sich über die Augen, dann wandte er die gelernten Meditationstechniken an, um sich zu beruhigen. Er schluckte alles herunter und wollte Louis die Schuld in die Schuhe schieben, da dieser den Köder gespielt hatte. Doch letztlich war Pascal es gewesen, der Louis beauftragt hatte, Pascal, der sich aus dem Jungen herausgeschält hatte um Henri das Gift zu injizieren. Henri, der in diesem Augenblick überhaupt kein Verbrechen begangen hatte, nicht Louis gegenüber. Louis war ein Mann gewesen, und mochte er noch so jung aussehen. Henris wahre Verbrechen standen in der Akte verzeichnet, sie waren Pascal nicht unbekannt, doch gab ihm etwas das Gefühl, dass Henris Liebe zu Louis so groß gewesen war, dass er für ihn aufgehört hätte. Henri war nicht mehr auf den Treffen gewesen, seit es zwischen ihnen begonnen hatte zu knistern und hatte seinen gleichgesinnten Bekannten keinen Zutritt mehr zu seinem Haus gewährt. Louis hätte Henri heilen können, davon war Pascal überzeugt.
    Caillou kam mit zwei Schüsslen heißer Biersuppe wieder. Pascal roch Schwarzbier und Rinderbrühe. Sie war jedoch nicht transparent, sondern trüb. Die Brühe war über heiße Apfelstücken und Brotwürfel gegossen. Und als er den ersten Löffel schlürfte, schmeckte er an Gewürzen Salz und Muskat, aber auch eine gute Portion Zucker. Auch wenn das Rezept im ersten Moment merkwürdig angemutete, offenbarte sich, dass die Biersuppe ziemlich köstlich schmeckte, herb und süß zugleich und dabei unwahrscheinlich würzig.
    »Da sind mehrere Eigelbs reingerührt, damit sie schön satt macht, drum sieht sie so trüb aus«, erklärte Caillou. »Zerlassene Butter ist auch drin. Und ich hab dir auch noch einen Löffel Sahne drangegeben. Du hast abgenommen, du kannst das vertragen. Ich habe mehrere Rezepte durcheinandergehauen, weil ich nicht alle Zutaten da hatte, aber ich hoffe, sie schmeckt trotzdem.«
    Nichts blieb übrig und als Pascal fertig war, leckte er den Teller sauber, ehe er sich wieder auf dem Sofa lang streckte und in ein braun gemustertes Kissen kuschelte. Er war froh, dass er bei Caillou sein konnte. Er mochte ein unhöflicher, ungepflegter Hitzkopf sein, aber er war für ihn da, als er einen Freund brauchte.
    »Du siehst fertig aus«, fand Caillou. »Komm mit rüber und hau dich aufs Ohr.«
    Willenlos folgte Pascal ihm in Socken ins Schlafzimmer, warf seine Jacke über einen Stuhl, kontrollierte, ob seine Kleider schmutzig waren und als das nicht der Fall war, legte er sich in Caillous Bett. Wie in seinem eigenen zu Hause waren auch hier alle Fenster geschlossen und der Raum dunkel. Caillou deckte ihn zu und wollte gehen, doch eine Hand hielt ihn zurück.
    »Bitte bleib«, bat Pascal.
    Caillou musterte sein Gesicht. Vermutlich sah Pascal grauenvoll aus, denn Caillou kroch zu ihm unter die Decke und nahm ihn kurzerhand in den Arm. Pascal schmiegte sich an ihn, roch seinen typischen Geruchscocktail aus Lagerfeuerrauch, Schweiß und Alkohol und heute beruhigte ihn, was er sonst als Gestank empfunden hatte. Pascal schloss die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf.
    Er wachte irgendwann auf, weil Caillou ins Bad ging. Als er wiederkam, hatte sich seinen Geruch verändert. Er duftete nun nach Seife, hatte die feuchten Haare nach hinten gekämmt und trug eine frische Unterhose. Ansonsten trug er nichts. Wie alle Rothaarigen hatte er sehr weiße Haut. Sein kupferfarbenes Körperhaar hatte weder Schere noch Rasiermesser gesehen. Auf diese Weise bettfertig gemacht legte er sich erneut zu Pascal, allerdings in einigem Abstand, um weiterzuschlafen.
    Pascal aber wollte keinen Abstand, er rutschte wieder an ihn heran und schob sich erneut in seine Arme. Caillou ließ ihn gewähren, doch seine Muskeln spannten sich, als er versuchte, die Situation richtig zu deuten. Er konnte nicht wissen, welche Art von Trost Pascal suchte und normalerweise lag man auch unter Freunden nicht nur mit einer Unterhose bekleidet Arm in Arm. Pascal sorgte dafür, dass er es auf die richtige Weise verstand. Er schob seine Nase neben die von Caillou, wartete und als Caillou nicht auswich, legte er seine Lippen auf seinen Mund.
    Es war anders als mit Vittorio. Es waren nicht ihre Personae, die einander liebten, sondern die zwei jungen Lotos. Caillou mochte auf der Straße ein Flegel sein, im Bett war er es nicht. Nach anfänglicher Zurückhaltung, bis klar war, dass sie beide Lust auf mehr hatten, war er sehr verspielt. Er zwickte Pascal mit den Zähnen und sie tobten im Bett herum. Pascal konnte endlich wieder lachen. Es tat gut, mit Caillou zu rangeln, herumzublödeln und zu schmusen, ehe Caillou zwischen seinen Beinen niedersank. Sie liebten sich voller Leidenschaft und als es an der Zeit war, wechselten sie. Für diese Zeit vergaß Pascal all seine Sorgen und er lernte Caillou von einer Seite kennen, die er ihm nicht zugetraut hatte - einer anständigen, liebevollen und hilfsbereiten Seite. In dieser Nacht hatte er die Art von Nähe, die Timothèe ihm gewünscht hatte, frei von Verpflichtungen, ohne jeden Hintergedanken, purer Genuss mit einem Menschen, der ihm nahestand. Und ihm fiel ein, dass sein Mentor ihm damals Caillou vorgeschlagen hatte, ehe Pascal sich für Vittorio entschied. Timothèe hatte sie von Anfang an richtig eingeschätzt. Eng ineinander verschlungen schliefen sie erneut wieder ein.
    Am nächsten Morgen klopfte es.
    »Caillou?«, rief jemand vor der Schlafzimmertür. »Wir müssen los!«
    Pascal und Caillou grinsten einander müde an.
    »Ich bin krank«, rief Caillou fröhlich.
    Camille schob seinen weißblonden Schopf zur Tür hinein. Als er die beiden erspähte, schüttelte er seufzend den Kopf. »Ich hole deine Entschuldigung beim Heiler ab. Wunschkrankheit und Krankheitsdauer?«
    »Irgendwas Unheilbares und lebenslang.«
    »Mann, ich hab`s im Gegensatz zu dir eilig«, blaffte Camille.
    »Erkältung, eine Woche.«
    »Geht klar, bis heute Abend.« Damit verschwand Camille.
    Caillou küsste Pascal. »So. Nun haben wir ein paar Tage für uns, in denen du wieder genesen kannst.«
    Pascal blieb nicht nur diese Woche. Einige Monate später, zur Sommersonnenwende, an einem Tag, an dem die Luft vor Hitze flimmerte und das Gras gelb war von der staubtrockenen Erde, gaben sie sich, nur zu zweit und ohne Gäste, in einem Tempel das Ja-Wort. Hitze, in ihren Herzen und über dem Land.

  • Das Kapitel spielt einige Monate voher - zu der Zeit, als Pascal die Persona "Louis" spielte. Ich habe es allerdings erst jetzt verfasst, weshalb es an dieser Stelle erscheint. In der finalen Version der Geschichte wird es vor dem Kapitel "Louis" stehen.



    1



    Feuerherz
    191 nach der Asche. Herbst. Wildnis nördlich der souvagnischen Grenze.


    Ein einsamer junger Mann stapfte durch die von der Sonne verbrannte Steppe. Dass es der Zeit nach schon Herbst sein sollte, merkte man hier noch nicht. Die Luft flimmerte vor Hitze und nirgends gab es Schatten, nur ein endloses Meer von vertrocknetem gelbem Gras. Nur wenige konnten dieser kargen Einöde das Nötigste zum Überleben abringen. Andere wussten sich anderweitig zu helfen. Die Steppe war das Territorium der Rakshaner, die seit Monaten die nördlichen Lehen ausplünderten, doch der Wanderer trug die sommerliche Reisekleidung eines Souvagners, wenn auch ziemlich verstaubt vom stundenlangen Marschieren. Eine dünne Kapuze schützte sein Haar vor dem wehenden Sand und ein gemustertes Tuch verdeckte Nase und Mund. Die Verschleierung diente zum einen dazu, den Staub aus der Atemluft zu filtern und zum anderen entsprach es den rakshanischen Vorstellungen von Anstand, als Mann sein Gesicht zu verschleiern, auch wenn der Rest des Körpers um diese Jahreszeit nahezu nackt belassen wurde. Mit der gleißenden Sonne hatten die dunkelhäutigen Rakshaner keine Probleme, ganz im Gegensatz zu Caillou mit seiner weißen Haut. Lange Kleidung sollte den Schaden in Grenzen halten.
    Caillous Rucksack war so schwer, dass er sich ein Packtier gewünscht hätte, doch in der Nähe der Rakshaner war es schwierig, ein solches unter Kontrolle zu halten. Dem allgegenwärtigen Raubtiergeruch ihrer Reithyänen hielten nur ausgebildete Schlachtrösser stand, ohne durchzugehen, und ein solches besaß er nicht.
    Ein Hyänenreiter zeigte sich auf einer Sandwehe und beobachtete ihn aus der Ferne. Ruhig, gelassen. Er wusste, dass Caillou ihm hier weder entkommen noch gefährlich werden konnte. Ein großer Hund vermochte einem Menschen schon in Angst zu versetzen, doch die Hyänen der Rakshaner waren so groß wie kleine Pferde.
    Als Caillou weitermarschierte, näherte der Reiter sich mit seinem Tier im Trab. Als er den Fremdling fast erreicht hatte, blieb er ein weiteres Mal mit seinem Tier stehen und schaute ihn sich aus einigen Metern Entfernung an. Er schien zu überlegen, was er nun tun sollte. Anhand seines muskulösen Körperbaus und der Narben auf seiner braunen Haut war zu vermuten, dass es sich um einen Krieger handelte, der als Späher patrouillierte. Er trug keine Rüstung, war aber mit einem Hornbogen bewaffnet, der am Sattel der Hyäne bereit hing, ebenso mit einem knöchernen Krummdolch. Die Pfeile trug er in einem Köcher am Gürtel. Auf der nackten Brust baumelte an einem Lederband ein Silberlöffel, dessen kunstvoll verzierter Griff seine souvagnische Herkunft verriet. Womöglich war der ehemalige Besitzer des Löffels auch der Besitzer des Pferdes gewesen, aus dessen Fell der Lendenschurz des Rakshaners hergestellt worden war. Hinter ihm auf dem Sattel festgezurrt entdeckte Caillou nun ein Bündel Feldhasen. Vielleicht war er auch nur auf der Jagd gewesen.
    Caillou blieb nun ebenfalls stehen. Er grüßte den wartenden Reiter auf rakshanische Weise, indem er mit den Fingerspitzen gegen den verschleierten Mund tippte und dann gegen seine Stirn. Nach einem Moment der Verwunderung erwiderte der Rakshaner die Geste und stieg ab. Zu Fuß kam er heran, während seine Hyäne wartete.
    »Grüße von mir zu dir. Wie ist dein Name, Wanderer?«, erkundigte er sich.
    »Ich heiße Fajrokoro«, stellte Caillou sich auf Rakshanisch vor. Der Name bedeutete Feuerherz. Wie alle Lotos beherrschte er die beiden Weltsprachen in allen Dialekten und zudem Demonai. »Grüße auch von mir zu dir.«
    »Eskir Kilat«, stellte sich nun auch der Rakshaner vor.
    ›Eskir der Blitz‹, übersetzte Caillou gedanklich. Die meisten Rakshaner trugen bildhafte Namen.
    »Wohin führt dich dein Weg?«, erkundigte Eskir sich. »In diese Richtung erwarten dich Gefangenschaft und Tod. Besser, du kehrst um.«
    »Die Richtung stimmt. Ich möchte zu deinem Tarrik.«
    »Khawa Steppensturm empfängt keine almanischen Gäste«, antwortete Eskir bedauernd und es wirkte tatsächlich so, als ob es ihm aufrichtig leid tat und er sich für die nicht erwiesene Gastfreundschaft schämte.
    »Es wäre zu unser beider Vorteil, wenn er es würde. Wir beide dienen dem selben Gott«, informierte Caillou ernst.
    Eskir starrte wie vom Donner gerührt an. »Ich diene Rakshor nicht.«
    »Äh, was?«, fragte Caillou verwundert. »Und Khawa?«
    »Kein Rakshaner dient Rakshor. Rakshor verabscheut Sklaverei. Weißt du denn nicht, dass er selbst einst Sklave der Tamjid war, ehe er sich und uns alle befreite und sich zur Göttlichkeit erhob? Wir ehren ihn, ja, aber wir sind nicht seine Diener.«
    »Wieder was gelernt, Rakshor dient man nicht, man ehrt ihn«, sinnierte Caillou. »Wir wissen wenig über euch. Ich hatte mich extra belesen und mache scheinbar trotzdem alles falsch. Bringst du mich nun zu Khawa? Ich habe einen ganzen Rucksack voller Geschenke für ihn.«
    »Das wird ihn nicht überzeugen. Es kann sein, dass er dich nicht mehr gehen lässt, wenn du den Standort unseres Zeltdorfes gefunden hast.«
    »Töten lassen wird er mich nicht?«
    Eskir zuckte mit den Schultern. »Wenn die Hyänen Hunger haben oder er die Geschenke haben will, ohne mit dir reden zu müssen, dann vielleicht. Ich sagte ja, kehre besser wieder um. Aber ich kann dich ja nicht zwingen.«
    »Das Risiko ist es mir wert. Ich denke, nach einem kurzen Gespräch wird er seine Meinung ändern.«
    »Das kann schon sein«, gab Eskir freimütig zu. »Aber in deinem Rucksack könnte sich alles Mögliche befinden, darum empfängt er eigentlich keine Boten in seinem Zeltlager und schon gar nicht persönlich. Höchstens außerhalb durch einen Sprecher. Du könntest zum Beispiel die Köpfe von Pestkranken mit dir tragen, um uns alle anzustecken. Alles schon erlebt und selber ausprobiert. Auf die Weise haben wir Festung Eyshamary geknackt. Aber wenn es dir so wichtig ist ... lass mich mal nachsehen. Dann schaue ich, ob ich ein gutes Wort für dich einlegen kann.«
    Vermutlich wollte der Kerl vielmehr prüfen, ob der Inhalt für ihn selbst lohnenswertes Diebesgut war. Andererseits hatte Caillou keine wirkliche Wahl, wenn er sein Vorhaben wie geplant umsetzen wollte. So setzte er den Rucksack ab und öffnete ihn. Eskir durchwühlte das Hauptfach und alle Seitentaschen. Anschließend tastete er Caillou ab und überprüfte seine Kleidung. Kurz darauf zog er ein mechanisches Feuerzeug aus Caillous Hosentasche und schaute es sich interessiert an.
    »Das ist nur ein Feuerzeug, kein Mordinstrument«, antwortete Caillou, doch der Rakshaner spielte damit herum und testete, wie es funktionierte.
    »Khawa kann dich nicht empfangen«, bekräftigte Eskir und ließ die kleine Flamme einige Male hervorzüngeln. Er wollte das Feuerzeug als Wegezoll.
    »Du kannst das Feuerzeug behalten, ich habe noch ein zweites«, sprach Caillou daher freundlich.
    »Vielleicht hat Khawa doch Zeit für dich«, antwortete Eskir und ließ das Feuerzeug in einem kleinen ledernen Gürtelbeutel verschwinden. »Folge mir. Khawa soll sich einfach selber anschauen, ob er deine Geschenke möchte.«
    Caillou folgte Eskir, der mit seiner Hyäne voran trottete, durch die Steppe. Nach zwei weiteren Stunden erreichten sie das Zeltlager. Die Zelte hatten nicht die Dachform, wie sie souvagnischen Zelten eigen waren, sondern waren halbkugelförmig und ziemlich unordentlich und verstaubt. Einige verschwanden zur Hälfte unter Sand und Gras, das darüber wuchs. Sie standen hier wohl schon eine Weile. Während in einem souvagnischen Feldlager alle Zelte in Reih und Glied standen, waren diese hier alle durcheinander und jedes sah anders aus.
    Die Hyänen keckerten und schnupperten in Caillous Richtung. Wenn ein solches Tier auf einen unbewaffneten Mann losging, hatte dieser keine Chance. Und Caillou roch fremd, nach Eindringling. Eskir schickte sein eigenes Tier nun fort und führte den Gast die Trampelpfade entlang, die sich gebildet hatten. Die frei laufenden Hyänen mussten von ihren Besitzern scharf zurechtgewiesen werden, damit sie Abstand zu ihm hielten und manche wurden nun mit Erdankern festgepflockt, da sie nicht hören wollten. Diese Hyänen waren aggressiver als jene auf dem Markt. Es waren reine Kampfhyänen, die nicht in einem Zeltlager mit herumlaufenden Kindern leben konnten. Ihre Mäuler waren so groß, dass Caillous Kopf mühelos hineingepasst hätte und die Zähne so groß und dick wie angespitzte Kerzen. Während diese Tiere in Souvagne bestenfalls in einem Bestiarium bewundert werden konnten, da sie als unzähmbar galten, lebten die Rakshaner mit ihnen, als seien es nur zu groß geratene Hunde. Caillou wurde zu einem Lagerfeuer geführt, wo sich nach einer Weile des Wartens der Anführer des Trupps einfand.
    Die Gruppe, mit der er sich näherte, trug allesamt verschiedenfarbige Turbane mit Gesichtsschleier und dazu Lendenschurze aus Fell, die bis zu den Knien reichten. Hals und Oberarme waren mit Ketten geschmückt, an denen bisweilen merkwürdige Gegenstände als Schmuckstücke hingen. Einer hatte sich abwechselnd Muttern und Abstandhalter für Schrauben aufgefädelt, ein weiterer lauter erbeutete Ohrringe, ein noch minderjähriger Junge trug eine getrocknete Kröte um den Hals, die offenbar als Zwischenmahlzeit dort hing, denn sie war angeknabbert. Einige Ketten waren aber auch hübsch und aus bemalten Knochenperlen gefertigt.
    Khawa Steppensturm unterschied sich optisch kaum von seinen Männern. Er trug eine Kette aus dunklen Raubtierkrallen, vermutlich von Riesenhyänen stammend, die sich einmal locker um das Halsstück seines Turbans zog und bis auf Schultern und Brust reichte. Auch um die muskulösen Oberarme trug er mit Krallen verzierte Lederbänder gewickelt. Seine Haut war gleichmäßig hellbraun getönt und seine Augen genau so hell. Wimpern und Brauen waren ebenfalls braun. Es war ersichtlich, warum man ihn Khawa nannte - Kaffee. Er warf Eskir einen durchdringenden Blick zu, war aber zu anständig, dessen Handlung vor dem Fremden zu kritisieren.
    »Ich habe unseren Gast Fajrokoro durchsucht, Khawa«, erklärte Eskir entschuldigend. Dafür, dass er hier mit dem Anführer eines berüchtigten Plündertrupps sprach, klang der Tonfall sehr vertraut, fast flapsig. Caillou gefiel das. Auch freute er sich darüber, dass Eskir ihn als Gast bezeichnet hatte und somit darauf verwies, dass er ihn nicht als Gefangenen hergebracht hatte.
    »Ich trage einen Rucksack mit Flüssigem Feuer auf meinem Rücken«, sprach Caillou an Khawa gewandt. »Geschenke für Euch, Khawa Steppensturm, dem sein Name vorauseilt.« Er verneigte sich so tief es der Rucksack erlaubte.
    Khawa beachtete ihn nicht, sondern wandte sich wieder an Eskir. »Du hast sein Gepäck und seine Kleidung durchsucht?«
    »Die Durchsuchung war vollständig, es ist alles in Ordnung. Er hat auch keine Pestbeulen und keine Pocken oder Blattern.«
    Khawa nickte knapp. Erst jetzt sprach er mit Caillou persönlich. »Warum bringst du mir Geschenke, Fajrokoro und warum trägst du einen rakshanischen Namen? Und hör auf, mich mit Ihr anzusprechen. Ich bin offensichtlich keine Gestalt aus zusammengewachsenen Zwillingen, sondern nur eine einzige Person.«
    Als Caillou sich in der Absicht, sich zu entschuldigen, erneut verneigte, erhielt er gleich den nächsten Anraunzer.
    »Und hör auf, Eskir dauernd deinen Arsch zu zeigen.«
    Caillou beschloss, dass es am besten war, einfach stehen zu bleiben und auf weitere Gesten zu verzichten. »Verzeihung, es ist in meinem Land üblich, sich zu verneigen, wenn man sich gegenüber einem Vorgesetzten entschuldigt und war nicht als Beleidigung gedacht. Es kommt nicht wieder vor. Ich komme zu dir, weil ich fühle, dass meine Seele rakshanisch ist. Mein eigenes Volk ist mir fremd. Die Rakshaner auf der Kirmes haben mir Rakshor nahegebracht. Ich wusste sofort, das ist mein Gott und mein Volk. Und darum bin ich hier.«
    »Für einen Rakshaner hast du ziemlich souvagnische Manieren.« So wie Khawa das sagte, war das kein Kompliment. »Aber unser Volk steht jedem offen. Wir weisen niemanden ab, denn Rakshors Funke schlummert nicht nur in den Menschen aus unserem Land. Rakshor selbst war ein Mischling aus Tamjid und Almane. Das Chaos kann in jedem schlummern. Hierauf kommt es an.« Als Khawa auf sein Herz tippte und damit unbeabsichtigt die selbe Geste verwendete, wie Caillou sie oft nutzte, wusste dieser, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Du musst allerdings beweisen, dass es dir ernst ist. Entweder durch Heirat oder durch deine Taten als Krieger an unserer Seite. Du musst das Blut deines eigenen Volkes vergießen, damit wir sehen, dass du uns keine Lügen erzählst. Wenn du nur heiraten willst, stehen die Chancen allerdings auch gut. Eine Frau, die eine Weißhaut in ihrem Harem hält, genießt Ansehen und du hast sogar grüne Augen. Zwar nicht blau, aber grüne sind auch sehr selten hier. Frisches Blut hat noch keinem Volk geschadet. Almanen sind bei einigen von unseren Frauen sehr beliebt.«
    Unter seinem Schleier grinste Caillou gequält. Dass bei den Rakshanern die Frauen sich die Männer erwählten und ganze Harems hielten, wenn es ihnen möglich war, davon hatte er schon gehört. Viele Männer bedeutete, viele Plünderer in der Familie zu haben, um die Versorgung sicherzustellen. »Eure Frauen sind sicher wunderschön. Ich möchte mich allerdings lieber als Krieger beweisen. Bitte sieh dir meine Geschenke an.«
    »Unsere Frauen sind nicht nur schön, sie sind auch klug und geschickt. Doch nicht jedem ist der Weg als Mann eines Harems beschert. Und der Weg des Kriegers ist zweifelsohne ebenso nützlich.«
    Khawa nickte Eskir zu. Der half dem Gast nun, seinen schweren Rucksack abzusetzen und öffnete ihn für seinen Anführer. Als Eskir die Schnüre löst und der Rucksack auseinander sank, kamen lauter volle Glasflaschen zum Vorschein, in denen eine transparente Flüssigkeit schwamm, die auf den ersten Blick wie Wasser aussah.
    Khawa lächelte spöttisch. »Das ist nicht dein Ernst, Fajrokoro. Das mag bei Waldalben funktionieren oder bei Arashi. Dass du mir hochprozentigen Alkohol wie einem Idioten als ›Feuerwasser‹ unterzujubeln versuchst, fasse ich als Beleidigung auf. Mir sind die Tücken von Schnaps bekannt, ich lasse mich nicht abfüllen und dann zu Dummheiten hinreißen. Pack deinen Rucksack und verschwinde, bevor ich dir deine Flaschen geöffnet in den Hintern stopfe.«
    Caillou schüttelte den Kopf. »Du missverstehst mich, aber ich hatte ja auch noch gar nichts weiter dazu gesagt. Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, dass ich auf eurer Seite stehe. Euch abzufüllen ist nicht der Sinn meines Geschenks. Erlaubst du mir, den wahren Zweck zu demonstrieren?«
    Khawa überlegte kurz, dann nickte er.
    Caillou zog eine der Flaschen hervor. »Dann bitte ich alle, ein paar Schritte zurückzutreten und den Kreis zu erweitern.« Während die Rakshaner der Bitte nachkamen, entkorkte Caillou die Flasche, tränkte einen Stoffstreifen mit Alkohol und stopfte ihn in die Öffnung. Dann entzündete er ihn und hielt die brennende Flasche über seinen Kopf empor.
    »Eine Lampe«, stellte der Junge mit dem Frosch um den Hals erfreut fest. »So was wie eine Fettlampe, nur mit Schnaps! Das ist hübsch!«
    Caillou aber schleuderte die Flasche inmitten der Feuerstelle, wo sie an einem Stein zerbarst. Ein Brüllen erklang aus den Flammen und das Feuer blähte sich zu einem lodernden Ball auf, der eine Hitzewand in alle Richtungen schob. Einige der Rakshaner fielen nach hinten auf das Gesäß, doch da zog sich der Feuerball schon wieder zusammen.
    »Feuerwasser«, wiederholte Caillou.
    Khawa, der noch auf den Füßen stand, starrte fasziniert in das Lagerfeuer, das wieder unschuldig vor sich hin flackerte. Schnapsbrennerei beherrschten die Rakshaner so wenig wie das Keltern von Wein oder das Brauen von Bier. Ihr einziges alkoholhaltiges Getränk bestand aus vergorener Milch. Dieser Trick, der für einen Souvagner so einfach war, machte auf Khawa großen Eindruck.
    »Das Feuerwasser macht seinem Namen alle Ehre«, sprach Khawa. »Ich wusste nicht, dass es tatsächlich brennen kann. Ich habe mich in dir getäuscht. Das ist ein gutes Geschenk.« Er nickte anerkennend. »Aber es genügt nicht, um zu beweisen, dass du wahrhaftig ein Jünger des Rakshor bist.«
    »Nein«, bestätigte Caillou und zog ein zusammengefaltetes Papier aus einer Seitentasche. »Darum sind aller guten Dinge drei. Hier ist Nummer zwei für dich.«
    Er hielt Papier in Khawas Richtung. Nach kurzem Zögern nahm der Rakshaner ihm das Papier aus den Händen. Khawa faltete es gerade auseinander und starrte darauf. Er starrte so lange, dass Caillou sich fragte, ob er überhaupt erkannte, was das war, oder ob er es für ein abstraktes Gemälde hielt.
    »Es ist eine Detailkarte der nördlichen Lehen von Souvagne«, erklärte Caillou daher. »Das Lehen vom Comte de la Cantillion, aus dessen Haus auch Massimo de la Cantillion stammt, der euch das Leben hier schwer macht. Ein harter Brocken ist dieser Mann, ein erbitterter Streiter Ainuwars. Doch was nützt ihm alle Tapferkeit, wenn List und Tücke seine Gegner sind? Das Lehen seiner Familie schließt die beiden Chevalier-Lehen Brisay und Dupont ein. Insbesondere die Topografie von Dupont, das genau an der Grenze liegt, dürfte für dich von Interesse sein.«
    Khawa antwortete noch immer nicht, da er auf die Karte starrte, als wolle er sie auswendig lernen. Wahrscheinlich spielte er gerade gedanklich verschiedene taktische Möglichkeiten durch, die sich aus dem, was er sah, ergaben.
    »Was ist ein Lehen?«, fragte er, ohne aufzusehen.
    »Äh, ein Verwaltungsbezirk. Souvagne ist untergliedert, damit jeder weiß, für welches Stück Land er zuständig ist.«
    Khawa nickte, sah allerdings nicht aus, als ob er das wirklich begriffen hatte.
    »Und einen letzten Beweis werde ich erbringen, damit du siehst, wie ernst es mir ist«, sprach Caillou feierlich. »Ich persönlich werde teilhaben an eurem nächsten Raubüberfall, wenn du es gestattest. Nun bin ich zwar weder ein ausgebildeter Krieger noch ein Hyänenreiter, doch ich werde euch anderweitig unterstützen. Wenn es etwas gibt, mit dem ich mich auskenne, dann ist es Feuer. Ich führe die Flammen wie andere das Schwert. Ich werde mithilfe der gefüllten Flaschen das Feuer so legen, dass es euer mächtigster Verbündeter wird. Gewähre mir diese eine Gelegenheit, meine Treue unter Beweis zu stellen und dein Trupp wird reich beladen mit Beute wieder heimkehren. Doch am wichtigsten ist, dass ihr am Ende um einen machtvollen Verbündeten reicher seid. Ich kann nicht immer hier bei euch in der Steppe bleiben. Doch wenn ihr mir vertraut, so werde ich euch von Souvagne aus mit allen Informationen, die ich beschaffen kann, unterstützen und wann immer möglich, auch mit der Macht der Flammen.«
    Khawa sah von der Karte auf und musterte ihn durchdringend aus seinen braunen Augen. Lange überlegte er diesmal, ehe er seine Entscheidung fällte.
    »Du wirst unser Lager bis dahin nicht verlassen«, befahl der Rakshaner. »Damit ich sichergehen kann, dass du keine Dummheiten begehst. Wir beide planen gemeinsam den nächsten Ausflug über die souvagnische Grenze. Ich höre mir an, was du zu diesem Landstrich zu sagen hast und ich erkläre dir, wie ich mir den Überfall mithilfe der Karte und deinen Feuerkünsten vorstelle. Im Kampf werden wir sehen, ob du wirklich das Blut deiner ehemaligen Brüder zu vergießen bereit bist. Bin ich nach dem Überfall mit deiner Arbeit zufrieden, ist dir mein Dank gewiss und wir sprechen über eine weitere Zusammenarbeit. Wenn nicht, schneide ich dir eigenhändig die Kehle durch.«
    »Nicht nur zufrieden ... du wirst begeistert sein«, versprach Caillou mit glühenden Wangen. »Mein Leben lege ich hiermit in deine Hände, Khawa Steppensturm.«
    Dessen Gesicht wirkte zufrieden, als er die Karte zusammenfaltete und einsteckte. Er blickte nun etwas freundlicher drein. »Damit ist es vereinbart. Such dir einen Platz in unserem Kreis, Fajrokoro, und trink mit uns einen Mokka.«

  • Eine neue Persona


    Pascal saß fast täglich bis in die Nacht hinein am Schreibtisch, um zu arbeiten. Sein Gesicht zeigte erste Falten unter den Augen und um die Mundwinkel. Der unbedingte Wille, seine Aufgabe fortzuführen, der Beste zu sein, verbrannte ihn vor seiner Zeit. Pascal wusste, dass er nicht ewig in diesem Tempo und in dieser Intensität durchhalten konnte, doch es war ihm unmöglich, sein Arbeitstempo zu drosseln. Wann immer er innehielt, spürte er die Abwesenheit von Caillou, die Lügen von Thimothèe und den Verlust von Vittorio. Seine taubengraue Schreibfeder flog über die Seiten, füllte Pergament um Pergament, goss Pascals Recherchen und Gedanken in Worte, Übersichten und Skizzen.

    Unten ging die Haustür, das angestoßene Windspiel klingelte seine Melodie, doch er arbeitete weiter. Pascal hörte, wie Camille die Feuerwehrstiefel auszog und die regennassen Sachen zum Trocknen auf einem Bügel an den Haken hängte, aber er ging ihm nicht entgegen, sondern schrieb in unvermindertem Tempo fort, als sei diese Aufgabe zu einem Wahn erwachsen. Es folgten Schritte auf der Treppe, Camille drückte die Klinke und trat in Caillous Zimmer, in dem Pascal saß. Der drehte sich nicht um.

    Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Abend.« Camille roch nach Regen und nasser Kleidung, eine würzige Geruchsmixtur, wie sie den beiden Zwillingen stets zu eigen war. Die Nuancen wechselten, mal rochen sie nach Feuer, mal nach Wasser, mal nach gebackenen Plätzchen und mal nach dem Rauch verbotener Kräuter, oft nach Wein und Schweiß, aber immer rochen sie urig.

    Pascal schrieb seinen Satz noch zu Ende und streute zum Trocknen feinen Sand über die Eisengallustinte, bevor er sich umdrehte und Camille in das Gesicht blickte. Dessen Wangen glühten von der Kälte und er grinste. Die rote Pflanzenhaarfarbe war inzwischen zu Rosè verblasst, was ihn etwas lächerlich wirken ließ, doch solche Dinge hatten ihn noch nie gekümmert.

    »Abend. Ich arbeite gerade, Milli.«

    »Ziemlich viel in letzter Zeit. Du hattest angefangen, noch bevor ich das Haus heute Morgen verlassen habe. Kann ich dir helfen?«

    Pascal schüttelte die Locken. »Genieße den Feierabend. Du hast genug zu tun mit dem Herbsthochwasser. Das hier ist nur ein bisschen Papierarbeit.«

    »Ich habe Reserven. Vielleicht brauchst du ein paar Recherchetipps? Woran schreibst du?«

    Die Frage klang beiläufig, doch das war sie nicht. Camille entging garantiert nicht, dass etwas anders war als sonst, ohne dass sein Schwager mit der Sprache herausrückte. Manchmal vergaß Pascal, dass dieser unaufgeregte Mensch mit den nun rosèfarbenen Haaren ein Lotos war, so überzeugend harmlos wirkte er. Als Camille sich über seine Schulter beugte, streute Pascal eine große Handvoll Sand über seine Aufzeichnungen.

    »Warum tust du das?«, fragte Camille. »Für mich ist dieses Werk wohl kein Geheimnis, sonst würdest du nicht zu Hause daran arbeiten sollen. Geheimhaltungsstufe B, nehme ich an. Warum darf ich es also nicht lesen?«

    Pascal blickte unwillig auf den Sand. »Es ist unfertig. Roh, unausgegoren.«

    »Wir könnten zusammen daran tüfteln. Beim Abendessen vielleicht?«

    Pascal verspürte ein schlechtes Gewissen, weil er weder gekocht noch ein Bad vorbereitet hatte, obwohl er zur Zeit den ganzen Tag zu Hause gewesen war. Er arbeitete schneller als notwendig, das Zeitpensum war großzügig. Zu viel Zeit, die ihm zur Verfügung stand, fand er. Vielleicht hatte Timothèe ihn einfach nicht mehr sehen wollen. Ihr Oberhaupt hatte so seine Phasen.

    »Kommst du mit ins Bad?« Camille nahm den Auftrag seines Bruders, sich um Pascal zu kümmern, sehr ernst. Manchmal tat er Pascal leid, weil er es ihm damit so schwer machte. So erhob der sich, drehte sich ihm entgegen und gab ihm einen Begrüßungskuss. »Willkommen daheim. Das Bad musst du allein nehmen, weil ich derweil für uns kochen werde.«

    Camille war niemals aufdringlich, doch er nahm jede Zärtlichkeit dankbar an und erwiderte sie in gleichem Maße. Doch verspürte Pascal keine Lust, dem Plan seines Mannes zu folgen und Caillou einfach durch dessen Zwilling zu ersetzen. Das hatte Caillou sich so gedacht, sich zu verdrücken und Camille den Lückenbüßer spielen zu lassen, als würde es keinen Unterschied machen.

    Während Camille sich im heißen Wasser aufwärmte, briet Pascal ihnen Rübenschnitzel mit Rahmsoße. Er konnte weder gut kochen noch würzen, es schmeckte scheußlich, aber Camille lobte das Mahl trotzdem. Anschließend saßen sie auf dem Sofa, plauderten über das Hochwasser und tranken eine Flasche Wein.

    Nachdem Camille auf dem Sofa eingeschlafen war, stand Pascal auf und ging zurück in sein Zimmer, wo er sich bettfertig machte. Das Mondlicht fiel durch einen Spalt zwischen den Vorhängen, der Regen hatte aufgehört. Er zog die Vorhänge auf und ließ das weiße Licht von Oril hinein. Rot dahinter, eine schmale Sichel heute nur, schimmerte Daibos. Die Wolken waren fort. In Schlafanzug und Morgenmantel setzte Pascal sich erneut an den Schreibtisch und entzündete eine Kerze. Vorsichtig ließ er den Sand vom Pergament rutschen, indem er es an einer Seite anhob, und kehrte mit dem weichen Handbesen alles über die Tischkante in die Sandschale. Er las das Konzept noch einmal durch.

    »Wer ist Patrice Vertcuis?«, fragte Camille über seinem Kopf. Er war so lautlos hereingekommen und hinter ihn getreten, dass Pascal zusammenschrak.

    »Meine Güte, musst du im eigenen Haus so schleichen? Das ist meine neue Persona«, antwortete er widerwillig. Es hatte keinen Sinn, das Pergament nun noch abzudecken. Camille hatte ihn garantiert erst angesprochen, nachdem er die gesamte Seite gelesen hatte.

    »Ich wusste nicht, dass du derzeit an einer arbeitest.«

    »Was hast du denn erwartet? Luis ist tot. Ich benötige eine Neue.«

    »Das heißt, dass du verreisen musst? Ich dachte, du würdest eine Weile in den Innendienst des Ordens gehen und deswegen so viel schreiben.« Camille gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu überspielen. Er klang sehr betrübt. Pascal hegte den Verdacht, dass der Zwilling ihn mehr mochte, als für ihre Situation angemessen wäre.

    »Meine Zielpersonen leben hier in Beaufort.«

    »Dann wirst du bei mir im Haus wohnen bleiben?«

    Pascal ließ die Luft langsam durch seine Nase entweichen, blinzelte, blickte auf die ebenmäßigen Buchstaben. Er spürte, dass ihm die ungesagten Worte schon länger schwer im Magen lagen. Es wurde Zeit, die Wahrheit auszusprechen. Er griff nach Camilles Hand, zog sie auf seine Schulter und wartete, bis der Zwilling sich von hinten an ihn angekuschelt hatte. »Patrice Vertcuis wird versuchen, eine Stelle bei der Leibgarde der Krone zu bekommen. Meine Zielpersonen dienen dort als Gardisten. Ich werde auf dem Palastgelände arbeiten und während der dienstfreien Zeit in einer Baracke wohnen.«

    »Verstehe. Und ich bin im Bekanntenkreis von Patrice nicht vorgesehen, nehme ich an.«

    »Nein, Milli. Diese Persona erfordert mehr Diskretion als eure beiden verlotterten Feuerwehrleute. Patrice kennt dich nicht.«

    »Sie sind so verlottert, weil wir es auch sind. Es muss ja auch ein bisschen Spaß machen, immerhin trägt man seine Persona meist über Jahre. Wer sind deine Zielpersonen?«

    »Wie das Schicksal es will, haben sich zwei Söhne der ehemaligen Agenten der Autarkie gleichzeitig in die Leibgarde verirrt. Die Frage ist, ob es sich dabei um einen bloßen Zufall handelt.«

    »Interessant. Mit der Leibgarde haben Calli und ich ja regelmäßig zu tun.« Er kicherte. »Wir kennen ihren Knast von innen, sie haben uns da mal zum Ausnüchtern eingesperrt. Timothèe hat deswegen vielleicht einen Hals auf uns gehabt. Welche beiden sind denn die Agentensöhne? Vielleicht hatten wir mit ihnen bereits das Vergnügen.«

    »Ihre Namen sind Bellamy und Boldiszàr Bovier. Sie wurden getrennt voneinander in unterschiedlichen Waisenhäusern untergebracht. Ihre Nachnamen hat man verändert; sie heißen nun Bellamy Bourgeois und Boldiszàr Boucher. Dafür, dass sie angeblich nicht wissen, dass der jeweils andere ihr leiblicher Bruder ist, stehen sie sich für den Geschmack des Ordens zu nah. Sie beide dienen in der Leibgarde und sind miteinander befreundet. Zwei Agentensöhne, bewaffnet, so nah an der Krone? Das muss untersucht werden. Womöglich hat ihnen jemand zugesteckt, dass sie Brüder sind. Und vielleicht noch ein paar Informationen mehr, wie ihre Familie durch den Befehl der Krone zu Tode kam zum Beispiel. Wenn es nach unserem Oberhaupt ginge, würde er sie beide aus Sicherheitsgründen ohne Untersuchung durch mich kaltstellen lassen.«

    »Aber?«

    »Auch unser Oberhaupt muss sich an seine Anweisungen halten.«

    Plötzlich verließ Camille das Zimmer.

    Erstaunt sah Pascal ihm nach. Er zögerte nur kurz, ehe er ihm die Treppe hinab in den Flur folgte.

    Allerdings war Camille nirgends mehr zu sehen. Nicht in seinem eigenen Raum, der kaum weniger bunt gestaltet war als der von Caillou, nicht in der Essküche und nicht im Wirtschaftsraum. Allerdings hatte auch nicht das Windspiel geklingelt, das, genau wie die Glocken in Timothèes Haus, verhinderte, dass jemand sich unbemerkt hinein oder hinaus begeben konnte. Unschlüssig stand Pascal im mit Sperrmüll vollgestellten Flur herum. Sein Blick fiel auf den dreckigen Teppich mit den nassen Stiefelabdrücken. Er packte ihn an den Fransen. Als er ihn anhob, öffnete sich dadurch die daran festgeklebte Falltür.

    Pascal spähte hinab in das schwarze Kellerloch, aus dem süß duftende Rauchschwaden emporstiegen. Er war dort unten noch nie gewesen. Der Keller war der persönlichste Bereich des Hauses eines Lotos. Zwar wohnte er hier, doch das Haus gehörte noch immer den Zwillingen. Nicht einmal den Keller von Timothèe hatte er zur Gänze erforschen dürfen, obgleich er in dessen Haus gewohnt hatte. Nur wenige Türen waren zugänglich gewesen und der Rest nicht mit Methoden zu knacken, die er kannte. Natürlich hatte er es versucht.

    Die Zwillinge teilten einen gemeinsamen Keller, so wie sie alles teilten. Caillou teilte ja sogar seinen Mann, ohne diesen gefragt zu haben. Pascal war von außen hinzugekommen und hatte sich den familiären Gesetzen der Brüder untergeordnet. Dazu gehörte auch, deren häusliche Intimsphäre in Gestalt ihres Kellers nicht zu betreten. Doch nun hatte er das Gefühl, Camille folgen zu müssen.

    Pascal stieg hinab in den süßen Rauch. Dabei ließ er die Falltür über sich lautlos wieder zuklappen. Auf ein Licht verzichtete er, um sich nicht zu verraten. Eine Hand beließ er an der Wand. Stufe um Stufe stieg er tiefer, während seine Finger über den kalten Stein glitten. Er roch durch die duftenden Schwaden auch den beißenden Gestank einer Öllampe. Nein, der Geruch war ein anderer ... Kerzen, aber kein Bienenwachs ... oder war es doch eine Öllampe? Fast erinnerte der unpassende Gestank ihn an Bratenfett.

    Aus einer Türöffnung am Ende des Ganges fiel ein Lichtkegel. Dankbar, wieder etwas sehen zu können, näherte Pascal sich extrem langsam, um keinen Laut zu verursachen. Mit dem Rücken zu ihm stand Camille vor einem imposanten Wandschrein, dessen Hauptbestandteile bunt bemalte Knochen zu sein schienen, die ein großes Gemälde umrahmten. Auf den ersten Blick war nicht zu sagen, welcher Spezies sie gehörten. Die Schlafkleidung hatte Camille abgelegt. Nackt stand er vor dem Schrein und hantierte mit dem Räucherwerk. Für einen Moment spürte Pascal Triumph, weil er sich für das Anschleichen revanchieren konnte und betrachtete die Szene. Eine männliche Gestalt prangte auf dem Gemälde, vielleicht ein Almane. Sie war nur vordergründig menschlich, denn ihre Zähne entsprachen denen eines Raubtiers. Die Halbmaske, die ein Schädel war, ließ den Mund frei. Mit seinem Raubtiergebiss fraß der Mann gerade an einem Herzen.

    Jetzt erahnte Pascal auch, welchen Geruch die Kerzen verströmten. Das war Tierfett, hoffentlich nichts Schlimmeres. Das war irgendein Kult, doch welcher? Plötzlich fuhr Camille herum und starrte Pascal in die Augen.

    »Sieh an«, sprach Pascal deutlich, um sich selbst Mut zu machen. »Wer von euch beiden ist der Kultist? Du? Oder Caillou?« Falls seine Vermutung zutraf, dann waren sie es beide, doch er legte nach wie vor wert darauf, die Zwillinge als Individuen zu behandeln, so dass er diese Option anbot.

    »Wir beide ehren Rakshor«, antwortete Camille ruhig. »Ich wollte ihm gerade ein Opfer anbieten, damit er Caillou wieder zurück nach Hause schickt.«

    Pascal lachte trocken und machte sich bereit zum Kampf. »Ein Opfer. Mich?«

    »Unsinn. Warum sollte ich dich opfern wollen? Du bist der Mann meines Bruders.« Camille öffnete den Mund, als wolle er noch etwas sagen, was er jedoch herunterschluckte.

    »Und was noch?«, hakte Pascal nach. Als Camille näher kam, wich er zurück.

    Camille blieb stehen, das Gesicht ungläubig verzogen. »Warum weichst du mir aus? Ich bin nicht dein Feind! Passe ich nicht für Caillou auf dich auf?« Er rang nun sichtlich um Beherrschung. »Versuche, es aus meiner Warte zu sehen. Ich habe nie Eltern gehabt, unser Mentor war ein Arsch und mein Bruder ist seit längerer Zeit in der Fremde unterwegs. Freunde hat ein Lotos nicht, wie du weißt. Außer Caillou hatte ich niemanden, der mir nahe stand. Du bist der Einzige, der mir im Moment noch geblieben ist. Aber nun wirst auch du mich verlassen. Wen außer Rakshor sollte ich um Hilfe bitten? Timothèe, den Duc? Ainuwar, den die Geschicke der Menschen nicht scheren? Und du weichst mir aus, als würde ich dir etwas Böses wollen. Alles, was ich wollte, ist, nicht mehr allein zu sein!«

    Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

    »Denk mal darüber nach. Selbst den Agentensöhnen, die du observieren wirst, geht es besser als uns. Bellamy und Boldiszàr haben ihren Bruder an der Seite, auch wenn sie es vielleicht nicht wissen. Sie führen ein normales Leben, obwohl ihre Väter Hochverräter waren. Wir, obgleich wir gute Menschen sind, die dem Land und dem Orden treu dienen, wissen nicht einmal, wer unsere Eltern sind! Ob sie noch leben oder ob wir Waisen sind. Das Wissen zu sammeln von allem, was in diesem Land geschieht, ist unser Handwerk. Aber über uns selbst wissen wir überhaupt nichts.«

    Camille setzte sich auf das Hyänenfell, das vor dem Wandschrein ausgebreitet lag, und ließ den Kopf sinken. Der Auftrag, auf den Mann seines Bruders achtzugeben, war alles, was ihm von Caillou geblieben war. Aber Pascal machte es Camille nicht nur schwer, sondern würde sich nun ebenfalls vollständig seiner Reichweite entziehen und Camille allein zurücklassen in diesem leeren Haus.

    Pascal trat auf das Fell, das sich dicht und borstig anfühlte. Er ließ sich neben ihm nieder. »Ich weiß, wie es ist, einsam zu sein. Jeder Lotos weiß das. Ich muss meine Pflicht so gewissenhaft erfüllen wie du, aber ich will versuchen, dir auf die einzige mir mögliche Weise trotzdem etwas zu helfen. Wie betet man zu Rakshor?«

    Camille wischte sich die Tränen weg und Pascal meinte, ein schmerzliches Grinsen zu sehen. Eindeutig, Camille grinste. Dann ergriff er das die Initiative, das erste Mal überhaupt war er nicht nur Beiwerk.

    Er küsste Pascal wie ein Verdurstender und als Pascal über ihm lag, riss er ihn mit den Fäusten an den Haaren und schrie beim Höhepunk. Von seiner sonstigen Zurückhaltung war keine Spur. Kaum war Pascal wieder etwas zu Atem gekommen, riss Camille ihn erneut auf sich und nahm weder auf seine Haut noch auf seine Haare Rücksicht. Als Camille mittendrin zu schluchzen anfing, nur um ihn dann erneut zu küssen, bis er fast erstickte, wurde es Pascal zu viel. Er hielt ihm zuliebe durch, aber es dauerte eine Weile, bis Camille ihm das Gefühl gab, dass er nun wieder hinauf in die Wohnung gehen dürfe, während der traurige Zwilling zurückblieb. Pascal flüchtete regelrecht.

    Er hatte erst die Hälfte der Treppe zurückgelegt, da hörte er ihn wieder schluchzen. So konnte Pascal ihn nicht alleinlassen. Erneut stieg Pascal hinab und fand Camille der Länge nach auf dem Fell ausgestreckt und so bitterlich weinend, als sei Caillou nicht verreist, sondern verstorben. Langsam wurde Pascal mulmig.

    »Sag mal, wo genau ist Caillou denn überhaupt? Ist er in Gefahr?« Er reichte seinem Schwager ein sauberes Stofftaschentuch aus seinem nun zerrissenen Schlafanzug.

    »Noch tiefer könnte jemand kaum in Gefahr stecken.« Camille schnäuzte sich geräuschvoll. »Aber ich darf nichts sagen.«

    Pascal hockte sich neben ihn. »Deswegen also deine Angst. Aber lass dir eines gesagt sein: Nicht nur du liebst Caillou. Er ist mein Mann. Er und ich haben uns nicht ohne Grund das Ja-Wort gegeben. Er vertraut mir und ich vertraue ihm.«

    »Dann vertraue auch seiner Entscheidung und frage nicht weiter nach. Es gibt gute Gründe, warum jemand in Unwissenheit belassen werden sollte. In dem Fall dient es deiner Sicherheit. Was wäre ich für ein Schwager, dich durch solches Wissen in Gefahr zu bringen?«

    »Es hat mit diesem Kellertempel hier zu tun, nicht wahr? Camille! Das kann nicht euer Ernst sein.«

    »Lass uns nach oben gehen. Kein Wort zu irgendwem.«

    Camille löschte die Kerzen und das Räucherwerk und begleitete Pascal nach oben. Er folgte ihm zurück in Caillous Zimmer, wo er sich nackt auf ihr Ehebett legte, als sei das nun sein Platz. Bisher hatte er die Nächte in seinem eigenen Bett verbracht, aber scheinbar gedachte er das nun zu ändern. »Wann wirst du gehen, Pascal? Und wer wirst du unter diesem neuen Namen sein?«

    »Als Patrice werde ich jemand sein, der all die Dinge verkörpert, die ich als Pascal verabscheue.«

    Camille verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute wenig begeistert. »Wie willst du so jemanden vernünftig verkörpern? Du kennst die Richtlinien. Man soll jemanden spielen, mit dem man sich identifizieren kann und der einem leicht von der Hand geht.«

    Pascal winkte unwirsch ab, weil er nicht daran denken wollte, dass Timothèe vielleicht im Herzen wirklich ein so verabscheuungswürdiger Mann war. Pascal würde beweisen, dass man sehr wohl überzeugend eine Persona verkörpern konnte, die man selbst innerlich ablehnte. Es war alles eine Frage des Willens.

    »Für mich ist es kein Spiel, Camille. Nenne es Katharsis. Ich werde mich meinen Abneigungen stellen. Ich werde verkörpern, was ich niemals sein will. Ich werde sein, was ich hasse und jeder wird mir glauben, dass ich tatsächlich dieser Mann bin. Ich habe in letzter Zeit eine Theorie aufgestellt. Sie lautet: Erst dann, wenn ein Lotos die Persona frei von allen charakterlichen Einschränkungen und Vorbehalten wählen kann, erst dann, wenn er sein kann, was immer er will, ist er wirklich erblüht. Es ist eine kühne These, doch ich halte sie für wahr. Ich glaube nämlich, dass es sich bei Timothèe so verhält. Wer auch immer er ist, derjenige hat nichts damit zu tun, was er uns vorspielt. Ich werde das empirisch beweisen. Du wirst sehen, auch mir wird das gelingen. Und am Ende werde ich all das Schlechte, das ich dargestellt habe, einfach unbeschadet abstreifen wie einen abgetragenen Mantel.«

    Camille klopfte neben sich auf das Bett. »Du hast dir viele Gedanken gemacht. Leg dich zu mir. Erzähl mir von dieser Persona, die du hassen wirst. Wer ist Patrice? Warum magst du ihn nicht leiden?«

    Pascal beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn erneut, wie er Caillou geküsst hätte. Zwei Tränen rannen seine Nase hinab. Er vermisste seinen Mann schmerzlich und er glaubte nicht, dass seine Trauer geringer war als die des alleingelassenen Bruders.

    Er riss sich zusammen und legte sich neben Camille auf seiner Betthälfte nieder. »Patrice ist ein Mann, dem die Natur einen scharfen Verstand gab, aber nicht die Fähigkeit, ihn zu benutzen. Er hat alles und kann nichts daraus machen. Er lässt andere für sich denken und ist Spielball der Götter. Diese Eigenschaft wird Patrice das Leben schwer machen, doch für mein Gehirn wird sie wie ein Urlaub sein. Ich werde seinen geistigen Stillstand sehr genießen.«

    »Ein ziemliches Dummerchen, dieser Patrice.«

    »Das ist er. Für einige Monate werde ich, so wie er, das Denken aufgeben und mich fallen lassen, werde sein wie jeder normale Bürger, der in seinem Alltagstrott versinkt. Und ich werde jemand sein, den auch Timothèe nur verachten kann. Jemand, der mir selbst vollkommen fremd ist, den meine Sorgen und Nöte nicht kümmern, weil er einfach in den Tag hinein lebt.«

    Pascals Stimme war voll Bitterkeit. Wenn er zurückkehrte und die höchste Meisterschaft vorwies, zu der ein Lotos fähig war, würde Timothèe anders von ihm denken.

    Camille knuffte ihn sanft. »Was interessiert dich der alte Langweiler Timo so dermaßen? Willst du ihn damit ärgern? Zeitverschwendung. Er ist kalt wie ein Fisch, es wird dir nicht gelingen. Gefühle hat der gar keine. Für ihn gibt es nur Funktionalität und Dysfunktionalität.«

    »Oh doch. Es wird ihm weh tun, mich so zu sehen, aber er wird mich für diese Leistung auch bewundern.«

    »Viel eher wirst du dir selbst weh tun als ihm! Pascal, das ist zu viel. Lass den Unsinn.«

    »Ich«, sprach Pascal, »existiere ja nicht einmal! Mich gibt es so wenig wie dich. Mein Name ist nicht Pascal und du bist nicht Camille. Dein Bruder ist nicht Caillou und er ist nicht mein Mann. Unsere Ehe ist, wie alle Verträge, die ein Lotos unter seinem falschen Namen schließt, null und nichtig. Dieses Haus gehört euch nicht, eure Namen gehören euch nicht, ihr gehört euch nicht einmal selbst. Auch der Keller ist nur Kulisse und unser Leben eine Bühne. Der Gedanke macht mich fertig, Milli.«

    »Schon, aber diese Art, damit umzugehen, bringt dich doch nicht zu einer Lösung. Die Dinge sind einfach so und du vermisst Caillou. Das ist alles.«

    »Natürlich vermisse ich ihn, das sagte ich ja bereits. Es ist so viel hochgekommen dadurch. Ich benötige eine Auszeit von all dem und da ich diese nicht haben kann, weil ein Lotos niemals Urlaub hat, brauche ich so viel Abstand zu der Illusion namens Pascal, wie es nur möglich ist! Auch ich werde gehen, auf meine Weise, wenn ich es räumlich schon nicht vermag. Ich gehe in ein inneres Exil. Pause, fertig, aus. Mit der Meisterschaft als Nebeneffekt.«

    »Du wirst davon krank werden«, mahnte Camille besorgt. »Beim Versuch, dich irgendwie in diese unpassende Persona hineinzuquetschen, wirst du zugrunde gehen.«

    »Begreifst du es nicht? Das ist doch längst geschehen. Ich bin als Pascal nur eine namentlich benannte Hülle, die Illusion einer Person, eine Menschenpuppe. Wir alle sind das. Wir sind Marionetten an den Fäden der Lotosspinne, unseres Namens und unseres Lebens beraubt. Ich kann nicht sterben, denn ich habe niemals gelebt. Es ist nichts kaputtzumachen. Ich muss das tun, um all diese Dinge für eine Zeit zu vergessen. Wenn du ein Freund bist-«

    »Ich bin viel mehr als ein Freund. Ich bin dein Mann, bis Caillou zurück ist. Ich liebe dich, Pascal. Und etwas anderes will ich nicht hören.«

    Pascal keuchte. »Warum machst du es mir dann noch schwerer? Die Entscheidung ist doch schon längst getroffen. Und was wirst du sein, wenn Caillou heimgekehrt ist? Hast du daran mal gedacht?«

    Camille presste die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern. »Ich werde das Gleiche für dich sein wie vorher, der stille Bruder im Schatten von Caillou, der für ihn die Kastanien aus dem Feuer holt, ihm den Rücken freihält und ihm mehr als einmal das Leben gerettet hat. Der den gleichen Mann liebt, auf eine leise Art, die niemand bemerkt und niemand beachtet. Wenn das Feuer naht, verdampft das Wasser.«

    »Weiß Caillou davon?«

    »Hätte er mich sonst gebeten, dir ein Mann zu sein während seiner Abwesenheit?«

    Plötzlich meinte Pascal, das ganze Ausmaß zu begreifen. »Er rechnet mit seinem Tod. Er will, dass weder sein Bruder noch sein Mann allein sind, wenn ihm etwas zustößt. Wir sollen uns gegenseitig Halt geben.«

    »Das trifft es ganz gut.«

    »Schön hat er das geplant! Aber er hat die Rechnung ohne mich gemacht. Auch ich werde verreisen, auch wenn mein Körper weiterhin durch Beaufort wandelt. Pascal wird ruhen, bis Caillou zurückkehrt, in einem Kokon, den ich momentan webe. Das müsst ihr beide verstehen. Es ist nicht nur, dass mir Caillou fehlt, mir fehlt auch Vittorio und ... der alte Timo. Nicht der Jetzige, der von früher. Ich kann nicht mehr. Gib mich frei, Milli. Lass mich diesen Kokon fertig weben und mich für eine Weile darin verpuppen, ehe ich als neuer, fähigerer und besserer Mensch daraus hervor steige.«

    Camille legte den Kopf ins Kissen und streichelte Pascals Flanke. Sein Schweigen war die Antwort. Und doch schlief er bald ein. Sein Beruf war anstrengend. Pascal stand leise auf, obwohl es inzwischen sehr spät sein musste, und setzte sich erneut an den Schreibtisch.