Der Zauber der Ruspanti
Im Ballsaal drehten sich die Tänzer, umringt von im Takt klatschenden und stampfenden Zuschauern. Gebunden durch die Gesetze der Höflichkeit musste auch der Erzhexer des Blutes Alexandre de la Grange dem Ereignis beiwohnen. Mürrisch stand er in der ersten Reihe an dem für ihn eigens freigehaltenen Platz.
Bevor der Tanz für die Gäste eröffnet wurde, segneten die Ruspanti die Tanzfläche mit ihren nackten, gesalbten Füßen und die Luft mit ihren altertümlichen Gesängen. Die Trommeln trieben den Puls in die Höhe, untermalte eine Melodie, die aus hunderten Kehlen drang. Auch die Sänger entstammten den Reihen dieses exzentrischen Kults. Ein süßer, schwerer Duft benebelte die Sinne. Der Rauch von Amber quoll aus dem schwenkbaren Räuchergefäß, das ein junger Ruspante umhertrug, im Rhythmus der Musik gehend. Auch er war Bestandteil des hypnotischen Tanzes. Der Geist von uralten Zeiten lag in der Luft und erfüllte die Herzen, denn die Ruspanti gab es schon länger als die meisten anderen Bräuche und sie hatten sich im Gegensatz zu den meisten kaum verändert. Die einzige Neuerung war, dass sie nicht mehr nackt tanzten, nur mit Schilf um Brust, Oberarme und Waden angetan, sondern kunterbunte Gewandungen trugen, die den Großteil der Haut verdeckten, zumindest, so lange die Ruspanti sich ruhig bewegten. Anders sah das aus, wenn sie im Tanze umher wirbelten, bei jeder Drehung bauschte sich der federleichte Stoff auf wie Schmetterlingsflügel.
Das Fehlen der Unterbekleidung gab dem Tanz in Alexandres Augen eine obszöne Note und machte die Würde des Kultes zunichte. Drogen, Nacktheit, Aberglaube ... das war nichts, was ein Bluthexer gutheißen konnte. Besonders nicht ihr Oberhaupt. Das Letzte, was Alexandre sehen wollte, waren nackte, männliche Körper, die ihn an die eigene Unvollkommenheit gemahnten.
Die Ledvigiani sahen die Freizügigkeit der Tänzer freilich anders. Darüber hatte er lange genug mit Irving von Kaltenburg debattiert, der dem Kult vorstand. Irving argumentierte damit, dass die Ledvigiani aufgrund ihrer engen Verbindung zum Wasser lange Zeit keine Stoffe kannten. Warum sollte ein Fischer sich Kleider anziehen, wenn er allein mit dem Einbaum im Mangrovenwald auf der Jagd war? Ein Schwimmer, der durch die Wellen glitt? Oder ein Schilfsammler, der während der Mittagshitze in einer verlassenen Bucht durch den Uferschlamm watete, die Perlentaucherin, die dem Grund des Ozeans seine Schätze entrang? In Ledvico war es warm und die Nacktheit über Jahrhunderte so allgegenwärtig gewesen, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, sie zu verurteilen. Das hatte sich erst geändert, als die Völker miteinander zu handeln begannen und das Tragen von Stoffen populär wurde.
Alexandre fiel es trotz der Nachvollziehbarkeit dieser Argumentationskette schwer, seine obszönen Empfindungen abzulegen. Genau genommen gelang es ihm überhaupt nicht. Für ihn waren und blieben die Ruspanti Lustknaben, die der Öffentlichkeit ihr Fleisch feilboten, als wären sie vor lauter Wollust toll geworden. Das war doch nicht normal und natürlich war das alles bewusst inszeniert. Die Ruspanti entsprachen einer Jahrmarktsattraktion, die an die niedersten Instinkte appellierte, ganz ähnlich den orkischen Schlammringerinnen. Tradition hin oder her, bestimmte Dinge gehörten einfach modernisiert und dazu gehörte die Art, wie diese Lüstlinge sich zu geben hatten, wenn man den Kult schon unbedingt erhalten wollte. Alexandre wäre gern gegangen, doch das käme einem Affront gleich, wo Irving persönlich ihn doch eingeladen hatte und leider genau neben ihm stand.
Die Musik änderte sich, die Ruspanti begannen, Saltos zu schlagen und übereinander zu springen. Alexandre schloss die Augen. Gegen dieses Treiben wirkte selbst der rakshanische Bazum prüde. Die Ruspanti freilich kümmerte Alexandres Abneigung nicht. Sie tobten und feierten das Leben, sie riefen die Freude und das Glück auf die Anwesenden herab. Die strahlenden Gesichter der Umstehenden, ob nun aus religiösen Empfindungen heraus oder aus purem Amusement oder Lüsternheit, gaben ihnen Recht. Jeden erfüllte dieser billige Abklatsch von Glück, zumindest kam es Alexandre so vor. Jeden, außer ihn.
Alexandre klatschte höflich, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern. Ein Ruspante, der den missgestimmten Bluthexer entdeckte, tanzte mit einigen Drehungen zu ihm heran. Ein mitgrüner Schmetterling mit sanft gebräuntem Teint und kurzem, hellbraunem Haar, das von einem Schilfkranz gekrönt war wie das aller Ruspanti. Bei der letzten Drehung stülpte er Alexandre seine Schilfkrone über den Kopf, presste sie mit beiden Händen fest und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Nun war es aber genug! Doch ehe Alexandre sich entrüstet zeigen konnte, wirbelte der Tänzer wieder davon und verschwand im bunten, wogenden Treiben. Grimmig sah er ihm nach. Hoffentlich verstauchte er sich den Fuß bei seinem Gehampel und brach sich beim Sturz das Genick. Verärgert betrachtete Alexandre die Gäste. Offenbar war er bislang der Einzige, der mit einer Schilfkrone bedacht und geküsst worden war. Die Umstehenden lachten, applaudierten und Alexandre wurde von allen Seiten getätschelt.
»Was bedeutet diese sogenannte Kulthandlung?«, fragte er misstrauisch und verkniff es, sich den Mund abzuwischen. Mit der Schilfkrone fühlte er sich albern, als wäre sie eines dieser Papierhütchen, die der Pöbel zu Feiern trug.
Irving tippte ihm an den Oberarm, damit Alexandre sein Ohr etwas zu ihm neigte, damit er ihn bei der lauten Musik und dem Geklatsche und Gestampfe verstehen konnte. »Der Auftakt einer besondere Segnung, die nur selten gewährt wird und nie, wenn man darum bittet. Der Beginn eines Rituals, das dir Glück und Freude bescheren wird. Du wurdest ausgewählt.«
»Das wünsche ich nicht. Ich bin Bluthexer und habe nicht um den Segen eines anderen Kults gebeten!«
Irving lachte, während er mit beiden Füßen rhythmisch im Takt auf der Stelle trat. »Das ist ein sehr souvagnisches Verständnis, Alex. Den Segen der Ainuwarpriester kann man erbitten, man tut es bei Geburten, bei Hochzeiten und so weiter. Aber das gilt nicht für den Segen der Ruspanti. Sie schenken ihn oder sie tun es nicht. Sie segnen aus freien Stücken, wen sie segnen wollen und sie haben ihre eigenen Maßstäbe, wer diesen Zauber verdient.«
»Zauber.« Alexandre schnaubte geringschätzig. »Der Kuss war also die Segnung? Mir erscheint diese Methode sehr merkwürdig. Offen gestanden halten in Souvagne viele Menschen diese Ruspanti für Lustknaben.«
»Aber nein«, rief Irving schockiert, den Alexandre als Oberhaupt der Ruspanti absichtlich gleich mit beleidigt hatte. »Das sind sie nicht. Sie bringen Freude, Liebe und Glück. Ein Lustknabe bringt nichts von alldem, er bringt nur Erleichterung und das auf einen Fingerzeig hin. Und Ainuwarpriester unterscheiden sich darin kaum von ihnen. Sie sind Gotteshuren für die Gläubigen. Wenn der Taler rollt, segnen sie die unmöglichsten Dinge und Personen. Anders ist der Segen des alten Kultes. Die Ruspanti zum Küssen zwingen zu wollen oder ihnen gar den Beischlaf zu befehlen, gilt als ein großer Frevel, als ein Verbrechen vor den Göttern und wird hart bestraft! Es würde den ganzen Zauber zunichtemachen und der Ruspante wäre danach für immer verdorben. Seine Magie wäre dahin. Nur, wenn der Segen aus ganzem Herzen kommt, entfaltet der Zauber seine Wirkung.«
»Aha.« Alexandre fiel keine höfliche Erwiderung ein und er hatte auch keine Lust, sich eine auszudenken. Gut, dann war er nun eben gesegnet worden, davon würde er nicht tot umfallen.
Der Ruspante im mintfarbenen Mantel rauschte vorbei, drückte mit der Hand sein Gewand im letzten Moment hinunter, bevor Alexandre allzu viel sehen musste, lächelte ihm zu und war schon wieder fort. Dieser Kerl schien es auf ihn abgesehen zu haben in seiner Segnungswut.
»Der Tanz findet gerade seinen Abschluss. Amias wird dich gleich zum Tanz auffordern«, meinte Irving. »Da er dir die Schilfkrone und den Kuss schenkte, wird er dir zum Finale den Beischlaf anbieten. So wird der machtvollste ihnen nur mögliche Segen besiegelt. Wenn du aber vorher den Ballsaal verlässt, ist das kein Affront, so lange du die geschenkte Schilfkrone mitnimmst. Es ist dann eben nur ein kleiner Segen. Lässt du sie aber hier liegen oder gibst sie jemand anderem, kommt dies einer schweren Beleidigung gleich.«
Die Schilfkrone und der Kuss waren nur der Auftakt, eine Vorwarnung, damit man sich noch aus der Misere retten konnte? Jetzt war die letzte Gelegenheit, die Tanzfläche zu verlassen? Und das sagte Irving ihm erst jetzt? Alexandre fuhr herum, um auf der Stelle sein Gästegemach aufzusuchen, doch jetzt änderte sich erneut die Musik. Noch schneller, noch peitschender. Die Gäste drängten als geschlossene Formation nach vorn, jeder wollte in der ersten Reihe stehen, denn nun begannen die Ruspanti, die Gäste zum Tanz einzuladen. Dabei wählten sie Frauen und Männer aller Altersstufen und jedes anwesenden Standes. All die Glücklichen würden nur tanzen müssen, aber Alexandre wurde gleich mit dem großen Segen bedroht! Die Tür war hinter einem mehrere Meter starken Wall aus Leibern verschanzt. Alexandre stand vor einer Wand von klatschenden Menschen. Hier war kein Durchkommen. Bleich drehte er sich um - und blickte in ein lächelndes Gesicht, das mit einer Verneigung abtauchte. Der Ruspante im mintgrünen Gewand, den Irving als Amias vorgestellt hatte, hielt Alexandre die Hand hin und bat um einen Tanz.
Um sie beide herum entbrandete tosender Applaus, Pfiffe gellten durch die Luft. Die Umstehenden jubelten und hunderte Augenpaare starrten erwartungsvoll auf den Bluthexer und den Ruspante. Amias, der noch immer wartete, winkte ein wenig mit den Fingerspitzen, ohne seine Verneigung aufzugeben. Alexandre hatte keine Wahl. Er konnte sich nicht in der Öffentlichkeit als Kulturbanause blamieren und Schande über seinen Herrn bringen, der sicher auch unter den Gästen weilte. Er griff halbherzig nach der Hand. Der Ruspante richtete sich schwungvoll auf, ein kräftiger Zug ging durch Alexandres Arm und einen Augenblick später wirbelte er mit dem Ruspante im Kreise, dessen Schilfkrone er trug.
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Alexandre musterte düster das Gesicht seines Tanzpartners. Amias wirkte noch sehr jung, aber er war hochgewachsen und kaum kleiner als der Erzhexer. Er hatte weiche, fast weibliche Gesichtszüge mit sinnlichen Lippen. Schwere Akne machte die Zartheit seiner Züge zunichte, sie zog sich in entzündeten Streifen den Bogen der Kieferknochen entlang, wo ein Bart hätte sprießen sollen, doch Alexandre entdeckte keine Spur von Gesichtsbehaarung. Amias´ ganzer Körperbau wirkte weich, obgleich er so schlank war, dass Alexandre unweigerlich an eine Essstörung dachte. Die Augen waren groß und dunkel. Trotz seiner nicht ausgeprägten Muskulatur schien Amias das lange Tanzen keine Mühen zu bereiten. Verstohlen ließ Alexandre den Blick ein wenig tiefer wandern. Unter dem mintfarbenen Mantel schien Amias ebenfalls keine Körperbehaarung zu besitzen. Rasch blickte er wieder nach oben, ehe der fliegende Mantel allzu viel preisgeben konnte. Amias lächelte nur. Ihn schienen weder Alexandres Widerwillen noch der unziemliche Blick zu schrecken. Das Lächeln wirkte zu Alexandres Ärger nicht so geheuchelt und kriecherisch, wie er sich das gern vorgestellt hätte. Stattdessen mutete Amias sympathisch an. Ja, der Bursche machte den Eindruck von jemandem, mit dem man sich gern unterhielt. Je mehr Alexandre feststellen musste, wie angenehm diese Nähe war, umso mehr ging der Erzhexer innerlich auf Distanz. Was auch immer Amias wohlmeinend wollte, er würde es nicht bekommen.
Dem lebhaften Tanz folgte ein ruhiges Stück, damit die Tänzer wieder zu Atem kommen konnten. Amias zog ihn nun fest an sich heran, sie tanzten Bauch an Bauch. Alexandre musste alle Selbstbeherrschung aufbieten, um diese extreme Nähe überhaupt zu ertragen. Der Ruspante neigte den Kopf, legte ihn auf Alexandres Schulter. Sie tanzten, als wären sie ein Liebespaar, was Alexandre nicht gutheißen konnte. Es war schön, aber das Ganze war nicht richtig. Er mochte diese Art von Nähe nicht, es war in einen Kult gepresste Hurerei. Er spürte die Lippen an seinem Hals, die Finger, die seinen Rücken hinab strichen. Alexandres Gesicht war wie aus Stein. Er könnte weinen, er könnte schreien, er könnte diesen Burschen schlagen und ihn mit sich reißen, um ewig mit weiterzutanzen.
Die Hälfte der Kerzen erlosch, die Musik bekam eine dunkle, tiefe Note durch die Muschelhörner, die nun geblasen wurden. Neuer Amberduft, noch mehr Rauch. Die Tänzer verschwanden im Nebel. Alexandre konnte fast nichts mehr sehen, aber er fühlte so viel, dass seine Augen glänzten und er dankbar für die Dunkelheit war. Wenn diese geheuchelte Zuneigung nur nicht so falsch wäre, wenn hier nur wirkliches Gefühl zu finden wäre und keine Lüge, wenn der Ruspante ihn tatsächlich aus ganzem Herzen hätte Segnen wollen und nicht, weil er gesehen hatte, dass er mit seinem Oberhaupt sprach!
Die Musik endete mit einem Paukenschlag, tosender Applaus, die Füße stampften wie eine heranmarschierende Armee. Die Ruspanti verneigten sich in alle Richtungen und gaben den Ballsaal für die Gäste frei. Die Umstehenden fluteten die Tanzfläche, während leichte, beschwingte Tanzmusik erklang. Amias aber zog Alexandre mit sich von der Tanzfläche fort, er bahnte ihnen beiden mühelos einen Weg durch die Umstehenden. Ihm machte jeder gern Platz. Amias ließ nachsichtig zu, dass ihn einige Frauen im Vorbeigehen streichelten - es waren Fremdländerinnen, die ihn wohl durch die gleichen Augen sahen wie Alexandre. Amias führte ihn zielstrebig in ein Zimmer, weit abseits von all dem Trubel. Hinter ihnen schloss er die Tür ab.
Die wieder einsetzende Musik drang nur noch gedämpft in das Zimmer. Ein warmer Kachelofen spendete Wärme. Da es draußen Dunkel war, entzündete Amias einige Kerzen und schloss die Fensterläden. Still, warm und dunkel war es nun hier drin. Ein Duftöfchen verströmte den Duft von Vanille und Drachenblut. Die Atmosphäre, der diese Vorbereitungen dienten, kannte Alexandre. Er kannte sie zu gut. Sie weckte Erinnerungen an die Zeit vor seiner Verletzung und auch an einige Situationen danach, während denen einige Frauen oder Männer versucht hatten, ihn für eine Nacht zu zweit zu gewinnen. Er hatte jedes einzelne Mal ablehnen müssen, ganz gleich, wie sehr er es wollte, da er es einfach nicht konnte. Das Gleiche würde heute geschehen.
Alexandre stand mitten im Raum und blickte unglücklich auf das große Doppelbett. Warum nur hatte Amias ausgerechnet ihn erwählen müssen? Blickte er nicht finster genug, verschleierten seine vier Roben nicht die männlichen Konturen seines Körpers ausreichend? Er hatte doch alles getan, um so abstoßend zu wirken, dass ihn niemand mehr auch nur mit der Kneifzange anfassen wollte, verteilte Beleidigungen an der Grenze des Tragbaren und gab sich so unsympathisch, wie es nur ging. In der Regel zeigte das Wirkung. Prince Ciel allein war über all die Jahre letztlich hartnäckig geblieben, alle anderen machten inzwischen einen Bogen um den unverheirateten Marquis, ganz gleich, was für eine gute Partie er aufgrund seines Standes und des Namens seiner Familie nach sein mochte.
Er versuchte, das Zittern seiner Finger zu verbergen, indem er sie vor dem Bauch verschränkte. Er hätte sich nicht hierher bringen lassen dürfen. Nun blieb ihm nur noch die Wahl, dem Mann die Wahrheit über seinen verstümmelten Körper zu sagen oder Amias durch eine wirklich rüde Abfuhr vor den Kopf zu stoßen, was, da er ein Kultmitglied war, nicht ganz unproblematisch sein würde. Alexandre fragte sich, welche wohl die weniger verheerende der beiden Lösungen wäre, als Amias sich genau vor ihn stellte. Alexandre schwieg einen Moment zu lange. Amias löste die Schärpe, welche sein Gewand um die Taille zusammenhielt und ließ den Mantel von seinen Schultern gleiten. Vollkommen nackt stand der Jüngling nun vor ihm, sogar die Glöckchen von seinen Fußgelenken hatte er entfernt. Er trat noch näher an den Erzhexer heran, der ihm entsetzt zwischen die Beine starrte.
Die weichen Formen von Amias, das fehlende Körperhaar, das feminine Gesicht ...
»Ihr ... seid ...«, stammelte Alexandre.
Der Ruspante nahm offenbar an, dass die Reaktion begehrender Natur war, denn sein Lächeln wurde breit. »Das bin ich«, bestätigte er mit hoher Knabenstimme, die er noch immer hatte, obgleich er dem Körper nach eindeutig erwachsen war. Es klang, als würde eine Frau sprechen.
Mit einer eleganten Drehung, der weitere folgten, tanzte er ins Bett, wo er rücklings mit aufgestelltem Bein liegen blieb, den Kopf auf die Hand gestützt als würde er für einen Maler posieren. Vielleicht hatte er das früher sogar. Für die Narbe unterhalb seines Glieds empfand er offensichtlich keinerlei Scham, sondern war gewohnt, dass die Leute ihn dafür lobten. Alexandre jedoch war übel. Wie gelähmt blieb er stehen.
So machte Amias eine weisende Bewegung mit der Hand. »Ich vergaß, Ihr seid ja Fremdländer. Kein Wunder, dass Ihr etwas überrumpelt seid. Dies hier ist ein Ritualraum und in dieser Karaffe befindet sich geweihtes Öl. Ihr beginnt damit, meinen Körper zu salben, ehe wir tauschen. Und dann erfolgt ein gleichzeitiges, gegenseitiges Salben. Was sich daraus dann ergibt ... mal schauen.« Er lachte freundlich und es klang glockenhell und unheimlich zugleich. In der Schönheit dieser Stimme und dieses Gesichts lag ein Grauen, dessen Ausmaß Alexandre nur zu gut kannte.
»Ich kenne nicht einmal Euren Namen«, erwiderte Alexandre steif, obwohl das nicht stimmte. Aber er wollte, dass Amias sich vernünftig vorstellte, wenn er sich schon so vor ihm präsentierte. »Wer hat Euch das angetan?«
Der Jüngling senkte den Blick. »Jene, die sich einen Knaben für das Bett wünschen, aber nicht die Courage haben, sich einen ganzen Mann zu nehmen.«
Alexandres Blick war voller Mitleid. Mit langsamen Bewegungen setzte er sich an das Kopfende von Amias. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dafür gab es keine angemessene Reaktion. Aber dass ein distanzierter Mensch wie er sich zu jemandem auf das Bett setzte, war vielleicht Reaktion genug.
Amias nahm ihm die Entscheidung ab, indem er sich ein wenig anders hinlegte, so dass sie einander ansehen konnten, während sie sprachen. »Dank Irving blieb ich vor dem Schlimmsten an diesem Schicksal bewahrt - dem Tod meiner Seele«, fuhr er fort. »Er kaufte mich frei zu einer Zeit, da ich noch ich selbst war, und gab mir die Kontrolle über meinen Körper zurück. Er schenkte mir mehr als nur das Leben. Er schenkte mir die Freiheit, selbst zu entscheiden, wem ich meine Gunst schenke und ob überhaupt. Ich bin keine Wahre mehr, von der man beliebig nimmt. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt, ich bin nun derjenige, der schenkt, so wie es ihm beliebt. Und die Leute sind dafür dankbar. Das, was ich geben kann, hat einen sehr hohen Wert für sie, denn niemand außer die Ruspanti kann diesen Segen jemandem geben. Und ich habe Euch dafür erwählt. Und Ihr habt den Segen angenommen, indem ihr auf mich gewartet habt.«
»Mich erwählt«, wiederholte Alexandre. »Dann interessiert es Euch vielleicht, zu erfahren, dass ...«
»Ich weiß, wer und was Ihr seid, Marquis«, unterbrach ihn Amias freundlich. »Ich habe einen sehr guten Blick dafür. Ich sah es und ich wählte Euch. Es ist mein Wunsch, Euch Glück zu bescheren und Freude. Dass Ihr nicht abgeneigt seid, sehe ich Euch an. Eure Blicke und Eure Bewegungen sprechen zu mir so wie Eure Seele. Ihr wünscht meine Nähe, nur fürchtet Ihr sie aufgrund Eurer Narben. Das verstehe ich sehr gut, doch wie Ihr seht, bin ich niemand, vor dessen Blicken Ihr Euch schützen müsst. Habt keine Furcht. Ich schenke Euch heute meinen Segen auf jede Weise, die Ihr Euch wünscht. Da man mir nicht alles nahm, ist vieles noch möglich.«
»Ich wünsche vor allem erst einmal deinen Namen zu erfahren und ebenso wünsche ich das gegenseitige Du, bevor ich auch nur darüber nachdenke«, forderte Alexandre.
»Man fordert nichts von Ruspanti, aber ich bin euch nicht böse. Ihr seid den Umgang mit Ainuwarpriester gewohnt und seid nervös. Mein Name ist Amias«, erklärte der junge Mann. »Das bedeutet Freund.«
Alexandre ließ den Klang auf sich wirken und wiederholte ihn mehrmals gedanklich. Der Gedanke, dass jemand mit solch einem Schicksal den Namen Freund trug, rühte tief an seiner Seele. »Ein wunderbarer Name. Ich bin Alexandre. Aber nach allem, was geschah, bist du dann nicht ohnehin besudelt und dein Zauber verwirkt?« Es war eine Fangfrage. Er wollte sehen, was Amias nun erwiderte, wenn er ihn mit der Nase in die Lehren seines eigenen Kultes stieß. Zu seiner Verblüffung aber lächelte Amias nach wie vor, trotz des Schreckens, der in seiner Situation lag und in der Tatsache, dass man ihn nicht nur verstümmelt, sondern auch noch benutzt hatte. Alexandre hatte nie darüber lächeln können.
»Ich bin besudelt«, fuhr Amias fort. »Das ist richtig. Viele Ruspanti verlieren darüber ihre Magie, da sie einfach verfliegt. Aber mein Zauber ist ungebrochen. Das versichere ich Euch. Ich habe mein Schicksal akzeptiert und abgesehen von der Narbe bin ich gesund und es geht mir gut. Ich bin glücklich, Alexandre, und so kann ich mein Glück weitergeben. Glück wächst, wenn man es teilt, es geht niemals zu Ende, wenn nur jemand da ist, der es regelmäßig teilt und mehrt.«
Amias setzte sich auf. Er küsste Alexandres Stirn, seine Wange, seinen Mund, während seine Finger ihm aus den vielen Roben halfen, die er übereinander trug. Alexandre ließ ihn gewähren, nach und nach sanken die Schichten zu Boden, bis zwischen den beiden Männern kein Stoff mehr lag. Nackt, wie sie geboren waren, saßen sie beieinander. Nackt wie Schwimmer, nackt wie Schilfsammler und Perlentaucher. Alles war gut, Alexandre schloss die Augen und fühlte mit den übrigen Sinnen, als seine Finger den weichen, haarlosen Körper von Amias erkundeten, während Amias´ Finger über seine Haut strichen. Nein, es war kein Aberglaube, es war Realität. Er spürte, wie die Magie sich entfaltete. Er wusste nicht, welcher Natur dieser Zauber war, den Amias wob. Doch als sie gemeinsam in die Kissen sanken, war Alexandre frei von Scham und Angst.