Beiträge von Alexandre de la Grange

    Der Erzhexer des Blutes blickte starr auf den Prince. Asche klebte auf ihren Gewändern. Dies waren keine bösen Omina, sondern der Beginn des Unaussprechlichen. Sie waren verdammt.


    "Wir haben lange gewarnt, Hoheit", sprach er. "Zu lange." In seinen Augen glomm das heiße Fieber des Fanatismus. "Mit samtener Zunge und honigsüßen Worten haben wir zur Krone gesprochen. Ich bin Euer Zeuge, Hoheit, das Euer Vater nicht hören wollte noch wollte es Euer Bruder. Eine neue Zeit der Asche bricht an und Schuld tragen die Häretiker. Wenn Souvagne überleben will, so kann es das nur mit einem Bluthexer auf dem Thron. Dieser Bluthexer seid ihr."


    Alexandre verneigte sich, seinem Beispiel folgte der ganze Kreis. "Diese Abschweifung sei mir gestattet gewesen", fuhr er fort, als er sich wieder zu seiner vollen Größe aufrichtete. Alexandre de la Grange war ein hochgewachsener Mann und mit seinem strengen Gesicht flößte er so manchem Respekt ein. Das Haus La Grange war weder für seine Milde noch für seine Gnade bekannt.


    "Um Eure Frage zu beantworten: Die magische Abwehr ist so vollständig, wie es uns möglich ist. Der Aschefall erweist sich hierbei als nützlich. Etwas ist in seiner Substanz, das die Energieströme stört und den Blick der Himmelsaugen flimmern lässt. Ich nehme dies als ein weiteres in einer langen Reihe von Zeichen, dass Ihr auf dem richtigen Weg seid."

    Fragmente aus dem Traktat wider der Freundlichkeit

    "Gute Laune wird überbewertet. Allzu oft geht sie einher mit einem inflationären Gebrauch an freundlichen Worten und Gesten. Freundlichkeit zu verschenken, ist der erste Schritt zum Niedergang einer Zivilisation. Sie will redlich verdient sein, sonst ist sie bloße Anbiederung. Wiewohl auch verdiente Freundlichkeit künftig noch einer differenzierter Betrachtung bedarf, denn ihren Nutzen halte ich für nicht erwiesen.


    Wir halten fest: Gute Laune lässt jeden Mann zu einer Kreatur bar jeder Würde verkommen. Ich halte es für wahr und so ist es wahr: Um ein gutes Werk zu vollbringen, hat noch nie jemand gute Laune benötigt."

    Alexandre war erstaunt, denn er war es nicht gewohnt, dass jemand außer Prince Ciel und neuerdings Amias ihn dermaßen freundlich behandelte. Er bedankte sich für seine Verhältnisse ebenso freundlich, wenngleich dies kein breites Strahlen bedeutete, denn seine Familie war von altem Blut und sich dessen stets würdig zu gebaren, war Alexandre von kleinauf anerzogen worden. Doch machte dies seinen Dank nicht minder aufrichtig und über das Tuch freute er sich noch mehr als über die anderen Ehren. So fiel es ihm auch nicht allzu schwer, Amias mit Nicodemus ziehen zu lassen, ehe er sich seiner Aufgabe zuwandte, die Gäste zu unterhalten. Er hatte beschlossen, dies in Form einer Diskussionsrunde in lockerer Atmosphäre zu tun, wo er eine strittige These in den Raum stellen und diese bei Tee und leichter Speise mit allen Interessierten gemeinsam erörtern wollte.

    Alexandre tat etwas, das er vor keinem anderen als dem Duc und dem Abbild Ainuwars je getan hatte - er fiel auf die Knie. Der Marquis, der sonst in der Tat ausgesprochen beherrscht war, neigte das Haupt bis auf den Boden, während heiße Feuchtigkeit in seinen Augen brannte.


    "Es ist mir eine Ehre und ich werde ein würdiger Schüler sein, Meister."


    Der Erzhexer, der sonst selbst Schüler unterrichtete, war erneut selbst Schüler geworden und nichts hätte ihm mehr Freude bereiten können, als vom Besten der Besten ihres Fachs unterrichtet zu werden. Seine Finger zitterten, denn das Angebot, was Amias ihm am eigenen Leibe demonstriert hatte, die Heilung seines verstümmelten Körpers durch Thabit, hatte er bei aller Verlockung nicht vorgehabt, anzunehmen. Nicht von der schlimmsten Form des Nekromanten, des Ältesten. Alexandre hatte den Segen des gottgleichen Wesens abgelehnt.

    "Weil ich auf natürlichem Wege keine Kinder zeugen kann", erklärte Alexandre ohne zu zögern, nach der Geschichte noch interessierter als zuvor. "Und weil ich der einzige männliche Spross meines Hauses bin. Wenn ich keinen anderen Weg finde, muss ich einen jungen Mann von möglichst naher Verwandtschaft adoptieren und diesen mit meiner Schwester verheiraten. Noch ist sie nicht unter der Haube, auch wenn Prince Dreaux de Souvagne ihr Avancen macht. Sollte er sich für sie erwärmen, fällt auch diese Möglichkeit weg und das Blut der La Granges wird sich in der souvagnischen Geschichte verlieren. Natürlich bin ich bereit und es besteht kein Zweifel an meiner Selbstbeherrschung, nur weil ich ein einziges Mal die Stimme erhob.


    Ihr seid ein Vampir, aber Ihr seid nicht Untot, sondern lebt. Könnt Ihr lebende Kinder mit Eurem Samen schaffen? Wenn ja, dann wäre die Blutmagie die Antwort auf das Problem meines Linienerhalts."

    Während die anderen noch stritten, folgte Alexandre der Spur. Sie führte ins Woshangebirge, an dessen Ausläufern Katagawara lag.


    "Uns steht ein anstrengender Fußmarsch bevor", prophezeite er. "Aber das soll uns nicht schrecken." Er fragte sich, wo überhaupt ständig Zerbino blieb. War es nicht die Aufgabe des Leibdieners, achtzugeben, dass er in der Nähe seines Herrn war? Verägert schüttelte er den Gedanken ab. Bis dahin würde Amias für all seine persönlichen Belange sorgen.


    Sie bogen in einen befestigten Pfad ein, der zwischen den Häusern hangaufwärts führte. Auch Irving schloss nun endlich zu ihnen auf, der sich vermutlich noch von Thabit verabschiedet hatte. Mit raschen Schritten holte er sie ein und gesellte sich hinter Amias, als sie nacheinander den Pfad hinaufstiegen.

    Alexandre warf Costantino einen Blick zu, der besagte: Ich vergesse nichts. Wobei er sich fragte, ob der Mann auf Streit mit einem Marquis aus war, Amias nicht ausstehen konnte oder im Gegenteil dessen federleichte Robe mochte, die dazu neigte, sich in die Lüfte zu erheben, wenn Amias sich zu schnell drehte, was ihr tänzerischer Sinn war, nun aber nicht ganz angebracht schien. Dann huschte sein Blick, nunmehr ängstlich, hinüber zu Dijon und sanft drängte er Amias beiseite.


    "Ich folge der Spur der etlichen Vampire, die hier überall zu finden sind und in denen der Freiherr nur eine unter vielen Fliegen ist. Die machtvollste Kraft spüre ich da."


    Er zeigte in die entsprechende Richtung und marschierte los.

    "Bereit", rief Amias fröhlich, der trotz der Kälte die Kleidung nicht gewechselt hatte. Er hatte schon blaue Lippen, was Alexandre dazu veranlasste, Costantino noch einmal hineinzuschicken, um dem Ruspante Kleidung zu holen und diesen auch gleich anzukleiden, als sei er sein Leibdiener. Da Costantino nicht adlig war, kam nur er in Frage - Benito war schließlich Arzt. Costantino hingegen war vermutlich zu überhaupt nichts gut.


    Dijon gesellte sich derweil zu Vendelin. Die beiden schienen sich zu kennen und waren auch etwa gleich alt. Alexandre meinte sogar, dass Dijon Hector auf eine Weise grüßte, die vertraulicher wirkte, als es der Fall wäre, würden sie sich das erste Mal sehen und nur über Vendelin kennen. Sein Vater kannte die merkwürdigsten Gestalten, irgendwelche Naridier oder wahrscheinlich sogar Obenzaner! Woher, das blieb offen. Aber wenn Alexandre dem Gedanken auf dem Pfad der Logik folgte, stellte er fest, dass er ihm gar nicht folgen wollte, denn er führte in eine Richtung, die er als Sohn gar nicht so genau zu wissen brauchte. Eine Richtung, die Schnurstraks nach Obenza führte, ins Herz der Widerwart.


    Alexandre blickte sich mürrisch in der Stadt um. Die Besetzung durch die Frostalben war hier spürbar, aber auf den ersten Blick waren keine bewaffneten Streitkräfte auszumachen. Dafür aber die widerliche Aura des Untodes.


    "Hier sind unwahrscheinlich viele Vampire", sprach er angewidert. "Denkt an die Koffer, falls wir vor Ort Proben mitnehmen oder Aufzeichnungen anfertigen möchten."


    Es folgte, der korrekten Rangfolge nach - der Bluthexer. Zumindest wollte Alexandre das, doch sein Vater bedeutete durch einen Blick, dass er derjenige sein würde, der das Tauchschiff nach dem Prince als erster verließ. Mit blitzenden, kniehohen Stiefeln und Reiterkleidung marschierte er auf langen Beinen hinaus, ohne zu straucheln. Zerknirscht folgte Alexandre samt seinem Ruspante. Er drehte sich um, um zu sehen, ob der Rest wenigstens in vernünftiger Reihenfolge aussteigen würde. Seinem Verständnis nach müssten nun der Prince und die souvagnischen Marquis folgen, und zwar der Zeit nach, die sie dem Lande schon gedient hatten, danach die beiden nichtadligen Souvagner, dann die ledvigiani und irgendwo am Ende der naridische Pseudo-Adel - ehe der fremdländische Nicht-mal-Pseudo-Adel folgte, den sie sich mit Kakko Korikara angelacht hatten.

    "Ich diene der Krone, Majestät", sprach Alexandre und verneigte sich erneut vor dem Duc. Was war nur geschehen, dass der Mann dermaßen außer sich war, Ciel nicht mehr als seinen Sohn bezeichnete und Ciel als Verräter? Während gleichzeitig wirklich ein Lich neben der Krone stand?! Langsam dämmerte Alexandre, was hier vorgefallen war, wofür seine Bluthexer gefallen waren und Ciel den Vorwurf des Verrats auf sich genommen hatte, doch er hielt tunlichst seinen Mund. "Niemand hier zweifelt die Macht und Autorität von Horatio Rochenoir an", sagte er stattdessen.

    Wenn der Duc dermaßen persönlich wurde, war das vielleicht ein gutes Zeichen, dass der Mensch hinter dem zornigen Regenten langsam wieder zum Vorschein kam. So versuchte Alexandre, dessen Fragen zu beantworten.


    "Ich wurde von Prince Ciel gerufen. Er sagte, die Familie wäre in Gefahr und das Land von einem Lich und von Nekromanten bedroht", erklärte er mit zitternder Stimme. "Mein Begleiter Amias stammt aus Ledwick, dort komme ich her. Er ist einer der Ruspanti zu deren Tanz Ihr auch anwesend wart. Ein altehrwürdiger Kult."


    Alexandre rang sehr mit sich. Er war ein beherrschter Mensch, aber so unvermittelt mit der eigenen Hinrichtung konfrontiert zu werden, war auch für ihn zu viel. Kalter schweiß glänzte auf seinem blassen Gesicht.


    "Ich weiß von keinem Anschlag, Majestät. Und ich kann mir nicht vorstellen, was Prince Ciel zu einem solchen treiben sollte, in meiner Gegenwart sprach er zwar durchaus skeptisch, aber nie böswillig von Euch! Ein Bluthexer dient dem Schutz der Krone, dazu sind wir da, nicht ihrer Vernichtung! Wir sind demütige, treue Diener, keine Mörder."

    Alexandre wäre fast die Kinnlade heruntergefallen. Er versuchte, aus dem, was er sah und hörte irgendeinen Sinn zu schließen. Er wurde entadelt, Prince Ciel wurde als Wurm bezeichnet und er selbst sollte hingerichtet werden?!


    "Ich verstehe nicht", sagte Alexandre hilflos. "Ich war gerufen worden, um einen Lich zu neutralisieren, der die Familie de Souvagne bedrohen würde. Was, bei Ainuwar, ist hier nur geschehen?" Dann dämmerte es ihm. Sein Blick wurde hochkonzentriert. Dem Duc wurde heiß. Die magischen Sinne des Erzhexers fuhren in Maximiliens Blutbahn auf der Suche nach dem Übel, um es herauszureißen - doch da war nichts. Alles war, wie immer. Verstört zog Alexandre seine Sinne zurück. Das musste ein Alptraum sein, nichts, aber auch gar nichts ergab irgendeinen Sinn!


    Er dachte an seine Söhne Caillou und Camille. Vielleicht war es die Gnade Ainuwars gewesen, dass er lange genug überleben sollte, um von ihrer Existenz zu erfahren und sie ein einziges Mal in die Arme zu schließen. Die Gnadenfrist war verstrichen. So musste es sein. Der Tag, an dem er hätte sterben sollen - den Tag der großen Pein - hatte er überlebt für das hier. So betrachtet war es doch gar kein so schlechtes Ende. Er suchte im Gesicht des Ducs etwas, das er nicht fand. Dann wurde er ganz ruhig.


    "Ich bitte darum, aufrecht sterben zu dürfen", sprach er seinen letzten Wunsch.

    In dem Moment kam eine wohlbekannte wie von den meisten als unerfreulich empfundene Gestalt mit wehenden Gewändern in den Palast gerannt. Alexandre de la Grange war außer sich. Gerade eben war er mit dem Prachtadler gelandet, weil man ihn gerufen hatte. Zu Recht! Der Palast - verwüstet! Seine Bluthexer - tot! Er sah keinen einzigen lebenden Bluthexer! Was war hier nur los?


    "Majestät", rief er erleichtert und verneigte sich keuchend, als er sah, dass sein Herr unverletzt war. Hinter ihm drückte sich Amias herum, der ängstlich sein unangemessen kunterbuntes Schmetterlingsgewand in den Fäusten knetete und bleich wie ein Gespenst anmutete.

    Der Zauber der Ruspanti

    Im Ballsaal drehten sich die Tänzer, umringt von im Takt klatschenden und stampfenden Zuschauern. Gebunden durch die Gesetze der Höflichkeit musste auch der Erzhexer des Blutes Alexandre de la Grange dem Ereignis beiwohnen. Mürrisch stand er in der ersten Reihe an dem für ihn eigens freigehaltenen Platz.

    Bevor der Tanz für die Gäste eröffnet wurde, segneten die Ruspanti die Tanzfläche mit ihren nackten, gesalbten Füßen und die Luft mit ihren altertümlichen Gesängen. Die Trommeln trieben den Puls in die Höhe, untermalte eine Melodie, die aus hunderten Kehlen drang. Auch die Sänger entstammten den Reihen dieses exzentrischen Kults. Ein süßer, schwerer Duft benebelte die Sinne. Der Rauch von Amber quoll aus dem schwenkbaren Räuchergefäß, das ein junger Ruspante umhertrug, im Rhythmus der Musik gehend. Auch er war Bestandteil des hypnotischen Tanzes. Der Geist von uralten Zeiten lag in der Luft und erfüllte die Herzen, denn die Ruspanti gab es schon länger als die meisten anderen Bräuche und sie hatten sich im Gegensatz zu den meisten kaum verändert. Die einzige Neuerung war, dass sie nicht mehr nackt tanzten, nur mit Schilf um Brust, Oberarme und Waden angetan, sondern kunterbunte Gewandungen trugen, die den Großteil der Haut verdeckten, zumindest, so lange die Ruspanti sich ruhig bewegten. Anders sah das aus, wenn sie im Tanze umher wirbelten, bei jeder Drehung bauschte sich der federleichte Stoff auf wie Schmetterlingsflügel.


    Das Fehlen der Unterbekleidung gab dem Tanz in Alexandres Augen eine obszöne Note und machte die Würde des Kultes zunichte. Drogen, Nacktheit, Aberglaube ... das war nichts, was ein Bluthexer gutheißen konnte. Besonders nicht ihr Oberhaupt. Das Letzte, was Alexandre sehen wollte, waren nackte, männliche Körper, die ihn an die eigene Unvollkommenheit gemahnten.


    Die Ledvigiani sahen die Freizügigkeit der Tänzer freilich anders. Darüber hatte er lange genug mit Irving von Kaltenburg debattiert, der dem Kult vorstand. Irving argumentierte damit, dass die Ledvigiani aufgrund ihrer engen Verbindung zum Wasser lange Zeit keine Stoffe kannten. Warum sollte ein Fischer sich Kleider anziehen, wenn er allein mit dem Einbaum im Mangrovenwald auf der Jagd war? Ein Schwimmer, der durch die Wellen glitt? Oder ein Schilfsammler, der während der Mittagshitze in einer verlassenen Bucht durch den Uferschlamm watete, die Perlentaucherin, die dem Grund des Ozeans seine Schätze entrang? In Ledvico war es warm und die Nacktheit über Jahrhunderte so allgegenwärtig gewesen, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, sie zu verurteilen. Das hatte sich erst geändert, als die Völker miteinander zu handeln begannen und das Tragen von Stoffen populär wurde.


    Alexandre fiel es trotz der Nachvollziehbarkeit dieser Argumentationskette schwer, seine obszönen Empfindungen abzulegen. Genau genommen gelang es ihm überhaupt nicht. Für ihn waren und blieben die Ruspanti Lustknaben, die der Öffentlichkeit ihr Fleisch feilboten, als wären sie vor lauter Wollust toll geworden. Das war doch nicht normal und natürlich war das alles bewusst inszeniert. Die Ruspanti entsprachen einer Jahrmarktsattraktion, die an die niedersten Instinkte appellierte, ganz ähnlich den orkischen Schlammringerinnen. Tradition hin oder her, bestimmte Dinge gehörten einfach modernisiert und dazu gehörte die Art, wie diese Lüstlinge sich zu geben hatten, wenn man den Kult schon unbedingt erhalten wollte. Alexandre wäre gern gegangen, doch das käme einem Affront gleich, wo Irving persönlich ihn doch eingeladen hatte und leider genau neben ihm stand.


    Die Musik änderte sich, die Ruspanti begannen, Saltos zu schlagen und übereinander zu springen. Alexandre schloss die Augen. Gegen dieses Treiben wirkte selbst der rakshanische Bazum prüde. Die Ruspanti freilich kümmerte Alexandres Abneigung nicht. Sie tobten und feierten das Leben, sie riefen die Freude und das Glück auf die Anwesenden herab. Die strahlenden Gesichter der Umstehenden, ob nun aus religiösen Empfindungen heraus oder aus purem Amusement oder Lüsternheit, gaben ihnen Recht. Jeden erfüllte dieser billige Abklatsch von Glück, zumindest kam es Alexandre so vor. Jeden, außer ihn.


    Alexandre klatschte höflich, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern. Ein Ruspante, der den missgestimmten Bluthexer entdeckte, tanzte mit einigen Drehungen zu ihm heran. Ein mitgrüner Schmetterling mit sanft gebräuntem Teint und kurzem, hellbraunem Haar, das von einem Schilfkranz gekrönt war wie das aller Ruspanti. Bei der letzten Drehung stülpte er Alexandre seine Schilfkrone über den Kopf, presste sie mit beiden Händen fest und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Nun war es aber genug! Doch ehe Alexandre sich entrüstet zeigen konnte, wirbelte der Tänzer wieder davon und verschwand im bunten, wogenden Treiben. Grimmig sah er ihm nach. Hoffentlich verstauchte er sich den Fuß bei seinem Gehampel und brach sich beim Sturz das Genick. Verärgert betrachtete Alexandre die Gäste. Offenbar war er bislang der Einzige, der mit einer Schilfkrone bedacht und geküsst worden war. Die Umstehenden lachten, applaudierten und Alexandre wurde von allen Seiten getätschelt.


    »Was bedeutet diese sogenannte Kulthandlung?«, fragte er misstrauisch und verkniff es, sich den Mund abzuwischen. Mit der Schilfkrone fühlte er sich albern, als wäre sie eines dieser Papierhütchen, die der Pöbel zu Feiern trug.


    Irving tippte ihm an den Oberarm, damit Alexandre sein Ohr etwas zu ihm neigte, damit er ihn bei der lauten Musik und dem Geklatsche und Gestampfe verstehen konnte. »Der Auftakt einer besondere Segnung, die nur selten gewährt wird und nie, wenn man darum bittet. Der Beginn eines Rituals, das dir Glück und Freude bescheren wird. Du wurdest ausgewählt.«


    »Das wünsche ich nicht. Ich bin Bluthexer und habe nicht um den Segen eines anderen Kults gebeten!«


    Irving lachte, während er mit beiden Füßen rhythmisch im Takt auf der Stelle trat. »Das ist ein sehr souvagnisches Verständnis, Alex. Den Segen der Ainuwarpriester kann man erbitten, man tut es bei Geburten, bei Hochzeiten und so weiter. Aber das gilt nicht für den Segen der Ruspanti. Sie schenken ihn oder sie tun es nicht. Sie segnen aus freien Stücken, wen sie segnen wollen und sie haben ihre eigenen Maßstäbe, wer diesen Zauber verdient.«


    »Zauber.« Alexandre schnaubte geringschätzig. »Der Kuss war also die Segnung? Mir erscheint diese Methode sehr merkwürdig. Offen gestanden halten in Souvagne viele Menschen diese Ruspanti für Lustknaben.«


    »Aber nein«, rief Irving schockiert, den Alexandre als Oberhaupt der Ruspanti absichtlich gleich mit beleidigt hatte. »Das sind sie nicht. Sie bringen Freude, Liebe und Glück. Ein Lustknabe bringt nichts von alldem, er bringt nur Erleichterung und das auf einen Fingerzeig hin. Und Ainuwarpriester unterscheiden sich darin kaum von ihnen. Sie sind Gotteshuren für die Gläubigen. Wenn der Taler rollt, segnen sie die unmöglichsten Dinge und Personen. Anders ist der Segen des alten Kultes. Die Ruspanti zum Küssen zwingen zu wollen oder ihnen gar den Beischlaf zu befehlen, gilt als ein großer Frevel, als ein Verbrechen vor den Göttern und wird hart bestraft! Es würde den ganzen Zauber zunichtemachen und der Ruspante wäre danach für immer verdorben. Seine Magie wäre dahin. Nur, wenn der Segen aus ganzem Herzen kommt, entfaltet der Zauber seine Wirkung.«


    »Aha.« Alexandre fiel keine höfliche Erwiderung ein und er hatte auch keine Lust, sich eine auszudenken. Gut, dann war er nun eben gesegnet worden, davon würde er nicht tot umfallen.

    Der Ruspante im mintfarbenen Mantel rauschte vorbei, drückte mit der Hand sein Gewand im letzten Moment hinunter, bevor Alexandre allzu viel sehen musste, lächelte ihm zu und war schon wieder fort. Dieser Kerl schien es auf ihn abgesehen zu haben in seiner Segnungswut.


    »Der Tanz findet gerade seinen Abschluss. Amias wird dich gleich zum Tanz auffordern«, meinte Irving. »Da er dir die Schilfkrone und den Kuss schenkte, wird er dir zum Finale den Beischlaf anbieten. So wird der machtvollste ihnen nur mögliche Segen besiegelt. Wenn du aber vorher den Ballsaal verlässt, ist das kein Affront, so lange du die geschenkte Schilfkrone mitnimmst. Es ist dann eben nur ein kleiner Segen. Lässt du sie aber hier liegen oder gibst sie jemand anderem, kommt dies einer schweren Beleidigung gleich.«


    Die Schilfkrone und der Kuss waren nur der Auftakt, eine Vorwarnung, damit man sich noch aus der Misere retten konnte? Jetzt war die letzte Gelegenheit, die Tanzfläche zu verlassen? Und das sagte Irving ihm erst jetzt? Alexandre fuhr herum, um auf der Stelle sein Gästegemach aufzusuchen, doch jetzt änderte sich erneut die Musik. Noch schneller, noch peitschender. Die Gäste drängten als geschlossene Formation nach vorn, jeder wollte in der ersten Reihe stehen, denn nun begannen die Ruspanti, die Gäste zum Tanz einzuladen. Dabei wählten sie Frauen und Männer aller Altersstufen und jedes anwesenden Standes. All die Glücklichen würden nur tanzen müssen, aber Alexandre wurde gleich mit dem großen Segen bedroht! Die Tür war hinter einem mehrere Meter starken Wall aus Leibern verschanzt. Alexandre stand vor einer Wand von klatschenden Menschen. Hier war kein Durchkommen. Bleich drehte er sich um - und blickte in ein lächelndes Gesicht, das mit einer Verneigung abtauchte. Der Ruspante im mintgrünen Gewand, den Irving als Amias vorgestellt hatte, hielt Alexandre die Hand hin und bat um einen Tanz.


    Um sie beide herum entbrandete tosender Applaus, Pfiffe gellten durch die Luft. Die Umstehenden jubelten und hunderte Augenpaare starrten erwartungsvoll auf den Bluthexer und den Ruspante. Amias, der noch immer wartete, winkte ein wenig mit den Fingerspitzen, ohne seine Verneigung aufzugeben. Alexandre hatte keine Wahl. Er konnte sich nicht in der Öffentlichkeit als Kulturbanause blamieren und Schande über seinen Herrn bringen, der sicher auch unter den Gästen weilte. Er griff halbherzig nach der Hand. Der Ruspante richtete sich schwungvoll auf, ein kräftiger Zug ging durch Alexandres Arm und einen Augenblick später wirbelte er mit dem Ruspante im Kreise, dessen Schilfkrone er trug.


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    Alexandre musterte düster das Gesicht seines Tanzpartners. Amias wirkte noch sehr jung, aber er war hochgewachsen und kaum kleiner als der Erzhexer. Er hatte weiche, fast weibliche Gesichtszüge mit sinnlichen Lippen. Schwere Akne machte die Zartheit seiner Züge zunichte, sie zog sich in entzündeten Streifen den Bogen der Kieferknochen entlang, wo ein Bart hätte sprießen sollen, doch Alexandre entdeckte keine Spur von Gesichtsbehaarung. Amias´ ganzer Körperbau wirkte weich, obgleich er so schlank war, dass Alexandre unweigerlich an eine Essstörung dachte. Die Augen waren groß und dunkel. Trotz seiner nicht ausgeprägten Muskulatur schien Amias das lange Tanzen keine Mühen zu bereiten. Verstohlen ließ Alexandre den Blick ein wenig tiefer wandern. Unter dem mintfarbenen Mantel schien Amias ebenfalls keine Körperbehaarung zu besitzen. Rasch blickte er wieder nach oben, ehe der fliegende Mantel allzu viel preisgeben konnte. Amias lächelte nur. Ihn schienen weder Alexandres Widerwillen noch der unziemliche Blick zu schrecken. Das Lächeln wirkte zu Alexandres Ärger nicht so geheuchelt und kriecherisch, wie er sich das gern vorgestellt hätte. Stattdessen mutete Amias sympathisch an. Ja, der Bursche machte den Eindruck von jemandem, mit dem man sich gern unterhielt. Je mehr Alexandre feststellen musste, wie angenehm diese Nähe war, umso mehr ging der Erzhexer innerlich auf Distanz. Was auch immer Amias wohlmeinend wollte, er würde es nicht bekommen.


    Dem lebhaften Tanz folgte ein ruhiges Stück, damit die Tänzer wieder zu Atem kommen konnten. Amias zog ihn nun fest an sich heran, sie tanzten Bauch an Bauch. Alexandre musste alle Selbstbeherrschung aufbieten, um diese extreme Nähe überhaupt zu ertragen. Der Ruspante neigte den Kopf, legte ihn auf Alexandres Schulter. Sie tanzten, als wären sie ein Liebespaar, was Alexandre nicht gutheißen konnte. Es war schön, aber das Ganze war nicht richtig. Er mochte diese Art von Nähe nicht, es war in einen Kult gepresste Hurerei. Er spürte die Lippen an seinem Hals, die Finger, die seinen Rücken hinab strichen. Alexandres Gesicht war wie aus Stein. Er könnte weinen, er könnte schreien, er könnte diesen Burschen schlagen und ihn mit sich reißen, um ewig mit weiterzutanzen.


    Die Hälfte der Kerzen erlosch, die Musik bekam eine dunkle, tiefe Note durch die Muschelhörner, die nun geblasen wurden. Neuer Amberduft, noch mehr Rauch. Die Tänzer verschwanden im Nebel. Alexandre konnte fast nichts mehr sehen, aber er fühlte so viel, dass seine Augen glänzten und er dankbar für die Dunkelheit war. Wenn diese geheuchelte Zuneigung nur nicht so falsch wäre, wenn hier nur wirkliches Gefühl zu finden wäre und keine Lüge, wenn der Ruspante ihn tatsächlich aus ganzem Herzen hätte Segnen wollen und nicht, weil er gesehen hatte, dass er mit seinem Oberhaupt sprach!


    Die Musik endete mit einem Paukenschlag, tosender Applaus, die Füße stampften wie eine heranmarschierende Armee. Die Ruspanti verneigten sich in alle Richtungen und gaben den Ballsaal für die Gäste frei. Die Umstehenden fluteten die Tanzfläche, während leichte, beschwingte Tanzmusik erklang. Amias aber zog Alexandre mit sich von der Tanzfläche fort, er bahnte ihnen beiden mühelos einen Weg durch die Umstehenden. Ihm machte jeder gern Platz. Amias ließ nachsichtig zu, dass ihn einige Frauen im Vorbeigehen streichelten - es waren Fremdländerinnen, die ihn wohl durch die gleichen Augen sahen wie Alexandre. Amias führte ihn zielstrebig in ein Zimmer, weit abseits von all dem Trubel. Hinter ihnen schloss er die Tür ab.


    Die wieder einsetzende Musik drang nur noch gedämpft in das Zimmer. Ein warmer Kachelofen spendete Wärme. Da es draußen Dunkel war, entzündete Amias einige Kerzen und schloss die Fensterläden. Still, warm und dunkel war es nun hier drin. Ein Duftöfchen verströmte den Duft von Vanille und Drachenblut. Die Atmosphäre, der diese Vorbereitungen dienten, kannte Alexandre. Er kannte sie zu gut. Sie weckte Erinnerungen an die Zeit vor seiner Verletzung und auch an einige Situationen danach, während denen einige Frauen oder Männer versucht hatten, ihn für eine Nacht zu zweit zu gewinnen. Er hatte jedes einzelne Mal ablehnen müssen, ganz gleich, wie sehr er es wollte, da er es einfach nicht konnte. Das Gleiche würde heute geschehen.


    Alexandre stand mitten im Raum und blickte unglücklich auf das große Doppelbett. Warum nur hatte Amias ausgerechnet ihn erwählen müssen? Blickte er nicht finster genug, verschleierten seine vier Roben nicht die männlichen Konturen seines Körpers ausreichend? Er hatte doch alles getan, um so abstoßend zu wirken, dass ihn niemand mehr auch nur mit der Kneifzange anfassen wollte, verteilte Beleidigungen an der Grenze des Tragbaren und gab sich so unsympathisch, wie es nur ging. In der Regel zeigte das Wirkung. Prince Ciel allein war über all die Jahre letztlich hartnäckig geblieben, alle anderen machten inzwischen einen Bogen um den unverheirateten Marquis, ganz gleich, was für eine gute Partie er aufgrund seines Standes und des Namens seiner Familie nach sein mochte.


    Er versuchte, das Zittern seiner Finger zu verbergen, indem er sie vor dem Bauch verschränkte. Er hätte sich nicht hierher bringen lassen dürfen. Nun blieb ihm nur noch die Wahl, dem Mann die Wahrheit über seinen verstümmelten Körper zu sagen oder Amias durch eine wirklich rüde Abfuhr vor den Kopf zu stoßen, was, da er ein Kultmitglied war, nicht ganz unproblematisch sein würde. Alexandre fragte sich, welche wohl die weniger verheerende der beiden Lösungen wäre, als Amias sich genau vor ihn stellte. Alexandre schwieg einen Moment zu lange. Amias löste die Schärpe, welche sein Gewand um die Taille zusammenhielt und ließ den Mantel von seinen Schultern gleiten. Vollkommen nackt stand der Jüngling nun vor ihm, sogar die Glöckchen von seinen Fußgelenken hatte er entfernt. Er trat noch näher an den Erzhexer heran, der ihm entsetzt zwischen die Beine starrte.

    Die weichen Formen von Amias, das fehlende Körperhaar, das feminine Gesicht ...


    »Ihr ... seid ...«, stammelte Alexandre.


    Der Ruspante nahm offenbar an, dass die Reaktion begehrender Natur war, denn sein Lächeln wurde breit. »Das bin ich«, bestätigte er mit hoher Knabenstimme, die er noch immer hatte, obgleich er dem Körper nach eindeutig erwachsen war. Es klang, als würde eine Frau sprechen.


    Mit einer eleganten Drehung, der weitere folgten, tanzte er ins Bett, wo er rücklings mit aufgestelltem Bein liegen blieb, den Kopf auf die Hand gestützt als würde er für einen Maler posieren. Vielleicht hatte er das früher sogar. Für die Narbe unterhalb seines Glieds empfand er offensichtlich keinerlei Scham, sondern war gewohnt, dass die Leute ihn dafür lobten. Alexandre jedoch war übel. Wie gelähmt blieb er stehen.


    So machte Amias eine weisende Bewegung mit der Hand. »Ich vergaß, Ihr seid ja Fremdländer. Kein Wunder, dass Ihr etwas überrumpelt seid. Dies hier ist ein Ritualraum und in dieser Karaffe befindet sich geweihtes Öl. Ihr beginnt damit, meinen Körper zu salben, ehe wir tauschen. Und dann erfolgt ein gleichzeitiges, gegenseitiges Salben. Was sich daraus dann ergibt ... mal schauen.« Er lachte freundlich und es klang glockenhell und unheimlich zugleich. In der Schönheit dieser Stimme und dieses Gesichts lag ein Grauen, dessen Ausmaß Alexandre nur zu gut kannte.


    »Ich kenne nicht einmal Euren Namen«, erwiderte Alexandre steif, obwohl das nicht stimmte. Aber er wollte, dass Amias sich vernünftig vorstellte, wenn er sich schon so vor ihm präsentierte. »Wer hat Euch das angetan?«


    Der Jüngling senkte den Blick. »Jene, die sich einen Knaben für das Bett wünschen, aber nicht die Courage haben, sich einen ganzen Mann zu nehmen.«

    Alexandres Blick war voller Mitleid. Mit langsamen Bewegungen setzte er sich an das Kopfende von Amias. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dafür gab es keine angemessene Reaktion. Aber dass ein distanzierter Mensch wie er sich zu jemandem auf das Bett setzte, war vielleicht Reaktion genug.

    Amias nahm ihm die Entscheidung ab, indem er sich ein wenig anders hinlegte, so dass sie einander ansehen konnten, während sie sprachen. »Dank Irving blieb ich vor dem Schlimmsten an diesem Schicksal bewahrt - dem Tod meiner Seele«, fuhr er fort. »Er kaufte mich frei zu einer Zeit, da ich noch ich selbst war, und gab mir die Kontrolle über meinen Körper zurück. Er schenkte mir mehr als nur das Leben. Er schenkte mir die Freiheit, selbst zu entscheiden, wem ich meine Gunst schenke und ob überhaupt. Ich bin keine Wahre mehr, von der man beliebig nimmt. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt, ich bin nun derjenige, der schenkt, so wie es ihm beliebt. Und die Leute sind dafür dankbar. Das, was ich geben kann, hat einen sehr hohen Wert für sie, denn niemand außer die Ruspanti kann diesen Segen jemandem geben. Und ich habe Euch dafür erwählt. Und Ihr habt den Segen angenommen, indem ihr auf mich gewartet habt.«


    »Mich erwählt«, wiederholte Alexandre. »Dann interessiert es Euch vielleicht, zu erfahren, dass ...«


    »Ich weiß, wer und was Ihr seid, Marquis«, unterbrach ihn Amias freundlich. »Ich habe einen sehr guten Blick dafür. Ich sah es und ich wählte Euch. Es ist mein Wunsch, Euch Glück zu bescheren und Freude. Dass Ihr nicht abgeneigt seid, sehe ich Euch an. Eure Blicke und Eure Bewegungen sprechen zu mir so wie Eure Seele. Ihr wünscht meine Nähe, nur fürchtet Ihr sie aufgrund Eurer Narben. Das verstehe ich sehr gut, doch wie Ihr seht, bin ich niemand, vor dessen Blicken Ihr Euch schützen müsst. Habt keine Furcht. Ich schenke Euch heute meinen Segen auf jede Weise, die Ihr Euch wünscht. Da man mir nicht alles nahm, ist vieles noch möglich.«


    »Ich wünsche vor allem erst einmal deinen Namen zu erfahren und ebenso wünsche ich das gegenseitige Du, bevor ich auch nur darüber nachdenke«, forderte Alexandre.


    »Man fordert nichts von Ruspanti, aber ich bin euch nicht böse. Ihr seid den Umgang mit Ainuwarpriester gewohnt und seid nervös. Mein Name ist Amias«, erklärte der junge Mann. »Das bedeutet Freund.«


    Alexandre ließ den Klang auf sich wirken und wiederholte ihn mehrmals gedanklich. Der Gedanke, dass jemand mit solch einem Schicksal den Namen Freund trug, rühte tief an seiner Seele. »Ein wunderbarer Name. Ich bin Alexandre. Aber nach allem, was geschah, bist du dann nicht ohnehin besudelt und dein Zauber verwirkt?« Es war eine Fangfrage. Er wollte sehen, was Amias nun erwiderte, wenn er ihn mit der Nase in die Lehren seines eigenen Kultes stieß. Zu seiner Verblüffung aber lächelte Amias nach wie vor, trotz des Schreckens, der in seiner Situation lag und in der Tatsache, dass man ihn nicht nur verstümmelt, sondern auch noch benutzt hatte. Alexandre hatte nie darüber lächeln können.


    »Ich bin besudelt«, fuhr Amias fort. »Das ist richtig. Viele Ruspanti verlieren darüber ihre Magie, da sie einfach verfliegt. Aber mein Zauber ist ungebrochen. Das versichere ich Euch. Ich habe mein Schicksal akzeptiert und abgesehen von der Narbe bin ich gesund und es geht mir gut. Ich bin glücklich, Alexandre, und so kann ich mein Glück weitergeben. Glück wächst, wenn man es teilt, es geht niemals zu Ende, wenn nur jemand da ist, der es regelmäßig teilt und mehrt.«


    Amias setzte sich auf. Er küsste Alexandres Stirn, seine Wange, seinen Mund, während seine Finger ihm aus den vielen Roben halfen, die er übereinander trug. Alexandre ließ ihn gewähren, nach und nach sanken die Schichten zu Boden, bis zwischen den beiden Männern kein Stoff mehr lag. Nackt, wie sie geboren waren, saßen sie beieinander. Nackt wie Schwimmer, nackt wie Schilfsammler und Perlentaucher. Alles war gut, Alexandre schloss die Augen und fühlte mit den übrigen Sinnen, als seine Finger den weichen, haarlosen Körper von Amias erkundeten, während Amias´ Finger über seine Haut strichen. Nein, es war kein Aberglaube, es war Realität. Er spürte, wie die Magie sich entfaltete. Er wusste nicht, welcher Natur dieser Zauber war, den Amias wob. Doch als sie gemeinsam in die Kissen sanken, war Alexandre frei von Scham und Angst.

    Leber mit Apfel

    Das Gericht eignet sich besonders für Leute, die den Geschmack von Leber nicht mögen, sie aber aus gesundheitlichen Gründen trotzdem essen wollen. Die Äpfel überdecken den Eigengeschmack der Leber sehr gut. Wem das sehr Wichtig ist, der kann ruhig noch mehr Äpfel verwenden als im Rezept aufgeführt. Zudem ist das Gericht stärkearm. Dieses Rezept wurde von Marquise Alexandre de la Grange entwickelt, der als Bluthexer einen hohen Eisenbedarf hat, Leber jedoch verabscheut und daher eine Möglichkeit suchte, den grantigen Geschmack zu überdecken.


    Zutaten

    • 100 g Leber
    • 2 Äpfel, süß
    • 1 Zwiebel
    • Milch


    Vorbereitung

    • Die Leber wird von eventuellen Gallengängen und der Haut befreit. Über Nacht lässt man sie in Milch ziehen, damit sie milder schmeckt.


    Zubereitung

    • Die Äpfel zu dünnen Apfelspalten schneiden und zusammen mit den gewürfelten Zwiebeln in der Pfanne garen.
    • Die Leber in dünne Scheiben schneiden.
    • Wenn die Äpfel und die Zwiebel fertig sind, kann die Leber in der gleichen Pfanne gebraten werden. Die Leber ist in nur 3 Minuten gar. Brät man sie länger, wird sie zäh.
    • Die gebratene Leber in kleine Würfel schneiden.
    • Alles vermischen.


    Nun ist die Leber auch für Leber-Hasser essbar.

    Die Erben der Wächter der Morgenröte


    Die Hörner schallten von den gelben Sandsteinmauern des Sonnensteins. Ihr Hall trug die Kunde zu den Bewohnern der Burg, dass der Burgherr von der Jagd heimkehrte. Die Wachmannschaft am Tor bildete ein Ehrenspalier, während die Torflügel sich langsam öffneten. Die Silhouetten eines duzend Reiters schälten sich aus dem Staub, eine Hand am Zügel, die andere zur Faust erhoben und einen Falken tragend. Das Rudel hochbeiniger, stehohriger Windhunde strich im federleichten Trab um das Gefolge. Obgleich die Männer aus der Wüste kamen, waren ihre Gesichter von der Kälte gerötet, Mund und Nase zum Schutz vor dem Sand mit Tüchern verhüllt. Fast wirkten sie wie Halbrakshaner, doch trugen sie den Gesichtsschleier nur bei Sandstürmen. Bevor der Winter hereinbrach und die Tiere abwanderten oder sich in den Winterschlaf begaben, holten die Jäger noch einmal reiche Ernte ein, um die Vorratskammern zu füllen.
    Dijon de la Grange, der die Jagdgesellschaft führte, sah aus, wie man sich das Ideal eines Lehnsherrn vorstellte: Ergrautes Haar, das auf Jahrzehnte an Erfahrung verwies, eine hochgewachsene und aufrechte Gestalt, die weder Gram noch Krankheit hatte beugen können. Das Oberhaupt der Familie La Grange war jemand, dem die meisten Menschen instinktiv Respekt zollten. Sein korrektes Auftreten und seine penibel in Ordnung gehaltene Kleidung unterstrichen dieses Bild, ebenso seine Vorliebe für blank polierte schwarze Stiefel, die bis unter das Knie reichten. Im Moment jedoch waren sie von gelbem Staub bedeckt, so wie der Rest seiner Kleidung.
    Dijon blickte in Richtung seiner Heimatburg. Die Beine seines Pferdes wurden vom wehenden Sandschleier zur Hälfte verdeckt, als würden sie durch ein gelbes Nebelmeer schreiten. Vor ihm erhob sich der Sonnenstein über den Dünen, leuchtend im kälter werdenden Licht der Herbstsonne. Über den flachen Dächern wehte das Banner mit dem roten Hahn über den beiden Ähren in letzter Generation. Die Wächter der Morgenröte blickten nunmehr ins schwindende Licht ihrer Abenddämmerung. Alles, wofür seine Ahnen gekämpft hatten, würde in wenigen Jahren zusammen mit seinem einzigen Sohn im Sand der Zeit untergehen. Die La Granges, die weder Tod noch Rakshor fürchteten, hatten ihr Ende gefunden durch ein so harmloses und unscheinbares Wesen wie eine Frau.
    Die Hörner stimmten eine pompöse Melodie an und der Kommandant der Wachmannschaft stieß einen Begrüßungsruf aus, während der Marquis und seine Begleiter einritten. Auf dem Stallhof wurden die Hunde in die Verschläge gerufen, die sie freudig bellend aufsuchten, weil sie dort ihr Futter erwartete. Die Reiter stiegen ab, verabschiedeten sich und jeder ging seiner Wege.
    Auch Dijon schwang das Bein über die Kruppe seines Hengstes, ignorierte den Schmerz, der dabei durch seine Hüfte schoss, und stieg mit elegantem Schwung ab. Die Zügel drückte er dem Stallburschen in die Hand, gab seinem herbeigeeilten Leibdiener mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er noch für sich bleiben wollte und stieg allein hinab in den Keller des Sonnensteins. Die Oberschenkelmuskeln brannten bei jeder Treppenstufe, Dijon war den halben Tag zu Pferd unterwegs gewesen. Er ließ die Fingerkuppen über die raue Sandsteinwand streichen, während er tiefer und tiefer stieg. In regelmäßigen Abständen brannten Öllampen, da der obere Bereich des Kellers oft begangen war. Neben der Treppe verlief eine Schiene, um Güter leichter hinauf oder hinab transportieren zu können.
    Jede almanische Burg, die mehr als 400 Jahre gesehen hatte, besaß diese unergründlich tiefen Gewölbe in ihren Eingeweiden. Dijon hatte sie vollständig erforschen und ausbauen lassen wollen, war aber an der schieren Größe gescheitert, so wie bislang jeder andere Bauherr, der sich an einem solchen Vorhaben versuchte. Je weiter die eingestürzten Gänge freigeräumt worden waren, umso tiefer führten die Keller, bis die ersten Arbeiter sich verirrten und nicht mehr zurückfanden. In neun Etagen Tiefe hatte er schließlich die Versiegelung aller überzähligen Gänge angeordnet, um weitere Unglücke zu vermeiden. Die bislang erschlossenen Gewölbe wurden stabilisiert und instandgesetzt. Seither dienten sie vor allem zur Lagerung. Aufgrund der dauerhaft niedrigen Temperaturen und der trockenen Luft hielten Lebensmittel sich in diesen Tiefen sehr lange. Dijon hatte genug einlagern lassen, um sein gesamtes Lehen ein Jahr lang mit Notrationen versorgen zu können. Hinzu kamen die Vorräte, welche jeder Comte und jeder Chevalier auf sein Geheiß hatte anlegen müssen. Das hatte für einiges Gestöhne gesorgt, aber Dijon war sicher, dass der Tag kommen würde, da man ihm dafür noch dankbar war - denn dank des gewaltigen Überschusses an Vorräten konnten im Notfall auch die benachbarten Lehen unterstützt werden. Nicht umsonst trugen die La Granges nicht nur den Hahn, sondern auch die beiden Ähren im Wappen. Sie waren der Kornspeicher Souvagnes, nicht wegen ihres Weizenanbaus - dem stand das trockene Klima entgegen - sondern wegen der guten Lagerungsmöglichkeiten, die ihre Scholle bot.
    Die zehnte Etage aber, von der niemand wusste, gehörte dem Marquis allein.
    Hier versteckte er nicht etwa das Spielzimmer für dunkle Gelüste - das lag ganz oben in seinen Gemächern, für jeden offensichtlich, der Zutritt in seinen privaten Bereich hatte - sondern eine kleine, bescheidene Wohnung, die er ganz allein bewirtschaftete. Das Imitat einer gemütlichen Bauernwohnung, mit kleiner Wohnküche, Zwiebelzöpfen, Laugenbrezeln und rot karierten Sitzbezügen. Dies war der Ort, an dem er sich erdete.
    Dijon feuerte den Ofen an, um sich Wasser warm zu machen. Nachdem es aufgekocht war, legte er seine verstaubten Reitkleider ab, um sie eigenhändig an dem Waschbrett sauber zu schrubben. Er beeilte sich nicht, die Zeit hier unten gehörte ihm. Anschließend hängte er die Wäsche mit Klammern an der Leine in der Nähe des Ofens auf. Das dreckige Wasser schüttete er in einen vergitterten Abfluss, der hinab in den Abgrund führte. Er reinigte anschließend auch sich selbst an einer Waschschüssel, wusch sich den Sand aus dem Haar, um sich hernach mit einem Buch bei Kerzenschein nackt in einer dicken Decke auf dem Sofa einzukuscheln. Statt Rotwein stand eine dampfende Tasse Kräutertee auf dem Beistelltisch. Die Lederstiefel lagen mit abgeknickten Schäften neben der verschlossenen Tür, als würden auch sie sich zur Ruhe begeben haben.
    Die Lider wurden ihm schwerer mit jeder Zeile, die er las. Nach wenigen Seiten schlummerte Dijon ein, das Buch noch auf der Brust. Die Bewegung an der frischen Luft hatte ihn müde gemacht und ganz gleich, wie rüstig er wirkte, so war er doch kein junger Mann mehr. Er erwachte nach einiger Zeit von allein, trank den Rest des kalt gewordenen Tees und zog die Wäsche an, die er vor einigen Tagen hier unten schon gewaschen, getrocknet und gebügelt hatte. Da gerade keine weitere Hausarbeit anstand, machte er sich auf dem Sessel bequem und nahm eine gerahmte Tuschezeichnung zur Hand, ein Geschenk von Prince Ciel.
    Wie auch immer der Prince es geschafft hatte, aber Alexandre lächelte auf diesem Portrait. Er saß darauf nicht steif auf einem Stuhl, das förmliche, kaum sichtbare Schmunzeln des Adels um die Mundwinkel spielend, wie es auf Ölgemälden dargestellt wurde. Nein, er saß ganz entspannt, den Arm über die Rückenlehne eines Sofas gelegt, das Hemd oben ein Stück offen und lächelte dem Betrachter zu.
    Grund zum Lächeln hatte Alexandre von der Sache her so wenig wie sein Vater. Eine einzige Nacht des jugendlichen Leichtsinns hatte die Zukunft der Familie La Grange vernichtet. Was so hoffnungsvoll begonnen hatte, ein ehrgeiziger junger Marquis mit magischer Begabung und besten Beziehungen zur Krone, war wegen eines einzigen Fehlers in der völligen Vernichtung geendet. Damit, dass Alexandre seine Entmannung überlebte, hatte niemand gerechnet, doch von der Sache her war es gleichgültig. Ob er nun lebte oder nicht, die Familie starb mit ihm im Mannesstamm aus. Und Dijon blieb nichts anderes übrig, als hilflos dabei zuzusehen, wie die letzten Tage seines Geschlechts an ihm vorüberzogen.
    Dijon fragte sich, ob dies die Strafe dafür war, wie er mit seinen Mätressen umging, dass ausgerechnet eine Frau das Leben und das Werk seiner Familie zerstört hatte. Vielleicht war das Unglück aber auch der Tatsache geschuldet, dass eine Dupont die Mutter seines Sohnes war, die Tochter einer Familie, der man nachsagte, vom Unglück verfolgt zu sein. Entgegen aller Vernunft hatte Dijon nicht die Marquise Isabeau Hortenese de Bariere zur Frau genommen, die ihm in Aussicht gestellt worden war, sondern sich die Tochter des Chevaliers de Dupont zur Hauptfrau erwählt, deren stilles, tieftrauriges Wesen irgendetwas in ihm ansprach, dass ihn unsterblich nach ihrer Nähe verlangen ließ. Fleur, die Blume. Haar so schwarz wie der Schleier der Trauer, die ihre Seele umhüllte, Augen so grau wie der Himmel im Winter. Alexandres Mutter.
    Was auch immer es war, das die Schuld an dem Schicksal der La Granges trug, es hatte gewonnen. Dijon wusste nicht, was nach Alexandres Tod mit seinem Lehen geschehen würde. Entweder, ein anderer Marquis bekam es übereignet oder ein neuer Marquis würde ernannt werden. Die altehrwürdige Geschichte der La Granges aber endete am Todestag von Alexandre. Dijon blieb nur, dem Schicksal aufrecht und in Würde entgegenzublicken. Dazu gehörte auch, hin und wieder all die Wut, den Frust und die Verzweiflung im kontrollierten Rahmen herauszulassen. Er beschloss, einen Brief aufzusetzen und seinen alten Freund Gideon de Gladu zu einer Feierlichkeit einzuladen. Comte Neville de Grivois, genannt der Schlüpfige, war auch immer ein unterhaltsamer Gast. Ja, eine Feier, ein paar Tage ausufernder Dekadenz würden ihnen allen guttun, um die Hoffnungslosigkeit vor der Haustür für eine Weile zu vergessen. Ändern konnte er daran ohnehin nichts mehr.
    Es klopfte.
    Dijon fuhr zusammen. Niemand außer seiner Familie kannte diese geheime Tür. Und seine Familienmitglieder wussten, dass er hier unten nicht gestört werden wollte. Es musste ein Notfall sein. Dijon legte das Portrait auf den Tisch und eilte zur Tür.
    »Wer da?«, fragte er, ohne sie zu öffnen.
    »Alexandre«, kam die Antwort.
    Sein Sohn war zu Besuch gekommen, den weiten Weg von Beaufort bis in seine alte Heimat. Dass er seine Anreise nicht angekündigt hatte, war ein Grund mehr, sich Sorgen zu machen. Dijon entriegelte umgehend die Tür und ließ ihn eintreten. Hinter ihm schloss er sofort wieder ab, was Alexandre nicht zu passen schien, denn er schaute die Tür an.
    »Dass du unangekündigt angereist bist und mich hier unten aufsuchst, sagt mir, dass es dringend ist«, sprach Dijon in strengem Ton. »Kommen wir also ohne Umschweife zur Sache. Was führt dich her?«
    Alexandre deutete eine Verneigung an. »Ich freue mich, Euch zu sehen, Vater. Wenn Ihr gestattet, öffne ich zunächst die Tür, um die beiden Gäste hineinzubitten, die Ihr gerade ausgesperrt habt.«
    »Dieser Ort ist geheim«, polterte Dijon. »Ich hoffe sehr, dass es zwei nahe Verwandte sind.«
    »Das sind sie«, antwortete Alexandre. »Und sie haben wichtige Kunde für Euch.«
    Dijon nickte. »Dann bitte sie herein.«
    Er fragte sich, warum der Besuch nicht Zeit hatte, bis er wieder oben war. Er zog sich nie länger als ein paar Stunden hier unten zurück, ehe die Pflicht ihn wieder hinauf trieb. So lange hätte man doch warten können. Was mochte das für eine fatale Botschaft sein?
    Alexandre entriegelte die Tür. Zwei hochgewachsene junge Männer traten ein, die offenbar Zwillinge waren. Einer rothaarig, der andere blond. Dem Aussehen nach waren es tatsächlich Verwandte. Sie hatten das typische Gesicht der La Granges mit den hohen Wangenknochen und dem Grübchen im Kinn. Aber wer? Großneffen, Großcousins? Vielleicht aus der Linie Sonzier?
    Der rothaarige Zwilling ergriff zuerst das Wort. »Hallo, Opa«, grüßte er mit einem unziemlich breiten Grinsen und sein Bruder grinste genau so. »Wir dachten, wir schauen mal vorbei.«
    Dijons entrüsteter Blick wanderte zu seinem Sohn. Dass diese beiden sich erdreisteten, ihn als ›Opa‹ anzureden, so etwas hatte er noch nicht erlebt.
    Doch Alexandre lächelte kaum wahrnehmbar. »Vater, ich möchte Euch die beiden Stammhalter Eurer Linie vorstellen.« Nacheinander wies er auf die beiden Gäste, zuerst auf den Rothaarigen, dann auf den Blonden. »Caillou und Camille de la Grange. Gezeugt in jener schicksalsträchtigen Nacht, der Letzten, die ich auf diese Weise verbringen durfte. Ausgetragen von der Menschenfresserin Derya und auf verschlungenen Pfaden zu mir zurückgekehrt. Es sind meine leiblichen Söhne. Ich dachte, ihr Besuch sei wichtig genug, um Euch ausnahmsweise an Eurem Rückzugsort zu behelligen.«
    Fassungslos erhob Dijon sich. Er betrachtete die beiden von oben bis unten. Ihr Alter passte und auch ihr Aussehen ... den Gedanken, dass Alexandre einem Schwindel aufgesessen war, verwarf er wieder. Wenn das alles der Wahrheit entsprach - und er sah keinen Anlass, das Wort seines Sohnes infrage zu stellen - dann war seine Linie gesichert. Die Zukunft von La Grange war gerettet! All die Jahre hatte es die ersehnten Enkel irgendwo da draußen gegeben, ohne dass jemand von ihnen wusste, ehe sie den Weg nach Hause fanden. Und ehe er sich versah, hatten die beiden ihn gleichzeitig umarmt.
    »Wir haben dich lieb, Opa«, flüsterte Caillou und streichelte seinen Rücken.
    »Haben wir«, sagte Camille leise und kraulte seine Schulter. »Darum gibt es uns sogar in doppelter Ausführung.«
    Dijon ließ die Zärtlichkeit mit einer Mischung aus Verstörtheit und Freude über sich ergehen. Selten genug war es, dass jemand ihn so herzlich in die Arme schloss und sich über seine Gegenwart freute.
    »Ich freue mich auch«, sagte er aufrichtig. Es gelang ihm, sich zu befreien und er betrachtete erneut die beiden jungen Männer. »Aber wer von euch beiden ist denn nun der Stammhalter? Wer ist der Ältere?«
    »Wir sind genau gleich alt«, behauptete Caillou.
    Camille nickte. »Wir haben uns gleichzeitig aus dem Leib unserer Mutter herausgefressen.«
    Den Humor hatten sie jedenfalls nicht von ihm. Dijon blickte fragend Alexandre an.
    »Sie haben es ihrer Mutter bei der Geburt sehr schwer gemacht«, sprach Alexandre. »Sie haben sie fast umgebracht. Derya war allein, als die beiden zur Welt kamen. Die Schmerzen, welche die Menschenfresserin mir zugefügt hat, bekam sie von meiner Saat zurück. Leider hat es nicht gereicht, sie aus dem Leben zu reißen.«
    »Sie muss hinterher ausgesehen haben, als hätte sie sich auf einen Fleischwolf gesetzt«, erklärte Caillou grinsend. »Wir sagten doch, wir haben uns durchgefressen. Sie hat uns die Schote mehrmals erzählt, ich glaube, sie war sogar stolz auf uns. Wir lagen hinterher beide in einer Blutlache und sie wusste nicht mehr, wer von uns nun der Erstgeborene war. Wir sind aber der Meinung, dass wir zeitgleich den Kopf hinausgestreckt haben.«
    »Oder den Hintern«, gab Camille zu bedenken. »Vielleicht waren wir Steißgeburten.«
    Alexandre winkte mit einem unterdrückten Lächeln ab. »Zwei Stammhalter stehen vor Euch, Vater«, erklärte er und trotz allem meinte Dijon, Angst in seiner Stimme zu hören. Vermutlich fürchtete er, ihn erneut nicht zufrieden stellen zu können. »Wer die Linie letzten Endes fortführt, kann sich zu gegebener Zeit an praktischen Beweggründen orientieren. Ich hoffe, dass Euch das etwas von Eurer Sorge um die Zukunft nimmt.«
    Dijon lächelte schmerzlich, als er seinen Sohn so förmlich über seine Kinder sprechen hörte. Seine strenge Erziehung war vielleicht an manchen Stellen ein wenig über das Ziel hinausgeschossen.
    »Lassen wir den Pluralis Majestatis ab heute«, entschied er. »Diese Anrede ist zwischen uns nicht mehr angebracht, wenn sie es denn je war. Wir sind per Du, mein lieber Alex.«
    Es war das erste Mal, dass er ihn mit der Kurzform seines Namens ansprach. Er griff Alexandres Oberarme und küsste seine Stirn, streichelte seine Wange und gab ihn wieder frei.
    Alexandres Mundwinkel waren zu einem Lächeln verzogen, in dem Freude und Wehmut gleichermaßen lagen.
    »Ich danke dir«, sagte er.
    Dann entdeckte er das Portrait auf dem Tisch. Während die Zwillinge sich in der Küche nach etwas Essbarem umsahen, nahm er es zur Hand.
    »Ich wusste nicht, dass du ein Bild von mir besitzt«, sagte Alexandre leise. »Ich war der Einzige, von dem du kein Ölgemälde in Auftrag gegeben hattest.«
    Dijon wich seinem Blick aus. Dann holte er eine Mappe aus einer Schublade und legte sie ihm hin. Als Alexandre sie aufschlug, waren darin zahllose Zeichnungen, die ihn darstellten.
    »Eitelkeit und Schmerz sind selten gute Ratgeber«, gestand Dijon. »Wie Prince Ciel es geschafft hat, dich zum Lächeln zu bringen, weiß ich nicht. Aber dass er es schaffte, im Gegensatz zu mir, der dich nur zum Weinen brachte, das macht mich traurig und glücklich zugleich. Ich war ein Gockel, der unheilbar in seinem Stolz gekränkt war. Ich gab dir die Schuld für etwas, dessen Opfer du letztlich nur warst. Meinen Schmerz über das Aussterben unserer Linie habe ich höher gehalten als den Schmerz, den du all die Jahre erleiden musstest und an dem auch ich zu einem Teil Schuld trage. Ich hätte anders urteilen oder mir ein Urteil einfach verkneifen müssen.«
    Dijon schloss seinen Sohn in die Arme - das erste Mal seit über zwanzig Jahren. »Bitte vergib mir«, bat er. »Lass uns einen Neuanfang wagen.«
    »Vergeben und Vergessen«, antwortete Alexandre. »Ich habe für meinen Leichtsinn bezahlt. Aber unsere Familie wird nicht länger darunter leiden müssen. Caillou und Camille bringen eine neue Morgendämmerung. Sie werden die nächsten Wächter der Morgenröte.«

    Estella de la Grange


    Während der Duc sein Interesse an Francesca bekundete, durfte Estella sich an der Aufmerksamkeit von dessen Sohn erfreuen. Sie fand, dass sie damit eindeutig die bessere Partie machte. Der Duc war alt und würde nicht ewig in seinem Amt bleiben und dann würde Dreaux seinen Platz einnehmen. Das waren Estellas Gedanken gewesen, als sie losgereist war. Die ursprüngliche Idee zu einer Verbindung ihrer Familien stammte nicht von ihr.


    Nun war sie umso überraschter, wie freundlich der Archi-Duc sich ihr gegenüber verhielt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr so sympathisch sein würde. Estella war keine Frau, die sich gern dem Mittelmaß hingab und notfalls auch an anderer Stelle Abstriche machte. In dem Fall wäre dies die Sympathie gewesen, die der Aussicht auf eine gute Partie hätte weichen müssen. Wie auch ihr Bruder strebte sie nach dem Besten, was sie aus ihrem Leben herausholen konnte. Sie lächelte eine Spur breiter, als angemessen gewesen wäre. Das versprach ein interessanter und vielleicht sogar angenehmer Nachmittag zu werden.

    »Es ist mir eine Ehre, Hoheit«, antwortete sie. »In einem Garten plaudert es sich freier als in den Stuben, in denen man seine täglichen Pflichten erledigt und in denen die Luft vor lauter Arbeitseifer regelrecht flimmert. Nicht, dass ich etwas gegen Arbeitseifer einzuwenden habe, Fleiß liegt unserer Familie im Blut, aber für ein lockeres Gespräch sollte man die Arbeitsräume verlassen.«


    Alexandre schien erleichtert auszuatmen, als Dreaux und Estella sich zu unterhalten begannen und es auf den ersten Blick ganz gut lief. Er war sehr angespannt gewesen. Andererseits war Alexandre das immer. Estella fand, dass auch ihr Bruder unter die Haube gehören würde, aber immerhin hatte er scheinbar wenigstens endlich einen Leibdiener. So lange sie im Palast weilte, würde sie ein Auge auf ihren großen Bruder haben, der zwar der bekannteste und namhafteste Spross der de la Granges war, aber auch das große Sorgenkind.

    Zur Verblüffung des Hofstaates eilte dem Erzhexer heute keine Wolke von schwerem Schweißgeruch voraus. Alexandre erwartete Besuch. Er hatte Zerbino gestattet, ihn so sauber zu schrubben, wie es für einen Marquis angemessen war, ihn zu rasieren und ihm die Zähne zu putzen und ihn mit sauberen Roben anzukleiden. Manch einer erkannte Alexandre ohne seine kultivierte Unsauberkeit kaum wieder, doch diesen scherte es nicht, was der Hofstaat oder der Pöbel von ihm hielt.


    Pferdehufe klapperten und Kutschräder knirschten über das Pflaster des Hofes. Die Kutsche mit dem Wappen der de la Granges fuhr vor, ein roter Hahn auf goldenem Grund. Begleitet wurde sie von einem kleinen, aber sehr aufgetakelten Gefolge mit gelben Wappenröcken, auf denen ebenso der rote Hahn prangte. Eine Frau, die Ende 20 sein musste, stieg mit Hilfe ihrer Zofe aus. Sie war nicht so filigran gebaut wie die meisten Damen, sondern sehr groß und muskulös. Sie war mit ihren Absatzschuhen genau so groß wie Alexandre und der war 1,84 m. Der rote Federbusch in ihrer braunen Perrücke ließ sie allerdings noch größer wirken. Sie hatte ein rundes Gesicht mit einem prominenten Kinn und trug roten Lippenstift, der zu den Federn passte. Estelle Nolwenn de la Grange wurde von ihrem Bruder und ihren engsten Vertrauten Stella genannt - Stern.


    Estelle und Alexandre umarmten sich und sie küsste ihren Bruder. »Gut siehst du aus, Alex!« Er sagte dazu nichts und bot ihr seinen Arm an. Er führte sie ins Innere des Palasts, während ihre Zofe hinterherging, die einen abgedeckten Korb in beiden Händen trug, und Zerbino für die Beiden die Türen aufhielt. Um das Gepäck kümmerten sich die Dienstboten. Während des kurzen Fußmarschs lästerte Estelle über die Damen ihres eigenen Hofs in La Grange. Auch dazu sagte Alexandre nichts.


    Bevor sie ihr eigentliches Ziel ansteuerten, den Thronsaal, empfing sie Ciel, der ebenfalls schon aufgetakelt war. Mit seinem weiß geschminkten Gesicht und der weißhaarigen, unmodisch lockenlosen Perücke blendete er regelrecht. Obendrein trug er heute sehr dunkelrote Kleidung, fast schwarz, so dass sein Kopf noch weißer wirkte. Alexandre war es nicht gewohnt, seinen Schüler in diesem bedauernswerten Zustand weltlicher Verbundenheit zu sehen. Ciel hatte sich einen Schönheitsfleck in Form eines Fisches auf die rechte Wange kleben lassen. Der Kenner wusste, dass ein Schönheitsfleck auf der rechten Wange bedeutete, dass der Träger keine Annäherungsversuche wünschte. Mit dem Motiv des Fischs outete Ciel sich obendrein als kühl, prüde und langweilig, um die Leute zusätzlich abzuschrecken. Wer genau hinsah, erkannte, dass der kleine Fisch ein dicker Karpfen war, der erstaunliche Ähnlichkeiten zu dem etwas moppelig gewordenen Ferrau aufwies, der in viel zu enger Kleidung herumwuselte. Und wer noch genauer hinsah, bemerkte einen viel schlankeren Fisch an Ferraus Hals unterhalb seines Ohres, wo er einen Knutschfleck mehr betonte als abdeckte.


    Ciel, der Alexandres Blick bemerkte, schmunzelte etwas und widmete sich dann dem korrekten Begrüßungszeremoniell, als Alexandre ihm seine Schwester vorstellte. Anschließend zog die kleine Prozession, zu der nun auch Ciel und sein Leibdiener Ferrau gehörten, in Richtung des Thronsaales.


    Als Familienmitglied war es Ciel vergönnt, gleich in den Thronsaal einzutreten, die gesamte Gefolgschaft im Schlepptau. Er stellte sogleich fest, dass bislang nur Familienmitglieder anwesend waren, denn seine Mutter verhielt sich entsprechend. Strahlend erhob sie sich von dem Platz neben Maximilien, um ihren Sohn herzlich zu umarmen und auf die fischlose Wange zu küssen. Ciel schämte sich in Grund und Boden. Minette war noch nicht fertig, lautstark lobte sie Alexandres Äußeres, der sich schmallippig bedankte. Immerhin musste er keine Kussattacke ertragen, da er nicht zur Familie gehörte, aber sie nestelte am Stoff seiner Roben herum, um sie zu befühlen. Danach war Estelle an der Reihe, deren Kleid und Federkopfputz sie mit vielen Ahs und Ohs bewunderte. Ciel fand Estelles Äußeres hingegen vollkommen übertrieben, es passte zu dem roten Gockel im Wappen und Ciel meinte, tatsächlich rot gefärbte Hahnenfedern in ihrem Haar auszumachen. Auch die Zofe wurde herzlich begrüßt. Minette schloss ihre Begrüßung damit, dass sie Ferrau liebevoll in die feiste Wange kniff und ihm zuschmunzelte, ehe sie sich bester Stimmung wieder bei ihrem Mann niederließ, um diesen nun mit ihrer Herzlichkeit zu quälen. Dass die Duchesse ebenfalls anwesend war, die Erstfrau des Ducs, schien Minette in ihrer Herzlichkeit noch zu bestärken, sie fummelte unentwegt an Maximiliens Hand herum, strahlte ihn an und plauderte mit glänzenden Augen Belanglosigkeiten.


    Ciel nahm bei seinen Geschwistern und seinen Schwagern Platz, weit genug entfernt von Minette, dass sie ihn nicht ohne weiteres erreichen konnte, aber nah genug, um auch noch mit seinem Vater sprechen zu können. Remy fühlte sich sichtlich fehl am Platz, aber er gab sein Bestes, eine gute Figur zu machen - indem er die Klappe hielt. Er hatte Angst.


    Alexandre und seine Schwester begrüßten soeben den Duc und die Duchesse.