Der Späher im Grasmeer

  • Der Späher im Grasmeer

    Es begab sich zu jener Zeit, da Nordsouvagne noch von den plünderenden Schergen des Khawa Steppensturm heimgesucht wurde.


    Ungebremst fuhr der Wind durch das verdorrte Gras. Kein Baum, kein Hügel bremste den heißen Hauch der Steppe. Alvashek glühte weiß und tödlich im Zenit seiner Macht. Er verbrannte die Pflanzen und ließ die Wasserlöcher verdunsten. Die wenigen Wolken zogen vorbei, ohne kostbaren Regen zu spenden. Im Süden, so erzählten sich die Stämme, gab es einen Sonnenkult. Sherkal verstand nicht, warum man einen Gott verehrte, der jeden Sommer aufs Neue die Welt verbrannte. Wie die anderen seines Volkes legte er sein Schicksal in die Hände des Chaosgottes Rakshor, der jedem Menschen Freiheit versprach, der Plünderungen als Lobpreisung annahm und sich über frohe Tänze und Gesänge freute. Rakshor war ein guter Gott. Der Sonnengott Alvashek hingegen schien ein sadistischer Gott des Todes zu sein, der Freude dabei fand, die Menschen mit Durst und Hitzschlag zu quälen und damit, dass sie hilflos zusehen mussten, wie auch die Tiere ihrer Herden gegen Mittag tot umfielen.


    Die Almanen in ihren Kettenrüstungen, die Sherkal schon einige Tage observierte, ehrten ihn auch nicht. Sie litten sichtlich unter der Hitze, denn unter den Kettenhemden trugen sie noch eine mehrlagige, sehr dicke Leinenjacke als Polster. Die Kettenglieder schützten gegen Stiche, das Polster gegen innere Blutungen durch die Kraft der Stöße, so viel wusste Sherkal. Gegen Pfeile aber schützte beides nicht. Regelmäßig brachen die Almanen bei ihren Übungsmärschen oder auch nur während der Wache zusammen. Warum sie ihre Rüstungen nicht ablegten, verstand er so wenig, wie er das ganze Volk begriff. Immerhin teilte er ihre Abneigung gegen den Hochsommer.


    Sherkal robbte weiter, um einen besseren Aussichtspunkt zu erreichen. Dabei zerkrümelten die zu Stroh verdorrten Pflanzen unter seinen Armen teilweise zu Staub. An einem geeigneten Platz ließ er sich nieder. Hier hatte er sie Blick, ohne dass sie auf ihrem Weg zum Dubis, dem, von Souvagne aus betrachtet, letzten Fluss in Richtung Norden an ihm vorbeigingen. Das hatte ihn am Ende doch etwas nervös gemacht.


    »Nicht erschrecken. Ich bin es nur.« Voshid kroch neben ihn.


    Keuchend fuhr Sherkal herum. »Wie soll man nicht erschrecken, wenn du aus dem Nichts austauchst? Was willst du?«


    »Eine Information von Khawa überbringen. Wir leiten den Angriff ein«, raunte er leise.


    »Schön, dass man endlich mal auf meine Empfehlungen hört. Einen besseren Zeitpunkt gibt es nicht. Schau nur, wie rot ihre Köpfe aussehen. Sie leiden unter der Hitze mehr als wir. Wären sie klug gewesen, hätten sie sich zu Beginn des Sommers wieder in ihr kaltes, nasses Souvagne zurückgezogen. Beim ersten Angriff werden sie zusammenbrechen.«


    »Unterschätze nie einen Feind. Sie sind keineswegs dumm. Ihnen ist bewusst, dass wir sofort nachrücken, sobald sie weichen. Die Dubisebene ist der einzige Pass von der Steppe in den Süden.« Plötzlich zeigte Voshid mit dem Finger auf den Bereich hinter dem Lager. »Was für herrliche Pferde!« Mit ihrem leichten, hochbeinigen Körperbau wirkten die Tiere wie große Antilopen.


    »Ach die«, sagte Sherkal betont gelangweilt. Er ärgerte sich, dass seine klugen Ausführungen nicht auf die erhoffte bewundernde Resonanz stießen. »Sie gehören den Truppen des Feldherrn hier.« Sherkal war mächtig stolz darauf, was er herausgefunden hatte. »Sie nennen diese Tiere Udineser. Der Marquis de la Grange hat sie mitgebracht. Es ist eine Rasse von Jagdpferden, die eigens für die Halbwüste und die Steppe gezüchtet wurden. Sie kommen mit der Hitze sehr gut zurecht.«


    »De la Grange? Was ist denn das für einer? Muss ja ein hohes Tier sein, wenn er eine eigene Pferdezucht unterhält.«


    »Na, wie ich schon sagte!« Sherkal fuchtelte ungeduldig mit der Hand. »Er ist ein Marquis! Das ist der nächsthöchste Adelsstand gleich nach dem Duc! Und wir haben von allen Marquis ausgerechnet diesen als Gegner erwischt!« Er wies in Richtung der Banner. Ein roter Hahn auf goldenem Grund sträubte angriffslustig sein Gefieder. Unter ihm kreuzten sich zwei Ähren.


    »Nie gehört«, maulte Voshid.


    »Er kommt ja auch nicht aus der Gegend. Er stammt aus dem Osten von Souvagne. Dort haust er auf dem Sonnenstein, einer riesigen gelben Sandsteinfestung.«


    Voshid schien ein Licht aufzugehen. »Aus dem Osten? Der Rote Hahn! Er ist das!«


    »Na klar, was denkst du, warum der so heißt? Wegen seinem Banner! Dijon ist das und seine ganze Sippe. Immer, wenn man sagt, dass der Rote Hahn naht, ist damit das Heer von De la Grange gemeint. Während der Chaoskriege haben seine Vorfahren die Ostgrenze von Souvagne verteidigt. Und sie haben sie gehalten. Von Generation zu Generation wurden sie immer bösartiger. Sie hassen Rakshaner schon aus Prinzip. Dijon de la Grange ist dafür berühmt, ein Schlächter zu sein. Sogar die Souvagner fürchten ihn.«


    »Und dieser Bursche ist nun unser Gegner«, stellte Voshid wenig begeistert fest.


    »Richtig, euer Gegner. Meiner nicht.« Er ließ eine Pause, um dem anderen Gelegenheit zu geben, sich schlecht zu fühlen. »Ich würde ja liebend gern in die Schlacht reiten, um euch beizustehen, aber ich darf ja nicht.«


    »Als Kundschafter machst du deine Sache gut«, antwortete Voshid und knuffte ihm freundschaftlich gegen die Schulter. »Woher weißt du all diese Dinge?«


    »Na, ich habe sie natürlich ausgekundschaftet! Ich habe herumgefragt, zugehört, die Informationen zusammengetragen und mir das gemerkt, was wir brauchen. Den Rest habe ich vergessen.«


    Voshid runzelte die Stirn. »Und wen hast du befragt?«


    »Och, diesen und jenen! Wenn ich es dir verrate, verliere ich am Ende die einzige Aufgabe, die man mir anvertraut hat, außer Mokka zu kochen.«


    »Na schön. Behalt deine Geheimnisse für dich. Khawa wird schon wissen, warum er dir vertraut. Der Angriff wird jedenfalls in diesem Moment vorbereitet. Deine Aufgabe ist es, dich herauszuhalten. Vermassle es nicht.«


    »Sehr witzig«, giftete Sherkal.


    Voshid gluckste, zog sich zurück und tauchte ein in das Meer aus vertrockneten Gräsern und abgestorbenen Blüten. Einen Moment bewegte sich die tote Vegetation, dann war das Rascheln und Wogen nicht mehr von dem des Windes zu unterscheiden.


    Sherkal richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Feldlager.