Als sie ausreichend Flughöhe erreicht hatte, erkannte sie, dass sie ganz im Osten der Inselgruppe gelandet war. In der Ferne konnte sie den Vulkan und den Urwald von Caeron ausmachen, umrahmt von der großen Ebene, auf der die Aviare ihre Siedlungen und Felder hatten.
Vater wird außer sich sein, doch er hat gesagt, wenn jemand Hilfe braucht, dann muss man helfen. Das ist doch so. Das hat er gesagt, das sagt er immer.
Milous Gedanken rasten.
Ein Aviare in Leid hat immer Vorrang.
Das waren seine Worte, oder so ähnlich. Gut, der Mann war wahrscheinlich kein Aviare, aber das war bestimmt nicht entscheidend.
Milou erreichte die nadelförmigen Inseln, die Caeron am nächsten lagen. Jede einzelne Insel hatte einen Namen und all diese Namen mussten sie in der Schule lernen, doch Milou konnte sich gerade einmal die der Hauptinsel am nächsten gelegenen Inseln merken. Sie verstand nicht, wie ihr dieses Wissen helfen sollte. Besser wäre es, endlich den Urwald zu erforschen, oder den Vulkan; oder noch besser, die ganze Welt. Milou war sich sicher, dass es noch mehr geben musste, jetzt mehr als je zuvor.
Sie passierte Ralons Krallen, vier nah beieinanderstehende kleinere Felsnadeln, deren Einzelnamen sie vergessen hatte, es folgte Croenos und Cartos, und die etwas breitere Insel Alessa, eine der wenigen, die nicht der generellen Namensgebung folgten. Sie war nach Ralons Geliebter benannt, die dem großen Mythus zufolge eine Menschenfrau gewesen war.
Milou hatte Caeron erreicht und passierte die ersten Siedlungen. Es war nicht mehr weit, bis zu ihrem Dorf, nicht mehr weit, bis sie sich Aalon würde erklären müssen. Sie erreichte die ersten Häuser, flog über den Markplatz, an der Schule und Pater Rens Kapelle vorbei, am Haus von Taal und Flinn und landete schließlich vor ihrem eigenen. Milou verwandelte sich zurück. Ihre Arme schmerzten. Der weite Flug des Vortages – Milou hoffte, dass sie nur eine Nacht fort gewesen war – steckte ihr noch in den Gliedern.
Schwer schluckend ging sie den schmalen Pfad auf das Haus zu. Sie sah hinauf zu dem kleinen, runden Fenster im Giebel, hinter dem ihr Bett stand und dann hinab zur Tür und dem Fenster zu Küche und Wohnraum. Sie ging zum Haus, griff nach dem Knauf, atmete tief durch und öffnete die Tür mit deren typischen Knarzen.
Es kam keine Reaktion. Bestimmt waren Vater und Mutter bei der Arbeit. Oder sie suchen mich, schoss es Milou in den Kopf und das schlechte Gewissen regte sich.
Sie ging ein paar Schritte in das Haus und sah nach links in den Wohnraum. Auf einem der Stühle saß ihr Vater, in Vogelgestalt, den Kopf gesenkt, und davor kniete ihre Mutter und behandelte sein Gefieder. Milou verstand und schluckte den Klos in ihrem Hals hinunter.
„Hallo“, flüsterte sie und sofort hoben ihre Eltern die Köpfe.
„Mein Kind!“, brach es aus Lynn hervor. Sie sprang auf und auf Milou zu und riss sie in eine feste Umarmung. Milou ließ es dankbar geschehen und drückte sich an ihre Mutter.
„Oh mein liebes Kind. Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wo warst du? Dein Vater hat die ganze Nacht nach dir gesucht! Geht es dir gut? Wo bist du nur gewesen?“ Sie löste sich von Milou, um ihr in die Augen zu sehen, was ihren Redeschwall aber nur kurz unterband. Weitere Fragen hämmerten auf Milou ein, doch Milou antwortete nicht und sah zu ihrem Vater. Langsam erhob er sich und nahm seine Menschengestalt an, was nichts an seinem Raubvogelblick änderte.
„Es geht mir gut, Mutter“, sagte Milou sanft und löste sich endgültig von Lynn. Sie lächelte sie an und wandte den Blick dann wieder Aalon zu. „Vater“, setzte sie an, doch Lynn unterbrach sie.
„Aalon!“, rief sie mit plötzlicher Strenge in der Stimme. „Wer hat gesagt, dass du dich zurückwandeln sollst? Ich war noch nicht fertig! Willst du dein Gefieder verlieren?“
„Es geht mir gut“, unterbrach Aalon seine Frau in seinem üblichen, ruhigen Tonfall. Milou hatte noch nie erlebt, dass er die Stimme erhob, und das brauchte er auch nicht.
„Da war ein Sturm, letzte Nacht. Wo bist du gewesen?“
Milou schrumpfte unter seinem Blick zusammen. Was nutzte es zu lügen, zu behaupten, sie habe es nicht rechtzeitig nach Hause geschafft und sich einen Unterschlupf gesucht? Was nutzte das, wenn sie Vater brauchte, um dem Fremden zu helfen?
„Ich weiß“, murmelte sie. „Ich bin in den Sturm geraten.“
Kaum merklich schoben sich Aalons Brauen zusammen.
„Wieso… bist du in den Sturm geraten?“, fragte er leise, doch jedes Wort wog schwer und Milou wusste, dass die Luft dünn wurde.
„Ich…“ Milou wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Der Sturm ist erst zur fünften Mondstunde auf Caertol getroffen. Wie konntest du in den Sturm geraten?“
Milou sah auf den Boden. Es brauchte keine Worte. Aalon wusste, dass sie wieder auf das Meer hinausgeflogen war. Innerlich stählte sie sich für die Standpauke, für die Aufzählung all der Gefahren, was ihr alles passieren konnte, wie töricht und stur sie war, dass sie Himmel und See nicht ausreichend gut lesen konnte, wofür ihr Vater jetzt auch noch einen handfesten Beweis hatte.
Schlimmer noch, um ihretwillen war auch Aalon war in den Sturm geflogen. Er hatte sich und seine Flugfähigkeit in Gefahr gebracht, um sie zu suchen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass sie auf das Meer hinausgeflogen war.
„Hast du nichts dazu zu sagen?“
Endlich fiel Milou der Fremde ein. Sie hob den Kopf, sah ihren Vater prüfend an und nahm ihren Mut zusammen.
„Da ist jemand, der unsere Hilfe braucht.“
Ein alarmierter Ausdruck trat in Aalons Gesicht. „Hast du jemanden in Gefahr gebracht? Hast du Taal überredet…“
„Nein Vater“, unterbrach Milou ihn, ermutigt von seiner Unterstellung. „Es ist ein Fremder. Er… ich weiß nicht, was er ist. Er liegt am Strand von…“, Milou hatte keine Ahnung, wie die Insel hieß, „irgendwo im Osten. Er kann nicht aufstehen.“
Einige Augenblicke sah Aalon sie an. Ihm stand in das Gesicht geschrieben, wie viel er ihr entgegenwerfen wollte, doch als er den Mund öffnete, sagte er bloß: „Zeig ihn mir.“
Wie Milou es erwartet hatte. Aalon würde immer zuerst helfen. Hinterher war Zeit für alles andere.
„Aalon“, warf Lynn ein. „Du kannst nicht schon wieder…“, doch Aalon winkte sie ab.
„Das muss warten. Begleite uns, wenn du willst. Und nimm ein Seil mit.“
Mit diesen Worten ging er an Milou vorbei zur Tür hinaus. Milou und ihrer Mutter blieb nichts, als ihm zu folgen.
Als sie die Insel erreichten, lag der Fremde immer noch an Ort und Stelle. Jetzt da es richtig hell war, konnte Milou erst das ganze Ausmaß ihres Fundes erkennen. Der Strand war über und über mit Treibgut bedeckt. Den ganzen Flug hatten sie nicht gesprochen und auch jetzt sagte Aalon nichts. Mit strengem Blick und zusammengezogenen Brauen besah er den übersäten Strand.
„Diese Insel heißt Creste“, sagte er, nachdem sie gelandet waren und sich verwandelt hatten. Milou wusste, dass er ihren Lernfortschritt fortan vermutlich strenger überwachen würde.
Lynn schulterte das Seil und sah sich furchtsam um. „Was ist das, Aalon?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht.“ Auch Aalons Stimme klang beunruhigt.
Keiner von beiden teilte die freudige Aufregung, die Milou bei ihrem Fund verspürt hatte.
Aalon kniete neben dem Mann ab. Er legte zwei Finger auf seinen Hals und nickte. „Gib mir das Seil. Wir fixieren ihn und tragen ihn zu zweit. Milou wird unter uns fliegen und die Knoten im Auge behalten.“
Auch das war typisch für ihren Vater. Er handelte. Zeit für Fragen war später. Mit geübten Handgriffen band er eine Schlinge um die Brust und eine um die Oberschenkel des Mannes. An jeder Schlinge befestigte er je zwei Seile und nickte Lynn zu. „Denkst du, du schaffst das?“, fragte er und als sie nickte, bat er Milou die Seilenden um seinen und Lynns Körper zu binden. Sie verwandelten sich und waren kurz darauf bereit, loszufliegen. Die ganze Zeit über wachte der Fremde nicht auf und auch während des Fluges zurück nicht.
Milou sah zu, wie ihre Eltern die Knoten lösten und den Mann in die Stube trugen. Lynn bereitete ihm ein provisorisches Lager auf der Eckbank und legte ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Immer noch wachte der Fremde nicht auf.
Aalon trat neben Milou. „Du wirst nicht wieder nach Creste fliegen. Du wirst nicht mit diesem Mann sprechen. Du wirst keinem von deinem kleinen Abenteuer erzählen. Ich will kein Wort darüber hören.“
Milou ließ die Schultern hängen.
„Die nächsten drei Mondzyklen kommst du nach der Schule zu mir in die Schreinerei. Dort arbeitest du bis Abend und wir gehen gemeinsam nach Hause.“
Empört öffnete Milou den Mund.
„Keine Widerrede.“, kam ihr Aalon zuvor. „Nicht ein Wort. Und jetzt ab in dein Zimmer, bevor ich mir eine echte Strafe überlege.“