Als wir im Hotel waren, schaute ich wieder auf mein Handy. Eine Nachricht von Jan war gekommen.
„In Hagen liegt keine Lisa Müller.“ Mehr nicht und dadurch Aussage genug.
Sofort war mein Mund staubtrocken und ich musste mich setzen. Er hatte tatsächlich in einem Krankenhaus angerufen? Was sollte ich ihm denn jetzt sagen? Dass das Krankenhaus ihm das vermutlich bloß nicht hatte sagen können? Dafür hätte ich wissen müssen, wie das Gespräch zwischen ihm und der Klinik gelaufen war. Im schlimmsten Fall brachte es mich sonst noch tiefer in die Misere.
Dass Lisa verlegt worden war? Selbes Problem.
Dass ich gelogen hatte?
Und dann was?
Wenn er jetzt noch seine Kontoauszüge prüfte und die Buchung aus Berlin fand… Reflexartig schaltete ich das Handy aus und steckte es in meine Tasche, als könne mich das vor dem Einschlag bewahren. Wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich auch nicht. Ich legte den Kopf in meine Hände und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.
Im selben Moment kam Marie aus dem Bad.
„Alles gut?“, fragte sie.
„Ja…“, log ich, doch dann: „Nein.“
Sie sah mich erwartungsvoll an.
„Jan… mein Mann… er ist auf der Suche nach mir.“
„Hast du ihm denn nicht gesagt, wo du bist?“
Ich zog überrascht die Brauen zusammen. „Nein, natürlich nicht, ich meine…“
„Du bist schon seit… wie lange unterwegs und er hat keine Ahnung, wo du bist?“ Marie wirkte ehrlich entsetzt.
Ich verstand die Welt nicht mehr. „Was hätte ich ihm denn sagen sollen? Dass ich eine Affäre habe?“
„Für den Anfang hätte es vielleicht gereicht zu sagen, dass du mich besuchst. Oder von mir aus irgendjemand anderen.“ Sie schüttelte doch tatsächlich den Kopf über mich.
„Natürlich habe ich ihm etwas gesagt, aber er ist dahintergekommen.“
Marie seufzte wie über ein unnötiges Ärgernis. „Hast du denn keine Angst, was er tun könnte?“
„Natürlich habe ich Angst. Was denkst du denn?“ Ich konnte nicht verhindern, dass ich lauter wurde. Verärgert über Marie und mich selbst verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Wenn ich das gewusst hätte…“, murmelte Marie.
„Dann was?“
„Ich kann das nicht. Ich will damit nichts zu tun haben.“
Sie drehte sich um und eilte aus dem Zimmer.
Ich sprang auf und rannte hinterher.
„Marie!“, rief ich und sah, wie sie um die Ecke bog und im Treppenhaus verschwand.
„Verflucht!“ Ich riss die Karte aus der Halterung neben der Tür, hetzte den Gang entlang und die Treppe hinunter. Ich sah Marie durch die Eingangstüre nach außen verschwinden und rannte hinterher. Es war mir egal, ob mich die Männer an der Rezeption oder die anderen Gäste im Foyer anstarrten. Ohne Jacke drang mir die kalte Luft sofort bis auf die Haut. Ich rannte Marie nach und rief ihren Namen. Sie bog in eine Straße ab, dann in die nächste. Der Abstand wuchs. Ich hatte weder Ausdauer, noch war ich schnell. Noch ein paar Wendungen und ich hätte Marie verloren.
Sie blieb nicht stehen. Vielleicht sollte ich sie einfach ziehen lassen.
Als sie das nächste Mal abbog, hörte ich auf zu rennen und versuchte meinen Atem zu kontrollieren. Ich ging zur Kreuzung und schaute die Straße entlang, in der Erwartung, Marie aus den Augen verloren zu haben. Stattdessen stand sie nur ein paar Meter entfernt und hatte den Blick auf die Hausfassade vor sich gewandt. Über ihr hing wie ein Damoklesschwert das Schild eines Pubs.
Mein Herz raste vom Rennen, doch meine Furcht gab den Schlägen eine markerschütternde Intensität.
Ich konnte nicht verleugnen, dass ich selbst in diesem Augenblick nichts lieber getan hätte, als meine Sorgen zu ertränken. Ich hätte es am liebsten sogar mit Marie gemeinsam getan, doch allein, dass ich so etwas denken konnte, versetzte mir einen Stich. Langsam ging ich auf Marie zu. Wie gebannt schaute sie durch das große Fenster des Pubs. Ein paar Schritte entfernt blieb ich stehen.
„Marie…“, sagte ich. „Tu das nicht.“
Sie drehte den Kopf zu mir.
„Warum bist du gekommen?“, fragte sie leise. Sie wirkte, als hätte sämtliche Lebensenergie sie verlassen. Während ich bis auf das Mark fror, schien sie die Kälte gar nicht wahrzunehmen. „Nach Berlin?“
Ich schluckte. „Können wir wo hin gehen, wo es warm ist?“ Ich versuchte nicht wie automatisch in Richtung des Pubs zu blicken.
„Wieso bist du zu mir gekommen?“
„Ich…“, begann ich, doch es war so kalt. Ich konnte nicht denken. „Marie, mir ist kalt. Lass uns ins Hotel zurückgehen, oder in ein Café.“
„Wieso bist du zu mir gekommen?“ Sie hob nicht die Stimme, sie veränderte ihren Gesichtsausdruck nicht, sie wiederholte stoisch ihre Frage.
„Wegen deiner Nachricht auf dem Weinetikett. Ich hatte die Befürchtung, du hättest… ein Problem.“
„Wie kamst du darauf? Die Nachricht war absolut nichtssagend.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das war sie nicht.“ Nicht, nachdem ich mich einen ganzen Sommer so intensiv mit Marie beschäftigt hatte.
„Wie hast du mich gefunden?“
Müssen wir das wirklich hier auf der Straße besprechen, fragte ich mit meinem Blick. Ich kam mir vor wie in einem Film. Als stünde Marie auf dem Dach eines Hochhauses, kurz davor zu springen, und meine Anwesenheit und unser Gespräch war alles, was sie davon abhielt.
„Wie?“
„Ich war zuerst in Friedrichskoog. Dann in Büsum. Jan von der Surfschule hat mich an Dean vermittelt und mir gesagt, dass du nach Berlin gegangen bist. Das war’s.“
Sie sah mich lange an. „Wieso bist du gekommen?“
„Marie, das hatten wir doch…“
„Wieso?“
Ich schlang die Arme um meinen frierenden Körper. „Weil ich seit Juni nicht aufhören kann, an dich zu denken.“
Marie schwieg, also fuhr ich fort.
„Ich weiß doch auch nicht, was hier passiert. Mein ganzes Leben war ich nur mit Männern zusammen und jetzt, wo ich eigentlich dachte, ich hätte dieses Kapitel geschlossen, verliebe ich mich? In eine Frau? Denkst du für mich ist das alles leicht? Denkst du, ich mache das zum Spaß?“
Auch jetzt nach dem Streit fühlte es sich noch falsch an, Marie mein Dilemma an den Kopf zu werfen. Aber es war einfach ungerecht. Neben Maries Päckchen würde meine Last immer nichtig sein.
„Heißt das, du liebst du mich?“, fragte sie.
„Keine Ahnung. Vielleicht bin ich deswegen gekommen. Um das herauszufinden. Ich kenne dich noch nicht einmal wirklich.“ Ich löste den Blickkontakt.
„Ich fasse es nicht, dass das wirklich passiert.“, sagte Marie nach einer Weile. „Wusstest du, dass Liebeskummer gar nicht so verschieden ist von einem Entzug? Und in beiden Fällen sollte man sich fernhalten, während alles in einem danach verlangt, der Versuchung nachzugeben.“
Ich sah wieder zu ihr, um ihren Gesichtsausdruck zu sehen. Ein gequältes Lächeln lag auf ihren Lippen.
„Habe ich dir je gesagt, dass du aussiehst, wie sie? Wie Johanna, meine Frau?“ Eine vernichtende Bitterkeit lag auf den letzten beiden Worten.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich habe es gesehen“, flüsterte ich.
Das Lächeln verschwand aus Maries Gesicht. „Und was noch?“, fragte sie.
Ich zögerte und senkte den Blick.
„Was noch, Vanessa?“
Die Pein war mir mit Sicherheit ins Gesicht geschrieben und schwang in meinen Worten mit. „Den kleinen Jungen.“ Deinen Sohn. Vorsichtig hob ich den Blick. Marie starrte mich weiterhin ausdruckslos an. Ich konnte nicht im Geringsten einschätzen, was meine Worte in ihr auslösten und was sie jetzt tun würde. Es war genauso wahrscheinlich, dass sie auf mich zustürmte und mich angriff, wie dass sie an Ort und Stelle zusammenbrach, oder sich ergab und in das Pub ging. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Jungen zu erwähnen, doch Marie hatte mich dazu gedrängt. Sie hatte wissen müssen, was kommen konnte, und hatte es trotzdem herausgefordert.
„Komm“, sagte sie schließlich. „Mir ist kalt.“
Ohne ein weiteres Wort ging sie an mir vorbei zurück, in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Fassungslos blieb ich stehen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Und doch war es so typisch für unsere gemeinsame Zeit, so typisch für Marie. Wir suchten nach Antworten und fanden noch mehr Fragen. Wir bewegten uns im Kreis. Wollten oder konnten wir nicht ausbrechen?
Ich warf selbst einen sehnsüchtigen Blick auf das Pub, dann folgte ich Marie.