Beiträge von Jaro Ballivòr

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    Vielen Dank, dass du dir auch noch mal so viel Zeit für meine Fragen genommen hast! Ich hoffe, ich konnte es würdig ausgleichen. :)

    Ich würde mal sagen, das ist eine Untertreibung ;)

    Deine Anmerkungen sind wertvoll und durch die Bank richtig gut - ich werde alles beherzigen, weil es mir sehr gut gefällt und direkt unzählige Ideen erweckt wurden.


    Ich finde, du nimmst dir stets sehr viel Zeit für die Texte anderer, deshalb bin ich froh, dass ich auch dir mal etwas rückmelden kann und hoffe ebenso immer, dass es deiner Hilfe gerecht wird.


    Also wenn du nächstes Jahr Jubiläum hast, müssen wir das ja gemeinsam feiern! ;)


    Liebe Grüße

    Folgende Fragen sind mir noch eingefallen:

    - Wie findest du es, dass Vanessa sich am Ende trotz Maries Anwesenheit betrinkt? Ist das drüber? Ich das realistisch?

    - Wenn du dich zurückerinnerst (du musst nicht nachlesen), wie dominant oder extrem findest du Vanessas Gefühle nach der Rückkehr aus dem Urlaub aus jetziger Sicht?

    - Sind dir offene Fragen geblieben, die noch aufgelöst werden sollten?

    - Auch bei mir: gibt es etwas, das du ersatzlos streichen würdest?

    - und die zweite von dir geklaute Frage: wer ist Deine Lieblingsfigur?


    Obwohl ich viel gelitten habe und mich teilweise quälen musste, bin ich sehr zufrieden mit dem Resultat. Es gab häufig Momente, in denen ich richtig grinsen musste, weil ich eine gelungene Passage noch einmal gelesen habe, oder weil mir eigenfallen ist, wo ich gut einen Hinweis verstecken kann. Das ist mir bisher noch nicht so oft beim Schreiben passiert. In der Vorbereitung auf den Nano hatte ich mal gesagt, dass diese Geschichte sich nach außen drängt, und ich denke, das habe ich dann auch gemerkt. Ich war viel intensiver dabei, als bei meinen Fantasy-Entwürfen und denke, dass ich für diese auch einiges gelernt habe. Ich denke nicht, dass es das Genre ist, das mir mehr liegt (oder falls doch, wird es mich nicht davon abhalten, weiterhin in der Fantasy zu wüten), sondern eher das Thema.

    Wenn ich an mein Langzeitprojekt "Das vergessene Volk" - Stoff vergangener Nanos denke, kann ich einiges ableiten. Denn auch hier spielt eine (scheinbar) unmögliche Liebe eine zentrale Rolle, jetzt brauche ich noch ein bisschen mehr Tragik und schon kann es losgehen ;)


    Trotzdem, wie gesagt, ohne dich und den Nano als Format hätte ich es niemals geschafft, diese Geschichte so weit zu bringen. Manchmal tut es eben doch der Zwang, gepaart mit ausreichend Motivation und Zuspruch.



    Nun zu Serak:

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    Es wurde nie aufgelöst, woher Dolwin Seraks Namen kannte. Das Ganze ist ein ungeschriebener Nebenplot: Dolwin weiß Seraks Name von Znorla Bruchzahn, der im Herbst dem Trupp Darazgord begegnete, die Serak gefangennamen und denen er sich als Znorla Bruchzahn vorstellte. Dem echten Znorla war bei dieser Offenbarung sofort klar, wer ihr Gefangener in Wahrheit gewesen sein musste. Er weiß nun, dass Serak nicht tot ist, und ihn jagt ihn eigenmächtig, um Rache für Gory Gierschlund zu üben.


    Ahaaaa, das ist tatsächlich ein toller Nebenplot! Wenn eine Figur nicht "einfach so davon kommt", kann das der Geschichte und auch der Figur selbst nie schaden. Wenn also in diesem Fall Seraks Lüge ihm noch auf die Füße fällt, kann das nur gut werden. Vor allem, wenn du es so einfädelst, dass der Leser von dem Racheplan weiß, Serak aber nicht.

    In solchen Momenten muss ich auch immer an Waldscheidt denken, der häufig davon spricht "dichtere Geschichten" zu weben. Genau solche Verflechtung zählen für mich hier rein.



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    Was hältst du davon? Gut oder unnötig?

    Ich finde es gut und auch nötig, um diesem Nebenplot mitlaufen zu lassen, aber es sollte nicht zu offensichtlich sein (wie zB Serak sieht ihn auf der Straße). Das wiederum macht es natürlich noch schwieriger bei der Ich-Perspektive. Znorla taucht vielleicht nicht selber auf, aber Dolwin erwähnt ihn direkt oder indirekt, oder jemand anderes in Vellingrad verwechselt Serak mit Znorla (für Serak undenkbar, für einen x-beliebigen Menschen vllt nachvollziehbar).


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    Falls du es gut findest - wann oder wo würdest du Znorla das erste Mal wieder aufkreuzen lassen?

    Als erstes fällt mir spontan die Zeit in Vellingrad als am geeignetsten ein. Hier könnte es gut so ein direktes Zusammentreffen geben, oder Serak erfährt nur durch einen Dritten von seiner Anwesenheit und schließt selbst darauf, dass es nur Znorla sein kann. Genauso gut könnte er aber auch von einem Räuber in Dolwins Burg darauf angesprochen werden. Auf jeden Fall sollte ein bisschen Zeit zwischen der "Lüge" und der Erwähnung Znorlas liegen.



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    Welches Kapitel gefällt dir am besten?

    Besonders gefallen haben mir tatsächlich die Zeitraffermomente. Ich mochte das Erwachsenwerden in Dolwins Burg unfassbar gerne und auch das nachgereichte Zwischenkapitel in Vellingrad. Hier hatte ich besonders detailreiche Bilder vor Augen und es ist so unfassbar viel greif- und fühlbare Information in wenige Sätze geflossen.

    Szenen, die mir außerdem deutlich hängen geblieben sind, sind der Weg zu Dolwins Burg durch den Wald sowie die Hinrichtung und Seraks Reaktion darauf, wo der Text von seiner Trauer, seiner Wut und seiner Neuausrichtung nur so strotzt.


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    Wer ist deine Lieblingsfigur?

    Zwischenzeitlich war auf jeden Fall Dolwin meine Lieblingsfigur. Ich mochte das Mysteriöse und Erhabene an ihm sehr. Gegen Ende wurde er von Serak selbst abgelöst. Nicht, weil er umgekommen ist oder langweilig wurde, sondern weil Seraks Entwicklung einfach richtig gut war


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    Wovon hättest du gern mehr gelesen?

    Rückblickend hätte es noch recht interessant sein können, was Arvida abseits der Prüfungen so treibt (wenn sie nicht gerade versucht, Serak zu verführen ;) ) Serak könnte das alles für Schummelei bzgl der Prüfungen halten, in Wirklichkeit spioniert Arvida aber in ihrer Doppelrolle. Vielleicht ergibt sich so eine ganz dramatische Situation beim Überfall und erst, als Serak Arvida nach der Hintichtung sieht, wird ihm das vollkommen klar.


    Zusätzlich bin ich, Wie du, auch ein Atmosphäre und Symbolik-Fanatiker (siehe Rückkehrszene zur Burg). Von sowas kann ich generell nicht genug kriegen.


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    Was würdest du ersatzlos streichen?

    Reduzieren würde ich vermutlich den Dialog in Vellingrad, in dem viel über das Steuersystem etc. erklärt wurde. Hier würde sich vllt auch etwas in die Richtung anbieten, dass Serak selbst abschaltet. Z.B. :

    So ging es weiter und immer weiter, von [Steuerlicher Fachbegriff 1] über [Fachbegriff 2] zu [Fachbegriff 3]. Ich hörte nur noch im halbem Ohr zu. Was interessierte mich [hier wichtigen Info-Dump einfügen] wo ich doch einfach nur etwas zu Essen haben wollte?



    Mein Highlight insgesamt ist, wie sich Seraks Entwicklung sogar in der Erzählstimme wiederfindet, was umso besser passt, wenn man bedenkt, dass es seine Memoiren sind. Es ist nicht nur, was er tut und denkt - diese Wandlung ist natürlich auch deutlich und nachvollziehbar - es ist vor allem die Stimmung und der Subtext, die Atmosphäre und das Gefühl, das man bei Lesen erfährt, das mich packt. Das steckt quasi zwischen den Zeilen ist dadurch umso stärker.



    Auch Euch wünsche ich einen wundervollen ersten Advent :)

    Wir lesen uns die Tage wieder - und dem NaNo im nächsten Jahr bin ich auch alles andere als abgeneigt!

    Wow, ich habe mich riesig über deine Nachricht gefreut :knuddeln:

    Das ist ganz tolles Feedback.


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    Der Leser hat gemeinsam mit Vanessa die rosarote Brille abgelegt und die bittere Realität einer Suchterkrankung zu spüren bekommen. Marie ist eben nicht nur die selbstsichere, unerschütterliche Frau, als die wir sie in Büsum erlebt haben, sondern schlägt im Gegenteil durch kleinste Ereignisse um. Sie ist zwar trocken, aber nicht gesund. Auch Vanessa hat nun endlich realisiert, dass sie manipuliert wird und es auch so benannt. Dieser innere Wandel wurde sehr gut umgesetzt!

    Danke, das freut mich sehr. Zwischenzeitlich war ich sehr unsicher, wie ich Vanessas Verhalten weiterhin erklären kann. Für einen Außenstehenden erscheint es vielleicht irgendwann unglaubhaft, dass sie ihre Familie weiter im Dunkeln lässt und aufs Spiel setzt. Wenn man sich aber an die Extremsituation erinnert, die ein Mensch erleben kann, wenn er intensive Gefühle entwickelt, sieht alles schon wieder anders aus. Gerade diese Schwebesituationen, das Aufschieben einer Entscheidung, obwohl man weiß, dass es nicht besser werden kann und irgendwann knallen muss - habe ich selbst schon erlebt. Bei der Überarbeitung werde ich daran auch noch weiter feilen, zumal der "Knall" ja noch nicht einmal richtig ausgeschrieben ist.

    Auch, wenn Vanessa es nicht schafft, allein aus der Nummer rauszukommen und Marie und Jan für sie stark sein müssen, hat sich doch gewandelt, bzw. steckt noch mitten drin.


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    Vanessa sehnt sich nach einem Happy End - aber übersieht dabei, dass sie es eigentlich hat. Dass Jan ihr verziehen hat, ist nicht selbstverständlich. Aber wird sie ihn als Mann wieder lieben können? Falls nicht, dann hat sie nun hoffentlich gelernt, mit ihm zu reden, um eine vernünftige Lösung zu finden, anstatt wieder davonzulaufen und sich hinter ihrem ausgeschalteten Handy zu verstecken.

    Das war tatsächlich eine der ersten Ideen, die ich für diese Geschichte hatte: der große Kontrast zwischen Maries und Vanessas Konflikt. Auch am Ende hat Vanessa eigentlich alles noch, was Marie verloren hat, und es fällt ihr trotzdem schwer Ruhe zu finden. Deshalb freut es mich, dass diese Botschaft am Schluss deutlich wurde. Ich sehe großes Potential in diesem Thema. Jeder ist sehr auf sich fokussiert und es ist durchaus in Ordnung, wegen vermeintlichen Kleinigkeiten zu leiden - das ist etwas, was viele sich vielleicht erst zugestehen müssen. Trotzdem hilft es oft auch, den Blick hochzunehmen und zu versuchen, sich in andere hineinzuversetzen.

    Im Prinzip soll sich der Kontrast durch das ganze Buch ziehen. Anfangs ist Vanessa die leidende (oder sieht sich zumindest so), weil für sie so viel auf dem Spiel steht und ihr die Hände gebunden sind (weil sie eine Verpflichtung als Frau und Mutter hat), während Marie ihr frei und ungebunden vorkommt. Nach der ersten Trennung denkt Vanessa, dass es nur ihr so geht, und Marie alles kalt lässt. In Wirklichkeit aber hat Marie mit wesentlich Schlimmerem zu kämpfen, wovon Vanessa keine Ahnung hat. Als ihr das klar wird, zumindest zum Teil, überlegt sie nicht lange, sondern bricht blindlings auf in den Norden, ohne Erklärung oder gute Ausrede. Mit dieser Entschlossenheit trifft sie auch auf Marie, um sie "zu retten" / ihr zu helfen. Erst nach und nach wird Vanessa klar, dass das nicht so einfach geht und ihr eigenes Dilemma tritt wieder klarer in den Vordergrund. Jetzt empfindet sie es als unfair oder anstrengend, dass es trotzdem nie wichtiger oder schlimmer sein kann, als was bei Marie auf dem Spiel steht und zugleich macht ihr dieser Gedanken ein schlechtes Gewissen. Sie stellt fest, dass sie das nicht auf Dauer tragen könnte.


    Was auch ganz subtil mitschwingt, ist Vanessas Trinkverhalten. Es wird kaum hervorgehoben, da aus der Sicht Vanessas erzählt wird, die nicht merkt, dass es evtl kritisch sein oder werden könnte und die Maries Geschichte natürlich auch nicht so detailliert kennt. Im Grunde aber hat bei Marie alles ähnlich harmlos angefangen, wie bei Vanessa. So gesehen ist Vanessas Ende auch in mehrere Richtungen offen: wir sie Jan wieder lieben können? Wird sie ihr altes Leben wieder annehmen können? Hat sie ihr Trinkverhalten weiterhin oder wieder im Griff? Und natürlich auch: wird sie Marie wiedersehen?


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    Was Marie betrifft, so ist das Ende für sie keines, sie führt weiter ihr unstets Leben, aber es ist auch kein gänzlich schlechtes Ende - Grauzonen. Wohin es sie verschlagen wird - niemand weiß es. So wie auch niemand weiß, woher sie kam. Sie bewahrt ihre Geheimnisse. Für sie sind Vanessa und auch wir als Leser nur ein kurzes Blitzlicht. Es scheint, als würde sie unabhängig von dieser Geschichte existieren und, nachdem wir den Tab geschlossen haben, einfach weiter leben. Auch wenn sie sehr schwierig ist, ist sie eine faszinierende Persönlichkeit und vielleicht sogar die heimliche Hauptfigur der Geschichte.

    Ich denke ja: Marie ist die heimliche Hauptfigur. Als ich am 1.11. begann, wusste ich über sie schon viel mehr als über Vanessa, die zu dem Zeitpunkt nur einen Namen, einen Mann und zwei Kinder hatte.

    Ich hatte noch ein Epilogkapitelchen geschrieben, dass zeigt, wie Marie sich auf den Weg macht, Phillipp zu sehen - ermutigt von Vanessa, auch wenn sie das Gespräch abgewimmelt hatte. Letztlich habe ich erst mal gestrichen, da mir das offene Ende passender erschien, für Marie, als auch für die emotionale Wirkung.


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    Ich muss gestehen, dass ich bei diesem Beitrag ziemlich schlucken musste und irgendwo schnippelte auch jemand Zwiebeln (was nicht vielen Autoren bei einem harten Brocken wie mir gelingt)

    :bax:

    Da schicke ich doch gleich mal das Bax-Emoji... *schmelz*

    Es freut mich sehr, dass ich dich berühren und dadurch offenbar die gewünschte Stimmung in den Absatz bringen konnte. Das ist wahrscheinlich das größte Lob, das man kriegen kann.

    Auch wenn es irgendwie komisch ist, sich darüber zu freuen


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    Ich hatte eine Freundin, die ist Waise und auch suchtkrank, gleich dreifach und für sie war jedes Weihnachten eine Tortur, ab November ging es ihr so schlecht, dass es nichts gab, womit man sie trösten konnte. Jeder gut gemeinte Versuch der Linderung, z. B. gemeinsam Advent verbringen, verpuffte einfach. Man kommt einfach nicht wirklich an suchtkranke Menschen heran. Innerlich sind sie - auch nüchtern - oft ganz, ganz weit weg.


    All das schwingt in deiner Geschichte mit und besonders in diesem Post von Marie.

    Ich hoffe, du schreibst "hatte", weil ihr keinen Kontakt mehr habt, und nicht, weil sie ein schlimmes Ende genommen hat :(

    Ich weiß, es ist kein einfaches Thema, vor allem für Menschen, die selbst drin stecken oder enge Bekannte haben, die es tun und somit auch immer ein Risiko, darüber zu schreiben.

    Ich selbst habe bisher keine direkten Berührungspunkte mit Abhängigkeit gehabt, doch es ist ein Thema, das mich wahnsinnig fesselt und bewegt und über das ich schon viel gelesen habe. Ich hoffe natürlich, dass ich mit so einer Geschichte Menschen berühren kann, auch solche, die selbst schlimme Erfahrungen gemacht haben, am Ende aber soll trotzdem kein allzu negatives Gefühl bleiben, im Idealfall sogar ein wenig Trost.


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    Wie wäre es damit, das Papierstück dem Meer zu übergeben statt den Flammen? :)

    Das passt viel besser, da hast du Recht! Ich habe auch schon eine Idee, wie ich das umsetze :)


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    Insgesamt hat mir die Geschichte sehr gefallen. Obwohl sie zum Großteil von dir improvisiert war, hatte sie einen wunderbaren Spannungsbogen und alles greift ineinander. Man merkt deutlich, dass du schon viel Erfahrung im Schreiben hast und sicher hat auch der Kurs, den du belegt hast (und auf den ich immer noch neidisch bin) viel dazu beigetragen.

    Hehe, ja, dieses Fernstudium hat mich auf jeden Fall weitergebracht. Leider habe ich es nicht ganz zu Ende geschafft und dadurch auch das Lektorat verpasst. Ich profitiere aber laufend von dem Erlernten


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    Falls du die Geschichte überarbeiten möchtest, würde ich mir wünschen, dass Jan noch etwas mehr vertieft wird (welchen Beruf hat er, welche Hobbys etc.). :) Er ist auf seine Weise sympathisch und beweist am Ende große innere Stärke, wie auch Marie - Stärke, die Vanessa nicht aufbringen konnte.

    Ist notiert und auf jeden Fall notwendig!


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    Am besten fand ich die Einbindung des Themas "Meer küsst Land", den Regen am Anfang und das Thema von Ebbe und Flut. Die intensiven Wetterbeschreibungen haben mir gegen Ende tatsächlich etwas gefehlt. :) Fahren Jan und Vanessa durch den Regen heim oder bricht die Wolkendecke auf und die Sonne zaubert einen kitischen Regenbogen? Ich glaube, das weiter durchzuziehen, würde der Geschichte den letzten Feinschliff verleihen!

    Du hast Recht, das geht etwas verloren und diese Symbolik hat auch mir selbst gut gefallen. Ich werde es einarbeiten. Es hat auch noch so viel Potential, zum Beispiel ist schlechtes Wetter in einer Großstadt noch mal eine andere Nummer, die ich gut symbolisch verwenden kann.


    Was ich außerdem noch überlege ist, ob ich die angesprochenen Stürme doch Schaden nehmen lasse. Aktuell verpuffen sie komplett. Es muss ja nichts Schlimmes sein wie Haus abgedeckt, aber evtl. ein paar unangenehme Stiche.


    Alles in allem bin ich aktuell ganz zufrieden, auch mit der Entscheidung, Marie stark bleiben zu lassen.

    Trotzdem werde ich zumindest mal skizzieren, wie es anders laufen könnte. Es gibt ja unzählige Momente, in denen ich Marie glaubhaft rückfällig werden lassen könnte, wenn es mir auch selbst weh tun würde. Wie du schon richtig angemerkt hattest, müsste die Geschichte dann natürlich deutlich länger werden. Und ich weiß nicht, ob ich in diesem Fall so ein rührend-tragisches Ende für Marie schaffe, wie hier.

    Entweder würde es ziemlich düster ausfallen, oder, wenn Marie sich erneut herauszieht vielleicht "zu positiv".

    Hallo! :)


    Heute möchte ich mich gerne bzgl. Deiner letzten Beiträge äußern.

    Das Wiedersehen mit Cherax und Mauli hatte ich ja bereits geahnt und mir gewünscht und du hast es genauso umgesetzt, wie ich es mir vorgestellt habe. Will heißen: mir lag ein Lächeln auf den Lippen. Die drei, jeder für sich, und vor allem in Kombination, sind sehr liebenswert und sympathisch. Beste Voraussetzungen für eine Figuren-Leser-Bindung :)

    Serak hat mich als Leser jetzt natürlich lange begleitet, deshalb kenne ich ihn gut und bin beim Lesen ganz bei ihm. Bei Cherax und Mauli ist es dir gelungen, sie mit nur wenigen Pinselstrichen so zu charakterisieren, dass man schon jetzt auch mit ihnen fühlt. Das ist immer eine hohe Kunst.

    Auch, dass Serak jetzt direkt wieder eine Aufgabe hat (Mitgleid einer Söldnereinheit) passt wunderbar. Das eine Kapitel endet und öffnet direkt einen Spalt für ein neues.


    Über eine Sache bin ich gestolpert:

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    Das Knistern des Holzes und das gelegentliche Zischen der Glut waren die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen. Ich lauschte den gedämpften Gesprächen und den leisen Flüchen. Mittendrin vernahm ich auch bissigen Humor und leises Lachen.

    Ich fand beide Sätze sehr schön, sie geben ein gutes Bild der Situation ab. Für mich widersprechen sie sich bloß leicht, es sei denn, zu zählst die leisen Gespräch und Hintergrundgeräusche zu der "Stille" hinzu, oder die Gespräche kommen nach ein paar Augenblicken erst wieder auf.


    Auch bei den Zusatzkapiteln gab es zwei Sätze, die ich beide sehr gelungen finde (vor allem den zweiten), aber auch hier steckt für mich ein kleiner Widerspruch (wirklich klein) drin:

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    Nur wenige wagten es, mich mit zusammengekniffenen Lippen anzusehen, doch ihre Blicke verrieten Misstrauen und Ekel. Meine Hilferufe prallten gegen die Mauern ihrer Gleichgültigkeit.

    Misstrauen und Ekel stehen (für mich) hier etwas im Widerspruch mit Gleichgültigkeit, obwohl ich weiß, was gemeint ist. Evtl. lässt es sich noch minimal anpassen, um die tolle Wirkung der Sätze nicht abzuschwächen.


    Auch wahnsinnig toll:

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    Die Scheiben trennten mich von all den Reichtümern und Köstlichkeiten.

    Ein Satz, der so viel aussagt über Vellingrad oder Naridien selbst, über die Menschen, die dort leben und den Zwiespalt unter ihnen. Bravo!


    Da hast du aber allgemein ganz schön was rausgehauen :P

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    Ich wurde zu einem Schatten, der vom Strom der Passanten übersehen wurde, während er jeden Tag ein Stück mehr verblasste.

    :verbeug:


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    Als ich spürte, dass mir wortwörtlich das Leben aus dem Körper wich, das ich tatsächlich begann, zu sterben, besann ich mich endlich, dass ich ein Jäger war. Meine Nase war so fein wie die eines Wolfs und meine Augen so scharf wie die einer Raubkatze. Ich besaß ein Gebiss, mit dem ich menschliche Finger hätte kauen können wie knackiges Wurzelgemüse. Ich hatte den Nachtmantel bezwungen, den König des Waldes. Was kümmerte mich ein Gesetz, dass mich verhungern ließ? Ich würde nicht länger darauf warten, dass sich jemand erbarmte, sondern von dem Recht Gebrauch machen, dass das Blut in meinen Adern mir gab: das Recht des Jägers.

    Tolle Wendung.

    Das Bildnis Jäger - Beute hat mir insgesamt sehr gut gefallen in diesem Kapitel.


    Dass Serak seine Nachtsicht für seine Vorteile nutzen kann, gefiel mir ebenfalls. Und auch das:

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    Um es wie ein Naridier zu formulieren: Meine Sinne waren in diesen Tagen mein wertvollstes Kapital.

    Wieder ein einziger Satz, der so viel in sich hat. Er charakterisiert die Naridier, er charakterisiert Serak und er zeigt eine Entwicklung: Serak hat sich eingelebt und kennt die Menschen bereits sehr gut.


    Auch positiv hervorzuheben ist das Erwähnen des Hohen Richters. Das verdichtet die Geschichte ebenso wie das Zusammentreffen mit Arvida (ich vermute mal, sie ist die Diebin bei dem losen Mundwerk und giftzwergischen Verhalten ;D )


    Also... zu Mäkeln gibt es nicht. Hat sich gut gelesen und mir gut gefallen.

    Dass dadurch die Zeitpunkte der Zusammentreffen mit Dolwin auseinandergezogen werden, ist ein weiterer positiver Aspekt.



    Ich bin froh, dass wir zusammen den Nano bestritten, durchlitten und gemeistert haben :)

    Ohne dich hätte ich wahrscheinlich nicht durchgehalten!

    Epilog


    Das neue Jahr begann stressig für mich. Ich arbeitete lang und auch am Wochenende, um die Ausstellung bis zum Eröffnungstermin fertig zu kriegen. Es war mir ein persönliches Anliegen, dass alles perfekt war, nicht bloß, weil meine weitere Karriere davon abhing. Nicht nur, weil es mein erstes großes Projekt seit der Elternzeit war.

    Im letzten Moment hatte ich den Titel noch einmal geändert, auch wenn er nun nicht mehr zu dem passte, was auf den Plakaten und Handzetteln stand, und wofür in den Zeitungen und im Internet geworben worden war.

    Ich fand es trotzdem stimmig.

    Man wurde gelockt vom Versprechen eines Neuanfangs und man fand unwiderstehliche Sehnsucht.

    Die Abfolge der Räume nahm die Besucher mit auf eine emotionale Reise. Es begann mit freudiger Aufbruchsstimmung, mit Frühlingsblumen, die durch eine Schneedecke brachen, mit einem hellen Streifen am Horizont nach einem Unwetter, dessen schwere, dunkle Wolken noch immer den Rest des Himmels bedecken, mit dem ersten Licht eines neuen Tages. Junge Triebe an einem verdorrten Ast, Regentropfen auf vor Trockenheit rissiger Erde, Menschen, die sich in einem Meer von Unbekannten in die Arme fallen.

    Die folgenden Räume zeigten die Wandlung des Neuen zum Alltäglichen und Gewöhnlichen. Den Zauber, aber auch sein Verschwinden. Kinder, die einen Erwachsenen vergeblich auf die Schönheit der kleinen Dinge aufmerksam zu machen versuchen, Menschen, die zurückblicken, Bäume, die sich ihrer ursprünglichen Freiheit erinnern, Landschaften verwaschen und gezähmt.

    Das Zentrum der Ausstellung aber gehörte ihrem neuen Thema. Sehnsucht nach Vergangenem, Sehnsucht nach erneuter Veränderung, Sehnsucht nach dem gerade eben nicht Greifbaren.

    Inmitten hochpreisiger Meisterwerke hing ein Werk, wegen dessen Ähnlichkeit zu mir, ich mich während der Öffnungszeiten von der Ausstellung fernhalten würde. Die Fragen meiner Kollegen im Nachgang waren schon mehr, als ich auf mich nehmen wollte. Zuerst hatte ich befürchtet, ich könne das Werk nicht kriegen, doch ein paar Tage später hatte Jan mich zurückgerufen, nicht über das Büro der Surfschule, sondern privat. Es gab Neuigkeiten und bevor es weggeschmissen wurde, so hatte er gesagt, solle lieber ich es haben.

    „Hingabe“ stand auf der Infotafel neben dem lebensgroßen Portrait der in sehnsüchtige Gedanken versunkenen Frau auf dem Kunstwerk. Es war nicht klar, ob sie sich aus ihrem Leid erholte, oder darin versank, ob die Wellen, in denen ihr Kleid sich verlief, sie an den Strand spülten oder forttrugen. Wessen gab sie sich hin, musste sich der Betrachter unwillkürlich fragen. Ihrem Schicksal? Ihrem Leid? Oder der Sehnsucht selbst?


    Hingabe

    Anonym

    Aquarell und Tinte auf Papier

    Unverkäuflich

    Ich trat aus der Hitze des Wohnzimmers auf den Balkon, mein Weinglas in der Hand. Drinnen liefen Weihnachtslieder in Dauerschleife. Lieder von Familie und Freude, Lieder von Liebe. Lieder, die unwiderruflich an eine Zeit erinnern, in der man jung und gesund war, und Teil einer funktionierenden Familie, deren Erhaltung nicht unendlich schwer auf den eigenen Schultern lag.

    Hanna und Jana probierten begeistert ihre Geschenke aus und Jan sah ihnen dabei zu. Ich konnte nicht verhindern, dass mir die Tränen die Wangen hinabliefen. Es würde einige Zeit dauern, bis ich mich wieder voll und ganz auf mein Leben einlassen konnte.

    Ich musste hoffen, dass ich es wieder konnte. Ich hatte so ein Glück eine Familie zu haben.

    „Glaub mir, du willst deine Kinder nicht verlieren.“, hatte Marie zu mir gesagt und ich sah sie vor mir wie ein Spiegelbild in die Zukunft.

    Ich wandte den Blick ab vom Fenster und sah stattdessen in den Nachthimmel. Mond und Sterne waren hinter Wolken verborgen. Ich schlang die Arme um meinen Körper und dachte an Marie. Es war eine kurze, unglaublich intensive Zeit gewesen, als hätten wir ein ganzes Leben in die paar Tage packen müssen. Vermutlich hatten wir das. Ich wusste, dass es hatte enden müssen. Es war von Anfang an klar gewesen. Es war eine Prüfung gewesen, ob ich der Versuchung widerstehen konnte und ich war grandios gescheitert.

    Aber ich war zurück. Ich konnte Hanna und Jana nicht zurücklassen. Auch Marie hätte mich das nie im Leben tun lassen. Genauso wenig konnte sie bei mir bleiben, auch wenn sie das niemals ausgesprochen hätte. Ich hatte es in ihrem Blick gesehen, in ihrem stillen Kampf. Ich erinnerte sie zu sehr an ein altes Leben, und meine Abwesenheit ermöglichte ihr vielleicht ein neues.

    Trotzdem hätte ich mich selbst belogen, wenn ich verleugnete, wie sehr sie mir fehlte. Oh, sie fehlte mir so sehr.

    Einzelne glitzernde Flocken segelten vor meinen Augen hinab, während innen ein Chor „Oh Holy Night“ sang. Unwillkürlich schluchzte ich auf, und musste direkt danach bitter über mich selbst und die Unwirklichkeit des Moments lachen. Mehr und mehr Flocken fielen vom Himmel und wurden immer größer, bis ich ihr zartes Rieseln hören konnte, ihr Flüstern. Genauso gut hätte all das in einem Weihnachtsfilm stattfinden können.

    Die Frage war nur, wo das Happy End blieb.

    Vielleicht aber war dieser Ausgang das, was einem Happy End am nächsten kam. Vielleicht war mein Kummer das geringste Übel.

    Hinter mir ging die Balkontür auf. Jan kam hinaus und legte seine Arme um mich. Einige Atemzüge hielt er mich einfach nur fest.

    „Wir schaffen das“, flüsterte er dann und legte seinen Kopf gegen meinen.

    Ich griff mit meiner freien Hand seinen Arm und zog mich fester in seine Umarmung.

    Oben auf dem Deich weht zornig der Wind. Vielleicht wütet er, weil er ausgesperrt ist aus den warmen Zimmern voller glücklicher Menschen, strahlender Kinder, duftender Speisen, geschmückter Fenster und Bäume. Ich blicke hinaus auf das winterliche Meer, auf dem sich Mond und Sterne spiegeln. Sie sind meine Weihnachtsbeleuchtung.

    Die Feiertage sind die pure Folter für die Einsamen. Das Fest der Liebe. Das Fest der Familien und Freunde.

    Ich bin allein, aber ich bin nicht einsam.

    Ich bin traurig. Aber ich bin nicht schwach.

    Abermals übergebe ich dem Winterwind ein Päckchen.

    Es ist meine Schuld, dass ich jetzt nicht in einem warmen Zimmer sitze und in strahlende Kinderaugen blicke.

    Es ist meine Schuld, dass ich kein Glas Wein trinken kann.

    Es ist meine Schuld, dass ich allein bin.

    Ich übergebe dem Wind meine Schuld, auf dass er sie für mich verwahrt und mich immer daran erinnert, wenn ich strauchle. Den Rest behalte ich. Ich behalte die Erinnerungen an Johanna.

    Ich behalte die Erinnerungen an Vanessa.

    Ich hoffe, dass sie glücklich sind, oder es werden können.


    Ich behalte meine Erinnerungen an Phillipp.


    Mein Weg ist noch lang. Er wird niemals zu Ende sein, solange ich lebe. Und er wird immer bergauf gehen, und nie gerade. Ich habe ihn selbst angelegt und jetzt muss ich ihn gehen.

    Nur ich kann mich retten.

    Ich gehe zurück nach Hause. Heute habe ich das ganze Haus herausgeputzt für den Weihnachtsabend. Ich habe sogar die kleine Dachkammer von Staub befreit und Phillipps Bett neu bezogen. Im Wohnzimmer entzünde ich die Kerzen in der stillgelegten Kaminnische. Ich koche mir eine Kanne Kräutertee, setze mich auf die Couch, wickle mich in meine Wolldecke und schlage mein Notizbuch auf.

    Es ist kein Tagebuch im klassischen Sinn, eher eine Zusammenstellung loser Gedanken, teilweise genauso niedergeschrieben, wie sie mich heimgesucht haben. Doch daneben gibt es auch schöne Augenblicke, die ich gesammelt und versucht habe, in Worte zu Kleiden. Das Meer, mit seinem ewigen Kommen und Gehen, Ebbe und Flut, die so treffend mein unstetes Innenleben widerspiegeln. Fremdgesteuert, unterworfen, und doch irgendwie darin aufgehoben.

    Der Himmel am Abend, in vollkommener Schönheit trotz seines Schwindens.

    Das Dilemma meiner Abhängigkeit.

    Für immer werde ich an der Kante entlang gehen, auch wenn sie kaum mehr in Sichtweite scheint. Niemals werde ich sicher sein.

    Ganz hinten in dem Buch verwahre ich Johannas Handynummer, falls ich jemals den Mut aufbringen könnte, sie anzurufen.

    Darunter habe ich im Sommer die Nummer, E-Mail-Adresse und Anschrift von Jan Günther notiert, wie sie auf dem Buchungsbeleg angegeben war. Es war der erste Schritt in die Richtung, der Versuchung nachzugeben.

    Ich halte die Seite mit Daumen und Zeigefingern. Dann reiße ich den unteren Teil davon heraus. Mit einem Streichholt entzünde ich das Papier und sehe dabei zu, wie es verbrennt.

    Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung.

    Es ist besser, wenn es eine weniger in meinem Leben gibt.

    Jan saß stumm auf dem Bett. Das Bett, in dem Marie und ich uns wenige Stunden zuvor noch geliebt hatten.

    Ich war im Bad und starrte mein Spiegelbild an. Wer war diese fremde Frau? Und was wollte sie?

    Auf dem Waschbeckenrand standen noch die beiden Sektgläser. In einem steckte ein Stück Papier. Ungläubig starrte ich es an, dann zog ich es mit zitternden Fingern heraus. Es war eine herausgerissene Seite aus einem Notizbuch. Der Text war hektisch und in derselben Schrift wie auf dem Weinetikett geschrieben worden.


    Ich weiß, dass du nicht bei mir bleiben kannst. Ich sehe es in deinem Blick. Das hast du definitiv mit ihr gemeinsam.

    Ich ertrage das nicht noch einmal.

    Weil du es offenbar nicht kannst, habe ich deinen Mann angerufen. Er wird vielleicht schon morgen kommen.

    Was die Kraft der Versuchung betrifft, mach nicht den gleichen Fehler wie ich.

    Egal, um welche Versuchung es geht.


    Man sieht sich immer zwei Mal im Leben.

    Für uns ist es vermutlich das Beste, wenn es dabei bleibt.


    Meine Mundwinkel zuckten, als ich versuchte, Wut und Verzweiflung zu unterdrücken. Ich wollte schreien, ich wollte die Gläser in tausend Scherben zerschlagen, ich wollte weinen, ich wollte, dass alles, was in mir tobte, nach außen brach und mir nicht länger qualvoll gegen den Brustkorb drückte. Ich zerknüllte Maries Zettel. Ein Knurren entfuhr mir, dann kamen die Tränen. Ich schlug mir die Hand vor den Mund und biss hinein. Das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war, dass Jan ins Bad kam.

    Wo der Rausch mir zuvor süß zugeflüstert hatte, jagte er mir die Emotionen nun wie Giftpfeile durch das Herz. Auf den Gläsern schimmerte verräterisch der Abdruck meiner Lippen. Marie, mit ihrem geübten Blick, hatte es mit Sicherheit sofort gesehen und war mich suchen gegangen. Wen hatte sie zuerst gesehen, Jan, oder mich?

    Ich starrte auf das Glas.

    Mit einem Kuss hatte es begonnen, mit einem Kuss endete es.


    Jan und ich verbrachten trotz aller Umstände die Nacht in dem Zimmer. Wir waren beide wie betäubt, unfähig wo anders hinzugehen. Hier aber war selbst die Luft, die wir atmeten, erfüllt von der Kälte des Grabens, der sich zwischen uns aufgetan hatte. Starr lagen wir in dem Bett und starrten an die Decke. Ich denke nicht, dass einer von uns wirklich schlafen konnte. Am nächsten Morgen brachen wir auf.

    Ich fühlte mich, als wäre ich brutal aus den tiefsten Träumen gerissen worden. Oder als wären die Träume aus mir herausgerissen worden und hätten eine alles vernichtende Leere hinterlassen.

    Wie betäubt saß ich auf dem Beifahrersitz in Jans Wagen. Eisiges Schweigen stand zwischen uns wie eine Mauer. Ich wusste nicht, was mit meinem Auto passieren sollte, ich wusste nicht, wo Marie hin war, ich wusste nicht, was mich zu Hause erwartete. Ich wusste nicht, wie ich mich dort überhaupt blicken lassen konnte, jetzt, da mein Verrat in all seiner Schwere offengelegt war und sich in Jans Gesicht spiegelte. Ich starrte auf die Straße, ohne etwas zu sehen. Maries Worte und ihr Verrat hallten in meinem Kopf nach, trieben ihren verletzenden Stachel tiefer in mein Fleisch, doch ich war noch immer zu erschlagen, um den Schmerz zu spüren. Ich hatte keine Möglichkeit, sie zu erreichen. Ich würde niemals erfahren, ob es ihr gut ging, ob sie rückfällig wurde, ob ich sie endgültig hinabgestoßen hatte.

    Im Radio erklangen die ersten Töne von Watermelon Sugar und ich erinnerte mich wehmütig an das aufregende Gefühl in meinem Bauch, als Marie und ich am Strand von Büsum nebeneinander gestanden hatten. Ich hatte wissen wollen, wie es sich anfühlt, ich hatte es probieren müssen, ich hatte nicht widerstehen können. Jetzt hatte ich eine Kostprobe erhalten und war nicht schlauer als zuvor. Ich wusste nicht, ob ich ohne all das zurechtkommen konnte. Im Sommer hatte ich nicht vergessen können, weil ich mich um das Wissen, wie es sein könnte, betrogen fühlte. Wie sollte ich jetzt vergessen können, wo ich wusste, wie süß es schmeckte?

    Aber da waren auch die Schattenseiten und Maries Schatten war übermächtig. Je nachdem, wie das Licht stand, verschluckte er nicht nur sie, sondern alles um sie herum.


    In den ersten Tagen zu Hause sprachen Jan und ich nicht viel. Ich konnte nicht abschätzen, ob er mir Zeit ließ, oder ob er selbst nicht wusste, was er sagen sollte. So oder so war ich dankbar. Das Erlebte und sein abruptes Ende hatten mich noch vollkommen in ihrer Gewalt und dröhnten mir im Kopf wie nach einem lauten Knall. Die ganze Zeit über hatte ich gewusst, dass es irgendwann vorbei wäre. Ich hatte es gewusst und mich davor gedrückt und verschlossen, und als es dann so weit war, hatte es mir trotz allem den Boden unter den Füßen weggezogen.

    Als ich es nach einiger Zeit endlich über mich brachte, meine Tasche auszupacken, fand ich zwischen zwei Hosen Maries gelben Pullover. Ich nahm ihn heraus und starrte fassungslos auf den gelben Stoff. Erste Schluchzer schüttelten mich, dann vergrub ich mein Gesicht in dem Pullover. Ich konnte Marie darin noch riechen, ein letzter Rest, der schon jetzt von meinem eigenen Geruch verdrängt wurde. Wenn ich den Pullover hatte, wer sollte Marie jetzt daran erinnern, ab und an zu lächeln? Dicke Tränen rannen mir die Wangen hinab.

    Ich legte mich ins Bett, drückte den Pullover an mich und rollte mich ein wie ein Kind. Ich hörte, wie die Türe aufging, und nach ein paar Augenblicken wieder geschlossen wurde. Keiner kam zu mir herein. Ich war unfähig aufzustehen und versank für den Rest des Tages in meinem Kummer. Wahrscheinlich war es eher ein Entzug, den ich gerade durchmachte.

    Irgendwann ging wieder die Türe auf und dieses Mal hörte ich zögerliche Schritte. Von der Seite schob sich Janas Kopf in mein Blickfeld. Ich setzte mich auf und rieb mir die Augen trocken.

    „Warum bist du so traurig, Mama?“, fragte sie.

    Meine Unterlippe zitterte in dem hoffnungslosen Versuch die Tränen zurückzuhalten.

    „Ach, komm Mama, komm.“ Jana kletterte zu mir ins Bett, zog meinen Kopf an ihre Brust und streichelte meinen Kopf, die perfekte Kopie einer Geste, mit der ich sie stets tröstete. „Arme Mama.“

    Ich hörte ihren schnellen, zarten Herzschlag, spürte, wie ihre kleine Brust sich hob und senkte, fühlte die Wärme ihres Körpers und ließ mich von ihr halten.

    Nach einer Weile löste ich mich und griff ihre Hände. Die Spuren meiner Tränen waren kalt auf meiner Haut. Ich lächelte sie tapfer an. „Manchmal sind auch Mamas traurig“, sagte ich. „Das gehört dazu. Aber zum Glück habe ich dich.“ Ich stupse ihr mit dem Zeigefinger auf die Brust und schluckte einen neuen Schwall Tränen hinunter.

    Weihnachten stand vor der Tür.

    Ich musste anfangen, stark zu sein. Wenn nicht für mich, dann wenigstens für meine Kinder.

    Abends lag ich lange wach. Ich konnte nicht bei Marie bleiben. Selbst wenn ich die Mädchen mitnehmen hätte können, selbst wenn ich gar keine Familie gehabt hätte. Ich war der Situation nicht gewachsen. Ich war nicht stark genug, um Marie eine Stütze zu sein, um ihre Launen auszuhalten, um ihren Kampf mit ihr zu kämpfen, Wochen, Monate, Jahre lang. Ich war selbst zu labil, zu sehr mit meinen Gefühlen beschäftigt, die ich immer noch nicht vollkommen verstand. Ich müsste Maries Leid mittragen, ich müsste ihr Leben mit leben. Anders konnte es nicht gehen.

    Aber war es möglich, dass ich ein Teil von Maries Leben blieb und sie von meinem, ohne, dass wir eine Liebesbeziehung führten? Was verband uns als das körperliche Verlangen, als die Verliebtheit, wenn es denn eine war? Ich war mir nicht mehr sicher. So kopflos wie ich die letzten Monate gehandelt hatte, konnte es nichts anderes sein, doch ich hatte unterschätzt, was es bedeutete, mit einem Suchtkranken Menschen zusammen zu sein. Ich verzog das Gesicht. Wie schwach und egoistisch war ich, dass es mir nach zwei Tagen schon zu viel war? Wie viele Menschen auf der Welt hätten mich belächelt oder gar verurteilt für diesen Gedanken? Weil sie helfen hätten wollen, hätte man sie nur gelassen oder gefragt.

    War es mein eigenes Leben, dass ich nicht fahren lassen konnte, oder war ich wirklich zu schwach?

    Marie war eine Fremde. Immer noch. Vielleicht liebte ich sie, vielleicht war es nur ein Ausrutscher, ein kurzfristiges Begehren, wie um zu beweisen, dass ich zu so etwas noch in der Lage war, nach fünfzehn Jahren mit demselben Mann und zwei Schwangerschaften.

    Seufzend prüfte ich mein Handy. Jan hatte mir nicht mehr auf meine Nachricht vom vorherigen Tag geantwortet. Auch jetzt war keine Nachricht von ihm da. Saskia hatte es aufgegeben mich erreichen zu wollen. Nicht einmal meine Mutter hatte mir Neuigkeiten von Hanna und Jana geschickt.

    Und jetzt redete auch Marie nicht mehr mit mir.

    Ich setzte mich auf. Auf dem kleinen Tisch standen noch immer die Sektgläser, wahrscheinlich schon längst ohne Kohlensäure. Lange starrte ich die Gläser an. Schließlich stand ich leise auf und trug sie ins Bad. Im dämmrigen Licht der Notausgangsschildes sah ich mein Spiegelbild. Ich konnte jetzt wirklich einen Drink gebrauchen. Wie oft hatte ich mir das in den letzten Tagen gedacht? „Du kannst machen, was du willst“, das hatte Marie gesagt. Ich bezweifelte, dass sie es auch so gemeint hatte. Pausenlos schien sie mich zu manipulieren und ich musste einfach den Kürzeren ziehen. Ich hatte die schlechteren Argumente. Ich wusste, dass ich die Gläser auskippen sollte. Ich sollte sie in den Ausguss kippen, wie wir es mit dem Wein getan hatten. Hatte ich damals gedacht, diese eine symbolische Geste wäre genug?

    In einem Zug leerte ich das erste Glas. Dann das andere. Ich stellte sie auf den Waschbeckenrand und stützte mich mit den Händen ab, betrachtete noch einmal mein Spiegelbild. Mein eigenes Leben war aus den Fugen. Ich kannte mich nicht mehr. Wie sollte ich jemand anderes retten?

    Ich spürte, wie der Alkohol den Knoten in meinem Bauch lockerte. Warnung genug lag nebenan im Bett, trotzdem empfing ich das warme Gefühl dankbar. Ich prüfte, ob Marie tief schlief, dann schnappte ich mir Zahnpasta und -Bürste und schlich ich mich aus dem Zimmer.


    Nur wenige Gäste saßen in der kleinen Bar im Erdgeschoss. Ich bestellte mir einen Margarita, dann noch einen und noch einen, beobachtete, wie der Alkohol meinen Verstand umwölkte und meine Glieder entspannte. Ich fühlte mich elend und gut zugleich. Ich wusste, dass ich zu weit gegangen war. Schon den Sekt zu trinken war leichtsinnig gewesen. Mehr noch: fahrlässig. Dumm.

    Jetzt aber bewegte ich mich auf eine Situation zu, aus der mich auch Zahnbürste und Zahnpasta nicht mehr würden retten können.

    Ich war betrunken. Jeden Moment konnte Marie aufwachen.

    Mit meinem umwölkten Geist überlegte ich noch, ob ich ihr irgendwie glaubhaft machen konnte, dass ich nicht getrunken hatte, oder wie ich es ihr erklären sollte. Doch es gab keine Erklärung.

    Ich stand auf, um auf die Toilette zu gehen. Der Weg führte durch das Foyer und als ich einen Schritt hinein machte, erkannte ich Jan an der Rezeption.

    Wenn mir nicht schon schwindelig vom Alkohol gewesen wäre, dann jetzt. Langsam wich ich zurück. Ich hörte gerade noch, wie er drängte, die Zimmernummer zu erfahren, dann musste er wohl eine Bewegung im Augenwinkel wahrgenommen haben. Er sah mich direkt an. Sofort drehte ich mich um und rannte. Ich nahm zwei Stufen auf einmal, stolperte beinahe und kam völlig außer Atem im zweiten Stock an. Ich rannte den Gang entlang und riss die Türe von unserem Zimmer auf.

    Marie war fort.

    Draußen auf dem Gang hörte ich Schritte.

    Wütende, schwere Schritte, trotz des dicken Teppichs. Wie in Zeitlupe drehte ich mich zur Tür.

    Wie hatte Jan uns gefunden? Hatte er eine Benachrichtigung erhalten, dass der Gutschein eingelöst worden war? War irgendeine sinnlose Werbemail gekommen? Hatte ich versehentlich mein GPS angeschaltet?

    Ich schluckte und sah bang zur Türe. Kurz überlegte ich, ob ich mich ins Bett legen und so tun sollte, als würde ich schlafen. Es war eine Idee, die zu meinen letzten sehr gut passte.

    Dann erschien Jan im Türrahmen.

    Es war zu dunkel, um seine Gesichtszüge deuten zu können. Er stand auf der Schwelle und sagte nichts.

    „Jan“, brachte ich hervor. „Es tut mir leid.“

    „Wo ist sie?“ Seine Stimme war beherrscht, doch es kostete ihn Mühe.

    Die Frage irritierte mich. „Ich weiß es nicht.“

    „Lüg mich nicht an!“

    Am liebsten hätte ich gelacht. Es war eines der wenigen Dinge, die ich ihm in den letzten Tagen gesagt hatte, das nicht gelogen war.

    „Ich weiß es nicht.“, wiederholte ich.

    Jan ballte eine Hand zur Faust und drehte sich zur Seite. Er hob den Arm, als wolle er gegen den Türrahmen schlagen, stoppte sich aber kurz davor und legte stattdessen Faust und Stirn gegen das Holz.

    Mein Herz klopfte und ich konnte nicht klar denken.

    „Ich habe Mist gebaut“, brachte ich hervor.

    Langsam hob Jan den Kopf und sah zu mir.

    „Wie meinst du das?“


    […] --> Gespräch noch offen

    Wir redeten nicht mehr darüber. Das Thema war vorbei, obwohl es noch im spürbar im Raum stand. Am liebsten wollte ich hinaus gehen.

    Es war noch nicht allzu spät und wir beschlossen, uns den Wellnessbereich anzusehen, wenn wir schon hier waren. Wir nahmen uns die weichen Bademäntel und betraten die Saunalandschaft.

    Es war gut besucht, doch wir fanden zwei Liegestühle in einem Ruheraum. Auf dem Weg zu den Saunahütten kamen wir an einer Bar vorbei und ich beobachtete Marie. Sie ging ohne Seitenblick vorbei.

    Vor der Sauna hängte Marie ihren Bademantel an einen Haken. Ich konnte nicht anders, als sie zu betrachten. Berührt hatte ich sie wahrscheinlich fast überall in den letzten Tagen, doch ich hatte sie noch nie wirklich gesehen. Obwohl tiefster Winter war, hatte ihre Haut noch einen warmen Braunton. Seitlich am Bauch prangte die Narbe des schicksalsträchtigen Unfalls. Ich sah, wie die Muskeln an Rücken und Schultern arbeiteten, als sie sich ihren Dutt neu band. Nie zuvor hatte ich mich gefragt, was ich an einem weiblichen Körper attraktiv fände. Jetzt gab es nur noch eine Antwort für mich: genau das. Ich schämte mich fast ein bisschen, mich ebenfalls zu entblößen. Zwar war ich auch schlank, aber nicht im geringsten trainiert und meine Haut war blass und weich. Ich war froh, als ich mich auf eine der Holzbänke setzen konnte und mich nicht mehr ganz so sichtbar fühlte.

    Die Hitze in der Hütte war eine Wohltat nach der Kälte außen. Es duftete nach warmem Holz und nach Citrus. Bald lief mir der Schweiß hinab. Ich drehte mich zu Marie, und fand ihren Blick auf mir ruhend. Sie beugte sich zu mir, um mich zu küssen, doch ich spürte, dass die anderen Leute uns ansahen und wich instinktiv zurück.

    Marie sah mich an als hätte ich sie geschlagen.

    „Nicht hier“, flüsterte ich. Auf einmal war ich mir meiner Nacktheit wieder mehr als bewusst. Ich hätte wahrscheinlich auch Jan nicht in einer Sauna geküsst, nicht mit Publikum. Marie aber verstand es ganz anders.

    „Schämst du dich? Wieso sollten wir uns verstecken? Wir sind genau wie alle anderen.“ Sie senkte die Stimme nicht.

    „Sch“, machte ich, bevor ich es verhindern konnte.

    Marie hob eine Braue. Ich sah die Worte, die sie mir gleich an den Kopf werfen würde, in ihrem Blick. Bevor sie etwas sagen konnte, nahm ich mein Handtuch und eilte nach draußen in den Vorraum.

    Auch ohne die Hitze der Sauna hätte mein Gesicht gebrannt. Wieso hatte ich sie nicht einfach geküsst? Es wäre wesentlich weniger unangenehm gewesen. Marie kam mir nicht hinterher. Ich fragte mich, wie sie es ertragen konnte, weiterhin dort drinnen zu sitzen und sich dem Publikum unseres kleinen Auftritts zu stellen. Ich verließ die Saunahütte und ließ mich von der eisigen Luft abkühlen.

    Lange aber konnte ich nicht dort warten. Es war zu kalt. Ein anderes Paar kam heraus und ich sah schnell weg. Ich überlegte, wieder hineinzugehen, doch da waren noch immer Zeugen. Als ich schon zu unseren Liegestühlen ins Warme gehen wollte, kam endlich Marie aus der Hütte. Sie ging schnurstracks an mir vorbei und stellte sich unter eine der eiskalten Duschen. Als sie fertig war, wickelte sie sich in ihren Bademantel und ging in Richtung Ruheraum.

    „Marie!“, versuchte ich sie aufzuhalten, doch sie ignorierte mich. „Marie, es tut mir leid. Das hat doch nichts mit dir zu tun.“ Sie blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um. Ich stöhnte auf und eilte ihr nach. Marie öffnete die Tür zum Ruheraum und legte sich auf ihre Liege. Ein paar andere Leute dösten, eine Frau las ein Buch.

    Ich schloss die Türe leise hinter mir und blieb stehen.

    Warum musste alles immer so schwierig sein?

    Marie hatte die Augen geschlossen und ignorierte mich weiterhin. Von einer Sekunde auf die andere konnte sie sich um 180 Grad wenden. Der kleinste Fehltritt war genug, ein falsches Wort, eine falsche Handlung. Ich gab auf und legte mich neben sie.

    Nach einer Weile flüsterte ich ihr zu. „Ich hätte auch Jan da drin nicht geküsst!“

    Noch immer sagte Marie nichts.

    Am frühen Abend checkten wir im Wellnesshotel ein. (Anm: Lage noch grob zu benennen)

    Ich schob den Gutschein über die Theke.

    „Das ist eigentlich für ein Wochenende“, sagte die Rezeptionistin nach einer Weile. „Unter der Woche ist es günstiger.“

    „Das macht nichts“, sagte ich. „Es war eher spontan.“ Ich grinste Marie zu.

    „Soll ich den Rest gutschreiben?“

    Ich lehnte dankend ab.

    „Na gut, dann herzlich willkommen.“ Sie reichte uns zwei Gläser Sekt. Ich weiß nicht, was ich dachte, wahrscheinlich nichts, wahrscheinlich folgte ich eher einer reflexartigen Bewegung; und trank.

    Noch während ich schluckte, merkte ich, was ich getan hatte.

    Mit aufgerissenen Augen und zusammengepressten Lippen drehte ich mich zu Marie um. Sie musterte mich ausdruckslos. Hatte sie es gesehen? Bestimmt. Natürlich hatte ich es gesehen.

    „Oh Gott, es tut…“, fing ich an, doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf und bedeutete mir, weiterzugehen, fort von der Rezeption und der lächelnden Dame dahinter.

    Ich war so ein Idiot!

    Wie konnte eine einzige Person nur so dämlich sein?!

    Beklommen ging ich den mit dickem Teppich ausgelegten Gang entlang. Jeder Schritt wurde abgefedert und gedämpft. Unser Zimmer war auf der zweiten Etage. Es duftete nach Zirbenholz und Zitrusfrüchten, doch ich nahm kaum etwas anderes wahr als das verräterische Blubbern des Sekts in dem Glas in meiner Hand.

    Mit der Karte öffnete ich die schwere Holztür unseres Zimmers.

    „Marie, es war ein Versehen, ich…“

    „Reden wir nicht mehr darüber“, sagte sie und stellte ihr Glas auf einem kleinen runden Tisch ab. „Es gehört zu Wellness dazu, oder nicht?“

    Sie versuchte es zu verbergen, doch ich hörte die Bitterkeit in ihrer Stimme.

    „Fährt man nicht deshalb überhaupt erst hin?“

    „Marie…“

    Sie wandte sich ab und ging zum Fenster. Eine ganze Weile stand sie da und blickte nach draußen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, deswegen blieb ich regungslos an Ort und Stelle stehen. Neben dem kleinen Tisch mit zwei sesselartigen Stühlen, gab es einen Kleiderschrank und ein riesiges Bett. Auf der übergroßen, strahlend weiß bezogenen Decke lagen zwei zu Schwänen gefaltete Handtücher und am Kopfende türmten sich die Kissen. Über dem Bett hing ein Bild von einem einsamen Strandabschnitt. Wie passend das doch war. Am Meer hatte es begonnen, am Meer würde es enden.

    „Marie?“, versuchte ich nach einer Weile.

    „Schon gut. Es ist nicht deine Bürde“, sagte sie schließlich, drehte sich aber nicht um. „Du kannst machen, was du willst.“

    „Nein, das stimmt nicht.“ Ich stellte meine Tasche ab und ging zu ihr hinüber. Mit der flachen Hand berührte ich Marie am Rücken, vorsichtig, wie man ein Tier berühren würde, um zu sehen, wie es reagiert. Ich hatte es geschafft, mit einer einzigen unbedachten Handlung die Leichtigkeit, die den ganzen Tag zwischen uns bestanden hatte, zu zerschlagen.

    Langsam drehte sie sich zu mir. Ihr Blick war unleserlich, doch dann küsste sie mich und mein Körper gehorchte sofort und verdrängte einmal mehr alle Zweifel und Sorgen und Ängste. Ich dachte noch kurz darüber nach, ob sie den Sekt in meinem Mund schmecken konnte, dann dachte ich gar nichts mehr.

    Inmitten duftender Kissen liebten wir uns mit blinder Entschlossenheit. Ich glaube, wir flohen beide in die Körperlichkeit. Hier mussten wir nicht sprechen. Hier mussten wir nicht denken. Hier mussten wir keine Entscheidungen treffen. Wir konnten uns hingeben und für eine Weile vergessen, was uns in der Realität erwartete.

    Aber es war nicht länger ein rosaroter Traum. Es war ein Kampf, ein Festklammern an etwas, das bereits schwand.

    Trotzdem konnte ich nicht widerstehen.

    Nachdem, was Marie tags zuvor über den Entzug gesagt hatte, fragte ich mich unwillkürlich, ob es sich für sie in ihrer Sucht so angefühlt hatte und ob der Sex eine Lücke füllte, die überhaupt nicht da sein durfte.

    „Wann wirst du es deinem Mann sagen?“, fragte Marie, nachdem sich unser Atem beruhigt und wir eine Weile nebeneinander unter der schweren Decke gelegen hatten.

    „Was meinst du?“

    „Was immer nötig ist, um deine Familie zu retten.“

    Ich verstand nicht, warum Marie das tat, mein Fauxpas hin oder her. Sie zog mich an sich, schubste mich weg, zog mich wieder an sich, schubste mich weg.

    „Glaub mir, du willst deine Kinder nicht verlieren.“

    Sie sagte es so beiläufig, dass es mir das Herz zerbrach. Gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, dass sie mich so von oben herab behandelte. Nachdem sie bekommen hatte, was sie wollte, nahm sie sich heraus mein Verhalten zu verurteilen. So kam es mir vor.

    „Das werde ich nicht.“, antwortete ich kalt und es war tatsächlich, woran ich glaubte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jan mir die Kinder wegnehmen würde, selbst wenn ich ihm alles gestand, selbst ich mich von ihm trennen würde, worüber ich noch nicht einmal nachgedacht hatte. Irgendwann würde der Moment kommen, in dem ich mir Gedanken machen musste. Ich wusste nicht, ob ich auf Dauer mit ihm zusammenleben konnte, ich wusste nicht, ob es noch Liebe war, die ich für ihn empfand und ob unsere gemeinsame Vergangenheit und was wir uns aufgebaut hatten, reichen konnte. Ich konnte Jan kaum für immer zurückweisen, wenn er mit mir schlafen wollte. Aber konnte ich noch mit ihm schlafen? Konnte ich Gefallen daran finden, jetzt wo ich wusste, wie es sich auch anfühlen konnte? Mir war klar, dass es auch mit Marie nicht so bleiben würde, wie es jetzt war. Das Neue war immer aufregend und magisch. Trotzdem war es anders, näher, zärtlicher, intensiver. War es, weil sei eine Frau war? Wenn das der Grund war, würde sich einfach alles ändern. Ich musste mich nach dieser ganzen Sache komplett selbst hinterfragen.

    Aber die Kinder… würde Jan sie mir wirklich wegnehmen, selbst wenn ich ihn verließ? Konnte er es überhaupt? Ich bezweifelte es.

    „Ich habe Phillipp jetzt über acht Jahre nicht gesehen.“, durchbrach Marie meine Gedanken. „Und ich habe auch nicht geglaubt, dass sie ihn mir wegnehmen können.“

    Eine schmerzhafte Mischung aus Mitleid und Besorgnis ließ mich das Gesicht verziehen. Es war schlimm genug, dass sie ihren Sohn verloren hatte. Dass sie den Unterschied zwischen unseren beiden Situationen nicht sah, tat indes einfach nur weh. Und machte mir Angst, Angst um Marie. „Oh Marie.“ Ich streckte meine Hand aus, um sie zu berühren, doch sie schüttelte den Kopf.

    „Nicht. Bitte.“ Das erste Mal überhaupt sah ich Marie den Tränen nahe. „Sie hat das alleinige Sorgerecht. Er ist nicht mehr mein Sohn.“

    Mir steckte ein Kloß im Hals. „Ist er… ich meine, ist er… hast du oder hat sie…?“ Ich brachte die Frage nicht über die Lippen, dabei wusste ich längst, dass Marie ihn zur Welt gebracht hatte. Das Foto hatte keine Zweifel gelassen.

    „Er ist von mir“, sagte sie mit Härte in der Stimme. „Immerhin wird sie so an jedem einzelnen Tag an mich erinnert.“

    Wir schwiegen eine Weile.

    „Warum versuchst du nicht, ihn jetzt zu sehen? Nach der langen Zeit? Nach allem, was du erreicht hast?“

    Marie seufzte. „Ich kann nicht. Es würde mir das letzte Bisschen Würde nehmen, das ich noch habe. Wenn sie mich überhaupt lässt, dann erinnert er sich wahrscheinlich nicht einmal an mich. Wie soll ich das ertragen?“

    Darauf wusste ich keine Antwort.

    „Du könntest sie erst mal fragen. Vielleicht hat sie ihm von dir erzählt. Vielleicht bist du gar keine Fremde.“

    Ruckartig setzte Marie sich auf. „Hör auf!“ Dann noch einmal leiser. „Bitte… hör auf damit.“

    „Es tut mir leid“, flüsterte ich. Ich griff nach ihrem Arm und sie zog mich zu sich und ließ zu, dass ich sie in meine Arme schloss.

    [...] --> fehlender Übergang


    Wie Marie auf den Beifahrersitz kletterte, klappte das Handschuhfach auf und die Gutscheinbox von dem Wellnesshotel rutschte heraus. Sie war scheinbar dort, seit ich sie mit ins Büro genommen hatte. Ich sah von der Box zu Marie, dann wieder zur Box und ich wusste, wo wir unsere letzten gemeinsamen Stunden verbringen würden. Ich klammerte mich an die Gewissheit, dass ich mich bald von Marie trennen musste, und rechtfertige dadurch den weiteren Aufschub. Es war fern von jeder rationalen Argumentation, aber das nahende Ende schwemmte meine letzten Hemmungen fort. Außerdem lag an diesem Morgen eine nie dagewesene Leichtigkeit zwischen Marie und mir, als täten wir uns endlich gegenseitig gut, und mussten nicht andauernd gegen unsere Dämonen kämpfen.

    Marie trug den gelben Pullover mit der roten Sonne hintendrauf.

    „Ich mag diesen Pullover. Er erinnert mich an den Sommer.“

    Marie lächelte. „Er ist mein Lieblingspulli. Mich erinnert er daran, ab und an zu lächeln.“

    Unterwegs musste ich tanken und Marie holte uns Kaffee und etwas zu Essen aus dem Bistro. Während ich den Tankdeckel verschloss, sah ich, wie sie aus dem Laden kam und auf die andere Seite des Gebäudes ging. Ich dachte, vielleicht waren dort die Toiletten, doch als ich bezahlen war, sah ich, dass das nicht stimmte.

    „Was hast du vorhin an der Raststätte gemacht?“, fragte ich sie später im Auto. „Hinter dem Haus?“

    „Hm? Achso, das. Ich musste kurz telefonieren. Mittlerweile gehört wirklich Glück dazu, noch Telefonzellen oder Münztelefone zu finden.“

    „Wieso hast… ich meine, hast du denn kein Handy?“ Rechtzeitig korrigierte ich meine Frage. Es war mir unangenehm vor Marie zu zugeben, wie viel ich schon über sie herausgefunden hatte.

    „Nein.“ Nach einem kurzen Augenblick fuhr sie fort. „Gerade am Anfang ist es Gift. Zu viele Möglichkeiten. Zu viel Versuchung.“

    „Dass du jemanden anrufst?“

    „Nicht nur das. Warten, dass jemand schreibt. Musik hören. Geschichten und Exzesse anderer Leute recherchieren. Werbung. Einfach alles… ich könnte die Liste unendlich fortführen.“

    Mir wurde immer klarer, wieso Marie das Haus in Friedrichskoog gewählt hatte. Wahrscheinlich besaß sich auch keinen Computer. Internet hatte es im Haus jedenfalls nicht gegeben. Kein Wunder, dass ihre Homepage so rudimentär war. Das Haus zu vermieten konnte ihr nicht leichtgefallen sein, wo es doch bedeutete, ständig Menschen um sich zu haben. Wahrscheinlich hatte sie es machen müssen, um über die Runden zu kommen.

    „Ich kann mir überhaupt nicht mehr vorstellen, ohne Handy zu sein.“, sagte ich.

    „Es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich“, entgegnete Marie.

    Ich sah zu ihr hinüber. Ich erinnerte mich an diesen Satz. Auch damals hatte sie es auf diese bestimmte Art gesagt. Leicht abwesend, nachdenklich und mit der Hoffnung, dass es wirklich stimmte.

    Wir schwiegen eine Weile. Irgendwann merkte ich, dass das Radio gar nicht lief, doch als ich es einschalten wollte, erinnerte ich an das, was Marie über Musik gesagt hatte, und ich ließ es bleiben.




    Doch Marie nahm nur meine Hände. „Du hast gesagt, du kennst mich nicht. Jetzt tust du es besser als die allermeisten. Ändert das etwas an deinem Dilemma?“

    Natürlich tat es das nicht. Nicht im Geringsten. Ich wusste es, und sie wusste es auch.

    „Es ist schon bald Abend. Willst du wirklich jetzt noch fahren?“

    Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Es hätte mir nichts ausgemacht, in die Nacht hineinzufahren, doch ich schaffte es noch nicht, mich von Marie zu trennen. Wenn wir jetzt auseinander gingen, befürchtete ich, dass wir uns nie wieder sehen würden.

    Also blieben wir noch eine Nacht im Hotel.

    Als Marie im Bad war, wagte ich mich an mein Handy. Jans Nachricht klang versöhnlich, ganz und gar nicht ungehalten, wie der Rezeptionist gesagt hatte. Erhoffte er sich dadurch höhere Chancen auf eine Antwort von mir oder war er der Situation einfach müde? Ich stellte mir vor, wie er zu Hause saß, wahrscheinlich ganz allein, niedergeschlagen und aufgewühlt. Mitleid erfüllte mich und ich tippte eine Nachricht.

    „Es tut mir leid, dass ich gelogen habe. Ich hatte Angst, du lässt mich nicht gehen, doch ich musste unbedingt etwas erledigen. Bald bin ich zurück und dann reden wir über alles, in Ordnung?“

    Eine Weile starrte ich auf den Text, dann schickte ich ihn ab.

    Eine weitere nichtssagende Nachricht. Eine weitere stumme Bitte um Aufschub. Eine weitere vertagte Entscheidung.

    Es war als hätte ich den Absprung verpasst. Ich musste Jan endlich sagen, wieso ich gegangen war und wieso ich deswegen gelogen hatte. Je länger ich wartete, umso mehr geriet ich in Erklärungsnot. Ich musste zurückkehren in mein Leben. Stattdessen bewegte ich mich immer tiefer ins Unheil.

    Die Tür, die einen kurzen Moment offen gestanden hatte, hatte sich geschlossen. Ich kam nicht mehr heil aus der Geschichte heraus. Marie hatte mir ihr dunkelstes Geheimnis anvertraut, jetzt war wohl kaum der passende Augenblick, sie zu verlassen. Aber wann war er dann? Je länger ich bei Marie blieb, desto häufiger schienen wir zu streiten oder in merkwürdige Situationen zu geraten. Paradoxerweise sehnte ich mich dadurch umso mehr danach, bei ihr zu bleiben.

    Ich konnte mir nicht ausmalen, wie es wäre, würde sie wieder aus meinem Leben verschwinden. Nicht, dass ich mich davor verschloss, es schien einfach nicht möglich.

    Ich vermisste das aufregende Gefühl unserer ersten Annäherungen im Sommer, unseren ersten Tag in Berlin, wo wir fern jeglicher Realität einfach nur zusammen gewesen waren. Sogar die bohrende Sehnsucht aus der Zeit dazwischen vermisste ich. Wenn ich diese Momente in mir wachrief, war ich mir fast sicher, dass ich mich in Marie verliebt hatte.

    Doch ich sträubte mich dagegen, sei es, weil es keine Zukunft für uns gab, oder weil ich nicht bereit war, Maries Bürde mit ihr zu tragen.

    Ich war kein bisschen schlauer als vor ein paar Tagen, und würde es wohl auch niemals sein, nicht, solange ich nicht einmal zu mir selbst ehrlich sein konnte.

    Als ich am nächsten Morgen erwachte, stand Marie komplett angezogen und mit Rucksack auf den Schultern neben meinem Bett. Ich fuhr vor Schreck zusammen, dann registrierte mein Gehirn langsam, was das bedeutete. Ruckartig setzte ich mich auf.

    „Was machst du?“

    „Du hast gesagt, du musst los. Also muss ich es wohl auch.“

    Ich starrte sie an. „Du wolltest einfach verschwinden, ohne dass wir uns zumindest voneinander verabschieden, oder in irgendeiner Form besprechen, wie es weitergehen soll?“

    „Naja…“, begann sie. „Die letzte halbe Stunde ist mir das nicht geglückt.“ Sie lächelte schief.

    Meine Gesichtszüge entspannten sich und ich konnte nicht anders, als sie liebevoll anzusehen. „Du stehst seit einer halben Stunde in voller Montur neben dem Bett?“

    Sie zuckte mit den Schultern.

    Ich schob die Decke zurück und stand auf. Dann legte ich meine Hände an ihre Wangen und zog sie in einen Kuss. Ich begann ihre Jacke zu öffnen, doch sie löste sich von mir.

    „Nein, nicht. So kommen wir nie los.“

    „Ich weiß“, seufzte ich. „Aber werden wir uns denn wiedersehen, wenn wir uns jetzt trennen?“

    „Wahrscheinlich nicht.“

    I MADE IT!

    Punktlandung --> 30.11. 22:50 Uhr: 50.031 Wörter :lol:


    Puh, was ein Act. Ich habe heute morgen eine Stunde später angefangen zu arbeiten, um noch eine realistische Chance zu haben, es zu packen und es hat geklappt.

    Es gibt einige Stellen, die unbedingt überarbeitet werden müssen, bestimmt drehe ich mich auch gelegentlich im Kreis, es gibt Lücken und ungeklärte Fragen, ABER: erst mal ist es geschafft. Um den Rest kann ich mich immer noch kümmern.


    Konkret sind es zwei Stellen, wo noch arge Lücken vorhanden sind:

    Das waren mal die groben Löcher.


    Bzgl. der Kreditkarten-Sache: das werde ich vermutlich ganz streichen und Jan auch nicht im Hotel anrufen lassen. Dann fällt es mir auch nicht allzu schwer Spoiler 1 einzufädeln.



    Puh... ok. Jetzt werde ich dann erst mal die Texte raushauen, so roh und unbearbeitet sie teilweise sind.



    Bitte verzeih mir, dass ich dir noch kein Feedback zum Abschluss- und zu den Zwischenkapiteln geben kann. Ich werde das definitiv morgen oder am Wochenende nachreichen. Ich wollte sowie auch noch ein Gesamtbild abgeben. Das kommt auf jeden Fall noch.


    Zitat


    Ich habe offenbar eimerweise Tee konsumiert ... meine Kanne hat 1,5 l.

    Ach, bei Tee ist das doch in Ordnung ;)

    Da komme ich auch auf bisschen was, habe das jedoch leider nicht mitgezählt.


    Zitat


    da gibt es jetzt einige kleine Logikfehler

    Das lässt sich bestimmt gut beheben :) Wird bei mir auch so sein, bzw. ich habe sogar schon noch den ein oder anderen Hinweis in vorherige Kapitel gepackt. Das hat ja auch gleichzeitig Potential, die Geschichte noch zu verbessern.


    Statistik:

    • Kaffee: 8
    • Drinks: 20
      • Glühwein: 10
      • Martini Cocktail: 5
      • Schnaps (natürlich genossen und nicht runter gestürzt): 3
      • Glas Rotwein: 2
    • Gegooglet: 46 (Synonym süchtig machend, Strecke Berlin --> Ahr, wie nennt man diese leuchtenden Notausgangsschilder? --> Ergebnis: leuchtende Notausgangsschilder :lol: )
    • Noch mal von vorne gelesen: 3
    • Passage angepasst: 12
    • Protagonistin trinkt: 6
    • Wunsch nach einer wasserdichten Plotplanung: 3
    • geplant: 2
    • um Entscheidung gedrückt: 2
    • beinahe beim Schreiben eingeschlafen: 4
    • Tage, an denen ich vor 21 Uhr schon schreiben konnte: 10

    Ich glaube dir, dass sich das toll anfühlt und du geschafft hast, diesen Teil von Seraks Geschichte zu Papier zu bringen. Es ist ja auch wirklich gelungen :)

    Den "Ende-Post" werde ich morgen lesen und natürlich auch noch mal Rückmeldung geben.


    Ich hatte leider einen ganz schweren Tag. Ich dachte, ich kann heute auch wieder etwas aufholen, stattdessen habe ich den Minusrekord des ganzen NaNos aufgestellt. Wider Erwarten bin ich tagsüber nicht zum Schreiben gekommen, sondern wieder erst um 21 Uhr und mit hämmernden Kopfschmerzen.

    Aber so geht es eben auch manchmal... Morgen müsste ich jetzt mehr als 3000 Wörter schreiben, das wird schon sehr sportlich.

    Aber hey, ich bin näher dran, als ich dachte und ich habe der Geschichte Form und Inhalt geben, wo es zuvor nicht mehr als eine Handvoll Szenen gab.

    Posten kann ich heute nichts, weil das Folgekapitel noch arg unvollständig ist.

    Den Schluss habe ich schon geschrieben, es gibt also auf jeden Fall noch mal Stoff, im Zweifelsfall mit vielen [...] dazwischen.

    Auch die Dummheit von Vanessa gibt es noch und es freut mich ja schon fast, dass ich dich da noch mal auf die Folter spannen kann *höhö :D


    Danke für deine Rückmeldung zu dem Kreditkartenthema. Das kommt tatsächlich sehr aus heiterem Himmel. Das fiel mir dann beim nochmaligen Lesen auch auf.

    Ich werde es auch noch mal recherchieren. Ich kenne das bei manchen Sachen so, dass man seine Kreditkarte bei Buchung hinterlegt, aber nichts eingezogen wird. Es ist sozusagen eine Sicherheit für den Dienstleister. Ob er dann im Zweifel einfach abbuchen kann, werde ich prüfen.

    So oder so: ich muss mindestens erwähnen, dass die Karte vorher hinterlegt wurde.


    Statistik:

    • Kaffee: 7
    • Drinks: 20 --> versuche ich jetzt doch mal aufzudröseln, weil du das so schön akurat hast
      • Glühwein: 10
      • Martini Cocktail: 5
      • Schnaps (natürlich genossen und nicht runter gestürzt): 3
      • Glas Rotwein: 2
    • Gegooglet: 44 (Synonym Mitleid, Synonym Furcht)
    • Noch mal von vorne gelesen: 3
    • Passage angepasst: 12
    • Protagonistin trinkt: 5
    • Wunsch nach einer wasserdichten Plotplanung: 3
    • geplant: 2
    • um Entscheidung gedrückt: 2
    • beinahe beim Schreiben eingeschlafen: 4
    Zitat

    Es beeinflusst nicht nur einzelne Entscheidungen, sondern sein ganzes Wesen. Darum war mir wichtig, dass die Entwicklung für den Leser nachvollziehbar ist. Ich finde nichts schrecklicher, als wenn ein "Normalo" aus heiterem Himmel "die Bösen" abschlachten kann, ohne etwas dabei zu spüren, Genre hin oder her. "Kriegerherz" dient dazu, eine solche Entwicklung glaubhaft und "realistisch" darzustellen, denn Serak entwickelt später extreme antisoziale Züge, wenn er sie nicht schon teilweise hat (siehe fragliche Szene mit Arvida, in der er nichts spürt, obwohl er gerade mitten in der Pubertät ist).

    Das ist dir auf jeden Fall sehr gut gelungen!

    Es stimmt, Arvida hätte auch Potential für mehr gehabt, so aber hilft es für Seraks Wandlung. Und sie hat es ja ganz schön herausgefordert.


    Zitat

    "Feierlich erhob der Hohe Richter sich noch einmal von seinem Stuhl, um zu der vergammelten Menge zu sprechen."

    :rofl: sehr schön! Sowas liebe ich ja.

    Danke für's Teilen!

    Ich schreibe schon die ganze Zeit Falsche statt Flasche. Passt auch irgendwie - Marie soll ja nichts Flasches - äh Falsches tun ;D

    Im Foyer des Hotels rief mich der Rezeptionist zu sich. „Frau Günther, ich habe einen Anruf von jemandem erhalten, der meinte, er sei ihr Mann. Er war recht… ungehalten und erwartet einen Rückruf.“

    Ich vermied es Marie anzusehen. Meine Knie waren weich auf dem Weg nach oben. Ich fischte mein Handy aus der Tasche und schaltete es an. Es waren mehrere Anrufe von Jan drauf, und einer von Saskia. Jan hatte auch eine Nachricht geschrieben.

    „Vanessa, ich weiß nicht, ob ich mir Sorgen machen soll, oder dich in die Wüste schicken. Sag mir doch einfach, was los ist. Warum lügst du mich an?“

    Ich steckte das Handy wieder ein.

    „Ich muss hier weg“, sagte ich zu Marie. „Ich fürchte, ich muss nach Hause.“ Erwartungsvoll sah ich sie an. Ich weiß nicht, was ich hören wollte. Eine Erlaubnis? Das Versprechen, dass sie zurechtkäme? Die Zusicherung, dass wir uns wiedersehen würden?

    Sie ging hinüber an das Fenster und schaute hinaus.

    „Ich bin betrunken Auto gefahren“, sagte sie mit monotoner Stimme. „Es war Nachmittag, ich habe Phillipp vom Kindergarten abgeholt.“ Sie machte eine Pause, schien mit sich zu ringen. In diesem Moment wusste ich, dass ich der erste Mensch war, dem sie das offenbarte.

    „Ich glaube zu diesem Zeitpunkt haben die Erzieher es schon gewusst, aber keiner hat etwas zu mir gesagt. Vielleicht zu Johanna, ich weiß es nicht. Aber es gibt diese bestimmte Art, wie sie dich anschauen. Eine eklige Mischung aus Entsetzen, Mitleid und Verurteilung.“ Wieder hielt sie inne. Jedes ihrer Worte schnitt tief. Ich war mir nicht sicher, ob ich mehr hören wollte.

    „Ich habe Phillipp in seinen Sitz gesetzt. Er hat nie etwas zu mir gesagt. Er hat mich nie komisch angesehen. Ich weiß bis heute nicht, ob ich ihn angeschnallt habe. Egal wie oft ich das gefragt wurde, ich weiß es nicht mehr. Phillipp wollte immer über die Autobahn fahren, obwohl der Weg weiter war. Er liebte es, wenn wir schnell fuhren.“ Noch immer hatte sich Marie dem Fenster zugewandt. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, oder etwas zu sagen. Ich fühlte, wie schwer es ihr fiel, all das auszusprechen.

    „Also fuhren wir schnell. Ein Auto vor mir scherte aus. Ich habe versucht auszuweichen. Statt zu bremsen habe ich Gas gegeben. Das weiß ich noch. Das weiß ich ganz genau, denn ich habe Nächte lang davon geträumt. Von dem Gefühl, wenn man das Lenkrad umklammert und sich in den Sitz presst, und anhalten möchte, das Auto aber immer schneller wird.“

    Sie atmet tief durch und legt sich eine Hand auf das Herz.

    „Ich bin im Krankenhaus aufgewacht. Mein Oberschenkel war gebrochen und ich hatte einen üblen Cut am Bauch. Doch das war’s.“

    Ich erinnerte mich an die Narbe, die ich auf ihrem Bauch gefühlt hatte. „Und Phillipp?“, traute ich mich zu fragen, weil ich Angst hatte, dass sie wieder einfach aufhörte zu sprechen und mich mit unerträglicher Unwissenheit zurückließ.

    „Ich habe ihn nie wieder gesehen. Sie haben mir gesagt, es ginge ihm gut, doch ich habe es nie mit eigenen Augen gesehen.“

    Sie drehte sich zu mir. „Ich habe das noch niemandem erzählt. An diesem einen Tag im Sommer wollte ich die Dachkammer im Haus verschließen und den Schlüssel ins Meer werfen. Deine Anwesenheit, und was sich zwischen uns angebahnt hat, hat die Versuchung, in die Vergangenheit einzutauchen, zu groß werden lassen. Ich hatte Angst davor, was es mit mir macht.“

    „Aber dann bin ich dort eingebrochen“, flüsterte ich. Mit allem, was ich jetzt wusste, erdrückte mich die Erinnerung an diesen Tag beinahe.

    „Ich hätte dich nie so nahe an mich heranlassen dürfen“, sagte Marie. „Aber ich konnte nicht widerstehen. Nach allem, was ich ausgehalten habe, konnte ich dieser einen Versuchung nicht widerstehen. Selbst jetzt kann ich es nicht.“ Sie kam auf mich zu und mein Körper wusste, was gleich passieren würde, auch wenn mein Verstand sich wand und sträubte, in dem Versuch das Gehörte zu verarbeiten.

    Als wir im Hotel waren, schaute ich wieder auf mein Handy. Eine Nachricht von Jan war gekommen.

    „In Hagen liegt keine Lisa Müller.“ Mehr nicht und dadurch Aussage genug.

    Sofort war mein Mund staubtrocken und ich musste mich setzen. Er hatte tatsächlich in einem Krankenhaus angerufen? Was sollte ich ihm denn jetzt sagen? Dass das Krankenhaus ihm das vermutlich bloß nicht hatte sagen können? Dafür hätte ich wissen müssen, wie das Gespräch zwischen ihm und der Klinik gelaufen war. Im schlimmsten Fall brachte es mich sonst noch tiefer in die Misere.

    Dass Lisa verlegt worden war? Selbes Problem.

    Dass ich gelogen hatte?

    Und dann was?

    Wenn er jetzt noch seine Kontoauszüge prüfte und die Buchung aus Berlin fand… Reflexartig schaltete ich das Handy aus und steckte es in meine Tasche, als könne mich das vor dem Einschlag bewahren. Wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich auch nicht. Ich legte den Kopf in meine Hände und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.

    Im selben Moment kam Marie aus dem Bad.

    „Alles gut?“, fragte sie.

    „Ja…“, log ich, doch dann: „Nein.“

    Sie sah mich erwartungsvoll an.

    „Jan… mein Mann… er ist auf der Suche nach mir.“

    „Hast du ihm denn nicht gesagt, wo du bist?“

    Ich zog überrascht die Brauen zusammen. „Nein, natürlich nicht, ich meine…“

    „Du bist schon seit… wie lange unterwegs und er hat keine Ahnung, wo du bist?“ Marie wirkte ehrlich entsetzt.

    Ich verstand die Welt nicht mehr. „Was hätte ich ihm denn sagen sollen? Dass ich eine Affäre habe?“

    „Für den Anfang hätte es vielleicht gereicht zu sagen, dass du mich besuchst. Oder von mir aus irgendjemand anderen.“ Sie schüttelte doch tatsächlich den Kopf über mich.

    „Natürlich habe ich ihm etwas gesagt, aber er ist dahintergekommen.“

    Marie seufzte wie über ein unnötiges Ärgernis. „Hast du denn keine Angst, was er tun könnte?“

    „Natürlich habe ich Angst. Was denkst du denn?“ Ich konnte nicht verhindern, dass ich lauter wurde. Verärgert über Marie und mich selbst verschränkte ich die Arme vor der Brust.

    „Wenn ich das gewusst hätte…“, murmelte Marie.

    „Dann was?“

    „Ich kann das nicht. Ich will damit nichts zu tun haben.“

    Sie drehte sich um und eilte aus dem Zimmer.

    Ich sprang auf und rannte hinterher.

    „Marie!“, rief ich und sah, wie sie um die Ecke bog und im Treppenhaus verschwand.

    „Verflucht!“ Ich riss die Karte aus der Halterung neben der Tür, hetzte den Gang entlang und die Treppe hinunter. Ich sah Marie durch die Eingangstüre nach außen verschwinden und rannte hinterher. Es war mir egal, ob mich die Männer an der Rezeption oder die anderen Gäste im Foyer anstarrten. Ohne Jacke drang mir die kalte Luft sofort bis auf die Haut. Ich rannte Marie nach und rief ihren Namen. Sie bog in eine Straße ab, dann in die nächste. Der Abstand wuchs. Ich hatte weder Ausdauer, noch war ich schnell. Noch ein paar Wendungen und ich hätte Marie verloren.

    Sie blieb nicht stehen. Vielleicht sollte ich sie einfach ziehen lassen.

    Als sie das nächste Mal abbog, hörte ich auf zu rennen und versuchte meinen Atem zu kontrollieren. Ich ging zur Kreuzung und schaute die Straße entlang, in der Erwartung, Marie aus den Augen verloren zu haben. Stattdessen stand sie nur ein paar Meter entfernt und hatte den Blick auf die Hausfassade vor sich gewandt. Über ihr hing wie ein Damoklesschwert das Schild eines Pubs.

    Mein Herz raste vom Rennen, doch meine Furcht gab den Schlägen eine markerschütternde Intensität.

    Ich konnte nicht verleugnen, dass ich selbst in diesem Augenblick nichts lieber getan hätte, als meine Sorgen zu ertränken. Ich hätte es am liebsten sogar mit Marie gemeinsam getan, doch allein, dass ich so etwas denken konnte, versetzte mir einen Stich. Langsam ging ich auf Marie zu. Wie gebannt schaute sie durch das große Fenster des Pubs. Ein paar Schritte entfernt blieb ich stehen.

    „Marie…“, sagte ich. „Tu das nicht.“

    Sie drehte den Kopf zu mir.

    „Warum bist du gekommen?“, fragte sie leise. Sie wirkte, als hätte sämtliche Lebensenergie sie verlassen. Während ich bis auf das Mark fror, schien sie die Kälte gar nicht wahrzunehmen. „Nach Berlin?“

    Ich schluckte. „Können wir wo hin gehen, wo es warm ist?“ Ich versuchte nicht wie automatisch in Richtung des Pubs zu blicken.

    „Wieso bist du zu mir gekommen?“

    „Ich…“, begann ich, doch es war so kalt. Ich konnte nicht denken. „Marie, mir ist kalt. Lass uns ins Hotel zurückgehen, oder in ein Café.“

    „Wieso bist du zu mir gekommen?“ Sie hob nicht die Stimme, sie veränderte ihren Gesichtsausdruck nicht, sie wiederholte stoisch ihre Frage.

    „Wegen deiner Nachricht auf dem Weinetikett. Ich hatte die Befürchtung, du hättest… ein Problem.“

    „Wie kamst du darauf? Die Nachricht war absolut nichtssagend.“

    Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das war sie nicht.“ Nicht, nachdem ich mich einen ganzen Sommer so intensiv mit Marie beschäftigt hatte.

    „Wie hast du mich gefunden?“

    Müssen wir das wirklich hier auf der Straße besprechen, fragte ich mit meinem Blick. Ich kam mir vor wie in einem Film. Als stünde Marie auf dem Dach eines Hochhauses, kurz davor zu springen, und meine Anwesenheit und unser Gespräch war alles, was sie davon abhielt.

    „Wie?“

    „Ich war zuerst in Friedrichskoog. Dann in Büsum. Jan von der Surfschule hat mich an Dean vermittelt und mir gesagt, dass du nach Berlin gegangen bist. Das war’s.“

    Sie sah mich lange an. „Wieso bist du gekommen?“

    „Marie, das hatten wir doch…“

    „Wieso?“

    Ich schlang die Arme um meinen frierenden Körper. „Weil ich seit Juni nicht aufhören kann, an dich zu denken.“

    Marie schwieg, also fuhr ich fort.

    „Ich weiß doch auch nicht, was hier passiert. Mein ganzes Leben war ich nur mit Männern zusammen und jetzt, wo ich eigentlich dachte, ich hätte dieses Kapitel geschlossen, verliebe ich mich? In eine Frau? Denkst du für mich ist das alles leicht? Denkst du, ich mache das zum Spaß?“

    Auch jetzt nach dem Streit fühlte es sich noch falsch an, Marie mein Dilemma an den Kopf zu werfen. Aber es war einfach ungerecht. Neben Maries Päckchen würde meine Last immer nichtig sein.

    „Heißt das, du liebst du mich?“, fragte sie.

    „Keine Ahnung. Vielleicht bin ich deswegen gekommen. Um das herauszufinden. Ich kenne dich noch nicht einmal wirklich.“ Ich löste den Blickkontakt.

    „Ich fasse es nicht, dass das wirklich passiert.“, sagte Marie nach einer Weile. „Wusstest du, dass Liebeskummer gar nicht so verschieden ist von einem Entzug? Und in beiden Fällen sollte man sich fernhalten, während alles in einem danach verlangt, der Versuchung nachzugeben.“

    Ich sah wieder zu ihr, um ihren Gesichtsausdruck zu sehen. Ein gequältes Lächeln lag auf ihren Lippen.

    „Habe ich dir je gesagt, dass du aussiehst, wie sie? Wie Johanna, meine Frau?“ Eine vernichtende Bitterkeit lag auf den letzten beiden Worten.

    Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich habe es gesehen“, flüsterte ich.

    Das Lächeln verschwand aus Maries Gesicht. „Und was noch?“, fragte sie.

    Ich zögerte und senkte den Blick.

    „Was noch, Vanessa?“

    Die Pein war mir mit Sicherheit ins Gesicht geschrieben und schwang in meinen Worten mit. „Den kleinen Jungen.“ Deinen Sohn. Vorsichtig hob ich den Blick. Marie starrte mich weiterhin ausdruckslos an. Ich konnte nicht im Geringsten einschätzen, was meine Worte in ihr auslösten und was sie jetzt tun würde. Es war genauso wahrscheinlich, dass sie auf mich zustürmte und mich angriff, wie dass sie an Ort und Stelle zusammenbrach, oder sich ergab und in das Pub ging. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Jungen zu erwähnen, doch Marie hatte mich dazu gedrängt. Sie hatte wissen müssen, was kommen konnte, und hatte es trotzdem herausgefordert.

    „Komm“, sagte sie schließlich. „Mir ist kalt.“

    Ohne ein weiteres Wort ging sie an mir vorbei zurück, in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

    Fassungslos blieb ich stehen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Und doch war es so typisch für unsere gemeinsame Zeit, so typisch für Marie. Wir suchten nach Antworten und fanden noch mehr Fragen. Wir bewegten uns im Kreis. Wollten oder konnten wir nicht ausbrechen?

    Ich warf selbst einen sehnsüchtigen Blick auf das Pub, dann folgte ich Marie.

    Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag Marie nicht mehr neben mir. Ich schlich mich in die Küche, doch da war niemand. Auch das Bad war verwaist. Weil ich niemand anderem begegnen wollte, ging ich zurück in Maries Zimmer und prüfte mein Handy. Ich hatte mehrere Anrufe von derselben Telefonnummer. Die Vorwahl kannte ich nicht, also schaute ich im Internet nach. Es war die Vorwahl von Berlin. Verschiedene Szenarien rasten mir durch den Kopf. Jan hatte irgendwie herausgefunden, dass ich in Berlin war und war selbst hergefahren. Marie war rückfällig geworden und versuchte mich von irgendwo zu erreichen. Beides war unmöglich – Jan konnte nicht wissen, wo ich war, und würde seine Kundentermine nicht einfach sausen lassen, und Marie kannte meine Handynummer nicht – doch nur der Gedanke an eine dieser Möglichkeiten trieb mir Schauer über den Rücken.

    Ich rief die Nummer an.

    In der Leitung meldete sich die Hotelrezeption. Erleichtert atmete ich aus, aber gleichzeitig fiel mir siedend heiß ein, dass ich nur bis Sonntag gebucht hatte.

    „Gut, dass Sie zurückrufen, Frau Günther“, sagte mir der Rezeptionist. „Wir haben vorsorglich ihre Kreditkarte belastet. Haben Sie vor noch einmal ins Hotel zu kommen?“

    Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Es war eine gemeinsame Kreditkarte von Jan und mir. Und sie lief über Jans Girokonto.

    „Entschuldigen Sie, ich war verhindert. Könnte ich bis Mittwoch verlängern? Und könnten Sie die Buchung rückgängig machen? Ich würde gerne in bar zahlen.“

    „Einen Moment bitte.“

    Ungeduldig wartete ich auf seine Antwort.

    „Beides möglich“, sagte er schließlich.

    Trotzdem war ich alles andere als beruhigt. Ich war nicht sicher, ob die Buchung dadurch aus Jans Kontoverlauf verschwinden würde.

    Eine Nachricht von Saskia poppte auf. „Vanessa, ganz ehrlich. Das glaubt dir kein Mensch. Sag mir, was los ist. Ich renne nicht gleich zu Jan, keine Angst.“

    Wieder und wieder las ich den Text. Es war verlockend, mich ihr anzuvertrauen. Aber konnte ich das wirklich? Würde sie ihre Meinung bezüglich Jan nicht ändern, wenn sie erfuhr, was ich getan hatte?

    „Du hast Recht“, tippte ich in das Nachrichtenfeld. „Ich habe mich in eine Frau verliebt und mit ihr geschlafen, doch leider hat sie ein Alkoholproblem und ich fürchte, wenn ich sie verlasse, wird sie rückfällig.“

    Ich starrte auf den Text. Mir war klar, wie verrückt es klang und wie scheinheilig es in Wirklichkeit war. Trotzdem musste ich zugeben, dass es mein Dilemma recht gut beschrieb, wenn es auch alles ausklammerte, was meine Rolle betraf.

    Ich löschte den Text.

    Ich überlegte, ob ich zurück ins Hotel gehen sollte. Doch ich wusste nicht, wann Marie zurückkam und, wenn ich ganz ehrlich war, nicht einmal ob sie es tun würde. Ich hatte keine Möglichkeit sie zu erreichen. Ich konnte nicht weg, ich war gefangen.

    Ich schaute aus dem Fenster. Es regnete und nur wenig Leute waren unterwegs. Eine Idee kam mir und ich rief google maps auf, um zu prüfen, wo ich eigentlich war. Das Haus war nicht weit entfernt von der Spree. Die nächste U-Bahn-Station war Schlesisches Tor und es war ein ganzes Stück bis zu meinem Hotel in Mitte.

    Ich hörte, wie die Haustüre ins Schloss fiel. Kurz darauf kam Marie in das Zimmer.

    „Wir müssen los. Die Mieterin des Zimmers kommt heute schon zurück.“ Sofort begann sie, ein paar Sachen zusammenzusammeln und in einen verbeulten Rucksack zu packen.

    Ich war etwas überrumpelt, doch ich hatte sowieso nichts dabei, was ich einpacken hätte können.

    Kurze Zeit später standen wir auf der Straße vor dem Haus und ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, wie durch einen siebten Sinn.

    Jetzt war der Moment. Jetzt hätten wir uns verabschieden können. Die Türe stand einen kurzen Augenblick offen. Gleich würde sie wieder zuschlagen. Meine Uhr tickte. Doch es waren noch zu viele Fragen offen, zu vieles Ungesagt, zu vieles unklar. Nicht das geringste darunter, dass ich selbst nicht wusste, was ich wollte.

    „Ich habe ein Zimmer in einem Hotel“, sagte ich, bevor ich mich hindern konnte. „Da muss ich sowieso wieder hin. Wir könnten etwas essen und dann kommst du einfach mit?“

    Marie zögerte, als spürte sie die unsichtbare Aura des Moments ebenfalls. Dann aber willigte sie ein.

    Wir holten uns Kaffee und belegte Brote und gingen die Spree entlang. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, war aber zu kalt, um sich hinzusetzen, also blieben wir in Bewegung.

    Vereinzelt sah ich erste Adventsdekoration. Eine meiner liebsten Zeitpunkte im Jahr, wenn nicht sogar die liebste, stand vor der Tür. Für mich hatte die Vorweihnachtszeit schon immer einen ganz besonderen Zauber besessen. Die Wärme und Geborgenheit einer Familie, an die ich mich aus Kindheitstagen erinnerte und nun versuchte, auch meinen eigenen Kindern mitzugeben, auf der anderen Seite die ungezähmten und berauschenden Gefühle einer frischen Liebe, mit allen Aufs und Abs, allem Hoffen und Sehnen, zu viel Alkohol, zu kurze Nächte. Jans und meine Anfangszeit war vor Weihnachten gewesen. Noch nach all den Jahren konnte ich heraufbeschwören, wie ich mich damals gefühlt hatte.

    Es war meinen jetzigen Gefühlen gar nicht so unähnlich.

    Ich hing zwischen zwei Leben fest.

    „Was hast du früher gemacht, beruflich meine ich?“, traute ich mich nach einer Weile zu fragen.

    „Marketing.“, kam die knappe Antwort.

    „Und würdest du es wieder machen wollen?“ Ich dachte an Maries spartanische Homepage und kannte die Antwort eigentlich bereits.

    Eine ganze Weile sagte sie nichts. Neben uns floss träge der Fluss vorbei, eingezwängt in sein Bett aus Beton.

    „Selbst, wenn ich wollte, ich könnte nicht. Es ist Vergangenheit. Und manchmal sollte Vergangenheit einfach ruhen.“