Beiträge von Dunwins Geist

    Aimeric über Archibald und Brandur


    Aimeric zuckte die Schultern. "Unverdient geliebt hm? So wie Arch und so wie viele anderen in den meisten Augen von jenen die nicht verstehen. Manchmal hast Du ihm Unrecht getan. Nicht in allen Dingen, aber was die Zuneigung angeht. Seine Mutter hat ihn geboren Chirag, sie hat ihn weder in den Arm genommen, noch gehalten, noch jemals gestillt. Sie hat ihn geboren, er wurde abgenabelt - und damit abgenabelt von ihr und sie gab ihn weg. Direkt, sofort. Er kam zu einer Amme. Er kannte seine Mutter nicht als Mutter.


    Er kannte nur auf diese Art eine Person - seine Amme.

    Und als er 3 Jahre war, holte man ihn von dort weg.


    Und er lebte ein Leben das meinen nicht unähnlich war. Sie sind allein in ihren Köpfen, völlig allein und sie beten die Effektivität an. Wie sagt ihm seine Mutter immer? Verlass Dich auf andere und Du bist verlassen? Oder was sagte sie als er klein war und mit einem Messer spielte und ein Diener sich beschwerte. Soll er nur. Der Diener sagte er könne sich schneiden, seine Mutter erwiderte, dann wird er lernen besser aufzupassen...


    Er wird nicht geliebt Chirag, er ist in seinem Kopf immer allein und einsam und das hat ihn den Verstand gekostet.

    Nicht dass sie ihn weggab wie einen alten Schuh, sondern dass man ihn der Person entriss, die er zu lieben lernte. Der Rest ist daraus entstanden.


    Er füllt die Leere in seinem Herzen mit Fleisch, andere mit Schokolade, andere wiederum mit Süßigkeiten oder Drogen - manch eine Leere kann man aber nicht mit anderen Dingen stopfen.


    Weder er kann das, noch ich... ich habe es versucht.

    Aber mich hat mein Vater genauso wenig gesehen wie Brandur oder Kunwolf.


    Die beiden sah er nicht, er sah nur ihre Magie. Sie waren für ihn ebenso wertlos, weil er sich selbst für wertlos hielt. Das habe ich später erst begriffen.


    Nun ich hatte meine zweite Chance mit Brandur... und ich habe es versaut... wie ich alles versaue... ich hätte ihm wenigstens sagen sollen... wie ich zu ihm stehe... ich sage solche Dinge immer nur, wenn die die es hören sollen... nicht da sind... ", erklärte Aimeric.



    ****

    Rückkehr



    In der Dunkelheit kamen wir an einer Straße an. Natürlich war es viel zu gefährlich, genau die Straße entlang zu traben. Also liefen wir parallel, so dass wir sie gerade noch im Auge behalten konnten und durch den Wald verdeckt waren. Wir wechselten uns ab Brandur zu tragen. Als ich ihn erneut geschultert hatte, wachte er auf, litt unter Schüttelfrost und sabberte mich voll. Mir war es egal, Hauptsache er kam wieder zu sich.


    Es war bereits stockfinsterste Nacht, als wir an einer Pferdestation mit Kneipe ankamen. Zwei alte Fuhrwagen standen dort. Ich entschied mich für das unauffälligere. Brandur würde gut darin schlafen können. Während ich das Gespannt klarmachte, drang Kunwolf in das Gebäude ein. Er tat den Bewohnern nichts, denn sie waren Unschuldige. Er manipulierte sie nur, oben sitzen zu bleiben bis zum Morgen. Dann beschaffte er so viel Nahrung, Getränke und Taler wie er in die vorhandenen Taschen stopfen konnte.


    Der Fuhrwerk war eine erstklassige Wahl. Er sah nach nichts aus, aber es hatte Platz ohne Ende. Ich fuhr mehrere Tage und versuchte mich an die Karte zu erinnern, die uns Nirza gezeigt hatte. Irgendwann erreichten wir ein Sumpfgebiet. Einige Tage rasteten wir dort und Kunwolf erinnerte sich, dass wir von dem Punkt aus sehr gut zwei Städte erreichen konnten. Wir entschieden uns einige Tage auszuruhen und dann eine Stadt anzureisen. Damit stand unser Plan.


    Mit unserem Fuhrwerk fuhren wir gemächlich in Richtung Stadt. Kunwolf und starrte aus dem Planwagen und grübelte vor sich hin. Brandur hatte sich auf der Rückbank zusammengerollt und war am Schlafen. Ich fuhr in die Stadt hinein und parkte etwas außerhalb. Kunwolf und ich machten es uns auf unseren Sitzen bequem und schliefen ebenfalls einige Stündchen. Gegen Nachmittag weckte ich Kunwolf.


    "Wie wollen wir vorgehen?", fragte ich ihn.
    "Genug Nahrung haben wir noch. Diesmal können wir ganz unauffällig mit den Talern bezahlen. Oder wir überzeugen die Leute. Lassen wir Brandur schlafen und gehen einkaufen. Was meinst Du?", fragte Kunwolf und kramte zwei Schokokekse aus unserem Vorrat hervor. Einen drückte er mir in die Hand, den anderen schlang er selbst hinunter.


    "Von mir aus so machen wir es. Verbinde Dich mit ihm. Sobald er wach wird, sag ihm Bescheid. Wollen wir weiter reisen, uns einen Flecken suchen, umkehren in die Akademie oder versuchen Nirza zu finden?", fragte ich ihn.


    Warum auch immer, er war seit dem ersten Tag unser Anführer gewesen und er war unser großer Bruder. Es stand einfach fest, genau wie ich der Vermittler zwischen Kunwolf und Brandur war.


    "Hm, also wir schauen uns hier um. Wenn wir hier nichts und niemanden finden dann versuchen wir zu Nirza zurückzukehren. Zurück zum Akademie auf keinen Fall", antwortete er freundlich.
    "Sag mal haben wir was übersehen? Irgendwas haben wir doch übersehen, jedenfalls hab ich ein komisches Gefühl", teilte ich ihm mit und aß selbst meinen Keks.


    "Kommt mir auch so vor. Es gibt kein Ort an den wir gehen könnten, außer die Wildnis natürlich. Entweder leben wir Zuhause oder müssen uns verstecken. Die Typen aus den Einrichtungen jagen uns, aber warum? Warum halten sie uns gefangen, sperren uns ein? Warum? Was haben wir denen denn getan? Nirza war das Opfer, nicht die anderen. Das waren Kriminelle und die haben den Tod verdient. Weißt Du ich habe einen ganz schreckliches Gefühl...", teilte mir Kunwolf mit und ich spürte seine Besorgnis.


    Er rieb sich müde die Augen, als jemand gegen die Plane unseres Fahrgespanns schlug und wir zusammenzuckten. Wir hatten den Kerl nicht gehört.


    "Aussteigen,alle beide", befahl er.


    Kunwolf und ich stiegen gemeinsam aus und traten dem Kerl entgegen.


    "Der dritte im Bunde schläft, wie ich sehe. Sagt mal, was macht Ihr für Scheiße? Wisst Ihr eigentlich wie lange ich Euch gesucht habe?", fragte er.


    Er stellte sich etwas bequemer hin und verschränkte die Arme vor der Brust. Nicht um uns zu drohen, sondern um uns zu zeigen, dass er keine Waffe ziehen würde. Seine Statur und auch seine Körperhaltung verriet mir, dass wir uns besser nicht mit ihm anlegen sollten.


    "Wir wussten nicht, dass wir von Dir gesucht werden. Warum suchst Du uns? ", fragte ich nach.
    "Ich hab Euch gesucht, da Ihr getürmt seid und Euer Vater mich mit Eurer Suche beauftragte. Ihr habt von der Welt draußen überhaupt keine Ahnung. Ihr wisst nicht wie oft Ihr Eurer Entdeckung so gerade entkommen seid, oder auch Eurer Hinrichtung. Wir haben Euch einweisen lassen um Euch dann in Ruhe abzuholen. Aber nein, Ihr seid getürmt.


    Wie soll man Euch dreisten Drei denn retten, wenn Ihr jedes Mal vor der Rettung flieht? Schutz ist nicht vollumfänglich möglich. Das Schwein, das Euch in Vistrial so komisch vorkam, war kein Seelenloser oder Untoter - das war ein Stumpfer. Kein Purie, sondern das Gegenteil eines Magiers, ein echter Stumpfer. Stumpfe sind sehr seltene Menschen, die man mental nicht beeinflussen kann. An ihnen perlt Magie scheinbar ab. Was solls, Stahlklingen tun es nicht und er hat 30 Zentimeter Stahl gefressen. Woher solltet Ihr sowas auch wissen.


    Wer ist wer? Stellt Euch kurz vor Jungs", sagte der Kerl.
    "Ich bin Kunwolf", sagte Kun.
    "Ich bin Dunwin und Brandur schläft", teilte ich ihm mit, was ihn belustigt grinsen ließ.


    "Ihr Biester habt mich wie gesagt ganz schön auf Trab gehalten. Laut Alastair seit Ihr drei Querulanten", grinste er verschlagen.
    "Schön, wir haben einige Fragen", sagte Kunwolf.


    "Na dann frag. Ich muss Euch zurückbringen", teilte er uns mit.
    "Wie heißt Du und wer bist Du?", fragte ich ihn.
    "Vincent kurz Vinc, erster Stabler Deines Vaters - kurzum sein Schwertmeister. Momentan der Babysitter von Euch", antwortete er.


    "Dürfen wir wenigstens noch die Stadt angucken Babysitter?", fragte Kun.
    "Wir schauen sie uns gemeinsam an", antwortete er freundlich.


    Wir gingen in der Stadt was essen. Vincent führte uns herum, fragte was wir gerne anschauen wollten und gewährte uns einen freien Nachmittag. Er ließ sich freiwillig mental abtasten, damit Kun und Brand sahen, dass er uns nichts Böses wollte. Zudem ließ er uns bereitwillig einige Erinnerung auslesen. Einsätze, Aufträge, Observierungen, alles was wir später in unserem Leben auch tun würden.


    Am Abend ging zurück nach Hause.


    Wir waren so lange und auch weit gelaufen um in die Freiheit zu entkommen.
    Und dann waren wir binnen kürzester Zeit zurück im Herrenhaus.
    Ein ziemlich komisches Gefühl.
    Es hat einem die Weltsicht auf andere Art geradegerückt.


    Eines wusste ich seit jenem Tag...
    ...egal wie weit Du läufst, am Ende holt Dich die Familie ein... immer...

    Raus aus der Anstalt



    Das war die letzte Info vor dem Haus, an die ich mich erinnere, bevor ich das Bewusstsein verlor. Wie lange ich bewusstlos war, weiß ich nicht. Ich wachte in einem seltsamen Raum auf und starrte an die Decke. Ich spürte weder die ständige Wut von Kunwolf noch die Melancholie von Brandur.


    Noch nie im Leben hatte ich mich so allein gefühlt. Dass man mich so behandelte wie Abfall, trotz aller Folter die ich in unserem Heim erleiden musste, nicht. Dies war eine andere Form von Alleinsein, die nur ein Familienmitglied verstehen kann.


    Wir lieben uns und wir hassen uns. Wir wollen unsere Nächsten beseitigen und sehen uns doch heimlich nach ihrer Zuneigung und Nähe.


    Als ich wieder richtig zu mir kam und mich umschaute, sah ich dass sie ebenfalls in so komischen Betten vollfixiert lagen. Sie hatten uns mit irgendwas vollgepumpt, dass wir absolut ruhig gestellt wurden.


    Die Zeit die folgte war verwirrend und ich reiße nur meine Wahrnehmung an. Dunkelheit. Träume. Brandur brennend. Kunwolf fallend. Wir drei starrend in die Leere.


    Ein rundes Bett, das auf einem Schwarzen Meer dahin treibt. Zuckende Blitze am Horizont, das Gesicht von Nirza. Unmenschliche Stimmen, wie laufendes Wasser. Schreckliche Kreaturen mit Tentakeln, Archibald ist unter ihnen und lacht, Weißroben, staksig, lang, dünn, grau, einige weiß, schwarze Augen, Hände viel zu lange Hände…


    Ein fensterloser Raum. Eine Krankenschwester, die eine Spritze ins Licht hält und ein paarmal sanft mit dem Finger draufklopft. Wir schauen beide zu, wie die Blase ans Licht steigt.


    „Ich will nach Hause“, flüstere ich heiser.
    „Nach Hause, natürlich“, sagt sie.


    Ein Stich, ein Schmerz, ein Sturz in Tiefe.


    Aufwachen und Wahrnehmung. Ich bin nicht allein. Kunwolf und ich sind in einem Raum. Ein fensterloser Raum. Brandur fehlt. Wo ist Brandur?


    Ich weiß es nicht und Kun kann ihn nicht finden. Wir brauchen einen Moment um richtig klar im Kopf zu werden, der Moment kann auch Stunden oder Tage gedauert haben.


    „Ihr widerlichen, stinkenden Würmer! Diese… was ist das Dunwin?“, fragte Kunwolf.
    „Zwangsjacke“, warf ich helfend ein.
    „Genau. Diese Zwangsjacke hält mich nicht auf!“, brüllte Kunwolf und tobte kurz durch unsere Zelle, ehe er schlagartig stocksteif verharrte.


    Ich dachte erst, jetzt ist ihm völlig durchgedreht, aber nein er grinste schlagartig wie ein Honigkuchenpferd. Irgendwie war er mit dem Gesichtsausdruck noch unheimlicher.


    „Ich habe einen Plan!“, kicherte er.
    „Nicht schon wieder“, stöhnte ich.


    „Doch hör zu. Wir befreien uns aus den Zwangsjacken und dann hauen wir ab. Wir müssen nach Draußen!“, sagte er vehement.
    „Das Wort hat mittlerweile einen extrem üblen Beigeschmack Kunwolf. Zudem wie sollen wir uns aus einer Zwangsjacke befreien? Es lebt nicht, also kannst Du es nicht beeinflussen. Da wir beide in Zwangsjacken stecken kann keiner die Dinger öffnen“, warf ich ein.


    „Stell Dich nicht blöder an, als Du bist! Du öffnest meine, ich Deine!“, gab Kunwolf zu bedenken.


    „Mit welchen HÄNDEN???“, zischte ich ihn an.
    „Du verstehst wieder Null. Ich mach den Anfang, dreh Dich um, ich öffne Deine Weste mit den Zähnen und Du dann meine. Nicht vergessen – nachdem Du frei bist mich freizulassen klar?“, sagte Kunwolf.


    „Wie könnte ich das vergessen?“, grinste ich ihn an.
    „Mir kam da so ein schauerlicher Gedanke. Bereit?“, fragte er und starrte mich an.


    „Eigentlich nicht aber von mir aus. Wehe Du beißt mich“, warnte ich ihn.
    „Ich übe vorher an der Wabbelwand, warte“, sagte Kunwolf lachend und fing an in die Polsterung der Gummizelle zu beißen.


    „Ich fall vom Glauben ab!“, stöhnte ich, während es Kunwolf wirklich schaffte ein Stück Polsterung herauszubeißen und weg zu rotzen.
    „Gewöhn Dir lieber wieder den Glauben an. Je an mir gezweifelt? Also huldige mir, besser noch hilf mit“, lachte er und machte sich daran die Polsterung mit den Zähnen von der Wand zu schälen.


    „Ich klingele jetzt nach dem Zimmerservice, ich will ein Einzelzimmer“, prustete ich und er rotzte ein Stück Polsterung in meine Richtung.
    „Sei mal nicht so eigennützig und beiß schon mal für mich die Knöpfe ab“, gibbelte Kunwolf.


    „Ich brauch meine Zähne noch“, knurrte ich ihn an.
    „Nicht wenn Du für immer hier festgehalten wirst. Sie werden uns erneut mit Med vollstopfen, im Bett fixieren und uns zwangsernähren. Deine Zähne sind das letzte woran Du jetzt denken solltest“, sagte er und hatte mittlerweile gewaltigen Schaden angerichtet, wie er selbst mit zufriedenem Nicken feststellte.


    Unsere Zelle sah mittlerweile aus, als hätte ein tollwütiger Hund darin rumgetobt.


    "Manche Zähne wachsen nach hörte ich", lachte Kun.
    „Das waren bestimmt Deine Milchzähne Du Vollpfosten“, warf ich skeptisch ein.


    „Als ich Milchzähne hatte, war ich noch harmlos“, lachte sich Kunwolf kringelig. Seinem Zerstörungsdrang tat das keinen Abbruch.
    „Und mit den Weisheitszähnen wirst Du das wieder oder was? Was tue ich nicht alles für Dich?“, antwortete ich und fing an ihm beim Abbeißen der Knöpfe zu helfen.


    „Sag mal warum machen wir den Scheiß überhaupt?“, fragte er nach ungefähr 5 Minuten.
    „Weil Du es befohlen hast“, antwortete ich.


    „Nee – eigentlich wollte ich uns doch aus der Jacke holen und hab nur probe-gebissen. Dreh Dich jetzt mal um hier. Du machst mich noch ganz verrückt“, schnauzte mich Kunwolf an.
    „Ich – Dich?“, fragte ich baff, drehte mich aber um, da ich befreit werden wollte.


    „Ja oder ich Dich, doch egal“, antwortete er und fing an die Schlaufe der Ärmel die auf meinem Rücken verknotet war, mit den Zähnen zu bearbeiten. Keine Minute später hatte er es geschafft. Nur steckten meine Arme immer noch in geschlossenen Ärmeln. Ich hielt ihm die Dinger hin und zog eine Augenbraue hoch.


    „Ja was? Mach die Jacke auf und zieh sie aus! Hallo?“, prustete er.
    „Scheiße, stimmt“, lachte ich und öffnete die Jacke. Es war so, als ob man Fäustlinge trug.


    „ICH BIN FREI!“, freute ich mich und knuffte Kunwolf vor die Schulter.
    „Hm hm“, räusperte er sich und drehte sich um.
    „Was los?“, fragte ich gespielt blöde.
    „Dunwin…“, warnte er mich und ich befreite ihn gibbelnd aus seiner Jacke.


    „Hach… ich fühle mich wie ein neuer Mensch. Lass uns abhauen, komm“, grinste er. Kunwolf schüttelt sich, streckt und reckt sich und setzt sich direkt vor die Tür unterhalb des Sehschlitzes. Mit einem Nicken beordert er mich zu sich und ich tue es ihm gleich. Wir verharren einen Moment.


    Kunwolf sammelt sich und fing an mit dem Hacken gegen die Tür zu treten. Immer und immer wieder tritt er mit voller Wucht vor die Tür, dass es scheppert. Schritte und wütendes Gemurmel. Der Sehschlitz wurde aufgerissen und Kunwolf sprang wie eine Feder auf die Beine. Ich richte mich ebenfalls auf und konnte ihn nur wegen seiner Geistesgegenwart innerlich loben, was ein genialer Plan einen Wächter zu uns zu locken.


    „Öffne die Tür!“, befahl Kunwolf dem Wächter, während er ihm in die Augen starrte.
    „Di…die… Tü..rrr“, stammelte der Mann.


    „ÖFFNE DIE TÜR… SOFORT!“, zischte Kunwolf und verstärkte seinen Zugriff. Blut begann aus den Augen, dem Mund und den Ohren des Wächters zu fließen, während er die Tür aufschloss.


    Kaum war die Tür offen und wir draußen, grabschte Kunwolf den Wächter an der Kehle. Mit vollem Bewusstsein stocherte er in dessen Gedanken herum, während der Kerl ein Geräusch wie ein pfeifender Wasserkessel von sich gab und Unmengen von Blut erbrach.


    Sofort übermittelte mir Kunwolf wo sich Brandur befand. Keine Sekunde später hörte ich das bekannte „Ratschen“, als Kunwolf dem Kerl mental das Hirn zerfetzte.


    Ich hob die Schlüssel auf und wir sprinteten los. Eine Schneise aus Tod und Zerstörung hinter uns herziehend sprinteten wir unserem Bruder zur Rettung entgegen. Wir fanden ihn in einem seltsamen Raum, der weich ausgekleidet war.


    Wie ein Ohrensessel mit Abnähern oder Knöpfen. Keiner der Schlüssel passte und wir wappneten uns zum Kampf. Egal was es für uns heißen sollte, wir wollten Brandur nicht zurücklassen.


    Wir rissen die Tür aus der Verankerung, grabschten uns Brandur und stürmten die Stufen hinauf. Wir rannten zu einem der vergitterten Fenster. Da niemand am Einstieg, sondern die Insassen am Ausstieg gehindert werden sollten, waren die Arretierungen draußen in der Mauer. Kunwolf zerrte zuerst wie ein Wilder, aber ich korrigierte ihn.


    "Tritt zu!", befahl ich ihm und er nickte verstehend.


    Wie besessen traten wir vor die Gitterstäbe. Irgendwann fing es an sich zu lockern und zwei Tritte später folg das Gitter in die Tiefe. Das Fenster war offen. Ich drückte Kunwolf unseren Bruder Brandur in den Arm, kletterte aus dem Fenster und sprang.


    Für einen normalen Menschen wäre das Unterfangen tödlich, aber ich rollte ab und sprang wieder auf die Beine. Kunwolf warf Brandur zu mir herunter. Ich fing unseren Bruder auf und machte sofort Platz, da Kunwolf umgehend folgte. Brandur war immer noch bewusstlos und trug eine Zwangsjacke.


    Medizinische Ruhigstellung. Das ist die offizielle Bezeichnung dessen, was sie uns und besonders Brandur antaten. Eine wunderbare Sache, zumindest für Gefängniswärter. Medikamente und Beruhigungsmittel und schon sind Gitter, bewaffnete Wächter, Zwangsjacken und Überwachungssysteme unnötig.


    Wir flüchteten in den Wald, rannten um unser Leben immer weiter, bis entweder unsere Beine oder wir selbst versagen würden.


    ****

    Böse Büttel



    In den darauffolgenden Wochen frönten wir einem neuen Hobby. Wir jagten Schutzgelderpresser. Jeder der bei Nirza auftauchte und sie um Taler erleichterte, war am Abend drauf tot. Aber nicht nur diese Typen, sondern auch die Burschen die versuchten Freunde von Nirza zu erpressen.


    Scheinbar begriff diese Szene irgendwann, dass es der Gesundheit nicht förderlich war, in dem Städtchen die Hand nach Schutzgeld aufzuhalten. Lange Zeit geschah nichts. Allerdings gab es noch einen Auftrag und dieser Auftrag brach uns das Genick.


    Jedenfalls wurden wir von Nirza getrennt. Es war nur logisch, dass irgendwas die Runde machte. Es spuckte. Geister kamen und holten nachts die Kriminellen. Geister die nicht Leichen, sondern Matsche von ihrem Opfer hinterließen oder schlimmer noch den Trottel im ganzen Raum verteilten.


    Nun das Anstreichen mit dem Opfer war Kunwolfs Spaß.
    Je nachdem wie er drauf war, ging er richtig ab und war nicht zu bändigen.


    Wir waren der Spur des Erpressers gefolgt und hatten seinen Unterschlupf observiert. Als er sein Versteck verließ um vermutlich erneut die Hand aufzuhalten, schlichen wir in sein Versteck. Brandur knackte das Schloss des Tavernenzimmers und verschloss es sorgfältig wieder, so als wäre nichts gewesen.


    Dann stöberten wir etwas herum, rührten selbstverständlich nichts an und bezogen dann Stellung unter dem Bett unseres Opfers. Wir hatten Zeit und langweilig wurde uns auch nicht, denn wir unterhielten uns die ganze Zeit über. Natürlich mental, was ein gewaltiger Vorteil ist, wenn man es bewusst kann. Ich kann es nicht.


    Irgendwann spät in der Nacht kam unser Opfer heim. Er gähnte im Flur, zog sich aus, wir hörten ihn nach einigen Minuten am Waschtisch sich frisch machen. Ein Menschen kann man nicht sofort angreifen, denn er muss erst in seinem Bereich ankommen. Erst nach 15 – 30 Min stellt sich das Zuhausegefühl ein und er wird arglos. So auch bei unserem Opfer. Aber wir warteten noch länger. Der Kerl kam umgezogen ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Er zündete sein Nachtlicht an und las etwas in einem Buch.


    So langsam wurde er müde, legte das Buch beiseite und löschte das Nachtlicht. Er wühlte noch einige Minuten herum, bis er gemütlich lag und döste gerade rüber ins Land der Träume, als wir unser Versteck lautlos verließen.


    Wir hockten uns ans Bettende und guckten so gerade mit den Augen über den Bettrand. Der Typ schmatzte und wühlte noch einmal und zog die Decke hoch.


    „Kuckuck…“, sagte Kunwolf in die Stille des Raumes.


    Der Bursche stand binnen Sekunden senkrecht im Bett. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er uns an. Seine Panik war gut zu verstehen, wer hat es schon gerne, wenn er schläft urplötzlich in die Augen von drei Typen zu gucken, die an seinem Bettenden hocken.


    Sein Kopf flog zur Tür herum, zeitgleich flog die Tür donnernd zu. Er nässelte panisch an seiner Bettkommode, aber sie ließ sich nicht öffnen. So leicht machten wir es unserem Opfer nicht.


    „Die Taler“, forderte Kunwolf.
    „Taler?“, stellte er sich dumm.


    Mit einem Satz war er bei uns. In den nächsten Sekunden zischte eine Faust auf Kunwolf Gesicht zu. Ich fing die Faust blitzartig ab. Wütend umklammerte ich sie, obwohl der Kerl mich überragte, dennoch war es für mich leicht, seine Hand langsam zu verdrehen und zu senken.


    Kunwolf starrte ihm in die Augen und zwang ihn zu kapitulieren, versuchte in seinen Kopf einzudringen, um seine Gedanken zu beeinflussen, doch er prallte an einer unsichtbaren Mauer ab.


    Hasserfüllt umklammerte ich seine Hand fester, zerdrückte sie fast durch meine Kraft, während sein Gesicht blasser und blasser wurde.


    „Was bist Du?“, zischte ich ihn an.
    „Tötet es!“, schrie Kunwolf uns an.
    „Macht es weg, sofort, schnell! Es hat keine Farben!!!“, brüllte er.
    „Rate mal“, antwortete der Typ und ein heuchlerisches Lächeln bildete sich um die Mundwinkel.


    Überraschung, Verwirrung, Entsetzen – die Empfindungen meiner Brüder schwappten auf mich über.


    `WEG!!!´, schrie Kunwolf uns in Gedanken an.


    Wir benötigten ein paar Sekunden, dann waren unsere Gedanken wieder bei der Sache. Ich schlug dem Kerl meinen Schädel in die Fresse und spürte wie seine Nase nachgab. Sofort drehte ich auf dem Absatz um. Wir kletterten so schnell wir konnten aus dem Fenster und sprangen runter auf den Rasen. Wie Katzen landeten wir hockend auf den Zehenspitzen.


    „Kann ich Euch helfen?“, fragte ein dicker, riesiger Typ der eine Büttel-Uniform trug.


    Er hatte eine Rauchstange im Mund. Als er mir die Hand hinhielt, um mir auf die Beine zu helfen, ging seine Jacke auf, und ich sah die Repetierarmbrust an seinem Gürtel. Ich sah die Kollegen die hinter ihm standen und ihre Waffen auf uns gerichtet hatten.


    Ich sah ihm an dass er wollte, dass wir die Waffe sahen, damit wir nicht versuchten wegzulaufen. Seine Hand ignorierend standen wir ganz langsam aus der Hocke auf.


    „Ich schätze mal Ihr seid die verzogene Brut die gesucht wird“, sagte er und blies mir den Rauch ins Gesicht.


    Ich weiß nicht, ob es ein Wort dafür gibt, was ich exakt in diesem Moment erlebte. Außerhalb von meinem Kopf schien alles stehenzubleiben. Sogar der Rauch von der Zigarette des Büttels schien in der Luft zu hängen. Aber in meinem Kopf war es wie in einem Boot voller Ratten, und unser Boot war am Sinken. Gedanken schnellten herum, kletterten die Wände hoch, suchten nach einem Ausweg. Er war ein Büttel, die Leute die hinter ihm standen auch. Aber warum war er gegen uns und nicht gegen den Kerl da oben in der Taverne? Wieso verhaftete er nicht den Schutzgelderpresser, sondern lieber drei unschuldige, harmlose, liebe Kinder?


    Ich wusste nicht was ich tun sollte. Die einzige Lösung die mir einfiel war ihn töten. Aber einen Büttel töten? Hatte ich eine andere Wahl? Hatte ich jemals eine andere Wahl?


    „Habt Ihr die Burschen?“, rief der Kerl in dem Moment von oben aus dem Hotel.
    „Ist schon in Ordnung, sie sind hier draußen“, rief der Büttel.


    `Mitspielen, ich muss grübeln´, befahl uns Kunwolf. Ich dankte wem auch immer auf Knien, dass Kunwolf nicht gerade jetzt einen seiner Wutanfälle bekam.


    „So Jungs wir haben nicht viel Zeit. Wir machen einen Deal. Ihr werdet morgen oder übermorgen bereits dem Haftrichter vorgestellt und verhaltet Euch ruhig. Vielleicht kommt Ihr mit dem Leben davon. Vielleicht, denn wenn das stimmt was man Euch zur Last legt, winkt die Einäscherung“, zischte er und zog demonstrativ an seiner Rauchstange.


    „Worin besteht der Deal?“, fragte ich kooperativ.
    „Wie schon gesagt in Kooperation. Ihr begleitet uns ohne Mucken. Morgen früh werdet Ihr verhört. Ihr genießt diese Nacht Kost und Logis in einer warmen Zelle“, grinste er mich an.


    Ich dachte gerade daran die Fliege zu machen, als sich der Büttel zwei Schritte näher an mich heran schob und mir die Hand auf die Schulter legte, als könnte er meine Gedanken lesen. Seine Hand wog für mich eine Tonne.


    „Was sagst Du dazu?“, hakte er nach.


    Mein Blick fiel zuerst auf Brandur und dann auf Kunwolf. Beide nickten ergeben und zustimmend. Vielleicht war er nur fehlgeleitet und wir konnten mit dem Büttel reden. Wir sind alles andere als blöd und drauf trainiert niemanden zu vertrauen. Das Misstrauen auch für Büttel gilt, oder gerade für die Gattung, hätte ich eigentlich wissen müssen.


    Er beherrschte seinen Job. Rückblickend glaube ich, bestand sein Talent darin, einen glauben zu lassen, dass er einen zwar verabscheute – aber auch verstand. Dir dabei zu vermitteln, wirklich mit Dir zu verhandeln. Er sagte mir, er bräuchte meine Hilfe dabei, ein paar Sachen zu verstehen, angefangen mit dem bizarrsten Tatorten, auf denen er je rumgestolpert sei.


    So wie er es formulierte, fühlte ich mich beinahe geehrte, dabei gewesen zu sein und die Leute so „kunstvoll“ abgeschlachtet zu haben. Jemand wusste unsere Hingabe zu unserer Arbeit zu schätzen.


    Da sie uns für besonders gefährlich hielten, sicherten sie uns mit Leder-Fesseln, anstatt den Eisen-Handschellen. Hätten wir uns dort schon befreien wollen, hätten wir es sofort durch einige Tricks gekonnt. Aber vorerst mussten wir mitspielen.


    Ich erläuterte, dass wir Kriminelle gestellt und gerichtet hätten, so wie es sich gehört. Es wäre kein Unschuldiger zu Schaden gekommen. Der Kerl notierte alles fein säuberlich. Er hielt uns sicher für Drei Irre aus den Sumpflanden.


    Die anderen Beamten verbrachten uns in die Gefangenenkutsche und benahmen sich als hätten wir eine ansteckende Krankheit, sie gingen so dass sie uns nicht mehr berührten als nötig. Sie spürten, dass etwas mit uns anders war, aber sie konnten es nicht bestimmen.


    Den Rest dieses Tages verbrachten wir in einer Haftzelle. Das Gerichtsgebäude hatte schon geschlossen, und wie der Büttel schon sagte, gäbe es wohl erst morgen die Verhandlung. Wir würden also zur Abfertigung gebracht. Erneut wurden wir in eine Gefangenenkutsche verfrachtet, und wie Gepäckstücke zum Zuchthaus gefahren.


    Kaum hörte Brandur das Wort Abfertigung, fing sein Magen so laut an zu knurren, als wollte er sich beschweren, dass er den ganzen Abend noch nichts zu essen bekommen hatte.


    „Was ist mit Dir los?“, fragte einer der Büttel nach hinten.
    „Hunger“, antwortete Brandur knapp.


    „Tja morden macht wohl hungrig. Das Abendessen habt Ihr im Knast verpasst, aber ich sorge dafür dass Du was zu trinken bekommst. Wie wäre es mit Milch und Plätzchen? Müsste drin sein vor bevor das Licht ausgeht“, grinste er.
    „Gut“, antwortete Brandur kurz angebunden.


    Wir verbrachten die Nacht in einem winzigen Raum mit nackten Feldbetten, einer einzigen Decke und ohne Kissen und einem Loch im Boden als Plumpsklo. Wir sahen keine anderen Insassen, weil sie uns in etwas gesteckt hatten, das sie als Separationseinheit bezeichneten.


    Dort werden Gefangene untergebracht, die man für so gefährlich hält, dass man sie nicht mit anderen zusammenlegen kann. Wir kauerten uns auf einem Bett zusammen und teilten die einzige Decke. Brandur fror erbärmlich und litt Hunger. Er konnte die ganze Zeit an nichts anderes als an die Plätzchen und das Getränk denken. Diesen kleinen Imbiss setzte er in Gedanken immer wieder neu zusammen.


    Was für Plätzchen würden es wohl sein? Würde er sich welche aussuchen dürfen? Er hoffte auf welche mit Schokoladenstücken drin, damit wir sie auch mögen würden. Er selbst war so hungrig, dass er sich auch mit welche aus Hafermehl zufrieden gegeben hätte.


    Und wie viele Plätzchen würde es geben? Für alle ausreichend? Wenn sie mit Plätzchen den Plural gemeint hatten, dann wäre die Botschaft grausig und klar – es würde nur ein einziges geben. Und was für ein Getränk wäre es? Milch wäre lecker.


    Er stellte sich die ganze Zeit ein großes, von der Kälte beschlagenes Glas vor, aber das war unrealistisch. Kunwolf und ich hielten uns mit jedem Kommentar zurück. Am liebsten hätten wir Brandur gesagt, der Büttel hat Dich nur verarscht. Aber wir sagten natürlich nichts. Was hätten wir ihm sagen sollen? Für Dich gibt’s keine Plätzchen und Milch schon gar nicht, für Dich gibt’s nur Verrat. Gewöhn Dich dran, denn Deine Lage wird noch wesentlich schlimmer werden.


    Und so kam es Jahre später auch und ich war der Verräter...


    Es gab in der Separationseinheit nicht nur keine Plätzchen, noch die erträumte Milch, als am Abend das Licht ausgeschaltet wurde – es stellte sich auch noch heraus, dass nicht mal das Licht gelöscht wurde! Sie dämpften es ein bisschen, Kunwolf und ich dösten ein bisschen, jeder seinen Kopf auf einer Schulter von Brandur abgelegt. Dass die lange Nacht zu Ende war, merkten wir daran, dass uns jemand Frühstück brachte.


    Rührei, verbranntes Brot, ein knorplige Würstchen und Saft für jeden von uns. Keinen Kaffee. Wir warteten eine kleine Ewigkeit, aber wir wurden keinem Haftrichter vorgeführt. Stattdessen wurden wir erneut in eine Gefangenenkutsche verladen. Wir hätten fliehen sollen, aber wir warteten ab wie komplette Idioten.


    Der fahrende Büttel faselte auf uns ein, dass wir Glück gehabt hätten. Wir würden ihnen später noch dankbar sein. Wir würden in eine Umerziehungsanstalt verbracht. Man würde uns rückführen, wir würden einen Entzug machen, denn nur Drogensüchtige würden solche Taten begehen. Wir würden eine Schulbildung erhalten, würden eine Ausbildung bekommen und später hart arbeiten als nützliche Mitglieder unserer Gesellschaft.


    Kunwolf ergänzte den Vortrag auf wundervolle Weise.


    `Und anschließend wird Friede ausbrechen, und jeder wird Eiscreme in seiner Lieblings-Geschmackssorte scheißen!´, übermittelte er, so dass Brandur und ich uns ein Lachen verkneifen mussten.


    Den Spruch brachte sonst immer mein bester Freund Archibald.


    Nach langer Fahrt hielt die Kutsche vor einem riesigen Tor in einer Steinmauer an, die sich nach beiden Seiten so weit in den tiefen Wald hinein erstreckte, wie das Auge reichte. Neben dem Tor befand sich ein Steinhäuschen. Ein uniformierter Wächter lehnte sich aus dem Fenster und der Büttel nannte unsere Nummern, die wir laut Strafakte verpasst bekommen hatten.


    Das Tor ging auf, wir fuhren auf einer gewundenen Zufahrt bergauf bis zu einem dreigeschossigen Haus mit grünen Markisen. Es hatte keine Fenster, mit Ausnahme im dritten Stock. Diese waren mit Gitterstäben gesichert, durch die nicht mal ein magersüchtiges Frettchen gepasst hätte.


    Das war der Zeitpunkt, wo wir Bekanntschaft mit den Männern in den weißen Roben schlossen. Kunwolf stürmte wie eine Bestie auf sie los. Ich spürte seine Gefühle.


    `Brandur LAUF´, brüllte Kunwolf mental.


    ****

    Schutzgelderpresser



    Es war einer der Tage, wo Nirza wieder bei uns unten im Keller war, als meine Brüder die Anwesenheit einer Person im Haus wahrnahmen. Kun und Brand warnten sie nonverbal und wir versteckten uns.


    „Spitzohr bist Du da unten? Was soll der Scheiß? Es ist der erste Freitag nach dem Ersten. Drück die Taler ab“, rief eine Männerstimme vom oberen Ende der Treppe.


    Bevor sie sich selbst rühren konnte, tauchte ein Mann auf. Er war mittleren Alters und trug einen Anzug. Der Kerl machte große Augen und schaute sich um.


    „Was ist hier los? Seit wann gibt es diesen Extraraum und wen versteckst Du hier? Ziehst Du nebenbei Geld Du Hexe indem Du Illegale versteckst? Hätte ich Dir gar nicht zugetraut. Du sagst mir sofort was hier vorgeht“, fauchte er sie an.
    „Nun die Sache ist nicht wie Sie denken…“, setzte sie an und man hörte wie verzweifelt sie war.


    Brandur bewies die Geistesgegenwart sich aus seinem Versteck zu schleichen, sich auf die Treppe zu stellen und dem Kerl den Fluchtweg abzuschneiden. Mittlerweile schrie der Kerl auf Nirza ein.


    `Er darf das Haus nicht lebend verlassen!´, beschloss Brandur und wir übermittelten unsere Zustimmung.


    Kunwolf und ich krochen lautlos aus unserem Versteck und stellten uns hinter den Burschen. Über seine Schulter hinweg schaute ich Nirza an, sie bedachte mich mit einem kaum merklichen Nicken.


    „Arschloch“, sagte ich und der Typ wirbelte erschrocken und wütend herum.
    „Was?“, konnte er noch fauchen.


    Im gleichen Moment packte ich den Kopf des Mannes mit beiden Händen und riss ihn mit einem scharfen Ruck nach rechts. Mit einem lauten Krachen brach der dritte Nackenwirbel.


    Kunwolf schlug ihm die geballte Faust genau auf die Stelle und die Knochensplitter wurden durch das Rückenmark von dem Drecksack getrieben. Der Mund von dem Bursch klappte auf, als er hinstürzte. Er war tot, bevor er auf dem Boden aufschlug.
    Für einen Moment herrschte Schweigen.


    „Danke Jungs“, sagte Nirza nach dem ersten Schock und atmete heftig aus.
    „Doppelschlag“, grinste Kunwolf.
    „Genau“, grinste ich zurück.
    „Wäre er hier lebend rausgekommen, würden wir jetzt tief in der Scheiße stecken“, erklärte sie uns und strich jeden von uns über den Schädel.


    „Jupp ist klar. Wohin mit der Leiche?“, fragte ich unsere Wohltäterin.
    „Wir sollten ihn zerfetzen“, schlug Kunwolf vor.
    „Hier? Der Pamps von ihm fängt an zu müffeln. Bessere Idee, wir zerfetzen ihn draußen“, schlug Brandur als Gegenargument vor.


    Und das taten wir in der darauffolgenden Nacht auch. Wir schleppten Nirza´s Schutzgelderpresser mitten in der Nacht etwas weiter raus aus der Stadt und zerfetzten ihn. Von dem Kerl blieb nichts als Schnodder, den der nächste Regen wegwaschen würde, wenn sich bis dato nicht schon die Fliegen drum gekümmert hätten.


    Nichts was einen Hohenfelde mehr befriedigt als ein gut ausgeführter Mord.


    ****

    Nirza



    Die Stadt erwachte zu dem Zeitpunkt gerade zum Leben. So früh am Morgen war auf den Straßen kaum was los. Den vereinzelten Passanten wichen wir rechtzeitig aus, um nicht gesehen zu werden.
    Es gab alle möglichen Arten von Gebäuden auf dem Hauptplatz sowie Schaufenster, in denen Dinge lagen, die wir nie zuvor gesehen hatten. Wir brauchten neue Kleidung und Nahrung.


    Also klapperten wir die Gegend ab und schlichen in den erstbesten Laden den wir finden konnten. Erstaunt schauten wir uns um und befummelten die Kleidung die so ganz anders war, als die Klamotten die wir kannten. Hinter dem Tresen saß eine Lichtalbin und schaute uns verwundert an.


    „Hallo“, sagte sie.
    Wir drehten uns synchron um und sagten wie aus einem Mund „Hallo“.
    Sie fand das drollig und hielt es irgendwie wohl für eine Shownummer.
    „Was seid Ihr denn für welche?“, lachte sie.


    Wir schauten uns an, mit so einer freundlichen Begrüßung hatten wir eigentlich nicht gerechnet. Kunwolf und Brandur beratschlagten sich wie immer lautlos, aber Lichtalben reden ähnlich, habe ich gehört. Die Albin wartete ab und musterte uns belustigt.


    `Sie ist freundlich, wir werden sie nicht manipulieren´, forderte Brandur.
    `Stimmt. Verhandele. Rede mit ihr´, forderte Kunwolf, also ging er zur Albin.


    „Ich bin Freihe… ehm Brandur. Wir brauchen ein paar Klamotten, damit wir nicht weiter in der alten Kleidung rumlaufen müssen. Würdest Du uns welche aushändigen?“, fragte ich sie.
    „Hallo Brandur, ich bin Nirza. Natürlich könnt Ihr Kleidung erwerben, dafür hängen die Sachen doch hier. Ihr könnt Euch aussuchen was Ihr wollt, dann müsst Ihr bezahlen und sie gehören Euch“, grinste sie ihn an.


    Brandur schaute zu seinen beiden Brüdern und wir Spacken grinsten ihn breit an und nickten.


    „Gut wir sind einverstanden. Nenn uns das Ziel“, sagte ich freundlich.
    „Was?“, fragte sie verdattert.
    „Die Bezahlung, sag sie mir“, forderte Brandur sie auf.
    „Pinnusen?!?“, schlug sie verwirrt vor.


    „Wir kennen niemanden hier und sind gerade erst angekommen. Wo wohnt es? Du musst schon genauere Angaben machen Nirza, so können wir nicht bezahlen. Ich biete folgendes an, Du lässt mich Dich auslesen, wir suchen uns was aus, Du behältst die Sachen bis wir zurückkommen und bezahlt haben. In Ordnung?“, schlug Brandur vor.


    Ich fand den Handel eigentlich fair. Ich wusste ja nicht was Pinnusen waren. Wir Trottel hielten das für einen Typen.


    „Sag mal kleiner großer Mann willst Du mich verarschen?“, fragte sie irritiert.
    Brandur zog nur fragend eine Augenbraue hoch und antwortete ihr mental.


    `Nein, Du warst freundlich wir sind freundlich´, war seine Antwort.


    Nirza starrte mich wie vom Donner gerührt an, schaute sich nervös im Laden um und eilte zur Tür. Sie wollte nicht fliehen, sie schloss die Tür ab und hängte das Geschlossen-Schild nach außen. Sie spähte aus dem Fenster, schloss die Rollläden und starrte uns drei dann an.


    „Wer oder was seid Ihr?“, fragte sie mit verschränkten Armen und blieb genau vor der Tür stehen.
    „Wir wollen Dich nicht verletzten Nirza, aber Du wirst uns nicht einsperren“, zischte Kunwolf von der Seite.
    „Sie ist nicht bösartig, ich spüre keine Bösartigkeit, sondern… sie denkt für uns und zwar... traurig“, warf Brandur ein.


    „Wir kommen nicht von hier. Du bist wirklich seltsam Nirza“, sagte ich.
    „Ich bin seltsam? ICH?!? Hier stehen drei bleiche Bengel, die sich mental unterhalten, und fast wie eine Ei dem anderen ähneln und in Overalls rumrennen, die nach Anstalt, Heim oder Sklave aussehen. Ihr seid entflohene Sklaven nicht wahr? Ihr tragt Ketten“, sagte sie leise und tippte meine Kette an.


    „Wenn es so wäre?“, fragte ich, während sich Kunwolf zum Kampf wappnete.
    „Weißt Du nicht, dass viele unseres Volkes ebenso eine Sklaven sind? Dass man uns gefangen hält, schlägt, missbraucht und tötet? Das manche von uns niemals den Himmel sehen, weil sie ihr Leben lang in Mienen schuften. Und wenn sie das nicht mehr können, tötet man sie und verfüttert sie an ihre ehemaligen Leidensgenossen.


    Ich weiß nicht woher Ihr kommt das Ihr so was nicht wisst. Aber Ihr seid Kinder, ich sehe und spüre es. Niemand sollte als Sklave leben. Niemand ist dafür geboren benutzt zu werden wie ein Ding. Kommt mit Jungs, na los kommt“, sagte sie und Kunwolf gab schneller seine Kampfhaltung auf, als ich je bei einem von uns erlebt habe. So als hätte er sich selbst schachmatt gesetzt. Selbst Brandur war baff.


    `Sie ist ein Zeichen´, freute sich Kunwolf in unseren Gedanken.


    Nirza schob uns in den hinteren Bereich, wo ihre Wohnung lag. Sie lotste uns in ihre Küche. Sie war winzig und alt. Die Küche wie auch Nirza. Nachdem wir uns hingesetzt hatten, werkelte sie eine Zeit lang herum und wir beobachteten sie neugierig.


    Sie servierte uns ein riesiges Frühstück und heiße Getränke die wir nicht kannten. Danach gab es Kakao. Als Brandur eine dritte Tasse dampfenden Kakao trank, lächelte die Albin.


    „Herzlichen Glückwunsch zu Eurer Flucht. Leute waren hier im Städtchen, haben nach Euch gefragt. Sie hatten eine geschlossene Kutsche dabei, die extrem stabil aussah. Sie taten unschuldig, aber ich erkenne solche Halunken sofort.


    Hier seid Ihr vorerst sichern. Nachher hole ich Euch Sachen aus dem Laden. Eure alten Sachen werden wir vernichten, so finden sie Euch nicht so schnell. Wohin wollt Ihr überhaupt? Wurdet Ihr in einem Sklavenpferch geboren?“, fragte sie und strich Brandur warmherzig über den Schädel.


    „Ich denke schon. Wir lebten immer in einer Art Knast, auch wenn wir es Herrenhaus schimpfen. Ich habe allerdings immer gewusst, dass es ein anderes Leben gibt und hab meine Brüder überzeugt“, grinste Kunwolf stolz.


    „Das hast Du gut gemacht. Dann werde ich Euch einiges beibringen und Euch so lange es geht verstecken. Für immer könnt Ihr leider nicht hier bleiben. Hat Euch irgendwer gesehen?“, fragte sie vorsichtig.


    „Ja“, sagte Brandur, die vierte Tasse schlürfend und Nirza schaute ihn beunruhigt an.
    „Keine Panik, der ist tot“, sagte Kunwolf leichthin um sie zu beruhigen, „Dunwin hat ihn erstklassig erdrosselt. Keine Angst“.


    „Dunwin?“, fragte Nirza.
    „Ja?“, antwortete ich automatisch, so dass sie erst verdutzt guckte und dann lachen musste.


    Keine Ahnung warum oder wieso, aber wir alle mussten schlagartig total blöde loslachen. Sie hielt Ihr Versprechen. Nirza brachte uns Kleidung und führte uns am Abend in ihren Keller. Ein chaotisches Quartier war dort eingerichtet. Oder sie hatte einfach alle alten Möbel hineingestopft. Nichts besonders, aber das brauchten wir auch nicht. Es war ausreichend für unsere Bedürfnisse.


    Dort lebten wir einige Wochen. Jeder hatte sich eine Ecke ausgesucht, die in dem winzigen Raum sein Bereich war. Kunwolf hatte sich direkt das Sofa als Schlafplatz unter den Nagel gerissen, also teilte ich mir mit Brandur die Matratze.


    Nirza brachte uns Nahrung, blieb nachts für einige Stunden und versuchte uns so gut es ging alles über die Welt beizubringen. Sie erklärte uns was Pinnusen waren, wo die Städte lagen und zeigte uns Landkarten.


    Wir verbrachten unsere Zeit damit, die Karten samt den Infos zu studieren. Sie mochte uns als wären wir ihre Kinder, dass spürten wir. Aber Brandur war für sie was Besonderes.


    Sie versuchte unsere Hundemarke zu entfernen, aber das war nicht möglich. Woraus sie bestanden, weiß ich bis heute nicht. Aber man kann sie einfach nicht zerstören. Warum uns die Hundemarke damals nicht verrieten, als wir durch die Wand flüchteten haben wir uns erklären können.


    Die Hundemarke bestrafen nur, wenn man einen verbotenen Bereich betritt. Das heißt wenn dort passende Artefaktsteine vorhanden sind, oder Wächter die die Hundemarke manuell auslösen.


    Wir betraten keinen verbotenen Bereich, wir hatten einfach die gesamte Anlage verlassen. Außerhalb der Anlage gab es keine Artefaktsteine und den Wächtern waren wir ausgewichen.


    Unsere Verfolger hatten andere Möglichkeiten. Aber die wirkliche Gefahr ging von unserer eigenen Familie und ihren Geistmagiern aus. Eigentlich logisch, dass man Kunwolf und Brandur einen ihres gleichen hinterher schickte.


    Ein uralter Spruch besagt, es braucht ein Monster um Monster zu fangen.


    ****

    Katzen und Zeichen



    Tag eins und Tag zwei änderte überhaupt nichts, denn wir waren zu faul um uns überhaupt von der Stelle zu rühren. Oder zu durchgefroren, was auf die gleiche Scheiße rauskommt.


    Am dritten Tag machten wir uns ausgeruht auf den Weg. Es war die härteste Kletterei von allen, in der brütenden Sonne einen steilen Bergpfad hoch. Als wir auf einer von Felsbrocken übersäten Wiese mit Blick ins Unendliche unser Lager aufschlugen, hatten sogar meine Blasen, Blasen.


    Wir rasteten einige Stunden, dann ging es weiter. Wir hatten noch einige Kekse. Außerdem hatten wir noch unsere drei Feldflaschen Wasser.


    Wir wanderten weiter und die Landschaft wurde flacher, weniger Steine bis wir nur noch über Graslandschaft liefen. Eine riesige Katze, die größte die ich je in meinem Leben gesehen habe, sprang erschrocken auf musterte uns aus wilden, funkelnden Augen und flitzte vor uns dreien davon.


    "War die schön. Habt Ihr die gesehen?", fragte Kunwolf staunend.
    "Ein Zeichen, sie ist wild und frei. Was meinst Du Dunwin?", fragte Brandur.
    "Wohl wahr, wandern wir weiter. Am besten in die Richtung in der die Riesenkatze lief", schlug ich vor und Kunwolf nickte begeistert.


    "Vielleicht können wir Kontakt zu ihr aufnehmen! Ein Versuch ist es wert! Ich hatte mal eine Maus. Sie war klein, grau und pelzig", erklärte er uns grinsend.
    "Ich hatte eine Arashi. Sie war klein, schwarzhaarig und gebräunt", hielt ich dagegen.
    "Ich hatte kein Haustier", sagte Brandur bekümmert, und wir nickten bedauernd.


    Wir liefen noch eine ganze Weile, die Schmerzen in unseren Füßen waren vergessen, die Katze hatte uns neuen Mut und Kraft gegeben. Unseren Marsch setzten wir bis in die Nacht hinein fort, und schlug erst unser Lager auf als die Sterne am Himmel erschienen.


    Als wir im Morgengrauen erwachten, waren unsere Sachen vom Tau durchnässt. Wir wrangen sie aus, packten unsere Sachen zusammen und aßen einige Kekse, die Brandur bis zum Schluss aufheben wollte.
    Die Feldflasche von Brandur war leer, also gaben Kunwolf und ich ihm etwas ab, damit jeder wieder den gleichen Anteil Wasser hatte.


    Im Tageslicht konnten wir sehen, dass in weiter Ferne die Graslandschaft von einer Schneise unterbrochen wurde. Ein Weg. Wir wussten, dass wir uns beeilen mussten, weil uns die Betreuer bald vermissen würden, wenn sie es noch nicht getan hatten.


    Wir rannten wie die Wilden hin und untersuchten den Weg auf Spuren. Dabei überlegte ich wie wir wohl verhindern konnten zu verhungern, wenn auch die restlichen Kekse aufgefressen waren, als ich bemerkte wie sich mein Schatten vor mir verlängerte.


    Eine Kutsche kam die Straße entlang und wir starrten das Gefährt nur an.
    Wir stellten uns mitten auf die Fahrbahn und warteten ab.


    Ein großes Fuhrwerk mit zwei schweren Pferden. Aber das Ding hielt für uns an, oder wollte uns nicht plattfahren.


    Gestank schlug mir entgegen als ich mich dem Fahrerhaus näherte. Jetzt mussten wir klug vorgehen. Wenn jemand zu einem aufschaut, vermeidet er Blickkontakt. Schaut er aber nach unten, wähnt er sich in der besseren Position und starrt einem vermutlich ins Gesicht.


    Kunwolf ging also auf das Fahrerhaus zu, „stolperte“ und schaute nach oben. Ein mürrischer Kerl schaute heraus und auf ihn hinab. Ihre Blicke trafen sich – Bingo.


    „Hallo. Meine Brüder und ich müssen zur nächsten Stadt, nimm uns mit“, befahl er dem Kutscher. Die Augen des Kutschers trübten sich etwas und er öffnete die die Nebentür.


    Kunwolf und Brandur stiegen ein, ich umrundete schnell den Karren und quetschte mich zwischen die beiden.


    „Los geht’s“, wies Kunwolf unseren „Freund“ an.
    Mit einem irren Lachen fuhr der Bursche los.


    „Was ist das für ein Gestank?“, fragte ihn Brandur.


    Unser Fahrer zeigte ruckartig mit dem Daumen nach hinten zu der Ladefläche. Ich drehte mich um und drückte meine Nase gegen das Schiebefenster an der Rückseite des Fahrerhauses. Zunächst sah ich nur einen dunklen Umriss, dann erkannte ich ein Paar riesige, von einem Schleier überzogene gelbe Augen. Ich saß Auge an Auge mit der toten Katze. Ich riss meinen Kopf so abrupt zurück, dass ich einen steifen Nacken bekam.


    `DIE KATZE! ER HAT UNSERE KATZE ERMORDET!!!´, dachte ich schockiert und teilte es damit schon meinen Brüdern mit.
    `Töten wir ihn!´, knurrte Brandur mental.
    `Noch nicht… bald´, zischte Kunwolf in unsere Gedanken und lächelte den Fahrer freundlich an.


    `Abgemacht´, bestätigte ich.
    `Abgemacht´, antwortete Brandur.
    `Abgemacht´, stimmte Kunwolf zu und gemeinsam lächelten wir den Fahrer an.


    Da Kunwolf in seinen Gedanken verweilte, las er seine Erinnerungen aus und merkte sich, wie man einen Pferdekarren steuerte. Sich etwas anzulesen ist natürlich etwas völlig anderes, als es dann selbst tun zu müssen.


    `Ich verfüge über das nötige Wissen, töten wir ihn´, beschloss Kuni.


    Immerhin hatte der Kerl das Symbol unserer Hoffnung hinten tot auf der Ladefläche liegen. Wir nickten zustimmend und Kun ließ den Kerl mitten auf der Straße anhalten. Wir stiegen gemeinsam aus und er ließ sein Opfer niederknien.


    Brandur schaute auf die Ladefläche und zog die Katze herunter. Er drapierte sie so, dass ihre Augen auf den knienden Kerl starrten.


    "Verfehlung – ich verurteile ihn zum Tod durch den Strang", fiel mein Urteil aus und ich zog ihm den Gürtel aus der schmierigen Hose.
    "Dito, töte ihn für die Katze", forderte Brandur, während er die Katze in Position hielt.
    "Tod dem Mörder", forderte auch Kunwolf.


    Ich machte mit dem Gürtel eine Schlaufe, schlang sie dem Typen um den Hals und Kunwolf ließ ihn mental los. Es war eine Strafe und keine Erlösung, drum sollte er bei vollem Bewusstsein miterleben, was es hieß einen der unseren zu töten.


    Der Kerl war schneller als ich vermutet hatte, doch er befand sich noch im Dämmerzustand und folgte fatalerweise seinem ersten Instinkt, er wollte aufstehen. Mit einem Ruck riss ich am Gürtelende und die Schlinge zog sich zu, während ich ihm ein Bein ins Kreuz stemmte um den Druck zu erhöhen. Er röchelte wie ein Schwein und meine beiden Brüder johlten vor Vergnügen.


    Mir erging es nicht anders. Adrenalin durchflutete meinen Körper, und mein Körper peitschte binnen Sekunden in Kampfmodus. Der Kerl bepisste sich, während ich die Schlinge noch fester zuzog. Er wehrte sich, dabei drehten wir uns um die eigene Achse. Er starrte auf die beiden Jungs die vor ihm hüpften und johlten.


    Der Kerl wollte zum Verrecken nicht verrecken. Ich zerrte und zog mit aller Kraft die ich hatte, dass zeigte endlich Wirkung. Die Augen des Mörders begannen hervorzutreten, seine Lippen wurden blau und er furzte wie ein Schwein, als er sich auch noch in die Hose schiss.


    Wer jetzt erwartet, dass einer von uns Bedauern empfand, wir empfinden so etwas nicht. Im Gegenteil, jede Form von Bedauern wurde uns frühzeitig aus den Schädeln gedroschen.


    Voller Genugtuung hielt ich ihn fest, bis er den Rest des Lebens ausgehaucht hatte. Und erneut stellte ich fest, wie suchterzeugend solch ein Mord war, eine Macht die in jedem Hohenfelde schlummerte.


    In unserer jungenhaften Laune beschlossen wir, der Welt und jedem Katzenmörder im Umkreis eine Botschaft zu hinterlassen.


    Der Kerl wurde mitten auf die Straße gelegt und mit einer Kralle unserer verblichenen Schwester ritzten wir das Wort MÖRDER in sein Gesicht und auf seinen Blähbauch.


    Wir luden die Katze wieder auf, ihr Körper war schlaff, totes Fleisch und wir hatten ziemliche Probleme damit. Aber wir neugeborenen Rächer arbeiteten entschlossen an der Umsetzung unseres Plans. Schließlich war die Aufgabe erledigt. Der Typ lag mahnend für die Nachwelt auf der Straße, die Katze war verstaut und wir saßen im Pferdekarren.


    "Fahr los Kun", grinste Brandur und er fuhr los.


    Gut die ersten Kilometer hatte unsere Gurke ganz schön hohen Seegang, aber das tat unserer guten Laune überhaupt keinen Abbruch. Wir fuhren eine ganze Weile bis wir am Straßenrand einen großen Felsen sahen.


    "Halt an. Da soll ihre Hülle ruhen und Ihre Seele in den Nexus übergehen", teilte Brandur mit.


    Kunwolf hielt an und wir Drei schleppten die Katze feierlich in einer Art Prozession hinüber zum großen Felsen.


    "Katze, da Deine Farben vor Deinem Mörder in der zweiten Ebene waren, hol sie Dir und vernichte ihn. Wir halten Deine Farben in Ehren, Du hast uns den Weg in die Freiheit gezeigt. Geist über Materie Schwester", übermittelte Kunwolf und berührte ihre Schläfe.


    Wir taten es ihm gleich, um ihren Geist zu ehren und ließen sie zurück. Der Rest lag nicht mehr in unserer Hand. Wir gingen davon aus, dass der Geist der Katze sich schon ihren Anteil von dem Mörder auf der anderen Seite holen würde.


    Wir stiegen wieder ein und Kunwolf gab den Pferden die Peitsche zu spüren. Es machte gewaltig Laune mit dem Karren über die Straße zu donnern, wobei wir nicht sonderlich auf die Straße achteten, sondern Kunwolf sie scheinbar als eine mögliche, vorgegebene Richtung empfand.


    Kann auch daran gelegen haben, dass er in der Dämmerung nicht mehr so viel sah. Er fuhr die ganze Nacht über und verließ sich lieber auf seine andere Wahrnehmung. Also hätte uns einer erwischt, hätte ihm eh keiner geglaubt. Drei Bleichlinge, hockten in einem Pferdekarren und rasten mit geschlossenen Augen lachend durch die Nacht.


    Niemals zuvor hatten wir uns außerhalb unseres Herrenhauses aufgehalten. Nach der rasanten und langen Fahrt befanden wir uns in einer völlig unbekannten Welt. Wir stellten den Karren in einer Seitenstraße ab und liefen in die Stadt hinein.


    ****

    Unterwegs im Nirgendwo



    Eine ganze Zeit später lagen wir im hohen Gras und dösten. Kunwolf atmete tief und auf seinem Gesicht lag ein friedlicher Ausdruck, so wie man ihn nur im Schlaf hat. Obwohl ich die Ruhe genoss, war ich wachsam und besorgt. Man brauchte schon Kunwolf Begeisterung um zu glauben, dass wir mit Erreichen der verbotenen Zone im Draußen waren.


    Eigentlich fühlte ich mich beschissener als je zuvor. Ich fühlte mich eingeschränkter, bewachter, bedrohter und weniger frei als hinter der Mauer. Da war zunächst mal dieser ständige Gestank. Irgendwas war verbrannt und stank einfach in der Gegend rum.


    Nachdem wir die Wand hinter uns gelassen hatten, waren wir etwa zehn Stunden gelaufen. Weil wir vermuteten, dass diese Zone noch mit Schutzzaubern gespickt war, hatten wir uns bemüht im Schutz der Bäume zu bleiben. In Wahrheit war diese Gegend von zahlreichen Wegen durchzogen. Allerdings trafen wir keinen einzigen Menschen.


    Kunwolf gab sich selbstsicher und tat, als wüsste er wohin wir gingen. Aber wir wussten, dass er nichts wusste. Er kannte nur den Weg bis zum Loch in der Mauer. Wir waren zunächst an einen Bergsee gelangt. Ein dichter Tannenwald reichte bis ans Ufer. An einer Stelle, wo ein kleiner Fluss mündete, war er zur Hälfte mit Schilf bedeckt.


    Der Sonnenuntergang malte rätselhafte Zeichen in den rosa-gefärbten Himmel mit Strudelwolken. Meine Interpretation war nicht gerade optimistisch. Wir warteten die Dunkelheit ab, aßen etwas und schliefen eng aneinandergedrückt ein, da uns lausig kalt war. Am frühen Morgen weckte uns die Feuchtigkeit der Berge und des Sees. Wir wuschen uns im kalten Seewasser. Brandur funkelte Kunwolf an.


    "Was hätten wir denn jetzt anderes in der Akademie getan?", fragte er verdrießlich.
    "Tja uns wäre die ständige Angst erspart geblieben, der Gestank, die Beklemmung, die Kälte", schlug ich vor.


    "Wir sind noch gar nicht weit gekommen und Ihr beschwert Euch über Unbequemlichkeiten. Na kommt schon, es wird besser ich verspreche es", grinste er uns an und erneut folgten wir ihm.


    An dem Morgen kam ich mir vor, wie jemand der sein Bewusstsein verloren hatte und nun allmählich seine Sinne wiederfand. Ich verließ mich einfach auf Kunwolf. Sein Motto war einfach stur geradeaus weiterlaufen. Es würde eine andere Umgebung folgen müssen, oder eine Mauer für neue Räume.


    Am Nachmittag hatte die Sonne den kalten Nebel vertrieben und die Natur samt uns getrocknet. Eine Brise aus dem Westen trieb mächtige Wolken über uns dahin. Kunwolf lief schneller, da er glaubte einen Durchgang entdeckt zu haben. Er irrte sich und wir mussten zweimal umkehren. Den Irrtum nahmen wir ihm nicht übel, wir hatten ebenso gehofft.


    Wir hatten noch öfter umzukehren und uns zu verstecken, wenn die beiden Magier Wachposten erspürten. Schließlich beschloss Kunwolf einen Umweg durch die Berge zu nehmen, und wir folgten einem viel versprechenden schmalen Pfad.


    Als wir gerade den Gipfel erreicht hatten und auf der anderen Seite absteigen wollten, endete der Weg jedoch unverhofft an einem grasbedeckten Felsvorsprung in einem Abgrund. Auf dem Weg dorthin hatte Brandur die ganze Zeit gegrübelt. Nun war er erfüllter denn je mit Pessimismus.


    "Unmöglich, dass diese Flucht eine Chance bietet. Lasst uns umkehren", schlug er vor.


    Während Kunwolf die Umgebung abtastete, machten es sich Brandur und ich gemütlich und breiteten unsere Sachen aus. Die Kraft mit der wir vorher gewandert waren, hatte uns verlassen. Brandur lehnte sich erschöpft gegen mich und mir erging es auch nicht besser. Wir blieben lange Zeit so sitzen. Kunwolf gesellte sich schweigend dazu. Uns wurde kalt vom Wind, so leicht und freundlich er auch war, aber wir froren uns den Arsch ab. Wir suchten uns Schutz in einer Felsspalte und quetschten uns hinein. Wie bleiche Eulenküken hockten wir da, genauso aneinander geschmiegt um nur kein einziges Grad Körperwärme zu verlieren.


    "Und jetzt sag uns, wo wir wirklich hingehen Kunwolf", bat Brandur leise.


    Kunwolf schien sich einen Moment zu verkrampfen, dann als Brandur nicht den Blick von ihm abwandte, gab er auf.


    "Jungs, ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung", sagte er und ließ den Kopf sinken. Wir umarmten ihn und hielten ihn fest.
    "Erklär es uns endlich", forderte ich ihn freundlich auf.
    "Ich ersticke, nicht an der Hundemarke, an dieser Welt. Ich kann so nicht leben. Ich will weg. Ich will woanders leben. Ich möchte sagen was ich gerne tun mag. Ich möchte keine Heiler mehr sehen. Ich möchte eine Welt mit einem echten Bett, einem eigenen Zimmer, dass nicht von außen abgeschlossen wird.
    Wo leben denn die Goblins und Almanen wirklich?


    Es kann doch nicht überall das Herrenhaus, die Akademie oder sonst was sein. Es gab doch auch mal eine andere Welt. Ist alles jetzt überwacht? Wo sind denn die anderen, für die wir das Kämpfen lernen? Oder rächen wir sie nur noch? Wo sind die Feinde? Und wo unsere Schutzbefohlenen? Ich will sie sehen. Hast Du sie je gesehen Brandur oder Du Dunwin? Verstehe ich nicht. Aber ich will es verstehen. Da stimmt hinten und vorne etwas nicht", versuchte Kunwolf seine Gedanken zu erklären.


    Seine Gedanken waren meist extrem sprunghafte Bilder und Infos, das es einem schwindlig werden konnte.


    "Vater sagt nur im Herrenhaus wären wir wirklich sicher…", setzte Brandur an.
    "Sicher? Sicherheit? Wie sicher fühlst Du Dich auf einem Behandlungsstuhl? Wie sicher fühlst Du Dich auf der Tanzplatte? Wie sicher fühlst Du Dich auf dem OP-Tisch? Ich will das nicht mehr!


    Wer sagt denn nicht, dass dort draußen gute Menschen warten. Solche die keine Fischfressen brauchen und Hundemarke um uns zu bändigen. Menschen wie wir, Menschen die Magie beherrschen aber sie nicht missbrauchen für Schmerzen. Menschen mit denen wir mental reden können und gute Seelenfarben haben. Wahre Farben, bunte und warme Seelen.


    Nicht ekelhaft stumpf sind und uns stumpf machen aus Angst und den ganzen Tag nach Lüge stinken. Ich würde sie so gerne töten. Alle. Allein vorrang.... Vater... aber kein einziges Mal erhielt ich eine Gelegenheit dazu", sinnierte er traurig.


    "Du hältst Dich wohl für viel schlauer als mich hä? Aber Du kannst doch wohl nicht leugnen, dass die Welt so ist, wie sie ist. Es gibt nichts anderes!", rief Brandur empört.
    "Er meint es nicht gegen Dich Brandur, er hat nur erzählt was er sieht und was er sich wünscht. Aber ich glaube Brandur hat Recht. Nicht die beste aller Welten in der wir leben, aber so ist das nun mal. Und das Problem ist nicht Vater allein... das Problem ist die Magie selbst... gäbe es sie nicht, gäbe es keine Probleme!", warf ich ein.


    "NIEMALS! Wie soll Magie ein Problem sein, es ist eine Gabe, ein Geschenk. Ich glaube immer noch, dass es ein Woanders gibt! Es muss so sein. Woher kommen naridische Goblins, wenn es keine anderen Goblins gibt? Woher die Almanen? Woher? Aus der Fremde! Und da gehen wir hin!", beharrte Kunwolf stur.


    Brandur seufzte und nahm Kunwolf in die Arme.


    "Das hast Du uns doch erklärt Kunwolf. Und weil wir Dir vertrauen, haben wir Dich begleitet Bruder. Für Dich sind wir mitgelatscht. Nur für Dich ist Dunwin hier und ich auch. Und Du hast gesehen, hier gibt es nichts. Nun bist Du an der Reihe. Finde Dich für uns mit der Wirklichkeit ab.


    Dein Woanders gibt es heute nicht mehr. Es existiert nur noch in Deinen Träumen Bruder. Vielleicht ist es eine uralte Erinnerung oder Wahrnehmung die noch im Nexus verhallt. Ich denke es sind die besagten Aschelande. Es ist zerstörtes, verdorrtes Land. Sag es ihm Dunwin", bat Brandur.
    "Er hat Recht Kunwolf. Schau Dich um, nur Brachland, sonst nichts. Es wird eine sterbende Erinnerung sein im Nexus. Wie das Licht. Denk an das Licht und was wir darüber lernten. Wenn Du heute einen Stern sehen könntest, ist der Stern vielleicht schon lange tot. Aber das Licht hat uns heute erst erreicht. So ist es auch mit dem Draußen, dem Woanders", versuchte ich als Junge zu erklären.


    "Schenkt mir noch zwei Tage, wenn der dritte anbricht ohne das sich etwas ändert, gehe ich mit Euch freiwillig und ohne zu murren zurück", bat Kunwolf.
    "Aller guten Dinge sind drei, wir geben Dir drei Tage und Du führst uns dann zurück", antwortete Brandur.
    "Na also geht doch, schön wenn Ihr Euch vertragt. So machen wir es, eine faire Lösung", stimmte ich zu und wir quetschten uns tiefer in die Felsspalte.


    Brandur kramte einige Proviant-Kekse heraus und wir teilten sie uns brüderlich vorm Schlafen.


    Komisch war nur, dass Kunwolf und ich dort in der eisigen Kälte, eingeklemmt in einer Felsspalte an Brandur gedrückt besser schliefen als jemals zuvor in unserem Leben.


    ****

    Flucht



    Es war fünf Minuten vor sechs, als wir den neuen Trainingssaal erreichten. Wir waren eilig durch das Untergeschoss geflitzt, aber ehe wir eintraten zögerten wir kurz und musterten Kunwolf.


    "Ich hoffe Du weißt was Du tust", flüsterte ich ihm zu.
    "Vertraut mir, ich weiß was ich tue", antwortete Kuni gut gelaunt und Brandur schüttelte nur den Kopf.
    Komischerweise tat es gut, sich der Hoffnung hinzugeben, die uns dazu gebracht hatte in aller Frühe aus dem Bett zu springen und uns direkt auf den Weg zu machen.


    Nicht dass wir hätten kneifen können, aber wir waren extrem pünktlich. Natürlich nicht zu pünktlich, was bei Kunwolf sofort aufgefallen wäre.


    Die Hoffnung trug uns, wir folgten einem Plan der nach Brandur Meinung direkt zum Scheitern verurteilt war.


    Zurückbleiben wollte er aber auf keinen Fall. Wir gingen unter einer großen Infotafel hindurch, auf der Eingang stand, und stiegen eine Wendeltreppe hinauf und standen vor dem Eingang des Saals. Die Landschaft im Trainingssaal war großartig. Natürlich hatte ich gehört, dass es dort Gebirge gab und nun konnte man sie zum ersten Mal sehen.


    Brandur bekam beim Betreten des Saals regelrecht einen Schock. Der Raum begann in einem grasbewachsenen Tal und erstreckte sich bis zu hohen Gipfeln, die mit funkelnden Gletschern bedeckt waren. Es war wirklich atemberaubend schön… wie jede Illusion.


    Die meisten anderen Teilnehmer die ebenfalls an der Tour teilnehmen mussten zwecks Unterrichts, hatten sich hingesetzt, banden ihre festen Schuhe zu oder packten ihre Rucksäcke. Jedes Trio hatte einen. Ab und zu hielten sie inne, um die überraschten Neuankömmlinge zu beobachten und über ihren Gesichtsausdruck zu lachen. Dann wurde der Staunende von allen mental geknufft. Magier eben...


    Eine Kleine aus unserer Ausbildungstruppe bekam beim Anblick dieser Landschaft nervöse Zuckungen und jammerte, ihr sei schwindlig. Einige wiesen sie auf die Wände hin, dass es gar kein offenes Gelände wäre.


    Die Wände würden den Saal ganz sicher von allen Seiten umgeben, hier konnte nichts Gefährliches eindringen. Sie sollte keine Angst haben, es waren dieselben Wände die das Akademie schützend umgaben. Kunwolf sagte keinen einzigen Ton, bei dieser Info.


    Die Kleine entspannte sich allmählich und Kunwolf hielt unauffällig Ausschau nach Sicherheitsleuten. Er blickt einfach in der Gegend herum, als wollte er sich an das grelle Licht gewöhnen.


    "Alles in Ordnung", flüsterte Kunwolf ganz entspannt.


    Er spielte den Gleichgültigen, aber ich kannte ihn gut genug um zu merken, dass er vor Sorge und Aufregung leicht zitterte. Seine braunen Augen blitzten als er uns eine Kopfnuss verpasste.


    "Immer noch entschlossen?", fragte ich Brandur.
    "Immer noch, ich kann Dich doch mit dem nicht allein lassen", grinste Brand.


    Die meisten Wanderer waren zum Aufbruch bereit. Der Saalwanderweg war etwa lang, ein Zeltlager war vorgesehen. Auf halber Strecke würde es Verpflegung geben und die falsche Sonne schien jedem gute Laune zu bescheren. Ich mochte das Ding von Anfang an nicht. Sonne zerstört meine überempflindliche Haut und schmerzt meine Augen. Selbst wenn ich nur kurz vor die Tür gehe, muss ich meine Haut komplett bedecken, sonst erleide ich Verbrennungen, wie andere nach einem stundenlangen Sonnenbad und meine Augen sind extrem lichtempfindlich.


    Irgend ein dussliger Heiler meines Vater meinte einst, ich wäre ein Teil-Albino. Das würde meine seltsame Augenfarbe erklären, ebenso weshalb meine Haare nicht weiß wären. Nun falls es stimmt, ist es eben so.


    Ich beobachtete Kunwolf. Noch die kleinste Geste verriet Energie und Auflehnung. Brandur folgte meinem Blick. Als uns der Trainer alle kontrolliert hatte marschierten wir los.


    „Die Wände existieren da draußen auch wirklich ja Sire?“, fragte die Kleine, die vorhin bereits fast zusammengeklappt wäre.
    „Natürlich. Die Panzerungen halten Explosionen und Giftangriffen stand. Deine Sicherheit ist garantiert. Niemand wird Dir hier etwas zu leide tun“, antwortete der Trainer.


    Ich hoffte inständig dass er nicht über die Schulter schaute. Für Sekunden war der Blick von Kunwolf absolut tödlich und ich meine das wörtlich.


    Bei der Erwähnung dieser Bedrohungen ging ein Gemurmel durch die Gruppe. Jeder wusste wer so etwas tat. Goblins und Almanen. Sie bedrohten jeden und die Freiheit aller freier Naridier, so dass man abgeschottet leben musste.


    Märchenstunde, die Gobos und Almanen in der Fremde glaubten das vermutlich von uns auch. Die Blicke richteten sich mit Besorgnis auf die Berge.


    „Na na, Ihr könnt Euch total frei fühlen, genießt den schönen Tag. Beachtet nur einige Regeln. Es ist verboten sich den Wänden zu nähern oder sie gar zu berühren. Ihr dürft an den Rastplätzen selbstverständlich kein Feuer machen. Jeder steckt eine eigene Trinkflasche ein. Und jetzt schöne Tour", schloss der Trainer.


    Die Zuhörer murmelten verschiedene Antworten. Wie eine kleine Armee beim Feldzug setzte sich unsere Gruppe in Bewegung. Wir sollten uns nicht allzu weit zerstreuen, damit die Überwachung einfacher wäre.


    Es ging natürlich nicht um Kontrolle – nein, ach was. Es ging allein um unsere Sicherheit, natürlich.


    Die Wanderung führte zunächst an einem Fluss entlang was Brandur besonders freute. Warum er Wasser so liebte, war mir immer ein Rätsel. Ich nahm ihm den Rucksack ab, damit er stöbern gehen konnte. Wir überquerten den Fluss an einer Furt, Brandur musste natürlich mitten durchs Wasser latschen und gab dabei Geräusche von sich, die kein Hohenfelde von sich geben sollte.


    Dann bog der Weg in einer weiten Kurve nach rechts und tauchte in ein bewaldetes Gletschertal ein. Am Boden drängten wilde Pflanzen und man hatte nach einiger Zeit vergessen, dass über einem eine Kuppel war. Der Weg wurde so schmal, dass wir im Gänsemarsch laufen mussten.


    Kunwolf ließ sich zurückfallen und ging als Letzter. Wir taten es ihm unauffällig gleich, so als wären wir einfach zu faul richtig stramm weiterzulaufen. Über uns an dem Hang mit Geröll, zog die Gruppe je nach Kondition der Wanderer weiter. Auch die Letzten waren schon außer Hörweite. Kunwolf ging vor und wir folgten ihm wie treue Hunde.


    Wir kletterten einen anderen Hang hinauf und waren bald schweißgebadet. Dabei schüttelte ein kräftiger Wind die Baumwipfel und am Flussufer unter uns glitten die Böen in silbrigen Wellen durch die Blätter der großen Weiden.


    Alles perfekt imitiert. Kunwolf führte uns auf ein Plateau und dann an einem Berggrat entlang. Die Wände umschlossen uns wie ein Rohr. Auf der einen Seite erhoben sich verschneite Felsspitzen, auf der anderen führte der von Lärchen bedeckte Hang ins Tal.


    Das Auge verlor sich im dunklen Unterholz des Waldes. Brandur trank einen Schluck Wasser und drückte mir die Flasche in die Hand. Ich tat es ihm gleich, gab Kunwolf Wasser und wir wanderten weiter.


    Kleine Tannenzapfen, die die Parkwächter wahrscheinlich jeden Abend mit Harken auf dem Weg verteilten, knackten unter unseren Schuhen. In den Baumwipfeln zwitscherte es. Ein Grunzen. Brandur und ich fuhren zusammen, aber es war Kunwolf.


    `Schnell! Alles läuft wie geplant! Sie denken wir sind vorne, keiner vermisst uns. Wenn alles gut geht, geben sie erst heute Abend Alarm, wenn sie auf dem Rastplatz merken dass wir fehlen´, freute sich Kunwolf.


    Er grabschte uns und rannte auf den steilen Hang zwischen den Bäumen zu. Der Nadelteppich knackte unter unseren Füßen, als wir wie die Irren bergab rannten. Niedrige Zweige klatschten uns ins Gesicht, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, hielten wir uns an den Baumstämmen fest.


    Im Schwung unserer Bewegung prallten wir plötzlich gegen eine Mauer. Ein vibrierender Ton war zu hören. Und wir stürzten zu Boden. Kunwolf richtete sich auf, er war über und über mit Nadeln bedeckt und half mir und Brandur beim Aufstehen.


    Ich starrte die Mauer an, wollte sie berühren, traute mich aber nicht. Ich hatte Angst, dass ich damit Alarm auslösen könnte. Es war das erste Mal dass wir der Grenze so nah waren.


    Der Hang, den wir hinuntergerannt waren, war so steil, dass wir unmöglich wieder hochklettern konnten. Wir waren in einer finsteren, stickigen Sackgasse gelandet. Ich schaute rückversichernd zu Brandur. Seine Veränderung steckte mich an. Alles was an ihm unsicher, unschlüssig und unausgelastet erschienen war, hatte einer geradezu erschreckenden Energie und Willenskraft Platz gemacht. Seine Augen glänzten wie die von Kunwolf, er lauerte auf ein Opfer, spitzte die Ohren und neigte den Oberkörper vor um schnellstmöglich Energie sammeln zu können.
    Wir liefen in einem spitzen Winkel direkt an der Wand entlang. Piniennadeln hatten die Spalte, wo die Wand im Boden verschwand gefüllt. Dadurch bildete sich ein schmaler weicher Weg, der manchmal nachgab, aber im Ganzen fest und begehbar war. Es war ziemlich bequem sich von der langen Wand führen zu lassen.


    Ich fragte mich, wo wir eigentlich hinwollten. Wenn wir nur der Mauer nachliefen, waren wir irgendwann wieder im Haupthaus. Aber Kunwolf sah ganz so aus, als wüsste er, wohin er ging, und so hielt ich mich mit meinem Kommentar zurück. Es war zwar sehr unwahrscheinlich, dass es im Unterholz Fallen gab, sicher hatte er deshalb beschlossen den Weg zu verlassen, aber mit magischen Überwachungsmaßnahmen musste man ständig rechnen.


    Der Vogelgesang war immer noch zu hören. Nachdem wir eine gute Viertelstunde an der Wand entlang gelaufen waren, blieb Kunwolf stehen. Wir sahen, dass er die Wand mit größter Vorsicht berührte. Er kramte in seiner Hose herum, brachte eine kleine Leinentasche zum Vorschein. Er öffnete sie und zog einige kleine Werkzeuge heraus – Zange, Schraubendreher und so weiter. Brandur konnte es kaum fassen, dass Kunwolf diese verbotenen Objekte vor den Sicherheitskräften verborgen hatte. Wie hatte er sie nur verstecken können?


    Mittlerweile hatte ich mich an den grünen Halbschatten gewöhnt und erkannte wonach Kunwolf tastete. Da wo wir stehen geblieben waren, schlängelte sich am Hang ein Flussbett zwischen den Bäumen. Im Moment war es trocken, aber nachts, wenn die Beregnungsanlagen angeschaltet wurden, die die Bäume und Pflanzen unter der Kuppel mit Wasser versorgten, rann sicher das überschüssige Wasser durch diesen Kanal.


    Da wo er auf die Wand traf, befand sich eine Öffnung, die sich wahrscheinlich von der Schaltzentrale bedienen ließ. Etwa einen Meter über dem Boden war tatsächlich ein breites Metallscharnier zu sehen. Das Wandviereck darunter bildete eine Art Klappe.


    Kunwolf zog vorsichtig die Verkleidung des Scharniers ab und setzte mit sicheren Bewegungen die Werkzeuge ein, um den Mechanismus in Gang zu bringen. Mental manipulieren wollte er nichts, Schutzzauber würden eher das überprüfen, als einen simplen Handwerkervorgang.


    Nach einer ganzen Weile begann sich das Viereck nach außen zu bewegen. Die Öffnung war groß genug, um auf allen vieren hindurch zu kriechen. Kunwolf packte das Werkzeug zusammen, griff nach dem Rucksack und verharrte kurz, wie ein Wachhund. Er lauschte, ob er ein verdächtiges Geräusch hörte.


    Nichts. Nichts nur eine unerwartete Wahrnehmung, ein Geruch, der von der anderen Seite kam. Ehe Kunwolf durch die Öffnung in der Wand schlüpfte, lächelte er uns zu.


    Es war das erste Lächeln eines Menschen dass ich sah ohne Bitterkeit, Ungeduld, Todesangst - eines das kein verzerrtes Grinsen war.


    Als ich an der Reihe war, folgte ich Brandur und warf keinen Blick zurück als ich in die verbotene Zone hineinkroch.


    ****

    Systematisches Testen auf Schwachstellen



    Die Akademie kann ich aus heutiger Sicht ausstattungstechnisch als topp bezeichnen, aber ein Gefängnis war es trotzdem. Für uns drei kristallisierte sich ein Bild heraus. Zur eigentlichen Akademie, gehörten zahlreiche Säle, in denen es wirklich alles gab. Wie im Regenwaldbiotop waren auch hier überall Wächter zugegen, allerdings auch einige von uns – sprich Adelige oder reiche gut situierte Bürger unseres Alters.


    Sie trugen die gleiche Kleidung und die Hundemarke. Mit einigen suchten wir das Gespräch, was nicht immer gelang. Manche die sich in ihrer Konzentration gestört fühlten, verscheuchten uns Neuankömmlinge rüde. Es gab aber auch welche, die in der Art gelangweilter Müßiggänger einem kleinen Tratsch nicht abgeneigt waren. Sie erteilten uns anstandslos Auskunft.


    In den Kuppeln gab es Erholung nach dem Training, sie boten jeden Luxus und sogar Abenteuer und Vergnügen, wenn man sich das verdient hatte. Ein Purie wie ich der dort eine Zeit leben dürfte, würde es als Kur-Urlaub empfinden. Aber ein anderer Purie würde auch nicht an meinem Training teilnehmen müssen. Oder können. Wenn höchstens einmal.


    „Dieser Ort… ich hab kein gutes Gefühl dabei“, maulte Kunwolf.
    „Ich auch nicht, hier ist was oberfaul. Es ist doch fast 12 Uhr, ich empfinde dass es 12 Uhr sein muss. Warum wird nicht zum Mittagessen geläutet? Ein Service ist das hier…“, grübelte Brandur.


    Kunwolf öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich anders und zog nur die Stirn kraus. Zu der Zeit saßen wir auf der Veranda eines kleinen Imbisses, direkt neben einem hohen künstlichen Wasserfall, dessen Rauschen ein etwaiges Abhören unserer Unterhaltung erschwert hätte.


    „Ein Kerker mit Zimmerbrunnen, herrlich ich bin begeistert!“, fauchte Kunwolf und bewarf den Imbissbuden-Heini mit den weißen kleinen Kieseln die er aufhob und nach diesem schleuderte.


    Der Kerl hatte keine Peilung wer ihn da gerade verarschte und wir drei mussten loslachen. Wir waren trotz allem ja blöde Jungs.


    „Jedenfalls werden sie hier nicht hehre Absichten haben um die Sicherheit Naridiens zu verbessern“, antwortete ich.
    „Dun ich teile Deine Einschätzung vollinhaltlich“, lachte Kunwolf.
    „Du klingst wie ein Politiker“, prustete Brandur und spuckte das Wort Politiker förmlich aus.
    „Der ich ja wohl auch bin. Demokratisch werde ich mich selbst wählen, von mir selbst eingesetzt, nachdem ich alle Verwandten, Gegenwähler und den nutzlosen naridischen Rat abgeschlachtet habe“, lachte sich Kunwolf kringelig.


    Er strich sich über den Schädel und deutete dann anklagend auf mich.


    „Und Du nicht minder Du Besserwisser“, lachte er.
    „Pöh“, war nur mein Kommentar, weil er meine Gedanken schon gelesen hatte.


    Brandur starrte uns beide an. Auf seinem Gesicht lag eine Mischung aus Unglauben und Besorgnis über unseren Geisteszustand.


    „Pöh? Was pöh? Hat es Dir die Sprache verschlagen Großmaul?“, grinste mich Kunwolf an.
    „Halt einfach die Fresse“, gab ich zuckersüß zurück und schmiss eine Handvoll Kiesel nach ihm, erwischte aber einen Shezem mitten in die Fresse. Stinksauer starrte sich das Vieh um und Kunwolf deutete anklagend auf den Nebentisch mit Engelsmiene.


    Fast zeitgleich entlud sich die Aggressivität von dem Shezem mit den anderen Wachen in einem lauten Streit, welches schnell in einer Prügelei mündete. Brandur war aufgesprungen, nahm Kampfhaltung ein und stand unschlüssig da.


    `Raus hier!´, bellte Kunwolf in unsere Gedanken und verpasste uns eine knallharte mentale Kopfnuss. Einfach um damit an unser wahres Wesen der Hohenfelde zu erinnern.


    Die Geste erzielte die passende Wirkung. Wir nahmen Vernunft an und folgten Kunwolf durch den Imbiss zum nächstliegenden Ausgang.


    Mittlerweile wurde an allen Ecken und Enden in dem Bereich gerauft, jedoch nicht nach dem Prinzip harmlose Kneipenschlägerei, sondern Shezem schenkten sich nichts. Die Brutalität und Gefährlichkeit der Attacken nahm sekündlich zu. Wurfgeschosse folgen durch die Luft, Einrichtungsgegenstände wurden zu Waffen umfunktioniert.


    Knochen brachen knackend, Blut spritze und schon gab es die ersten Schwerverletzten.


    Kunwolf der Holzkopf führte uns mitten durch den schlimmsten Trubel. Brandur und ich mussten unsere ganze Nahkampfkunst einsetzen, um unbeschadet nach draußen zu entfliehen.


    So liefen wir noch eine Weile nebeneinander weiter, auf dem weichen Sand eines idyllischen, von zedernartigen Bäumen gesäumten Strandes. Am Horizont, der nicht real war, sank eine blutrote Sonne ins spiegelglatte Meer. Das Biotop gefiel Brandur auf Anhieb. Wer immer es gestaltet hatte, hatte keine Abneigung gegen Kitsch.


    Als Kunwolf spürte, dass seine Angriffslust abgeklungen war, blieb er stehen und knuffte mich.


    „Hey Dunwin, bist Du in Ordnung?“, fragte er geradezu fürsorglich.
    „Wieso, hast Du vor es zu ändern?“, antwortete ich sarkastisch.


    „Nein, wegen Großmaul, tut mir leid Bruder“, räumte er ein und knuffte auch Brandur.
    „Vergiss es einfach“, antwortete Brandur tonlos und latschte ins Wasser.


    „Aber nein warum Brandur… sei nicht so. Denk doch nur, nach unserer nervtötenden perfekten Harmonie hatten wir so etwas wie unseren ersten Streit ohne dass einer verletzt ist oder umkam! Das zeigt Zuneigung, so steht es geschrieben! Durchaus erfrischend“, lachte Kunwolf.
    „In der Tat, durchaus erfrischend“, karikierte ich seine Sprechweise und schleuderte ihn ins Wasser.


    Prustend und strampelnd kämpfte er sich zurück an den Strand und musterte mich giftig ehe er sich schlapp lachte, mir vor die Schulter boxte und seine Gedanken übermittelte. Er war nicht sauer, er fand es lustig.


    „Was meinst Du? Wodurch wurde diese Streitlust ausgelöst?“, fragte ich grübelnd.
    „Eine Handvoll Steine in einer Fischfresse?“, schlug Brandur vor, so dass wir drei loslachen mussten.


    „Wisst Ihr eines steht fest, wir haben schon oft genug an Vaters Behandlungen teilgenommen. Unfreiwillig und ohne jemals vorab informiert worden zu sein. Also warum nicht mal ein bisschen heimzahlen?“, grinste Kunwolf.
    „Das ist gegen das Dogma“, antwortete Brandur.


    „Schon möglich, aber gegen das Dogma ist auch mich hungern zu lassen. Was ist das da vorne für ein Schuppen Jungs?“, fragte ich beide und kniff die Augen zusammen.
    „Hm ein Schuppen. Gehen wir hin und finden es heraus!“, schlug Kunwolf vor und machte sich sofort auf den Weg.


    Wir schlichen also zu dem Schuppen rüber und spähten hinein. Es war einer der Versorgungsschuppen. Für uns war ja alles neu.


    `ESSEN!´, übermittelte Brandur und deutete hinein.
    „Wir müssen dort hinein gelangen“, stellte Kunwolf fest.


    Ich versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war abgeschlossen.


    „Zu schön um wahr zu sein. Tür aufbrechen, los“, schlug ich vor und Kunwolf grinste noch breiter. Absolute Zustimmung im Gesicht.


    Niederschmetternd in einen Raum voller Fressalien starren zu können, aber nicht ans Futter zu kommen. Brandur hockte sich unter das Fenster und kauerte sich ganz klein zusammen. Futter scheinbar zum Greifen nah und dennoch unerreichbar, dachte er betrübt.


    „Versuchen wir es doch mal mit Gewalt“, schlug ich vor.


    Wir stellten uns zusammen auf, nahmen so viel Anlauf wie wir konnten und rannten wie die Irren los. Wir warfen uns gegen die verfluchte Tür, immer und immer wieder, die Beulen und Verletzungen einfach ignorierend, bis der Verschluss brach und die Tür aufschwang.


    „Na bitte! Dunwin Du hast Recht. Manchmal ist nicht Subtilität gefragt, sondern einfach pure Gewalt“, grinste Kunwolf.


    Humpelnd und glücklich machten wir uns in den Schuppen auf und hockten uns zwischen die Fressalien. Wir fraßen so viel wir herunter bekamen. Keine fünf Minuten später war einer der Wachleute da und starrte uns an.


    „Jungs, Ihr seid wirklich grade erst zugereist ja? Mit Euren Hundemarken bekommt Ihr am Imbiss alles zu fressen oder zu trinken was Ihr wollt. Es wird natürlich vermerkt, wer was wie viel frisst, falls er erkrankt. Ihr braucht hier keine Nahrung zu stehlen. Zudem gibt es fünf Mal am Tag in der Mensa für Euch Futter! Jedes Mal der gleiche Scheiß mit den Neulingen. Raus da jetzt und macht das Ihr weg kommt.
    Und fürs nächste Mal, Unbotmäßigkeit wird streng geahndet“, er tippte auf unsere Hundemarke.


    „Damit haben wir Euch im Griff. Aber das sollte Euch nicht stören, Ihr lebt hier wie Zuhause – wie die kleinen Paschas! Also folgt den Anweisungen“, sagte der Wächter.
    „Was passiert denn, wenn sich jemand hartnäckig den Anweisungen widersetzt?“, fragte Brandur vorsorglich.


    „Das möchtest Du nicht wissen. Und solltest Du es ausprobieren, wird es Dir leidtun kleiner Magier. Und jetzt haut endlich ab, oder soll ich doch eine Meldung machen?“, zischte der Kerl. Wir waren schneller weg, als er gucken konnte.


    So vergingen die ersten Wochen. Frühstücken, Schule, Trainieren, Mittag, Trainieren, Abendbrot – Freizeit, 23:00h Einschluss. Wenn man nichts verbrochen hatte oder zur Untersuchung zitiert wurde. Eines Abends beim Futtern erzählte uns Kunwolf dass er etwas Besonderes entdeckt hatte.


    „Heute als ich im Zentrum war, habe ich ein kleines Luftschiff gesehen. Brandur halt ja die Schnauze! Ich weiß nun wie wir nach draußen gelangen. Wir müssen nach oben. Wir müssen in den verbotenen Bezirk, ich wette mit Euch, dass es oben einen Zugang zum Draußen gibt. Ich wette fünfhundert Taler dass wir dort einen Blick auf nach draußen werfen können!“, verkündete Kunwolf stolz.


    „Die 500 Taler halte ich“, nahm ich die Wette an und Brandur schüttelte nur den Kopf.
    „Es wäre schon spektakulär, könntest Du mich in Erstaunen versetzen und da wäre was. Da ist nichts! Sie brauchen Luftschiffe von dort nach hier. Wenn es einem bewohnten Gebiet gäbe zwischen unserem Anwesen und dieser Akademie, außer dem üblichen Mist bräuchte man keine Luftschiffe! Aber gut, ich gehe mit und wehe Du drückst keine 1.000 Taler ab Kuni, dann wirst Du leiden, dass schwöre ich Dir", zischte Brandur giftig, was mich loskichern ließ.
    „Ist der denn so aggro drauf? Beruhig Dich Brand man, piano“, wunderte sich Kunwolf.


    Also aßen wir schleunigst auf und machten uns auf den Weg. Brandur und ich irrten uns. Es gab die Luftschiffe. Aber vorerst wanderten wir los.


    Durchschritten eine Art Triumphbogen, opulent geschmückt mit marmornen Reliefs voller Blumen und Ranken und gelangten auf eine sandfarben gepflasterte Straße.


    „Wer stellt so einen ekligen Bogen auf? Die haben doch den Knall nicht gehört. Wer wohnt hier Kunwolf?“, fragte Brandur angewidert.
    „Vermutlich wandern wir geradewegs zur Schlachtbank, aber dann lernen wir nicht das Draußen... oder besser gesagt die Fremde kennen, sondern den Nexus“, prustete ich.


    „Jau und wir haben auch einen Geistmagier als Binder dabei oder einen Nekro, welch ein Glück. Ob man entschwebt bestraft wird?“, grübelte Brandur belustigt.
    „Nur wenn Du nach Deinem Verrecken über die Absperrung schwebst ohne Erlaubnis oder in verbotenen Bereichen rumschwebst, sonst nicht“, erklärte ich großzügig und bei dem blöden Gesicht dass er zog mussten Kunwolf und ich loslachen.


    Wir hatten gute Laune und wanderten einfach weiter.
    Und plötzlich brach einfach die Landschaft jäh nach unten weg. Wir stutzten und beugten uns über die Kante ohne Geländer. Wir drei Jungs starrten staunend in die Tiefe und sahen gewaltige Stelen, auf denen sich unten Plattformen befanden. Unten gab es auch Straßen aber dort schien alles aus Metall zu sein. Die Häuser hatten seltsame Formen.


    Aber das war es nicht, was Kunwolf so faszinierte, sondern ein Luftschiff. Ein gewaltiges, seltsam geformtes Schiff von einem Ausmaß wie wir es nie gesehen hatten stand dort unten. Bewacht von zig gewaltigen Tieflingen. Es sah aus wie eine riesige Rauchstange.


    Ein Mann unbestimmbaren Alters trat aus dem Luftschiff.


    Eine für uns fast mit organischen Augen sichtbare Aura von Autorität, Arroganz und Skrupellosigkeit umgab ihn. Zugleich wirkte er nicht richtig menschlich, und wir hatten schon viele Menschen, Humanoide und Volksgruppen studieren müssen. Vater vertrat die Meinung – kenne Deinen Feind!


    Es waren seine seltsamen Bewegungen, die ihn wie aus der Art geschlagen wirken ließen, so als sähe er nur aus wie ein Mensch oder imitierte ihn.


    Gut das dachten da die richtigen Drei. Unsere Familie war für andere ebenfalls seltsam.


    „Zehn Stück, wie bestellt“, schnarrte er, wobei er einen Tiefling nach dem anderen aus kalten, fast schwarzen Augen musterte.


    „Darf ich Ihnen die Lieferung abnehmen?“, fragte einer der Tieflinge geradezu schleimig. Obwohl er ein Vielfaches von der Körpermasse des Menschen hatte, erschien der Tieflinge neben dem Mann wie ein Wurm, der zu einem Raubvogel aufblickte.


    „Hab ich das Manuskript erhalten? Ich hab das Manuskript nicht erhalten!
    Hab ich das Manuskript erhalten, erhaltet Ihr die Bestellung. Sollte ich umsonst hergeflogen sein... tjaaa“, lachte der Kerl und ließ den Satz unvollendet.


    Dabei faltete er die Finger seiner Hände in einer extrem komplizierten Geste zusammen, was den Tieflinge extrem beunruhigte.


    „Das Manuskript! Wo zum Abgrund ist das verdammte Manuskript?“, brüllte der Tiefling. Doch das wäre nicht nötig gewesen, denn zwei seiner Helfer waren schon losgestürmt beim ersten Anzeichen des Unmutes ihres Gastes.


    Leider konnten meine Brüder ihn nicht auslesen, aber wir fragten uns, warum ein Kerl den die Tieflinge geradezu vergötterten und in den Arsch krochen, nach einem Manuskript verlangte.
    Den Tag hatten wir nicht vergessen und Kunwolf plante was er immer plante, er wollte das Draußen... sprich die Fremde sehen, die Welt kennenlernen und all diesen Schwachsinn.


    Die Sichtung von dem fremden Kerl hatte seine Vermutung bestätigt. Es musste die Fremde geben. Andere Länder hatten wir im Unterricht noch nicht kennengelernt, sie wurden uns nicht vorgestellt. Vielleicht auch um Fernweh zu vermeiden. Aber mit Vaters Nichtinformation erreichte er bei Kunwolf genau das Gegenteil. Je weniger er wusste, je mehr wollte er selbst herausfinden.


    Erneut etwas später.


    Ich erinnere mich daran, dass wir im Freizeitsektor unterwegs waren und Kunwolf zu einem Untersuchungstermin beordert wurde. Brandur und ich starrten ihn besorgt an, Kunwolf reagierte nicht. Er wurde mehrfach gerufen, aber er zeigte keine Reaktion.


    Zwei Sicherheitsleute erschienen um ihn an seinen Termin zu „erinnern“. Brandur flehte ihn an sich zu fügen und ihnen zu folgen, ehe sie ihn züchtigen würden.
    Entgegen meiner sonstigen Art, stimmte ich an dem Tag Brandur absolut zu. Diese Order hatte man nicht zu ignorieren, es sei denn man wollte auf die Platte gestellt werden. Das ist vergleichbar mit einem Tanzbären, nur steht man selbst barfuß auf einer glühenden Metallplatte. Abgrundartige Schmerzen.


    Kunwolf wäre nicht Choleriker-Kunwolf, hätte er auf uns gehört oder Vernunft angenommen.


    Statt einer Antwort, sprintete Kunwolf los, auf die Wärter zu und zwischen den beiden hindurch. Sie standen einige Meter auseinander und hatten keine Waffen gezogen, daher dachte er, das Risiko eingehen zu können.


    Die Kerle hielten ihn nicht auf, doch ein weiterer Wärter – einer der Tieflinge, der in der Nähe eines Luftschiffes stand, brüllte ihn an stehen zu bleiben. Ohne abzubremsen oder zu verlangsamen sprintete Kunwolf auf das Luftschiff zu.


    Klar was er wollte, das Ding kapern. Kunwolf rannte einfach weiter, auf einem Kurs, der ihn in mehreren Metern Abstand an dem Fettsack vorbeiführen würde. Das Vieh betätigte etwas, dass er auf seiner Armrüstung trug. Augenblicklich zog sich die Hundemarke um Kunwolf Hals enger zusammen.


    Es schnürte tief ins Fleisch, drückte ihm den Atem ab. Er zerrte daran, konnte es aber nicht lockern, geschweige denn abreißen. Vergeblich nach Luft japsend, schleppte er sich noch einige Schritte Richtung Luftschiff und stürzte da zu Boden.


    Ich dachte er würde ersticken, wenn sie das verdammte Würgehalsband nicht wieder lockerten. Ich wusste schon warum ich Magie und Magier hasste.


    Sie ließen ihn noch eine Zeit lang liegen, bis er aufhörte sich zu wehren und nur noch nach Luft schnappte.


    „Bist keiner von der hellen Sorte hä?“, antwortete der Tieflinge und tätschelte Kunwolf den Schädel.


    Unfähig zu antworten, bäumte sich Kunwolf auf. Ich dachte mir nur Respekt Kuni, ändert aber nichts am Endresultat. Er starrte den Tieflinge noch einige Sekunden hasserfüllt an, senkte aber dann Blick wie es Pflicht ist wenn man einem der Wächter gegenüber steht.
    Blick auf die Fußspitzen, kein Blickkontakt zum Wachpersonal. Blickkontakt wird als versuchter Angriff gewertet.


    Was verständlich ist, wer mit gesundem Verstand würde einem Geistmagier in die Augen starren?


    „Auf den Bauch, sofort“, bellte der Fettsack und Kunwolf gehorchte mit gefletschten Zähnen. Der Tieflinge betätigte etwas. Die Hundemarke weitete sich ein wenig, so dass Kunwolf Luft bekam.


    „Steh auf. Raus hier und sofort zurück hinter die Absperrung. Ich hoffe Du hast Deine Lektion gelernt“, donnerte der Kerl und verpasste Kunwolf eine schallende Ohrfeige.


    Kunwolf nahm sie hin ohne einen Ton zu sagen und gehorchte. Er trottete zurück zu mir und Brandur. Kaum hinter der Absperrung dehnte sich die Hundemarke wieder.


    Die einzigen Worte die Kunwolf aus seiner geschundenen Kehle presste waren –
    beim nächsten Mal… bist Du tot…


    Erneut vergingen Wochen, nach diesem Vorfall.
    Müßig alle Kleinigkeiten aufzuzählen, ich bleibe beim roten Faden – nämlich dem Plan von Kunwolf.


    Als hätte ich nicht schon genügend Sorgen gehabt, fing nun Kunwolf an, sich irrational, ja richtig wahnsinnig zu gebärden. Brandur verhielt sich weiterhin völlig normal. Um ihn musste ich mich nicht sorgen. Aber sicher war sicher, ich behielt beide im Auge, denn für Verfehlungen wurde stets das gesamte Trio bestraft. Gruppenfestigung nennt man diese Form der Folter.


    Kunwolf klapperte alle „Sehenswürdigen“ ab, suchte scheinbar wahllos Biotope auf, führte Gespräche von unterschiedlicher Dauer mit anderen "Gästen", Wachpersonal wenn sie sich drauf einließen, oder anderen Insassen. Wozu sie da waren, verrieten sie uns nie. Kurzum er recherchierte verdeckt wie ich es selbst kaum besser hätte machen können.


    Zwischendurch ruhte er stets nur wenige Stunden. Meist schlief er zwei oder drei Stunden irgendwo. Er benötigte nicht viel Schlaf, oder konnte nicht richtig schlafen.


    War er in Brandurs Abtastreichweite, dann überwachte er seine Gedanken. Kunis Gedanken schwankten gelegentlich in Richtung eines merkwürdigen tranceartigen Zustands – nämlich immer dann, wenn er etwas Unerlaubtes anstellte, von Tieflinge oder anderem Wachpersonal erwischt und via Hundemarke abgestraft wurde.


    Dessen ruckartiges Zusammenziehen registrierte Brandur, desgleichen die resultierende Atemnot, Brand war mit Kunwolf mental verbunden. Hingegen fehlten die Anzeichen für Schmerz oder Panik, die damit hätten einhergehen sollen. Anders ausgedrückt, dass Kunwolf zu ersticken drohte ließ ihn kalt.


    Brandur erklärte mir, dass nichts auf Drogenkonsum hinwies.
    Brand vermutete eine schlagartig aufgetretene geistige Störung.


    Als sei ihm vollkommen egal, dass er bei diesen gewagten Selbstversuchen Kopf und Kragen riskierte, probierte er immer wieder aus, wie weit er gehen konnte.


    Zwar griff er keine Tieflinge oder Wachen an. Aber er überschritt jede Absperrung, die er finden konnte, obwohl diese eindeutig markiert waren. Mutwillig und gezielt, natürlich nur dann wenn auch ein Wächter guckte!


    Gänzlich durchgedreht war er nicht, denn er ließ sich jedes Mal im letzten Moment bändigen und fügte sich. Dann zog er sich zurück, wechselte die Position und kaum hatte er sich erholt, provozierte er anderswo erneut.


    Kunwolf legte eine bemerkenswerte Ausdauer an den Tag. Er versuchte sogar den Grenzfluss am Perimeter der Kuppel zu durchtauchen, mit roher Gewalt Sicherheitstüren aufzubrechen oder sonst wie in Bereiche einzudringen, die nur dem Personal vorbehalten waren.


    Vergeblich, erwartungsgemäß fruchtete nichts davon, dennoch gab der Kerl nicht auf.


    Was bezweckte er? Das fragten Brandur und ich uns fast jeden Abend.


    "Weshalb weigert er sich, die Nutzlosigkeit seiner Vorstöße einzusehen? Ist er lebensmüde geworden? Oder hat er eine Krankheit?", fragte Brandur nicht zum ersten Mal.


    Brandur und mir bereitete Kunwolf durch sein wahnsinniges im wahrsten Sinne des Wortes halsbrecherisches Verhalten erhebliche Probleme.


    Die Überwachung bemerkte irgendwie alles. Wie oft ein Insasse aus der Reihe tanzt, nicht rechtzeitig zu einem Termin erschien, seine Befugnisse überschritt oder sonst wie Vorschriften verletzte, so dass er mit Stressband gemaßregelt werden musste.


    Dreimalige Auffälligkeit mit Maßregelung innerhalb einer Woche, Tanzplatte für das ganze Trio.


    Da weder Brandur noch ich der Tanzplatte etwas abgewinnen konnten, war bald unsere Freizeitbeschäftigung Kunwolf an seinen Aktionen zu hindern.


    Kurz vor Einschluss war es Brandur leid und bat Kunwolf endlich mit dem Wahnsinn aufzuhören, oder ihn einfach direkt umzubringen per Genickbruch. Er hätte keine Lust mehr auf den Psychokrieg.


    Kunwolf schaute ihn kurz verständnislos an, ehe so etwas wie Verstehen in seinen Augen aufblitzte.


    "JUNGS… Friede. Ich dachte Ihr versteht dass", erklärte er.


    "Ich verstehe nur, dass ich nicht mehr kann und nicht mehr will und die Schnauze von Dir gestrichen voll hab", antwortete Brandur, kroch in seine Koje und rollte sich zusammen.


    Ich schaute Brandur kurz nach und in dem Moment war ich wirklich stinkig. Kunwolf spürte dass ich ihn angreifen wollte und unterdrückte meine Wut, überlagerte sie mit sinnlosen Gedanken, nur damit ich von meinem Stressband nicht stranguliert wurde.


    "WAS SOLL DAS?", schrie ich ihn an.
    "Ich teste das Gebäude systematisch auf Schwachstellen. Heute hab ich sofort die Pläne der Regenanlage gezogen hinterm Fluss. Und die Bestrafung ist eine Lüge Dunwin! Egal was ich tat, egal wie oft ich eine Verfehlung beging, sie hatten niemals wirklich die Absicht mich zu töten!


    Die Todesstrafe durch Erdrosselung ist ein Bluff! Ich stehe noch, ich lebe noch! Wir können fliehen! Und Dunwin, ich weiß den Weg nach draußen", erklärte er mir so freundlich und leise, dass ich zusammenzuckte.


    Ich wusste nicht ob es wegen der Information war, oder weil mich seit Jahren das erste Mal wieder jemand wirklich freundlich behandelte.


    "Fliehen? Raus? Raus wohin raus?", fragte ich total perplex.


    "Hör Dir den Wahnsinn nicht an! Er redet von der Fremde. Niemand kann ohne passende Ausbildung die Welt verlassen und in die Fremde gehen. Und warum? Weil man dort verreckt, sie ist tödlich!", schnauzte Brandur.


    "Armes Ding, Du glaubst auch alles was man Dir erzählt", zischte Kunwolf.
    "Ja dafür glaubst Du rein gar nichts. Sagt man guten Morgen, guckst Du doch als Erster ob nicht Nacht ist. Dunwin geh lieber schlafen eh der Apell kommt", sagte Brandur.


    "Morgen trainieren wir im Besteigerzimmer", lachte Kunwolf.
    "BERG-STEIGER-ZIMMER! Besteigerzimmer, Vollpfosten", fauchte Brandur.


    "Ja oder da. Egal. Haltet Euch bereit", forderte Kunwolf.
    "Wofür?", hakte Brandur nach.
    "Draußen", antwortete Kunwolf und legte sich in seine Koje.


    Ich musterte die beiden Streithähne eine Weile, als ich Schritte auf dem Flur hörte und schleunigst machte, dass ich in die eigene Koje kam.


    ****

    Ankunft



    Wie gesagt, man reist schlafend an und wacht in der Akademie auf. Wir bekamen einen Schlafsaal zugeteilt, was für uns befremdlich war, da wir es gewohnt waren alleine zu leben. In unserem Schlafsaal befanden sich drei Betten. Hier galten andere Spielregeln. Man teilt sich alles und lebt als Trio. Nicht um irgendeine sinnlose Form von Zuneigung zu fördern, nein weit gefehlt.


    Im Notfall mussten wir wie jeder andere Mensch in der Lage sein, im Team zu agieren um einen mächtigeren Feind zu töten, bevor wir uns wieder selbst zerfleischten. Denn um allein zu agieren, waren wir bei weitem noch nicht mächtig genug.


    Meine beiden Brüder Brandur – ein Magier und mein ältester Bruder Kunwolf – ebenfalls ein Magier kennst Du.


    Wir wohnten in einer Wohneinheit, allerdings mit gesichertem Schlafen. Wir wachten zeitgleich auf und starrten etwas unsicher in der Gegend rum. Unsere Neugier siegte und wir schauten uns um. Das Sicherheitspersonal klärte uns auf, dass dieser Bereich unser Quartier und unsere Anlaufstelle wäre.


    Nach dem Aufwachen in der neuen Einrichtung fühlte man sich ganz seltsam und neben der Spur. Vermutlich hatte man uns vorher irgendeine Schlafdroge verabreicht.


    Das erste was mir aufgefallen war, dass ich etwas um den Hals trug wie eine Hundemarke. Wir nannten die Dinger nur „die Hundemarke“. Sie fiel kaum auf, da es in Deiner eigenen Hautfarbe war, hauteng anlag und aus winzigen Steinchen bestand, die lose auf ein dünnes Band gefädelt waren.


    Die Hundemarke war die magische Berechtigung sich in der Akademie fortzubewegen. Es war vermutlich Artefaktmagie wie Du sie von Waffen her kennst. Die Hundemarke öffnete Türen für Dich und wo Du nicht hinsolltest, da öffnete sich auch für Dich keine Tür.

    Man spürte wenn man darüber gesucht wurde – das war beabsichtigt, um Dir zu zeigen, dass man Dich immer im Auge hatte. Darüber wurdest Du gerufen, wenn Du im Freizeitbereich unterwegs warst. Und es bestrafte…


    Am ersten Tag durften wir die Anlage erkunden, natürlich nur die für uns erlaubten Bereiche. Also marschierten wir los. Wir kamen in einen kreisrunden Raum mit fünf Flügeltüren. Eine davon fuhr lautlos zur Seite. Kunwolf warf mir einen fragenden Blick zu und übermittelte mir seine Gefühle.


    Sich einem fremden, durchaus dubiosen Willen zu beugen, schmeckte ihm nicht.


    Aber unsere einzige Möglichkeit hätte darin bestanden, sich partout zu verweigern. Erreichen würden wir damit nichts, außer Bestrafung. Vor allem würden wir unsere Bewegungsfreiheit einbüßen, schoss es mir durch den Kopf.


    „Ließ meine Gedanken“, bat ich ihn.


    `Sie kennen uns verdammt gut. Und sie machen keinen Hehl daraus. Lassen uns die lange Leine spüren, an der sie uns gängeln, im vollsten Vertrauen, dass wir dadurch gefügig werden´, übermittelte Kunwolf als Antwort.


    Brandur schaute von Kunwolf zu mir hin und her. Kunwolf war grundsätzlich gegen alles, ich warte meist neutral ab und Brandur fügte sich meist in sein Schicksal. Also Optimist, Realist und Pessimist als Dreigestirn vereint. Kunwolf stellte sich bewusst vor eine andere Tür, die natürlich verschlossen blieb. Zähne knirschend folgte er mir und Brandur. Ihm widerstrebte es sehr, sich einstweilen damit abzufinden, dass man uns lenkte.


    Er hatte schon damals Recht.


    Auf steilen Treppen überwanden wir mehrere Etagen. Dann ging es einen leicht geschwungenen, schlauchförmigen Korridor entlang, in dessen Seitenwand runde Fenster mit getönten Scheiben eingelassen waren. Glas. Hart aber durchsichtig, zersplittert eine gute Waffe – ich merkte mir direkt wo man welches finden konnte.


    Wir blickten hindurch und hinab auf einen Mini-Dschungel, strotzend vor saftigem Grün. Palmwedel, von denen Feuchtigkeit tropfte, meterhohe Farne, Orchideenhaine. Ein Regenwald breitete sich unter uns aus, scheinbar endlos, jedenfalls weiter, als die vom Dunst beeinträchtigte Sicht reichte. Zwischen Tümpeln, von zierlichen Brücken überspannten Bächen und strahlend weißen Kieswegen standen luxuriöse Sitzgelegenheiten unterschiedlicher Größe.


    „Wie eine Urlaubskolonie, habt Ihr das schon mal gesehen? Es ist wie ein Garten, ich habe von botanischen Gärten unter Glashäusern gelesen! Ob man ins Wasser darf?“, fragte Brandur und starrte fasziniert auf die Teiche.
    „Ich muss Dich enttäuschen, das ist kein Garten, das ist nur ein weiterer Knast“, erwiderte Kunwolf mit grimmiger Miene.
    „Was sagst Du Dun?“, fragte Brandur und beide starrten mich an.


    Ein tolles Gefühl, direkt am ersten Tag stillschweigend zum Vermittler gewählt worden zu sein und das ausgerechnet ich.


    „Laut meinem Wissen gibt es solche Gärten. Wintergärten heißen sie glaube ich. Die Habitate sind dem Draußen nachempfunden, da wo die Pflanzen ursprünglich leben“, erklärte ich, weil ich nicht wusste was ich sonst sagen sollte.


    „Was ist das andere Zeug da?“, fragte Kunwolf und deutete auf Abbilder.
    „Das sind Statuen, Du weißt doch was Statuen sind“, erläuterte nun Brandur.


    „Das sind doch keine Statuen“, zweifelte Kun.
    „Weshalb?“, hakte ich nach.
    „Das sind doch keine Menschen, was sind das?“, fragte mich Kun.
    „Das spielt keine Rolle“, sagte Brand.


    Im Weitergehen erklärte uns Brandur, dass viele Völker insbesondere Humanoide, in ihren Wohn- und Arbeitsstätten unnützen Plunder verteilen. Das gäbe ihnen ein heimeliges Gefühl wie eine warme Bettdecke. Warum wüsste er selbst nicht.


    Der Gedanke unser Herrenhaus, mein Quartier oder hier unseren Wohnbereich mit nutzlosem Tand, Statuen von unseresgleichen oder ähnlichen Wesen vollzustellen erschien mir und Kunwolf absolut absurd. Platzverschwendung.


    `Brandur und Dunwin, wir müssen noch vorsichtiger sein. Wie subjektiv unsere Wahrnehmung der Welt ist, zeigt doch dieser Statuen-Wahnsinn. Alles wird nur nach dem Aussehen beurteilt, und viel zu selten kommt einem in den Sinn, deren allgemeine Gültigkeit infrage zu stellen.


    Vertraut niemanden, hinterfragt alles. Ich ermahne zu höchster Wachsamkeit meine Brüder! Ich gelobte permanente Selbstkritik. Der Schein trügt oft. Die Viecher unter den Palmen wirken auch friedlich, sind aber Wächter. Ich denke das „Paradies“ hier ist der gleiche Abgrund wie unser heimeliges Zuhause´, warnte uns Kunwolf mental, während er die Führung der Truppe übernahm und wir sie ihm gewährten.


    Der Korridor mündete in einem sechseckigen Raum. Kaum hatten wir ihn betreten, öffnete sich zur Linken eine von vier Türen. Kunwolf zögerte kurz, presste die Lippen aufeinander, überwand seinen Widerwillen und ging hinein. Hätte man noch einen Zweifel gehabt, wie hoch die magische Überwachung war, wäre der Zweifel ausgeräumt worden.


    „IST DOCH NETT, WENN EINEM DIE ENTSCHEIDUNG ABGENOMMEN WIRD… SCHONT DEN DENKAPPARAT!!!“, knurrte Kunwolf in den Raum hinein.


    Hinter der Tür erwartete uns ein lang gestreckter Umkleideraum. An einigen der Wandhaken hingen Anzüge, die sich alle aufs Tüpfelchen glichen.


    Kun schnalzte mit der Zunge, keine Ahnung was er meinte.
    Zustimmung, Missfallen, Langeweile – er drückte damit alles aus.


    Gegenüber den Klamotten reihte sich Spind an Spind, alle paar Meter unterbrochen von Durchgängen zu Waschzellen.


    Als wir etwa die Hälfte abgeschritten hatten, ertönte ein leises Summen, und die Türen von drei benachbarten Kästen fuhren hoch.


    „Da kommt Freude auf. Hättest Du lieber Rot oder Grün? Pepita oder Paisley-Muster? Also ich nehme einheitsgrau… unbedingt!“, fauchte Kunwolf so stinkig dass Brandur und ich loslachen mussten.
    „Weder noch ich gehe baden“, antwortete ich.
    Irgendwie war mir danach heiß zu baden, nachdem ich wer weiß wie lang als Murmeltier schlafend unterwegs war.


    „Gute Idee“, stimmte Kunwolf zu und wir zelebrierten eine Badeorgie, bis wir fast aufgeweicht waren.


    Dann zogen wir das etwas zu farbenfrohe, doch herrliche frische Freizeitgewand an, mäßig überrascht, dass es ebenso perfekt passte wie die Schuhe. Als sich Kunwolf im Spiegel der Waschzelle musterte war er erneut wütend.


    „Wir sehen hässlich aus in den Lumpen, kein Wunder das der Spiegel beschlägt“, murrte er und malte mit einem dünnen Finger Schriftzeichen auf den beschlagenen Spiegel und deutete hin.


    (Gehen wir mal nach draußen?), stand dort in kleinen Lettern, dann wischte er die Buchstaben weg und grinste. Ich nickte zustimmend und wusste nicht mal genau warum, aber die Idee gefiel mir.


    Brandur schüttelte den Kopf, er wollte endlich runter in den Garten. Dafür hatten wir Ausgang und nicht um Spiegel zu beschmieren oder nach dem Draußen zu fragen. Brandur ging vor und ich folgte ihm.


    Müde und ein wenig mürrisch trottete Kunwolf hinter uns her.


    „Du hast den Anfang gemacht Kuni, also stell Dich nicht so an! Wir müssen auf Erkundung gehen“, erklärte Brandur.
    „Erkundung, jaja von mir aus. Wir tappen doch nur von einer Ecke in die nächste, ist einfach nur ein neues Gefängnis“, gähnte Kunwolf.


    ****

    Trio



    …Die „Akademie“ ist eine Einrichtung für sich. Gelehrt wird alles was mit magischen Anwendungen zu tun hat. Dafür gibt es Spezialräume. Ebenso werden sämtliche Kampfsportarten gelehrt, dafür haben wir dort Turnhallen. Und der Umgang mit jeder Hieb-, Stich- und Schusswaffe wird gelehrt.


    Folglich gibt es dort mehr als nur einen Schießstand und zig andere Trainingsräume für die anderen Waffengattungen.


    Es gibt Wohn- und Schlafbereiche zur Unterbringung des Lehrpersonals, sowie Freizeitanlagen zur Freizeitgestaltung. Es gibt ein sehr großes medizinisches Labor, um die Kinder bestmöglich medizinisch zu versorgen, sie zu untersuchen und ihre Entwicklung zu überwachen.


    Die Akademie ist eine abgeschottete, eigenständige Welt.
    Die Loge des Abgrunds.


    In der Akademie habe ich das erste Mal den freien Himmel gesehen, oder das was ich dafür hielt. Er war nur eine perfekte Illusion am Kuppeldach. Vorher bestand meine Welt nur aus abgeschotteten, fensterlosen Räumen unseres Herrenhauses oder wir waren draußen, dann allerdings überwacht.


    Die Akademie ist Mittelpunkt eines unterirdischen Komplexes. Ein Hauptgebäude, mit den benannten Räumen. Davon zweigen unterirdische Korridore ab, die in weitere Komplexe führen.


    Diese Komplexe enthalten dann die Freizeitaktivitäten, wie den nachgestellten Wald und so weiter. Sie enthalten im Grunde alles, was die reale Welt draußen imitiert. Diese Komplexe sind extra abgeschirmt.


    Weder können Magier hinein noch hinaus spüren. Logisch, sonst wären einige Familienmitglieder wohl schon längst in ihren Jugendtagen geflohen.


    In der Akademie wurden wir zusätzlich gesichert und gemarkt. In jedem Raum und in jedem Winkel waren Wächter und Diener die beobachteten, was wir wann taten.


    Die totale Überwachung. Ein Arzt war da bevor Du gemerkt hast, dass es Dir schlecht ging. Ein Sicherungsteam war da, bevor Du nur ansatzweise Dich mit streiten konntest.


    Man denkt, dass man Menschen mit Gabe nicht sichern kann? Man kann es aber, denn meine beiden Brüder waren dort genauso machtlos wie ich.


    Fangen wir bei der Ankunft an.


    ****

    043


    „Wie kommen wir in den Sicherheitsbereich von Camiglir rein? Ich denke nur er hat Zugang oder irre ich mich da? Ein Misstrauen hat der Bursche“, grummelte Archibald.
    „Da kommt er einfach nicht drüber weg“, lachte Jesper leise.


    „Hätte er mal vorher nachgedacht müsste ich das jetzt nicht“, grummelte Malvyro und Canan musste sich in den Ärmel beißen um nicht loszuprusten.
    „Du musst gar nix, Du könntest… wenn Du wolltest Wurmschädel“, grinste Alrun breit.


    „Ahhhh achso. Ich will nicht“, sagte Malvyro trocken.
    „War so was von klar, Du wärst mal nützlich gewesen Du Bandwurm“, knurrte Archibald, „wie kommen wir denn da jetzt rein „Nutzlos?“


    „Das Dein Mann Dich verabscheut ist kein Wunder… wir warten bis die Goldie auftaucht und dann fangen wir sie ab. Mein Plan ist folgender, sie wird mich an den Sicherheitsleuten vorbeischmuggeln. Sie zu töten und ihre Gestalt anzunehmen kostet unnötig Zeit. Sie kann mich direkt zu Camiglir bringen. Und ich mache dann von innen auf“, sagte Malvyro leichthin und starrte zur Tür.


    „Mein Mann tut was???“, schnauzte Archibald so laut es ging ohne aufzufallen – was nicht gerade laut war.
    „Sei leise Du Trottel da kommt Goldie“, knurrte Malvyro.


    „Was machen wir mit der? Durchnudeln?“, fragte Damir, während Chirag eine Augenbraue hochzog.
    „Fangen. Schnappen wir sie“, raunte Malvyro und stürmte los mit Damir auf den Fersen.


    Damir packte die Frau von hinten um die Kehle und zerrte sie mit sich in den Gang zu den anderen. Er hatte sie so gepackt, dass sie gerade noch Luft bekam aber keinen Ton von sich geben konnte.


    „Geübt hä?“, schnarrte Malvyro lachend.
    „Ein klein wenig“, grinste Damir, „was nun mit der Vogelscheuche? Wo willst Du Dich verstecken. Als Gürtel?“, lachte Damir.


    „Halte sie richtig fest und press ihr die Schnauze auf“, befahl Malvyro.
    „Von mir aus“, sagte Damir und drückte mit zwei Fingern die Kiefer der Frau auseinander.


    Malvyro starrte ihr von oben ins Gesicht und suchte eine passende Position um sich vor sie zu stellen.


    „Was wird das?“, fragte Damir in dem Moment presste Malvyro seinen Mund auf den von Goldie.
    „Aha der Herr hat Bedürfnisse…“, kommentierte Holzi leise kichernd.


    „Hätte ich vorher wissen sollen, warum ich für jeden die Lampe halten mu…
    …Du heilige Scheiße…“, kommentierte Damir was er dann sah.


    Was man für einen Kuss halten konnte war alles andere als eine Zärtlichkeit.


    Malvyro hatte sie mit einem Biss fixiert und löste sich nun von unten nach oben hin in seine Fasern auf. Als Klusterfadenschlange schob er sich von seinen Rachen in den der Frau und krempelte sich dabei einfach um, bis das letzte Stückchen Tentakel im Mund der Frau verschwunden war.


    Goldie wankte wie unter Hypnose hin und her. Dann schien sie wieder zu sich zu kommen, starrte die Gruppe kurz irritiert an, dann lief kreischend weg sie ins Büro. Genau dorthin, wohin man sie haben wollte…


    Sie hämmerte gegen die Tür und einer der Wachsoldaten öffnete ihr. Goldie stürmte in das Vorzimmer, wo sie seltsam zu stöhnen anfing und sich den schmerzenden Bauch hielt.


    „Du bist hoffentlich nicht infiziert oder sowas“, ranzte sie einer der Soldaten an.
    „Ich? Nein! Woher? Ich war die ganze Zeit hier im Sicherheitsbereich, ich…“, erklärte die Frau gerade noch als sie sich kerzengerade aufrichtete und mit tonloser Stimme fragte, „wo ist Camiglir überhaupt?“


    „Hinten in seinem Labor Namewaen. Was ist heute mit Dir los sag mal? Verzieh Dich am besten in Dein Büro und nimm etwas gegen Magenschmerzen. Die Teams bekommen die Lage sicher bald wieder unter Kontrolle. Aber den Boss würde ich wegen so einer Unpässlichkeit lieber nicht nerven. Sonst bist Du die nächste die da draußen rumwankt“, warf einer der Soldaten ein und alle Soldaten fingen an zu lachen.


    „Da hinten also…“, schnarrte es wie aus einiger Entfernung.


    „Mein Bauch, es tut so weh! Was ist denn nur…“, setzte Goldie zu einer Schmerzlitanei an.


    Schlagartig versteifte sie sich, starrte zur Decke und fiel auf die Knie. Ihr Kopf reckte sich immer weiter in den Nacken, so als hätte sie vor sich selber durch Überdehnung das Genick zu brechen.
    „Namewaen was hast Du beim Abgrund…“, setzte einer der Soldaten an.


    Sie hörten ein rupfendes, zerreißendes Geräusch und Namewaen öffnete in einem stummen Schrei den Mund. Riss ihren Kiefer so weit auseinander wie sie konnte. Zwei drei schwarze Kluster schossen aus ihrem aufgesperrten Rachen hervor, und es wurden immer mehr.


    Wie Schlangen aus einer Höhle schossen sie aus Goldies Rachen, gewannen an Höhe, wurden dichter und länger und umschlossen die Frau ganz. Dann formten sie sich neu und ehe sich die Wachleute versahen, stand in ihrem Raum eine riesige Wurmartige Kreatur. Aber lange Zeit nachzudenken hatten sie nicht, denn das Wesen schoss auf sie herab und verschlang die 5 Kerle blitzartig einem nach dem anderen.


    Kaum gesättigt, nahm Malvyro wieder albische Gestalt an und öffnete den Kollegen die Tür.


    „Kommt rein“, sagte er leise.
    „Du bleibst hinter uns, am besten bleibst Du hier. Camiglir wird Dich angreifen und umbringen wollen“, befahl Dunwin Malvyro.
    „Wie Sie wünschen Mr. Dunwin“, antwortete Malvyro gehorsam.


    Aber Dunwin erkannte, dass Malvyro nicht gehorchen wollte. Nicht aus Trotz, sondern aus Sorge um Dunwin.


    „Guck nicht so, ich rufe Dich wenn die Lage unter Kontrolle ist. Warte hier“, sagte Dunwin aufmunternd. Unbeirrt und ungehindert setzte die Gruppe ihren Weg fort und stürmte in das Private Labor von Camiglir.


    „Hallo Cami“, grüßte Canan mit eiskaltem Ton. Die Truppe hatte den Hauptkern, das Herzstück des Hochsicherheitslabors erreicht.


    Camiglir mustere sie hasserfüllt wie sie dort im Türrahmen standen. Er schaute von seinem Schreibtisch auf die Bildschirme, die die totale Vernichtung seiner tödlichsten aller Schöpfungen schonungslos anzeigten.


    „Dafür bezahlt ihr“, zischte Camiglir giftig.
    „Schick mir die Rechnung“, feixte Harro.


    „Statusbericht? Wo beim Abgrund ist Malvyro? Orten“, rief Camiglir nach oben um Hilfe oder Vernichtung im Labor anzufordern.


    „Objekt Malvyro – nicht zu orten.
    Die Puppenspielerin - deaktiviert“, antwortete das Schiff.


    „Officer Malvyro meldet sich zum Dienst „Herr“. Die Puppenspielerin hingegen… tja sagen wir, die Gute ist unpässlich… Migräne“, schnarrte Malvyro zischend und zielte mit seiner Waffe auf Camiglir.
    „Zurück Malvyro, hinter mich“, befahl Dunwin.


    Malvyro gehorchte umgehend sicherte seinen Boss aber dennoch mit der Waffe im Anschlag. Eine Hand formte er zu einem Peitschenkluster um zur Not auch so eingreifen zu können.


    „Fallax Silentium - Welche Ghul-Einheit ist verfügbar?“, knurrte Camiglir nach oben und ließ die Gruppe nicht aus den Augen.


    „Objekt Arakasia Kube 1 – Lebensfunktionen 0,
    Objekt Arakasia Kube 2 – Lebensfunktion – 0,
    Objekt Arakasia Kube 3 – Lebensfunktionen 0…“ fuhr die syntetische Schiffs-Stimme ungerührt fort, als Camiglier den Statusbericht abrief.


    „Nein… nicht sie…“, hauchte der Frostalb.


    „Scheint ganz so, als wären Dir die Möglichkeiten ausgegangen Cami“, sagte Archibald höflich.


    „Gib es einfach auf Camiglir. Du kannst nicht gewinnen, das lassen wir nicht zu. Ich lasse nicht zu, dass Du den Tod über alle Völker bringst. Es reicht, hör sofort auf damit oder Du erlebst uns – MICH von meiner ungemütlichsten Seite“, brüllte Dunwin schneidend.


    Camiglir schaute Dunwin irritiert an. Etwas nervös leckte er sich über die Lippen, schien wirklich zu schwanken ob er aufgeben sollte, seinen Traum der Arakasia beerdigen sollte, als die Fallax Silentium lauter als zuvor eine Botschaft verkündete.


    „Objekt Arakasia – Privates Sicherheitslabor HA Inspektor Camiglir – Lebensfunktion bei 100% - Objekt 043…“, riss die Schiffs-Stimme Camiglir aus seinen Gedanken.


    Ruckartig fuhr er herum und hämmerte mit der Faust auf einen Knopf am Sicherheitspult.
    „Kube PrivSichLab-HA-Camiglir – entriegelt, Warnung… Kube…“, dröhnte es nun aus den Lautsprechern.


    „Cami Du Wahnsinniger! Verriegel das Schott!“, brüllte Dunwin.
    „Angst? Sagt 043 Hallo… Du… menschliches MISTSTÜCK“, grinste Camiglir.


    „Verriegel das Schott um Deiner selbst willen Du Idiot! Es ist in Deinem Raum“, brüllte Jesper.
    „Lächerlicher Versuch. Wir werden sehen, wer hier zuletzt lacht“, grinste Camiglir diabolisch und lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück.


    „Es wird Dich zerfetzten!“, brüllte Dunwin.


    „Du kommst hier nicht raus“, zischte Camiglir wütend, „auch mit diesem Ding an Deiner Seite nicht und Dir Du elendes Wurmvieh, zahle ich den Verrat mit doppelter Münze heim“.


    Es vergingen endlose Sekunden, in denen Camiglir sie nur voller stummen Hass anstarrte.


    „Wenn Du überhaupt noch eine Chance hattet am Leben zu bleiben, hast Du sie gerade verspielt. Ihr alle habt verspielt. Bin ich das Schuld? Oh nein! Meine Schuld ist das nicht“, sagte er im Ton der Überzeugung.

    Zuerst sah die Gruppe nichts, der schwarze Kube hatte sich geöffnet, aber dahinter war nichts weiter als Schwärze. Blitzartig schossen auf einmal zwei graublaue Hände daraus hervor, und pressten mit einer Kraft die diese dünnen Arme nicht hätten haben dürfen die Stahlbarrieren beiseite.


    Mit einer Geschwindigkeit die ein menschliches Auge kaum noch verfolgen konnte, war das Geschöpf mit kurzen Bewegungen im Raum und schaute sie mit nicht zu deutendem Blick an. Gerade vielleicht einmal 170cm hoch und von schmächtiger Statur mustere es die Eindringlinge.


    „Wer sind diese Leute?“, fragte es höflich mit melodische-barritoner Stimme, die ihm trotz seiner Nacktheit etwas Erhabenes und Intellektuelles gab.


    Camiglir drehte sich im Sessel um und schaute auf 043.
    „Das sind…“, wollte der Inspektor gerade zischen, als es schon zu spät war.


    043 sprang vor, ließ seine Krallen ausfahren und seine Muskelstränge schwollen in Kampfbereitschaft gewaltig an. Zähnefletschend stieß es ihm die Krallen bis zum Anschlag in den Hals. Noch immer lächelnd zog er die Stilett-Krallen blitzartig wieder heraus und stieß seinem Gegner die Klingen in den Schlund.


    Mit einem Ruck trieb er die Messerkrallen bis in den Hals seines Opfers und drehte sie mehrfach bis Camiglir sich nicht mehr rührte und durch Schock gelähmt im Sessel zusammensackte.


    Ungerührt schaute es seinem Schöpfer in die Augen, ehe es mit klingender Bewegung die Krallen wieder ausfahren ließ um den finalen Hieb zu setzen.


    In der gleichen Sekunde ein Schlag in den Rücken! Es taumelte einen Schritt nach vorn und wurde gleichzeitig durch einen riesigen Widerhaken daran gehindert. Es starrte auf seine Brust. Zuerst nicht begreifend was es dort sah, wurde es hochgehoben. Ein entsetzlicher Schmerz breitete sich im Körper von 043 aus. Der Arakasia verdrehte sich unter Schmerzen und schaute über die Schulter. Der dunkle Kerl hinter ihm, hatte ihn gepfählt.


    `Töten. Muss es töten. Zweitrangig, Wunde wird heilen! Erstes Opfer lebt noch, muss es töten! Es hat uns gefangen gehalten! Gequält und gefangen gehalten… so lange Zeit!!! Keine Arakasia, alles keine Arakasia – muss sie töten´, schoss es 043 sofort durch den Kopf.


    Ruckartig wandte er sich ab, ließ sich auf der Axt von Damir durchhängen und schlug mit den eigenen Stilett-Krallen nach Camiglir um ihn zu köpfen.


    Die Krallen nur noch millimeterweise vom Hals des Inspektors entfernt, ertönten zwei Schüsse und ein Ratschen.


    Der erste Schuss zerfetzte die Klingen-Hand des Arakasia.
    Der zweite lies den Schädel des Wesens wie eine überreife Melone zerplatzen.
    Zeitgleich wurde es in der Mitte zerrissen.
    Dunwin, Harro und Damir tauschen vielsagende Blicke.


    „Gute Arbeit Jungs“, lobte Dunwin.
    „Du auch Kumpel“, grinste Harro.
    „Dito Boss“, kicherte Damir.
    „Es sah überhaupt nicht gefährlich aus. Wirklich gute Arbeit“, bestätigte sie mit einem Schaudern.


    Archibald schaute mit nicht zu deutendem Blick auf die getötete Kreatur.


    Die Gruppe blieb in einiger Entfernung vor Camiglir stehen und schaute auf ihn herab. Camiglir lag mittlerweile schwer verletzt auf dem Boden, gefällt von seiner eigenen Schöpfung. Seine Schöpfung lag tot und zerfetzt neben ihm.


    Archibald ging langsam auf Camiglir zu.
    Camiglir starrte zuerst zu Dunwin auf, dann zu Arch hilfesuchend hoch.


    „Fehler… Objekt 043… fehlerhaft.
    Werde berichtigen…
    Er war… er war der einzige… friedliche… er… warum?“, fragte Camiglir Archibald und mit jedem Atemzug traten blutige Blasen aus seiner zerstörten Kehle.


    Archibald schaute auf Camiglir herab, ehe er lauthals losbrüllte vor Lachen und ihren Feind mit hasserfülltem Blick festnagelte.


    Was Camiglir dort sah, ließ ihn für Sekunden das Blut in den Adern gefrieren, denn was er dort las war die Antwort. So klar, so deutlich als hätte sie der Mensch auf der Stirn stehen, die er all die Zeit übersehen hatte.


    „043 fehlerhaft?
    Fehler?
    Ich sehe keinen Fehler.
    043 war nicht fehlerhaft, Du Erbsenhirn!
    043 handelte logisch und effektiv.
    Den Feind in Sicherheit wiegen – Taktischer erster Grundsatz.
    043 ist das Prachtexemplar Deiner Arakasia Serie.
    Als Einziger kam er frei und Du liegst hier so gut wie tot auf dem Boden.


    Seine Natur ist zu töten....
    Töte alles außer Arakasia....


    Seit wann bist Du Arakasia... Frostalb?
    Aufgabe erfüllt 043.
    Meinen Glückwunsch Inspektor Camiglir... Sie haben Perfektion geschaffen.
    Ein Wesen frei von Gnade, von Gewissen, von Reue.
    War es nicht dass was Du wolltest Cami?
    Sei vorsichtig mit dem was Du Dir wünscht… es könnte sein, es geht in Erfüllung...“, schnurrte Archibald.


    "Meine Hochachtung vor dem Gefallenen...
    Ehre sei mit Dir 043...."


    Das waren die letzten Worte die Inspektor Camiglir hörte, bevor ein Jian seinen Schädel spaltete.

    Auf in den Kampf


    Dunwin gab unermüdlich die Führung, Malvyro wechselte neben ihm die Gestalt und nahm seine ursprüngliche Form wieder an. In dem Moment kassierte er einen Schuss, der ihn nach hinten und von den Beinen riss und etwas wie Elektrizität über seinen Körper jagte. Der Schütze machte sich sofort auf und davon.


    Dunwins Mund stand offen, wie zu einem Schrei, und seine Augen schienen vor Entsetzen aus den Höhlen zu treten.


    „Malv“, stammelte er.


    Dunwin drehte sich um. Das erste was er sah, war Canan und obwohl er sie nur für den Bruchteil einer Sekunde anblickte, begriff er doch, dass er sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich fassungslos sah. Erstarrt vor ungläubigem Schrecken und geschüttelt vor Angst.


    Dann sah er Malvyro. Es musste wie ein Schlag ins Gesicht für die Feinde sein. Und wüsste es keiner von ihnen besser, dann war das was sie jetzt sahen unmöglich. Er hatte gesehen, wie der Schuss Malvyro getroffen hatte.


    Alrun hatte die Hand vor den Mund geschlagen. Sie selbst hatte miterlebt, was diese schrecklichen Waffen ausrichten konnten, und sie hatte gesehen, wie der Schuss der Waffe über einen Körper gerast war und das Opfer tötete. Sie hatten gesehen dass Malvyro getroffen wurde, sie alle hatten es gesehen!


    Aber er war nicht tot.


    Er hockte sich mit verzerrtem Gesicht und einem wütenden Blick auf, aber er war unverletzt! Er presste seinen Arm gegen seine Brust, die Haut war verbrannt. Für Sekunden gingen Kontraktionen durch seine Haut und sie war wieder rosig-weiß wie die eines Neugeborenen, ohne die winzigste Wunde, ohne die allergeringste Spur der Abgrundnwaffe die ihn vor aller Augen getroffen hatte.


    Dunwin trat langsam auf Malvyro zu und reichte ihm die Hand zum Aufstehen.
    Malvyro nahm sie dankbar entgegen.


    Und dann endlich begriff Dunwin. Fast die ganze Gruppe begriff. Alle Angst fiel von ihnen ab. Plötzlich hatten sie keine Furcht mehr, allein weil sie begriffen, dass das Geheimnis, dem sie gegenüberstanden, zu groß war, als dass man irgendwelche menschlichen Gefühle als Maßstab anlegen konnte.


    Alrun erschauerte.


    Die Tiefe der Erkenntnis die sie überfiel, ließ sie und auch den Rest der Gruppe beinahe ehrfürchtig zu Malvyro aufgucken und erzittern. Es fiel ihr und den anderen schwer jetzt zu sprechen.


    „Das ist es also“, murmelte Merna ergriffen.
    „Neugeboren“, hauchte Sunja.
    „Neugeschaffen“, schnarrte Malvyro freundlich.


    Malvyro richtete sich völlig auf, schaute auf die beiden Mädel herab und schmunzelte sie freundlich an.


    „Was… was bedeutet das?“, stammelte Brijesh. Seine Stimme klang schrill, zitternd, fast hysterisch. „Was das bedeutet! Keiner überlebt den Treffer einer Abgrundwaffe!“, wiederholte er donnernd.
    „Schweig“, sagte Dunwin sanft, „Deine Angst ist verständlich, aber unbegründet. Malvyro ist nicht unser Feind. Er wird uns hier herausbringen, wie er es versprochen hat. Er wird uns einen Weg zeigen, auf dem wir hier lebend herauskommen werden…“


    „Ich werde Euch führen, aber ich brauche einen Führer. Jemand der meine Handlungen lenkt, dann kommen wir hier lebend und als Sieger raus. Es wäre mir eine Ehre wen Sie das sind Mr. Dunwin“, schnarrte er.


    „Vorhin konntest Du das nicht? Hör zu Malvyro…“, setzte Bri an.
    „Du missverstehst ihn – er denkt in albischen Bahnen, dass hat ihn behindert. Es war der Alb Malvyro, der uns nicht beschützen konnte. Seine Furcht war hinderlich. Sein Drang danach uns zu beschützen und bloß dabei nicht zu versagen.


    Der Vollstrecker im Einsatz - der Ghul.


    Das hat er mit der Erklärung vorhin gemeint. Furcht macht schwach. Wenn ihn jemand anderes lenkt und ihm befiehlt – fürchtet er sich nicht mehr. Er gibt die Kontrolle über sich komplett ab, aber er ist immer noch genug Alb um uns dann zu beschützen“, erklärte Archibald und Malvyro nickte.


    „Du gehorchst?“, fragte Dunwin ernst.
    „Bedingungslos“, antwortete Malvyro ergeben.


    Dunwin nahm das Gesicht von Malvyro in die Hände und wischte ihm kurz die tränenden Augen ab. In den Augen des Ghuls war ein seltsamer Ausdruck… Unterwerfung, Erleichterung und Glück.


    „Du musst keine Angst haben, ich bin Dein Boss. Wir packen das. Du bist ein Teil von mir und ich bin nun ein Teil von Dir“, sagte Dunwin.
    „Geschworen“, bestätigte Malvyro.


    „Hör mir gut zu. Diese Narren hier meinen uns aufhalten zu können, aber sie wissen nicht was Du wirklich bist nicht wahr? Sie können lange darauf warten, dass wir uns hier noch aufhalten lassen werden. Diese sogenannte Armee ist nichts. Wir haben sie gewarnt, sie wollten nicht hören. Sie können jetzt versuchen verzweifelt ihr Leben zu retten“, flüsterte Dunwin.


    „Was tut er da?“, fragte Damir ungläubig.


    Er fing einen fast beschwörenden Blick von Dunwin auf und er begriff was Dunwin tat. Er eichte Malvyro auf sich ein. So lange er an ihrer Seite war würden sie am Leben bleiben. Malvyro würde jeden für seinen Boss umbringen.

    Fast da


    „Fast – die Schleuse trennt uns noch vom Hafen der Glücksseligkeit“, spöttelte Chirag.
    „Na dann wollen wir mal“, sagte Damir und betätigte die Schleuse.


    Die Tür ging zischend auf und die Gruppe ging mit den Waffen im Anschlag weiter. Ein Schwall feuchtkalter Luft schlug ihnen entgegen. Hinter ihnen donnerte die Tür zu und sie passierten die Schleuse ohne Probleme. Die zweite Tür öffnete sich zischend und sie standen in einem weißen Raum dessen Boden von Nebelschwaben umwabbert wurde. Halb versenkte Tanks flankierten diesen Raum und bildeten eine Passage die zur nächsten Tür am anderen Ende des Raumes führte.


    „Was sind das für Tanks? Weiß dass einer?“, fragte Merna nervös.
    „Kältekammern wie im Rondel, die Kälte und diese komische Form der Versenkung, alles spricht dafür“, antwortete Archibald.


    „Dann lasst uns machen, dass wir hier schleunigst rauskommen. Was so verwahrt wird, muss noch gefährlicher sein als alles dagewesene. Was friert man sonst zur Sicherung ein?“, fragte Luitgard in die Runde und ihr Einwand wurde von allen geteilt wie sie an den Gesichtern ihrer Kameraden erkennen konnte.


    „Luitgard hat Recht, lauft Leute – ehe Camiglir meint es wäre Zeit für Frühling und Tauwetter!“, rief Canan und rannte los. Dunwin und die Gruppe folgte ihr sofort auf dem Fuße.


    Die nächste Tür passierten sie ebenfalls ohne Probleme und standen nun in einem weißen Trakt, der einem Krankenhaus ähnelte.


    „Sind wir da?“, fragte Harro leise.
    „Ja. Laut Plan ist dass alles hier geweißt, aber der Umriss ist rein als Camiglirs Bereich markiert“, beantwortete Alrun die Frage, immer noch den Helm tragend.
    „Dann los!“, sagte Jesper.


    Gemeinsam rannte die Gruppe zur gegenüberliegenden Tür. Es war mehr ein Schlittern aufgrund des eisigen Bodens, dann hatten sie die Tür erreicht. Damir öffnete auch diese und sie traten in einen Gang in dem ebenfalls alles in Weiß gehalten war.


    „Sieht wirklich aus wie eine Krankenstation, oder ein Gesundheitszentrum“, sagte Archibald.
    „Wohl eher ein Ungesundheits-Zentrum“, sagte Damir.


    „Ein Krankheitszentrum!“, warf Harro ein.
    „Ein Horrorkabinett“, sagte Luitgard leise.


    „Wir müssen weiter. Auf dem Gang ist es zu gefährlich. Wählen Sie eine Tür Mr. Dunwin“, bat Malvyro.
    „Du bist gut Malvyro. Welche Tür soll ich denn wählen? Hinter irgendeiner lauert die Niete oder?“, fragte Dunwin und schaute Malvyro an.


    „Ich weiß nicht ob Camiglir über eine Niete verfügt“, erklärte Blondie und zuckte die Schultern, was alle loskichern ließ.


    „Malvyro glaub uns, er hat zig Nieten“, grinste Damir.
    „Ja eben“, grinste Chirag.


    „Ihr verarscht mich“, schnarrte Malvyro.
    „Also gibt es Töne? Nie wurde ich schlimmer gekränkt! Wir und Dich verarschen? Warte nur ab bis Du den Nieten gegenüberstehst, dann wirst Du Dich an meine Worte erinnern!“, sagte Chirag aus dem Herzen der Überzeugung.


    „Ich wollte Dich nicht anzweifeln“, schnarrte Malvyro was die anderen erneut aufkichern ließ.
    „Hört jetzt auf mit dem Unfug“, musste sich Dunwin das Lachen verkneifen, „erste Tür links. Los Leute. Archibald ich sehe da gleich ein Eingabefeld und eine Aufgabe für Dich“, sagte er und ging vor.


    „Schon an Deiner Seite Dunwin“, sagte Arch freundlich und machte sich an die Arbeit das Schloss zu knacken. Nach einem kurzen Moment zeigte das Gerät grünes Licht und sie konnten die Tür öffnen und eintreten.


    Sie standen in einem weiteren verzweigten Gang. Dieser war etwas farblich gehalten, absolute Stille herrschte hier vor und wusste man es nicht besser, konnte man davon ausgehen, dass es überhaupt kein Alarm auf dem Schiff gegeben hatte.


    Alles war penibel sauber und gewischt. Links und rechts neben sich sahen sie zwei weitere geschlossene Türen. Und vor ihnen waren zwei offene Türen einzusehen. Wie um den ganzen noch einen Hauch von Unwirklichkeit zu geben, stand oben in der linken Ecke des Raumes auf dem Boden ein Warnschild – es war frisch gewischt worden.


    „Schatz guck bitte genau hin, Du weißt wie schnell Du ausrutscht und auf dem Arsch landest“, warnte Archibald Jesper mit einem Zwinkern.
    „Du bist so gut zu mir“, sagte Jesper, musste aber insgeheim Archibald Recht geben. Er war der ungekrönte König darin, sich auf die Fresse zu legen.


    „Wo lang jetzt?“, fragte Merna nach.
    „Da ist ein Terminal. Lasst uns mal auslesen was es weiß. Dann entscheiden wir“, sagte Archibald und ging auf das Gerät zu.


    Die Gruppe versammelte sich um das Gerät und starrte es an. Arch suchte nach einem Zugangsslot, fand aber keinen. Einzig und allein ein Feld mit einer markierten Hand und einer Kamera war davor.


    „Hand- sowie Iris-Kontrolle. Möge der Sicherheits-Chef seines Amtes walten“, sagte Archibald und schaute Malvyro abwartend an.


    Malvyro nickte und schaute sich das Gerät genau an. Er legte seine Hand auf das vorgegebene Feld und starrte in die Kamera.


    „Handabdruck unbekannt - nicht identifiziert – weiterer Zugriff verweigert“, teilte die synthetische Frauenstimme des Schiffes mit.


    „Bis hier reicht meine Autorisation scheinbar nicht“, entschuldigte sich Malvyro.
    „Deine nicht Malvyro, aber vermutlich die der wie nanntest Du sie? Prätorianer. Versuch das“, schlug Damir vor.


    "Sekunde", bat Archibald und verschwand genau auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren. Es dauerte eine ganze Weile, dann kehrte Arch zurück. Er legte eine abgeschlagene Hand auf das Gerät und hielt ein Auge in die Kamera, während Luitgard ihn mulmig musterte.


    „Handabdruck – positiv.
    Iris-Scan – positiv.
    Willkommen Truppführer 34-12-1 - Elicio Wherydari.
    Bitte nutzen Sie Zugang 22.
    Zugang 23 ist für die Dauer von noch 78 Stunden gesperrt“, teilte die Stimme mit.


    „Wie nutzt man dieses System?“, fragte Archibald leise.
    „Ich weiß es nicht“, gestand Malvyro.


    „Eingabe nicht verstanden – bitte wiederholen“, sagte die Computerstimme, was Archibald breit grinsen ließ.


    „Also über die Stimme.... Frage – was befindet sich in der ersten Sektion des weißen Bereichs, zweite Frage wo befindet sich zur Zeit Inspektor Camiglir?“, hakte Archibald nach.


    "Antwort zu Erstens: Eliteprojekt Arakasia – 20 Objekte in Stasis.
    Antwort zu Zweitens: Ihr Standort – Sektion 2, weißer Bereich, vor Gate 22 und 23, direkt vor meinem Terminal Nr. AEI-4565646-3545454-009. Wünschen Sie weitere Details?“, antwortete die Stimme, während Archibald donnernd loslachte.


    „Ja Elicio Wherydari – Du stehst vor dem Terminal“, grinste Dunwin Archibald an und legte ihm einen Arm um die Schulter.


    „Das ich da nicht drauf gekommen bin! Nicht so vertraut mit Elicio Wherydari hier“, mahnte Archibald grinsend, ehe er an den Bordcomputer gewandt fortfuhr, „Projekt Arakasisa – in Stasis zur vollständigen Vernichtung freigegeben“.


    „Verstanden. Elite-Projekt Arakasisa, 20 Objekte in Stasis, Sektion 1, der Vernichtung zuführen. Bitte bestätigen Sie mit Codewort“, vernahmen die Gruppe erneut Computerstimme.
    „Bestätigt“, antwortete Archibald und schaute Malvyro abwartend an.


    „Sein erstes Schiff hieß Tamiet, seine Kinder heißen Jasheer und Tirritta, seine Frau Ilinarin“, schlug Malvyro als mögliche Passwörter vor.


    „Bestätigt. Passwort Jasheer!“, wandte sich Archibald an das Schiff.
    „Passwort-Eingabe korrekt. Vernichtung von Sektion 1 eingeleitet.


    Vernichtung abgeschlossen in 01:00… 00:59… 00:58…", zählte die synthetische Stimme den Countdown herunter.


    Die Gruppe wartete ab und sah auf dem Bildschirm was sie zuvor bei DAIBOS-1ER hautnah miterlebt hatten. Ein gesamter Bereich wurde versiegelt, abgeschottet und dann komplett ausgeklinkt. Unter Sektion 1 wurden die tragenden Stahlplatten die wie Schotts funktionierten zur Seite gefahren und die Sektion wurde ausgeklinkt. Der gesamte Bereich stürzte nach Lösung der letzten Verankerung in die Tiefe des Verbrennungsschachtes. Dann schlossen sich die Schotts wieder und die Gruppe blickte in einen leeren, weißen Flur wo vorher die Sektion 1 gewesen war.


    „Vernichtung Sektion 1, Eliteprojekt Arakasia abgeschlossen!“, teilte das Schiff sachlich mit.


    „Öffne Sektion 2, Gate 23 – unverzüglich!“, befahl Archibald.
    „Gate 23 öffnet!“, antwortete die Stimme und sie vernahmen ein hydraulisches Zischen.


    Dunwin musterte die Gruppe und schaute jeden einzelnen von ihnen an. Alle waren ihm ans Herz gewachsen. Jeder auf seine besondere Art und Weise. Er nahm die Hand von Canan und schaute in Richtung Gate 23.


    „Jetzt heißt es vermutlich alles oder nichts. Macht Euch bereit die entscheidende Schlacht zu schlagen. Mir nach!“, sagte Dunwin mit zuversichtlichem Gesichtsausdruck, zog seine Waffen und übernahm die Führung.
    Der Rest der Gruppe folgte ihm und seinem Beispiel.

    Aufzug


    Der Rest der Truppe erreichte unter Führung von Dunwin ihren Posten.


    „Alrun… Malvyro?“, fragte er leise.
    Alrun verließ ihr Versteck und trat zu den anderen, während Malvyro sich von der Decke herabließ und wieder albische Gestalt annahm.


    „Was habt Ihr entdeckt?“, fragte Canan nach.
    „Knusperleichen und einen Aufzug“, sagte Malvyro und deutete auf die Aufzugkabine, während sich Brijesh geräuschvoll auf den Boden übergab.


    „Das ist so was von ekelhaft, kannst Du nicht die Hand vor den Mund halten?“, motzte Chirag.
    „Super – er hat Bäuerchen gemacht…“, knurrte Archibald.


    „Ich glaube die Idee ist beim Kotzen äußerst schlecht, weil damit würde der Brei nach allen Seiten spritzen und dass muss ich nicht haben“, sagte Damir.
    „Das heißt Knusperleichen und den Aufzug Malvyro“, korrigierte Harro freundlich und kratzte sich ausgiebig, worauf Brijesh sich erneut übergeben musste.


    „Könnt Ihr mal aufhören?“, schnauzte Brijesh und wischte sich den Mund ab.
    „Was ist mit dem Kerl? Ist er infiziert? Hat er die Seuche? Hat er einen nervösen Magen? Oder generelle Verdauungsprobleme?“, fragte Malvyro irritiert.


    „Das wird dann eine lustige Aufzugfahrt. Ich hoffe Du hast keine Blähungen!“, warf Damir mahnend ein.
    „Dabei hab ich gerade erst eine Erbsensuppe gegessen!“, antwortete Brijesh grummelig.


    „Das kann ja heiter werden, mit Hupkonzert nach oben!“, fauchte Archibald.
    „Wir müssen nach unten!“, stellte Malvyro richtig, während die Mädels bereits Tränen lachten.


    „Nach Verlassen des Aufzuges hören wir dann folgendes… Warnung eine Einheit Blaubeeren hat sich in Sektor 1 geschlichen, Warnung…“, imitierte Luitgard die Cyberstimme des Schiffes, worauf alle donnernd loslachen mussten.
    „Wir können uns nicht ewig hier unterhalten. Wir sollten weiter Leute“, warf Merna ein worauf Chirag und Jesper zustimmend nickten. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den Aufzug.


    „Was meint Ihr? Riskieren wir es?“, fragte sie in die Runde.
    „Wir müssen“, antwortete Malvyro und stemmte die Aufzugtüren ganz auf, so dass die große Kabine sichtbar wurde.


    Dunwin und Canan gingen an ihm vorbei und betraten als erstes die Kabine. Canan schaute auf die Anzeigentafel im Aufzug, konnte daraus aber nicht schlau werden. Der Rest der Gruppe folgte den Beiden. Canan war nervös. Die Kabine war für einen Kampf viel zu klein und sollte sie jemand angreifen, hing ihr aller Leben zwar nicht am seidenen aber am stählernen Faden.


    Nirgendwo waren sie ausgelieferter als jetzt – so empfand sie jedenfalls. Die winzigen, mit fremdartigen Symbolen beschrifteten Knöpfe leuchteten in seltsamen Reihenfolgen und Mustern und erloschen dann.


    „Das ist eine Sicherheitsabfrage – Du kennst den Code oder muss ich ihn knacken?“, fragte Arch.
    „Ich weiß – Danke“, sagte Malvyro und gab den Code ein.


    Der Aufzug schloss sich und Canan drückte Dunwins Hand, wie sich der Rest der Gruppe aneinander drängte. Jeder spürte das selbe Unbehagen wie sie selbst, schoss es Canan durch den Kopf.


    Die Kabine setzte sich mit demselben Summen in Bewegung, mit dem sie angekommen war. Die Zahlen ratterten in unglaublicher Geschwindigkeit runter. Das pochende Vibrieren wurde lauter je tiefer sie mit dem Aufzug nach unten fuhren. Alrun hatte das Gefühl, dass ihr ganzer Körper im Rhythmus dieses hämmernden Taktes vibrierte. Die Kabine erzitterte, glitt aber weiter summend in die Tiefe.


    Schließlich leuchtete das untere Kästchen auf, die Kabine hielt an und die Tür begann sich zu öffnen.


    „Irren-Etage… Neurosen, Psychosen, Paranoide Schizophrenie, Wahnvorstellungen und Damenunterwäsche – bitte hier aussteigen“, lachte Archibald und ging langsam vor mit der Waffe im Anschlag.


    Er sicherte den ersten Gangabschnitt und wartete auf die anderen.

    Alle hoben fast zeitgleich die Waffen und legten die Finger auf die Abzüge und schlossen zu Archibald auf. Jetzt in so einer Enge hieß es, erst schießen, dann fragen. Aber der Gang hinter der Tür war leer. Helles Licht schlug ihnen entgegen und der Boden unter ihren Füßen zitterte.


    Einen Moment blieben sie stehen, dann marschierten sie los in den Gang hinein unter der Führung von Malvyro, gefolgt von Dunwin und Canan. Sie kamen an einer ganzen Reihe von geschlossenen Türen vorbei, die sie allesamt unbeachtet ließen und gelangten schließlich in einen runden Raum, der mit technischen Geräten vollgestopft war. Die meisten Geräte waren sogar eingeschaltet und tauchten den Raum in blinkende Lichter.


    Arch hörte Stimmen und legte warnend den Zeigefinger über die Lippen. Die anderen bestätigten mit einem Nicken, dass sie verstanden hatten.


    Lautlos huschten sie durch den Raum und pressten sich links und rechts an die Tür. Die Schritte und Stimmen kamen näher. Dunwin identifizierte die Stimmen zweier Männer, die sich unterhielten. Offenbar fühlten sie sich sehr sicher. Dunwin konnte nicht verstehen worüber sie sprachen, denn sie redeten in einer ihm unverständlichen Sprache. Aber er hörte Lachen. Und dann Schritte die sich der Tür näherten. Mit angehaltenem Atem pressten sie sich noch enger an die Wand.


    Die Schritte kamen näher, dann wurde die Tür geöffnet und zwei Männer traten hinter einander ein. Sie bemerkten die Gruppe sofort. Die Truppe hatte im toten Winkel gestanden und keinerlei Geräusch verursacht, aber die Fremden schienen über die empfindlichen Instinkte von Raubtieren zu verfügen – und deren blitzartige Reflexe.


    Canan fand kaum noch Zeit zu begreifen, dass sie die Gefährlichkeit der Gegner unterschätzt hatte, da wirbelten die beiden Männer in einer fast synchronen Bewegung herum und stürzten sich auf Dunwin. Es gelang Dunwin seine Waffe abzufeuern, aber der Schuss ging in die Decke und richtete nicht mehr Schaden an, als ein paar Kabel zu durchtrennen und einen Funkenschauer hervorzurufen.


    Canan fand nicht mal Zeit ihre Waffe hochzureißen. Eine Hand packte ihren Arm und drückte ihn mit stählernem Griff herunter, die andere packte ihr Gesicht und presste ihren Kopf mit furchtbarer Gewalt gegen die Wand.


    Canan bäumte sich auf, versuchte dem Angreifer das Knie in den Unterleib zu rammen, aber er schien die Bewegung vorausgeahnt zu haben, denn er drehte sich blitzschnell zur Seite, so dass sie nur seinen Oberschenkel traf.


    Sie hatte mit aller Kraft zugestoßen. Ihr Gegner jedoch zuckte nicht einmal zusammen. Dafür presste er sie mit seinem ganzen Körper gegen die Wand. Ihr Kopf wurde mit grausamer Kraft gegen den Stahl gedrückt. Canan hatte das Gefühl, als ob ihr Schädel platzte. Und sie bekam kaum noch Luft. Sein Handballen schob ihr Kinn zurück, und seine ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger versuchten ihre Nasenflügel zusammenzudrücken.


    Canan schlug verzweifelt um sich, während der zweite Kerl seinen Kollegen und dessen Opfer von der Gruppe abschirmte.


    Ihre Kräfte ließen allmählich nach. Seine Finger hatten ihr Ziel erreicht, so dass sie nun wirklich keine Luft mehr bekam, und der Schmerz in ihrem Hinterkopf trieb sie fast in den Wahnsinn. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken den gleichen Trick noch einmal zu versuchen, aber der Kerl war einfach zu stark.


    Er war ein Krieger, er würde nicht auf solche Mätzchen hereinfallen. Ihre Sinne begannen zu schwinden. Das Gesicht vor ihr verschwamm, und plötzlich war ein dumpfes, dröhnendes Rauschen in ihren Ohren – während Dunwin auf Malvyro einbrüllte etwas zu unternehmen.


    Canans Knie wurden weich, sie konnte spüren, wie sie die Kraft verließ. Ihre freie Hand sank kraftlos an seiner Brust herunter, berührte seinen Gürtel… und die Waffe, die in seinem Halfter steckte. Canans Finger handelten vollkommen mechanisch. Sie tastete über den Kalten Stahl der Waffe, fand den Abzug und drückte ab.


    Ein peitschender Laut erklang, gefolgt von einem hässlichen Zischen und dem Gestank von brennendem Leder und verschmortem Fleisch.


    Die Hand die sie zu ersticken drohte war von ihrem Gesicht verschwunden und der Kerl wand sich vor ihr auf dem Boden mit schrillem Schmerzensgeheul. In seinem rechten Bein klaffte ein riesiges Brandloch, während lose Fleischfetzen von seinem Rücken hingen.


    Der Peitschenknall – Malvyro musste ihm einen Hieb quer übers Kreuz verpasst haben.


    Canan war mit einem Satz bei dem am Boden liegenden Feind und verpasste ihm einen knallharten Tritt ins Gesicht. Der Kerl schrie wie von Sinnen als er auf den Rücken aufschlug. Im Fallen packte der Bursche in ihren Schwanz und versuchte, sie zu Boden zu reißen.


    Canan gab dem Druck nach, rollte sich rückwärts über die Schulter ab und versetzte ihm einen Handkantenschlag gegen den Hals und zertrümmerte ihm den Kehlkopf.


    Canan sprang hastig wieder auf und fuhr herum. Auch Dunwin rang noch in dem viel zu engen Raum mit seinem Gegner.


    Er schien den gefährlicheren der beiden abbekommen zu haben, denn Dunwin steckte ziemlich in Schwierigkeiten. Er hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und versuchte sein Gesicht und seinen Körper vor den schlimmsten Hieben zu schützen. Canan sprang den Burschen von hinten an. Sie wollte ihn niederreißen, aber wieder war es, als hätte er ihre Bewegung vorausgeahnt, er machte blitzschnell einen halben Schritt zur Seite, so dass Canan ins Stolpern geriet. Aber ihr Angriff hatte Dunwin die nötige Luft verschafft, die er brauchte.


    Sein Gesicht hatte einige Cuts kassiert, aber das hinderte ihn nicht daran, den Mann nun seinerseits zu attackieren. Doch selbst zu zweit hätten sie es beinahe nicht geschafft. In einer perfekt aufeinander abgestimmten Folge von Bewegungen deckten sie den Feind mit einem Hagel von Hieben und Tritten ein, die jeden anderen Gegner binnen Sekunden zu Boden geschleudert hätten.


    Aber der Bursche schien plötzlich acht Arme und Beine zu haben. Es gelang ihnen kaum, einen Treffer anzubringen. Dafür wurden Dunwin und sie umso öfter von seinen blitzartigen Gegenattacken getroffen.
    Und seine Hiebe waren so hart, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er einen von ihnen ernsthaft verwundete oder tötete hätte.


    „Scheiße was sind das?“, motzte Damir Holzi an und versuchte eine Möglichkeit zu finden den Burschen abzuknallen ohne Canan und Dunwin zu gefährden.
    „Ich weiß es doch nicht! MALVYRO!“, gab Holzi die Frage schnauzend weiter.


    „Camiglirs Prätorianer“, antwortete Malvyro und versuchte ein Loch in der Deckung des Typen zu entdecken um Canan und Dunwin wenigstens die Luft zu verschaffen zurück zur Gruppe zu kommen.


    „Was? Schlag einfach zu!“, brüllte Damir.
    „Ich könnte unsere Leute treffen“, zischte Malvyro.


    „Versuchs los – Du triffst Canan und Dunwin nicht, hau rein… im wahrsten Sinne des Wortes!“, sagte Damir.
    „Du guckst für mich, ich schlage zu. Auf Dein Geheiß, los“, antwortete Malvyro und nickte Damir zu.


    „In Ordnung Großer… in Ordnung…“, sagte Damir und starrte rüber zu dem Kampf, um sich genau wie möglich dass Muster von dem Feind einzuprägen, während Blondie einen Peitschenstrang bereit hielt.


    Dunwin brachte einen Schlag an, der den Soldaten ein Stück zurücktaumeln ließ. Einen Atemzug lang war er benommen.


    „JETZT!!!“, brüllte Damir und Malvyro schlug sofort zu.


    Auch Canan nutzte die Chance und verpasste dem Typen einen harten Tritt vor die Brust. Zeitgleich durchbrach der Kluster von der Seite die Deckung des Feindes und zertrümmerte ihm mit einem Hieb krachend die Rippen.


    Dunwin war sofort bei dem Burschen, setzte nach und versetzte ihm einen Handkantenschlag mitten ins Gesicht der ihm das Nasenbein zertrümmerte. Die brutalen Gegenattacken zeigten Wirkung. Das hochmütige Lächeln war einem Ausdruck von Schrecken gewichen.


    Dunwin machte einen Ausfallschritt an ihm vorbei und versuchte, mit einem Ellenbogenstoß seinen Körper zu treffen. Aber obwohl der Kerl dermaßen angeschlagen war, gelang es ihm nicht nur, dem Stoß auszuweichen, sondern auch gleichzeitig den Ellenbogen abzufangen und Dunwin mit der gleichen Bewegung aus dem Gleichgewicht zu hebeln.


    Er stürzte und riss das Bein dabei hoch. Unter dem Tritt fiel der Kerl ebenfalls auf die Knie und krümmte sich. Dunwin rollte ab und sprang wieder auf die Beine. Der Feind brauchte nur einige Sekunden länger und stöhnte dabei auf.


    Er starrte Dunwin mit einer Mischung aus Angst und Panik an, dann setzte er mit einem Sprung über Dunwin hinweg und raste zur Tür. Damir warf sich zur Seite und feuerte. Die Armbrustsalve verfehlte Dunwin und Canan um Handbreite, so genau schoss Damir und traf den Kerl mitten ins Kreuz.


    Mit einem erstickten Aufschrei stürzte er zu Boden. Canan war sofort wieder bei ihm und beugte sich kampfbereit über den Kerl, aber Damir hatte perfekt getroffen – der Mann war tot.


    Canan trat zur Seite und machte Dunwin Platz. Ihr Mann blickte den Toten mit einer Mischung aus brodelndem Hass und tiefster Verstörtheit an.


    „Dieser eine Krieger hätte uns töten können. Stell Dir vor, eine ganze Armee von denen steht Dir gegenüber. Also die Vorstellung erfüllt mich mit Entsetzen“, sagte Canan.
    „Ich denke genau das ist es was Camiglir schaffen will. Krieger gegen die jeder Kampf von vornherein aussichtslos ist“, sagte Harro.


    „Verteilt Euch, es muss jeder kämpfen können. Das darf nicht noch einmal vorkommen. Leute bedenkt mal dass wären statt Canan und ich Sunja und Luitgard gewesen!“, mahnte Dunwin seine Truppe.


    Sie opferten zwei oder drei Minuten um wieder etwas zu Kräften zu kommen dann setzten sie ihren Marsch fort. Keiner gab sich der Illusion hin, dass nun alle Gegner überwunden waren.Der kurze Kampf hatte Canan deutlich vor Augen geführt, wie lächerlich gering ihre Chancen eigentlich waren. Umso vorsichtiger bewegen sie sich weiter. Der Gang endete vor einer Tür.


    „Moment“, rief Alrun, setzte den eroberten Helm auf und schaute auf die Karte.


    Das virtuelle Gesichtsfeld passte sich immer der aktuellen Umgebung an, so dass man über seinen eigenen Standort informiert war.


    „Und was siehst Du Puck?“, fragte Luitgard liebevoll nach und legte ihr einen Arm um die Hüfte.
    „Dahinter ist ein kleiner Raum und dann wieder ein Tor – also vermutlich eine Schleuse. Nach der zweiten Tür ist nichts mehr eingezeichnet. Gem mit PBP01“, las Alrun die Karte vor und schaute Malvyro an.


    „Hinter der Schleuse – Privat-Bereich-Camiglir 01. Sein Kernlabor. Sein Komplex. Wir sind da“, sagte Malvyro.

    Berge von Schmerzen


    Es war, als bewegten sie sich in einem gewaltigen Backofen. Vor ihnen lag eine halbrunde Tür aus Metall, die sich in der Hitze verbogen hatte. Dahinter, vom düsteren Rot der Notbeleuchtung in eine moderne Version des Abgrundes verwandelt, erstreckte sich der riesige Kontrollraum.


    Er war völlig zerstört. Die Monitore, die die Wände in schier endlosen Reihen bedeckten, waren geborsten und wirkten wie schwarze Augenhöhlen, aus denen Nervenenden aus ausgeglühtem Draht ragten.


    Die meisten Computerpulte mussten explodiert oder ausgebrannt sein. Alles was aus dem glatten harten Kunststoff bestand, war in der Hitze zerlaufen wie Wachs. Die abgehängte Decke war verschwunden, so dass man das Gewirr der Kabel und Versorgungsleitungen sehen konnte, dass sich dahinter verbarg.


    Es gab ungefähr ein Dutzend Tote, die auf dem Boden oder auch über den Pulten zusammengebrochen waren. Ihre verzerrten Gesichter bewiesen Alrun, dass sie nicht leicht gestorben waren. Die Luft hier drinnen musste gekocht haben, dachte sie schaudernd.


    Alrun bewegte sich unschlüssig durch den riesigen Raum. Sie wagte es nicht, irgendetwas zu berühren – nur Malvyro nahm eine Waffe an sich. Seltsam knöchern-gläsern sah sie aus. Vorsichtig näherten sie sich der Tür am anderen Ende des Raumes.


    Wenn der Grundriss dieses Schiffes der kleinen Karte im Helm glich, dann musste sich dahinter unmittelbar der Gang befinden, der in das weiße Labor führte. Aber Alrun glaubte nicht, dass es so einfach war. Dennoch hatten sie sich erstaunlich gut zu Recht gefunden, auch wenn sie in einigen Räumen Dinge sah, deren Zweck sie nicht einmal zu erraten im Stande war.


    Langsam begriff Alrun was hier wohl geschehen war. Manche Teile des Ganges waren noch immer so heiß, dass es unmöglich für sie war, diese zu betreten. Malvyro wartete geduldig an ihrer Seite ab. Sobald die Hitze sich etwas gelegt hatte, gingen sie weiter.


    „Was dies wohl angerichtet hat? Nun wobei wir wissen nicht mal ob es überhaupt eine Waffe war. Vielleicht war es auch ein Unfall? Es könnte auch ein grauenvoller Unfall gewesen sein, als ein Wesen hier hineinstürmte. Aber das Wesen müsste dann auch hier sein. Ich sehe nichts. Möglich auch, dass eine ihrer eigenen Waffen hoch ging und sie in den Tod riss.Was meinst Du?“, redete Alrun entgegen ihrer Art wie ein Wasserfall drauf los.


    Einfach um etwas zu sagen, eine Stimme zu hören, eine Antwort zu bekommen um so ihre angespannten Nerven zu beruhigen.


    Malvyro legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter um sie zu beruhigen.
    „Ruhig, keine Angst oder Panik. Komm weiter“, sagte er leise und zog sie sanft mit.


    Sie fuhr sich nervös über das Gesicht und schaute die verkohlten Leichen an. Am Boden neben Alrun lag etwas, dass einmal ein Alb gewesen war. Der Soldat war so stark verbrannt, dass Alrun nicht zu sagen vermochte, ob er männlich oder weiblich gewesen war. Seine Augen waren klaffende Höhlen, seine Lippen schwarz verkohlt, und die Zähne leuchteten weiß durch das verbrannte Fleisch. Irgendeine Flüssigkeit tropfte von dem geschmolzenen Tisch auf sein Gesicht und verdampfte zischend von der Hitze, die noch immer in dem Leichnam schwelte.


    „Wir finden heraus was passiert ist“, antwortete Alrun ebenso leise.


    Tiefer und tiefer dangen sie in den Komplex ein. Der Anblick der toten Feinde erfüllte Alrun schon lange nicht mehr mit Befriedigung. Sie fand nichts weiter zur Todesursache der Leute heraus, aber dafür wurde Alrun mit jedem Schritt den sie tat klarer, wie falsch das Gefühl von Sicherheit in den Ruheräumen gewesen war und was Malvyro für sie geleistet hatte.


    Sie waren ins Hauptquartier des Abgrunds eingedrungen und wollten bis in den Thronsaal.


    Hatten sie sich wirklich eingebildet, Camiglirs Armee der Finsternis besiegt zu haben? Lächerlich. Malvyro betätigte eine seltsame Tafel an der Wand und gab einige Codes ein. Ein schleifendes Geräusch war zu hören, dass langsam lauter wurde und in der Wand gegenüber von Alrun erschien ein schmaler Spalt, der sich verbreiterte… ein versteckter Aufzug.


    Alrun war verblüfft, noch nie hatte sie einen derart gut getarnten Aufzug gesehen. Und dieser Aufzug hier funktionierte noch, trotz des Chaos um ihn herum.


    „Zurück!“, fauchte Malvyro plötzlich und Alrun sprang sofort zur Seite.


    Ein hochgewachsener, sehr breitschultriger Frostalb trat hervor. Er hatte eine Glatze und ein entstelltes Narbengesicht. Auch er trug die verhasste Rüstung. Den Helm hatte er unter den Arm geklemmt, in der anderen Hand schwenkte er eine knöchern-gläserne Waffe.


    Alrun wartete bis er aus dem Lift gekommen war, dann trat sie aus ihrer Deckung hervor, richtete die Waffe auf ihn und sagte freundlich „Hallo“.


    Der Fremde erstarrte. Ein Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit erschien in seinen Augen und noch etwas – Entsetzen.


    „Tu es besser nicht!“, schnarrte Malvyro neben Alrun.


    Aber er tat es doch. Plötzlich bewegte er sich so schnell, dass Alrun seinen Bewegungen nicht mehr folgen konnte. In einem einzigen, gleitenden Satz ließ er seinen Helm fallen, kippte zur Seite und riss gleichzeitig seine Waffe in die Höhe.


    Malvyro hingegen konnte der Bewegung folgen. Aus Malvyro Hand schoss ein Tentakel, dieser wickelte sich um Alruns Knöchel und riss sie in einem Sekundenbruchteil brutal zu Boden. Zeitgleich schoss auch er, ein knisterndes Netz der Elektrizität raste über den Körper des Kerls hinweg und er war tot bevor auf dem Boden aufschlug.


    „Das war knapp. Danke“, sagte Alrun während Malvyro sie wieder auf die Füße stellte, „der Bursche war verdammt schnell“.
    „Ja“, murmelte Malvyro und reichte ihr die Waffe von dem Typen.
    „Du hättest ihn nicht erschießen sollen“, sagte Alrun und nahm es entgegen.


    Malvyro starrte sie an, als zweifelte er an ihrem Verstand.


    „WIE das denn mit einer Alt-Welt-Waffe? Hätte ich abwarten sollen bis der Dich erschießt?“, schnarrte er.
    „Das… das sind Alte-Welten-Waffen?“, fragte Alrun mit ungläubiger Stimme nach.


    Malvyro antwortete nicht, sondern nickte nur knapp und schaute ihr in die Augen.


    „Ich hätte dem Burschen nur ein paar Fragen stellen wollen“, fügte sie an und machte eine entschuldigende Geste, da er nur geschossen hatte um ihr das Leben zu retten.


    „Welche?“, grinste er entwaffnend.
    „Wo wir lang mü…“, wollte sie ansetzen als Malvyro schon auf den Aufzug zeigte.
    „Stimmt vergiss es“, kicherte Alrun.
    „Funk. Hol die anderen her“, schnarrte Malvyro freundlich und Alrun kam der Bitte umgehend nach.


    Alrun vermutete, dass sie etwa ein Viertel des Komplexes erkundet hatten, als sie zum ersten Mal das Geräusch hörte. Eigentlich spürte sie das Geräusch ehr, ein ganz sachtes, aber ungeheuer mächtiges Vibrieren und Zittern, dass den Boden, die Wände und sogar die Luft schwingen ließ.


    Alrun starrte Malvyro an. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Zittern die Lebensäußerung von etwas Gigantischem sein musste, etwas dass unsichtbar und tödlich irgendwo lauerte und sie verschlingen würde, sobald sie auch nur ein verräterisches Geräusch machte.


    Unendlich vorsichtig ging sie durch die Halle. Das Vibrieren und Pochen wurde stärker und nach einer Weile gesellte sich auch ein wirklich hörbares Geräusch hinzu. Ein dumpfes Dröhnen, das Alrun an das Schlagen eines riesigen Herzens erinnerte.


    Ihre Angst explodierte förmlich… und Malvyro neben ihr reagierte darauf.


    „Ob die Truppen nur mit uns gespielt haben? Ob sie sich irgendwo sammeln? Malvyro überlege gut…“, versuchte sie die Angst in Worte zu packen.


    Urplötzlich umarmte Malvyro sie ganz feste und drückte sie beruhigend. Zuerst wirklich total perplex und geradezu baff von der unerwarteten Handlung war Alrun wie erstarrt. Aber sie fasste sich schnell wieder und klopfte ihm auf den Rücken.


    „Gegen Deine Theorie spricht eine Tatsache, die Typen sind tot und wir leben. Alrun… Du lebst, Du bist Soldat, Du hast mich an Deiner Seite. Du bist klug und gerissen. Und Du bist taff. Ich vertraue Dir und Deinem Urteil. Jeder der Gruppe vertraut Dir – hörst Du?“, sprach er beruhigend, hob eine Hand und machte auf ihrer Stirn ein Zeichen. Von einem Moment auf den anderen erlosch ihre Angst, sie war nur noch dass, worauf sie die Jahre im Dienst trainiert worden war: eine Kriegerin.


    Sie starrte Malvyro mit neuer Entschlossenheit in die Augen.
    Er starrte genauso zurück.


    „In die nächste Deckung. Wir warten versteckt auf die Gruppe – los Malvyro“, übernahm sie das Kommando.


    Alrun löste sich von ihm, huschte in eine Nische und verschmolz mit dem Schatten. Malvyro schmunzelte ihr zu, dröselte sich auf und hing sich für Unwissende unsichtbar zwischen die losen Kabelstränge die von der Decke herabbaumelten.

    Tarnung ist alles


    „Wir sollten los Malvyro“, sagte Alrun.


    Beide brachen auf und machten sich auf den Weg. Malvyro hatte die Vorhut gegeben und war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie hörte ein klatschendes Geräusch, dann einen Aufprall. Hastig folgte Alrun Malvyro, die rechte Hand auf ihrer Waffe. Aber er brauchte keine Hilfe. Er stand über eine reglose Gestalt am Boden gebeugt, die eine schwarzblaue Rüstung trug. Der winzige Raum war mit verwirrenden Apparaturen und Gerätschaften vollgestopft.


    Malvyro zog dem Burschen den Helm von Kopf und streifte ihn sich selbst über. Sein Gesicht verschwand hinter getöntem Glas, worauf eine unheimliche Veränderung mit ihm vonstattenging. Er schien plötzlich wieder einer von ihnen zu sein. Merna starrte ihn an.


    „Was?“, schnarrte er in seinem extremen Akzent.
    „Nichts Malvyro – was immer Du tust, beeil Dich gefälligst“, antwortete Alrun patzig.


    Es war verrückt, für einen winzigen Augenblick war sie davon überzeugt gewesen, dass er einer von ihnen war. Alrun rief sich ins Gedächtnis, dass dies bis vor kurzem wirklich noch Tatsache gewesen war. Malvyro war Sicherheitschef des Laborkomplexes gewesen, töricht erstaunt darüber zu sein, dass er sich also mit der Sicherheitstechnik des Komplexes und Schiffes auskannte. Nur aus diesem Grund standen sie beide hier, lebten noch, bildeten die Vorhut.Sie trat näher an ihn heran und schaute zu ihm auf.


    „Es ist nichts“, sagte Alrun noch einmal, aber dieses Mal im freundlichen Ton.
    „Ich war nur erschrocken, entschuldige bitte. Du siehst unheimlich aus mit dem Ding. Was machst Du da überhaupt?“, fragte sie nach.


    „Lesen, ich lese die Alarmierungspläne. Im Helm ist ein Interaktives Gesichtsfeld, ich zeig´s Dir gleich warte. Alles klar – hier“, sagte er nahm den Helm ab und setzte ihn Alrun auf.
    „He!“, motze sie, ehe sie auf das Visier guckte dass nicht nur die Augen abschirmte, sondern Buchstaben und Zahlenkolonnen zeigte und Bilder einspielte.


    „Ich weiß – Deine schöne Frisur“, kicherte Malvyro.
    „Das ist… faszinierend. Was bedeuten die Zahlen und Buchstaben?“, fragte Alrun und hielt den Helm mit beiden Händen fest.


    „Er hält allein, was soll man mit einem Helm, den man die ganze Zeit festhalten muss? Einsatzcodierungen. Du müsstest es von Deiner Arbeit kennen. Warte…“, sagte er und zog ihr den Helm vom Kopf um ihn erneut aufzusetzen.


    „D 17/20 hat einen Code 1. Heißt – unser Mitarbeiter hier“, er tippte auf den Helm „war von der Dora-Tour. Mann 17 von 20 Mann der Einheit. Code 1 heißt sie streiften umher, weil die höchste Alarmstufe ausgerufen wurde. Einzelne Codierungen sind nicht mehr erforderlich bei Code 1 – Ausnahmezustand.


    Da muss man nicht mehr sagen wir haben einen Code: 23-17-12 – auf Ebene 3, sprich Virenkontamination. Es herrscht Ausnahmezustand, eben jener Code 1. Das bedeutet für uns, dass die Sicherheitstruppen jederzeit ohne Rückfrage an die Vorgesetzen von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfen und auch werden.


    Sicherheitspersonal dem wir begegnen ist ein Todfeind. Wir nehmen den Helm mit, auf der unteren Karte sieht man das Bewegungsmuster der Kollegen. So wissen wir wo wer ist, wenn sie sich außerhalb meiner Wahrnehmung befinden“, erklärte er freundlich.


    „Ich habe eine viel bessere Idee. Tarnung. Ich ziehe das Ding an, wir bräuchten ein zweites für Dich und wir hätten ein Problem weniger oder?“, fragte Alrun.
    „Tarnung? TARNUNG? Du bist gut“, lachte Malvyro schnarrend.


    „Der Witz erschließt sich mir nicht Malvyro…“, sagte Alrun kühl, da sie davon ausging dass Blondie sich gerade über sie lustig machte.
    „Guck“, sagte er nahm den Helm ab und drückte ihn ihr in den Arm.


    „Alrun ja?“, fragte er belustigt.
    „Immer noch…“, antwortete sie und starrte dann entsetzt auf Malvyro als er sich auflöste und eine perfekte Kopie von ihr formte.


    „Tarnung perfekt Alrun?“, fragte die zweite Alrun das Original lachend.
    „Bist Du verrückt? Lass das!“, motzte Alrun.


    „Oh ich könnte viel Schlimmeres… Dich blamieren...“, lachte die Kopie das Original an.
    „ARGH… wag es Dich Malvyro!!! Verwandele Dich sofort zurück“, schnauzte sie.


    „Mir ist nicht danach“, lachte Malvyro.
    „Wenn Du nicht als Wurmköder am Haken enden willst, verwandele Dich sofort zurück“, fauchte Alrun.


    „Du bist so… ungehalten meine Liebe. Du solltest was gegen Deine Aggression tun. Vielleicht Yoga, oder Meditation, oder mal ausschlafen… ich biete Dir gerne Unterschlupf“, prustete Malvyro und Alrun würge ihr Ebenbild.


    Malvyro befreite sich vorsichtig von ihr und verwandelte sich zurück.


    „War nur Spaß, verzeih“, sagte er wohlwollend und tätschelte ihren Schädel, „aber wir haben keine Zeit für Albernheiten. Komm“.


    Er sah sich einen Moment suchend um, dann lief er los. Alrun verdrehte die Augen und seufzte, musste dann aber zusehen hinterher zu kommen, da Malvyro einen ziemlichen Schritt drauf hatte.


    „Ich denke ich kümmere mich erst einmal um den Burschen auf dem Turm. Ich habe gern den Rücken frei. Du wartest hier!“, sagte er.


    Ehe Alrun etwas erwidern konnte, schlüpfte er in den Belüftungsschacht und war verschwunden. Alrun hatte gewartet und sich umgeschaut. Malvyro kam zwischen den Kabelsträngen hervor, nahm albische Gestalt an und schaute sie auf eine sonderbare Art und Weise an.


    „Wie lange stehst Du schon da?“, fragte sie ohne Vorwurf in der Stimme.
    „Eine ganze Weile“, antwortete Malvyro schnarrend.
    „Warum hast Du nichts gesagt oder gerufen?“, fragte Alrun verwundert.
    „Nun ich wollte Dich nicht stören. Du hast… zufrieden und entspannt ausgesehen. Fast glücklich“, antwortete er ehrlich.


    Die Worte machten Alrun verlegen. Sie trat auf Malvyro zu und legte ihm eine Hand auf den Arm. Die Haut des Ghuls war ungewohnt rau und eiskalt. Sie fühlte sich unnatürlich an. Sie wusste nicht was wirklich in Malvyros Gedanken vor sich ging.


    Warum er ausgerechnet zu ihr so nett war, ohne ersichtlichen Grund. Sie hatte ihn bekämpft und er hatte genauso dagegen gehalten. Aber hier waren sie Kampfgefährten. Vielleicht machte er sich nur einen Spaß daraus, die in seinen Augen dummen und zerbrechlichen Menschen zu verarschen.


    Mit ihnen zu spielen und sie im Glauben zu lassen sie wären seine Verbündeten.


    Ohne Verletzung und in anderer Gestalt konnte er so ungeheuer groß sein, dass er einen Menschen mit einer beiläufigen Bewegung zerschmettern konnte, ohne sich auch nur anstrengen zu müssen. Seine Beweggründe waren ihr unerklärlich. Wahrscheinlich waren alle Ergebnisse zu denen sie kommen würde eh falsch. Niemand außer ihm selbst wusste wirklich was in seinem Kopf vor sich ging.


    Alrun glaubte auch, dass es Rätsel gab, die besser ungelöst blieben. Trotz ehemals Frostalb, war er auf die eine oder andere Art unberechenbar.


    Es gab Geschichten, wo sich ein Ghul nachdem sein Meister gestorben war, absichtlich, bewusst und freiwillig in den Tod stürzte.Es gab Geschichten, wo sich ein Ghul scheinbar ohne irgendeinen Grund gegen seinen Meister und die Truppe wandte und sie einfach getötet hatte.


    Seltsam, früher hätte Alrun dieser Gedanke beunruhigt,die Nähe von Malvyro hätte sie beunruhigt. Nein schalt sie sich selbst in Gedanken, sie hatte sich verändert und Malvyro auch. Aus einem Feind war ein gutmütiger Verbündeter und Freund geworden. Vielleicht gab es gar kein Geheimnis – oder das Geheimnis hieß einfach Freundschaft.


    „Na komm – genug gegrübelt“, riss sie Malvyro aus ihren Gedanken und ging langsam vor.


    Alrun war schlagartig irgendwie traurig. Vielleicht war diese halbe Stunde, die Malvyro schweigend im Schatten abgewartet hatte ein Geschenk an sie gewesen.


    Eine allerletzte halbe Stunde, in der sie einfach sie selbst sein konnte und über sich und ihr Leben nachdenken durfte ohne die Truppe und ohne Störung. Sie drehte sich schleunigst um und folgte ihm.


    Die Realität und Malvyro warteten.

    Wasserwelten


    Luitgard stellte sich unter Malvyro und schaute etwas hilflos nach oben auf.


    „Malvyro? Ich müsste nochmal mit Dir reden? Hallo?“, rief sie etwas verunsichert.


    Sie wusste nicht so recht wie sie mit einer Person reden sollte, die kein Gesicht hatte in diesem Zustand. Er dröselte sich von der Decke und nahm menschliche Gestalt an.


    „Nur zu“, sagte er freundlich und setzte sich vor Luitgard hin.
    „Nun guck mal, solche großen Becken werden normalerweise doch auch gepflegt und gewartet. Aber doch nicht nur innen. Es müsste doch auch ein Boot geben, mit denen man über die Bassins fahren kann. So würde es vielleicht reichen wenn ich schwimme und das Boot hole. Die anderen könnten dann damit auf die andere Seite gelangen. Was hältst Du von der Idee und gibt es überhaupt so ein Boot?“, erkundige sich Soraya.


    „Deine Idee ist sehr gut. So ein Futterzieher gibt es. Ähnlich einer Fähre. Er schwimmt oberhalb des Beckens. Weißt Du wie die Dinger funktionieren?“, hakte Malvyro nach.


    „Fähren sind übliche Verkehrsmittel. Wie komme ich in das Becken? Zeig mir bitte den Weg“, bat Luitgard freundlich. Malvyro nickte zustimmend. Er zog die seitliche Verkleidung ab um Luitgard den Weg frei zu räumen.


    „Sag doch was, wir helfen Dir“, sagte Chirag freundlich und gemeinsam machten sie sich daran die Außendeko vom Becken zu schälen.
    „Demontieren tut er gerne“, grinste Damir.


    „So kommst Du rein. Schwimm gerade durch. Nach der Passage muss die Fähre mit Ausrüstung kommen. Zur Beckenpflege von dem Ding hier. Halt still, ich lass Dich ins Wasser“, sagte er freundlich und umwickelte Luitgard um die Taille mit einem Klusterfaden.
    „Warte eine Sekunde – bitte“, sagte die junge Frau.


    Merna beobachtete angespannt die Szene. Sie kannte die Angst von Luitgard, obwohl diese bereits einmal keine Furcht vor Malvyro verspürt hatte, aber in einem Schlinggriff befand man sich auch nicht alle Tage.


    „Sei ja vorsichtig mit ihr!“, mahnte Alrun.
    „Halt Dich einfach an mir fest, ich lass Dich nicht fallen keine Sorge“, sagte Malvyro beruhigend und hob


    Luitgard über den Beckenrand an der Beleuchtung vorbei. Luitgard hielt sich ihrerseits an dem Tentakel fest und schlüpfte dann ins Wasser.


    „Pass auf Dich auf darin! Sei vorsichtig Luitgard!“, warnte Canan.
    „Keine Angst, das Wesen ist ein Fischfresser. Es hat nur einen kleinen Kopf. Bis gleich haltet Euch bereit!“, antwortete sie, tauchte unter und schwamm der Beckenlänge nach davon. Sie hielt sich an der Wasseroberfläche, bis sie zum besagten Versorgungsschacht kam. Diesen durchschwamm sie im Tauchgang.


    Kaum draußen angekommen, tauchte Luitgard auf und entdeckte das kleine Boot. Die Gruppe würde es vermutlich tragen. Zur Not mussten die Besten eben schwimmen, aber Platz schien es ausreichend zu bieten.


    Luitgard schaute sich die Bedienung genauestens an. Auch die Waffen, welche im Boot lagen, ließ sie nicht links liegen, sondern rüstete sich damit aus. Kaum wieder zurück im Wasser, erhielt sie gleich die Bestätigung für ihre Handlung.


    Ein viel zu neugieriger Hai schoss auf die junge Frau zu, schien sich Luitgard genau anschauen zu wollen und rückte ihr bedenklich nah auf die Pelle. Luitgard feuerte auf den Fisch, allein schon um dem Burschen eine Lektion zu erteilen. Ihre Kollegen mussten gleich ein Stück schwimmen, da konnten sie keinen Hai am Heck gebrauchen.


    Ein zwei gut gezielte Schüsse, und der Bursche hatte wirklich die Schnauze voll von ihr. Hastig schwamm Luitgard zurück zum Eingangsbassin und guckte oben über den Beckenrand.


    „Die Fähre ist da. Damit werden wir ein großes Stück der Versorgungswege schaffen hoffe ich. Ihr müsst ins Wasser kommen und ein kleines Stück durch einen Schacht schwimmen. Keine Angst, es ist nicht weit. Wenn ich eine Idee unterbreiten darf die Dich betrifft Malvyro, dann hätte ich einen guten Vorschlag“, sagte Luitgard freundlich. Malvyro stimmte direkt mit einem Nicken zu.


    „Also alle klettern ins Wasser. Du schwimmst mit mir rüber, nimmst da Deine andere Form an und ziehst die Leute dann zu uns durch den Tunnel. Ginge das?“, fragte Luitgard.


    „Das ist mal eine gute Idee. Wer nicht gut schwimmen oder tauchen kann, hat dann keine Probleme. Und nicht jeder kann unter Wasser die Orientierung behalten. Also kannst Du das Malvyro? Ich meine dass musst Du hinbekommen. Rüber schwimmen, umwandeln und uns rüber angeln“, grinste Damir freundlich.


    „Kann ich und mach ich“, grinste Malvyro zurück, „wenn Luitgard mich rüber schwimmt“.
    „Du kannst nicht schwimmen?“, fragte Damir baff.


    „Irgendwie schon. Sagen wir es mal so, ich ersaufe nicht. Aber ich weiß nicht wo ich lang muss. Ich sehe nichts und nach Gehör ist sicher noch niemand geschwommen“, warf Blondie ein.
    „Irgendwie schon, ist eine sehr vage Beschreibung. Ich gehe mal davon aus, dass Du kein Seepferdchen hast“, sagte Luitgard grinsend.


    „Woher soll ich jetzt ein Seepferdchen haben? Und was soll mir das Vieh nützen?“, grübelte Malvyro laut, was alle losprusten ließ.
    „Komm einfach ins Wasser, ich führe Dich rüber. Los Leute kommt keine Zeit zu verlieren“, sagte Luitgard freundlich.


    Malvyro hob einen nach dem anderen ins Wasser mit seinen Tentakeln ehe er selber in das riesige Becken kletterte. Er wickelte Luitgard erneut einen Kluster um die Taille und schaute sie auffordernd an.


    „Los“, war sein einziger Kommentar.


    Luitgard schwamm gemeinsam mit Malvyro zum Boot rüber. Kaum dort angekommen, wurde die Gruppe von Malvyro mit Tentakel gepackt und nachgeholt.


    „Super gemacht Ihr beiden“, lobte Canan und drückte Luitgard .
    „Also auf ins Boot. Verteilt Euch so, dass alle Platz haben“, befahl Cananira.


    Sie schwammen behutsam zum schwankenden Bootsrumpf. Damir und Holzi hielten es fest.


    „Das ist Wahnsinn“, keuchte Sunja, „das Boot wird solche Lasten nicht aushalten“.
    „Es wird sie aushalten müssen, rein mit Dir – keine Widerrede“, sagte Damir.


    Canan beobachtete die Gruppe. Alle waren brav ins Boot geklettert. Sie wartete bis auch Damir und Holzi an Bord geklettert waren, dann zwängte sie sich selbst auf den letzten verbliebenen Platz, direkt neben ihrem Mann.


    „Los jetzt“, befahl Dunwin.
    „Es wird kentern ich bin mir ganz sicher“, maulte Sunja aufgelöst.
    „Mach schon, wir werden es schaffen, ich spüre es“, sagte Canan zuversichtlich.


    Luitgard drehte sich um und griff nach einem von drei unterschiedlich großen Hebeln, die vor ihr aus der Bootswand ragten. Ein harter Schlag ging durch das Boot. Dicht unter der Wasseroberfläche zerriss ein Tau mit solcher Wucht, das sein zerfetztes Ende wie eine Schlange aus dem Wasser schoss und in ihre Richtung hieb. Jesper hieb es mehr aus Reflex, denn bewusster Handlung mit dem Kampfmesser zur Seite und rettete ihre Hälse. Zeitgleich schoss das Boot wie ein Pfeil los.


    Drinnen in seiner Boots-Verankerung war das Wasser fast still gewesen, die Umrandung hatte die größte Wucht der künstlichen Strömung gebrochen. Hier draußen aber war das winzige Boot den tobenden Gewalten gigantischer Strömungs- und Pumpanlagen hilflos ausgeliefert.


    Eine Reihe harter, unglaublich heftiger Schläge traf seinen Rumpf und schüttelte seine Insassen durch. Gischt spritzte meterhoch und überschüttete alle mit eisiger Kälte. Hastig ließen sie die Waffen sinken und klammerten sich an dem dünnen Rumpfmetall fest. Trotzdem hatten sie das Gefühl, jeden Moment im hohen Bogen ins Wasser katapultiert zu werden.


    Die Wasserfläche war zudem viel riesiger als angenommen und schien mehrere gewaltige Becken zu verbinden.


    Das Schiff bockte und stampfte darüber hinweg wie ein durchgehendes Pferd. Ein tiefes, beinahe schmerzhaft klingendes Ächzen drang aus dem unter Wasser liegenden Teil des Schiffes. Sunja begann zu weinen, Harro begann zu schreien, Chirag und Damir grölten vor Vergnügen, Canan war fast blind. Himmel und Wasser verschwanden hinter einer Mauer aus sprühender weißer Gischt, trotzdem erkannten sie noch, dass es sich mit geradezu phantastischer Geschwindigkeit vom alten Becken entfernte und ins Nichts der anderen Becken zuschoss.


    „Ruder, wo sind die Paddel oder Ruder?“, schrie Chirag.
    „Der will noch an Geschwindigkeit zulegen?“, fragte Jesper total irritiert.
    "Dieser irre Souvagner", murrte Archibald.
    „Überhaupt nicht! Ich will das Ding lenken!“, schrie Chirag zurück.


    „Halt Dich fest und bete einfach dass die Sicherheitstore offen sind“, warf Malvyro ruhig ein.


    Alle Köpfe flogen mit einem Ruck zu ihm herum, alle Augen waren auf Malvyro gerichtet.
    „Sicherheitstore?“, brüllte Dunwin und versuchte durch den Schleier aus sprühender Gischt hindurchzusehen.


    „Sicherheitstore!“, bestätigte Blondie.


    Das Boot bockte und schaukelte immer mehr. Sie konnten die dünnen Spanten unter ihren Körpern ächzen hören. Noch drei, vier dieser entsetzlichen Erschütterungen dachte Dunwin, und dass Schiff würde wirklich zerbrechen. Das Knirschen des überlasteten Rumpfes hörte sich an wie Schmerzensschreie.


    Dann fiel ihm auf, dass sie sich nicht mehr in gerader Linie bewegten, sondern eine sehr langgezogene Spirale begonnen hatten. Und er begriff beinahe zu spät, was diese Kursänderung bedeutete…


    Das Boot jagte mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles in den Strudel hinein, tauchte für eine endlose, schreckliche Sekunde vollends unter und brach schäumend wieder aus dem Wasser hervor.


    Für einen ganz kurzen Moment hatte Alrun den Eindruck, zwei gigantische weiße oder graue Dinge zu sehe, die zu beiden Seiten des Rumpfes aus dem Wasser geragt hatten, aber sie hatte die Augen voller Wasser und war viel zu sehr damit beschäftigt, nach Atem zu ringen um richtig hinsehen zu können.


    Im nächsten Moment klatschte das Schiff mit einem ungeheuerlichen Schlag ins Wasser zurück, dass sie mit dem Kopf gegen die Bordwand prallte und sekundenlang benommen hocken blieb.


    „Die Tore…“, kreischte Chirag.
    „Bei den Ältesten!“, fluchte Archibald.
    „Sind offen – welch ein Glück!!!“, donnerte Chirag und Archibald starrte ihn mit mörderischem Blick an.
    „Ainuwar sei Dank!“, rief Merna.


    Der Rand des Beckens lag vor ihnen. Schatten bewegten sich im Wasser auf und ab. Einer Barriere gleich, die zwischen ihnen und ihrer Freiheit lag. Aber das Boot war für die Tiere im Wasser zu schnell, und gewann immer noch an Geschwindigkeit.


    Jetzt war es an Merna aufzuschreien. Vor ihnen gähnte ein gewaltiges Loch, hoch aufschießend und mit gischtendem Wasser gefüllt. Dahinter lag eine Glocke aus sprühendem Nebel und Donner. Wie paralysiert starrte Dunwin auf die Sicherheitstore. Immer weiter stieg ihre Geschwindigkeit. Die Tore jagten auf sie zu, wuchsen zu einem klaffenden Maul heran und nahm dann scheinbar für Sekunden ihre ganze Welt ein.


    Dann waren sie hindurch, und vor ihnen lag nichts mehr als eine halbe Meile Gang gefüllt mit Wasser das so ruhig dalag wie Glas. Dahinter eine Mauer. Gischt und Donner blieben hinter ihnen zurück.


    „BOOT AN SCHLEUSE FESTHALTEN MALVYRO - SOFORT!“, brüllte Dunwin Blondie an, ehe sie an der gegenüberliegenden Wand zerschmettert würden.


    Malvyro gehorchte direkt. Seine Haut brach auf, zig Tentakel schlang er um das Boot, die anderen schleuderte er in das geöffnete Schleusentor und bremste sie so mit einem gewaltigen Ruck ab. Immer weiter spannte er die Muskeln an um den Schwung des Bootes abfangen zu können und fletschte vor Anstrengung die Zähne.


    „PACK ZU!!! LOS!
    GRABSCH ZU WIE DU NOCH NIE ZUGEGRIFFEN HAST!
    F E S T H A L T E N!
    SONST GEHEN WIR DRAUF MALVYRO!
    MACH - DU SCHAFFST DASS GROSSER LOS“, bellte Dunwin donnernd auf Malvyro ein, knallte eine Hand ebenfalls in die Boots-Reling und schlang seinen anderen Arm um einen von Malvyro Tentakel um ihn so zu unterstützen.


    Sie sahen winzige, glitzernde Wassertropfen, sahen ein gigantisches Weiß vor sich aufragen, auf das sich feuchtem Staub gleich die winzigen Tropfen senkten, ehe der Bug mit einem leichten Klong vor die Mauer stieß und das Boot zum Stehen kam.


    „Super gemacht, Du hast uns erneut den Arsch gerettet“, sagte Brijesh und klopfte Blondie dankbar auf den Rücken.


    Der Rest der Gruppe folgte seinem Beispiel und Malvyro wurde durch getätschelt, geknuddelt und dann von allen gedrückt. Einen Moment verharrten noch alle in ihrer Position. Dann kam Leben in die Truppe und sie stiegen mit wackeligen Beinen und weichen Knien aus dem Boot. Malvyro wartete noch einen Moment um zu verschnaufen, dann schloss er sich Dunwin an.


    „Danke. Na kommt, mir nach“, sagte Malvyro geschafft und übernahm wieder die Führung.


    Er führte sie auf den Gang hinaus, aber auch hier waren bereits Blutspuren. Er witterte kurz, was Dunwin verstörte. Das hatte etwas extrem animalisches, auch wenn er wusste warum Malvyro es tat. Malvyro legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, er missverstand vermutlich den Blick und deutete ihn als Sorge wegen der Blutlache.


    „Keine Gefahr kommt weiter“, sagte Blondie und führte sie immer weiter in den Schiffsabschnitt hinein, bis sie in einer Art Zwischenlager waren. Dieses war so schlicht und spärlich eingerichtet, dass man direkt sah, hier wurden keine Laborutensilien gelagert. Auch schien es generell nicht oft besucht zu sein.


    „Hier können wir einen Moment rasten. Wenn Sie einverstanden sind Mr. Dunwin, gehe ich nachher ein Stück alleine vor und sichere. Dann hole ich Sie und die Gruppe nach“, schlug er vor.


    „Ich bin NICHT einverstanden. Du gehst nirgendwo ALLEINE hin“, befahl Dunwin.
    „Ich werde Sie nicht verraten und ich werde nicht weglaufen“, stellte Malvyro klar.


    „Rede keinen Stuss! Zweifelst Du meine Entscheidung an? Du gehst nicht allein, da es zu gefährlich ist. Bei Möglichkeit würden Dich Deine ehemaligen Kollegen sofort töten. Kapiert?“, stellte Dunwin klar, und Canan musste bei dem forschen Befehlston in dem ihr Mann etwas sehr Liebes verpackte schmunzeln.


    Malvyro musterte Dunwin kurz, dann grinste er ihn an.


    „Danke Boss – verstanden“, antwortete er freundlich.
    „Ich werde Dich begleiten. Sicher ist Sicher“, fügte Alrun an.
    „Ja gerne“, bestätigte Malvyro und suchte sich einen gemütlichen Platz der nicht einsehbar war.


    Die Gruppe tat es ihm gleich und gesellte sich dazu.

    Danach


    Ihr Kopf pendelte zur Seite und sie blickte auf einen gewaltigen, veralgten Wassertank in dem eine riesige Kreatur seine Bahnen zog. Der Raum war kreisrund, glich einer Höhle und hatte nur eine Zugangstür. Die Tür fest im Blick saß die Gruppe in dem Raum und hatte sich hier verbarrikadiert. Gepflegt musste die künstliche Höhle samt Aquarium ein Hingucker sein.


    Welche Sektion dies auch immer war, wohin Malvyro sie auf der Flucht auch immer geführt haben mochte, erneut zeigte er seine Loyalität dadurch, dass sie hier wirklich ungestört pausieren konnten soweit dass auf einem Schiff im Ausnahmezustand möglich war.


    „Na endlich wieder wach?“, hakte Luitgard nach.
    „Wie lange waren wir weg? Oder wie lange sind wir hier?“, fragte Merna.


    „Fast 12 Stunden. Ihr habt den Heilschlaf gebraucht. Ihr habt wirklich wie die Löwen für uns alle gekämpft. Dieser Bereich liegt scheinbar so abseits, dass wir nicht mal Kampflärm hören. Sobald ihr fit seid, geht es weiter, aber der Ausgang wird Euch nicht gefallen“, erklärte Luitgard.


    „Das ist wahr, der Ausgang wird eine nasse Angelegenheit“, stimmte Sunja zu und kontrollierte die Verbände ihrer Kameraden, ehe sie sich neben Damir legte.
    „Wir müssen schwimmen?“, fragte Merna ungläubig.


    Malvyro schlenderte auf sie zu und hockte sich neben sie.


    „Alles gut?“, fragte er freundlich nach.
    „Für den Kampf, für die Unterstützung – Danke Malvy“, sagte Merna aufrichtig und knuffte ihn freundschaftlich.


    „Bitte. Ja dass mit dem Schwimmen stimmt. Wir nehmen den Versorgungsschacht des Beckens. Niemand wird vermuten, dass wir diesen Weg nehmen. Denn dahinter beginnt das weiße Viertel wie wir es nennen. Camiglirs persönliche Labore.


    Ist eine Ecke zu schwimmen, aber unsere einzige Chance lebend in den Bereich zu gelangen. Auf normalem Flurweg ist das nicht mehr drin. Erhol Dich. Auch wenn Dich einer durchs Wasser zieht, musst Du die Luft anhalten können – und ob Du für nur eine Minute die Luft anhalten kannst – nun ich wag es zu bezweifeln“, lachte Malvyro.


    „Hau bloß ab Du Wurmschädel“, lachte Merna und drohte ihm gespielt mit der Faust.
    „Bin schon weg“, kicherte Malvyro und machte sich davon.


    Dunwin saß mit seiner Frau zusammengekuschelt dem Bassin gegenüber, so dass er genau auf die Wasserkreatur blicken konnte. Canan hatte sich ganz an ihn gekuschelt und den Kopf auf seine Schulter gebettet.


    „Malvyro komm mal für einen Moment her“, bat Dunwin.
    „Sicher Mr. Dunwin“, antwortete Malvyro und nahm neben Dunwin Platz.


    Dunwin packte seine letzten Fruchtriegel aus, reichte Canan einen, nahm sich selbst einen und reichte Malvyro ebenfalls einen. Blondie lehnte mit dankbarem Nicken ab.


    „Ich vertrage kein Obst, ich benötige Fleisch“, erklärte er.


    „Was wirst Du machen, wenn die Sache hier vorbei ist?“, fragte Dunwin offen heraus.
    „Früher wollte ich immer zurück nach Hause. Aber ich weiß nicht ob ich über 70 Jahre schlief oder das nur ein Witz war, also bevor Camiglir mich dann fand. Oder ob meine Einheit noch existiert. Vielleicht tut sie das – ich weiß es nicht. Dann würde ich dahin zurückkehren. Ansonsten habe ich keine Ahnung und mir auch keine Gedanken darüber gemacht“, gestand der Alb.


    „Die 70 Jahre war eine Verarsche“, warf Damir ein.
    „Du hast mir ein Leben für ein Leben geschworen. Wo endet die Loyalität?“, fragte Dunwin.


    „Keine Sorge – ich verrate Sie nicht. Ich halte mein Wort, genau wie Sie“, sagte Malvyro.
    „Nein, Du hast mich falsch verstanden. Wenn die Sache hier vorbei ist, wärst Du mir dann auch noch loyal gegenüber, wenn ich Dich in meinen Stab aufnehmen würde und dies Deine neue Einheit werden würde?


    Ich hätte Dich gerne in meinem Team und als Freund an meiner Seite. Auf Dich ist genauso Verlass wie auf Damir, Bri, Chirag – wie auf alle eben. Du hast an unserer Seite gekämpft selbst nachdem Du zigmal die Chance hattest uns zu verraten. Du hast zu Deinem Wort gestanden.


    Also? Was meinst Du? Möchtest Du uns als Deine neue Einheit? Es wäre ein Privileg, ich stelle nur Freunde ein. Mit einigen kommst Du ja bereits gut klar“, grinste Dunwin und Canan verpasste ihm eine gespielte Kopfnuss.


    „Nun wie könnte ich da nein sagen. Ich nehme das Angebot sehr gerne an Mr. Dunwin. Ihr Angebot ist schmeichelhaft. Es macht mich aber auch etwas verlegen, dass Sie mich so sehen. Unser Start war nicht gerade der Beste“, antwortete Malvyro gut gelaunt.


    „Als Feinde nicht, aber unser Anfang mit dem Pakt war ein guter Anfang für uns beide. Ich sehe das als unseren Anfang“, sagte Dunwin und lehnte sich glücklich und zufrieden an seine Frau.


    „Sie sind der Boss – Sie sehen es so, dann sehe ich es auch so“, sagte Malvyro freundlich und machte es sich neben Dunwin bequem.